Martin von Wengland – Schwieriger Friede

Verborgene Lande im Jahr 1205: Wengland und Scharfenburg haben Frieden geschlossen, Prinz Martin von Wengland hat die Prinzessin Regina von Scharfenburg endlich heiraten können. Alles könnte gut sein, würde nicht noch König Havarik von Wilzarien weiter davon träumen, sich seine Nachbarlande untertan zu machen. Herzog Ludwig möchte seine sechs Jahre zuvor an Wilzarien verlorene Provinz Dunkelfels zurückhaben und wünscht dafür ein Bündnis mit dem Königreich Wengland.

Als Havarik erneut Scharfenburg und Wengland angreifen lässt, hat das Folgen …

 

 

Prolog

Man schrieb das Jahr 1205. Seit dem Friedensschluss zwischen Wengland und Scharfenburg war ein halbes Jahr vergangen. Nach ihrer Hochzeit auf der Alvedrainsel waren Prinz Martin von Wengland und Prinzessin Regina von Scharfenburg mit Herzog Ludwig von Scharfenburg nach Stolzenfels gereist. Martin sollte als Wenglands Gesandter dort dafür sorgen, dass es nicht wieder zu solchen Missverständnissen und hinterhältigen Intrigen kommen würde wie jenen, die dazu geführt hatten, dass Wengland sich Wilzariens Eroberungsfeldzug gegen Scharfenburg angeschlossen hatte.

Nach dem Waffenstillstand hatten Herzog Ludwig und König Rudolf von Wengland eigentlich mit den Verrätern in den jeweils eigenen Reihen abrechnen wollen, doch war dies nur zum Teil erfolgreich gewesen. Richard von Rebmark, dem ehrgeizigen Markgrafen der Rebmark, war ebenso die Flucht gelungen wie dem wenglischen Verräter Graf Aribert von Karlsfeld. Auch Owan von Aldaron, König Rudolfs Doppelgänger, der ihn mithilfe der wenglischen Verräter eine Zeitlang als König ersetzt hatte, hatte sich ebenfalls erfolgreich absetzen können. Gleichwohl hatten die Herrscher die Lehen der Verräter eingezogen. Herzog Ludwig hatte Rupert von Wasserhofen mit der Rebmark belehnt, der als neuer Markgraf seinen Geburtsnamen Vinzenz wieder angenommen hatte. Rupert stammte aus der ehemaligen Grafschaft Löwenstein, war eigentlich deren rechtmäßiger Erbe gewesen, aber schlicht um sein Erbe betrogen worden, als sein Vater Guido bei einem Turnier tödlich verunglückt war, seine Mutter von Markgraf Balduin II. noch vor Ruperts Geburt ins Kloster gesteckt worden und die Grafschaft als angeblich erbenlos an die Rebmark gefallen war. Erst viele Jahre später hatte Alwin von Falkenstein mithilfe von Wenzel von Löwenstein Ruperts wahre Identität aufgedeckt und ihn – um ihn vor Markgraf Richard zu schützen – unter seinem zweiten Vornamen mit Wasserhofen belehnt.

Wengländer und Scharfenburger konnten nur mutmaßen, dass die Verräter nach Wilzarien geflohen waren, dem einzigen Land, das ihnen Zuflucht gewähren würde, denn Fürst Gregor von Breitenstein hatte mitgeteilt, dass keiner von ihnen in Dominiksburg um Asyl gebeten hatte. Und da Breitenstein ein kleines Land war, in dem ohne Wissen des Fürsten kein Fremder dauerhaft bleiben konnte, mussten sie wohl König Havarik von Wilzarien um Aufnahme gebeten haben. Ob er mit ihnen sanftmütig umgehen würde, war eine andere Frage. Schließlich hatten sie dafür sorgen sollen, dass Wilzarien sich Scharfenburg und Wengland untertan machte. Doch abgesehen von Dunkelfels, das seit 1199 auch ohne ihre Hilfe in wilzarischer Hand war, hatte Wilzarien nichts von seinen Kriegszielen erreichen können.

Dunkelfels war die einzige Provinz Scharfenburgs, die südlich des Alvedra lag. Herzog Ludwig wollte sie nach sechs Jahren wilzarischer Besatzung zurückhaben, doch ihm war klar, dass nach dem Krieg, den Wilzarien vom Zaun gebrochen hatte und in den es Wengland mit List und Tücke auf eigener Seite hineinmanövriert hatte, an eine Rückeroberung ohne Hilfe Wenglands nicht zu denken war. König Rudolf war zu einem Bündnis bereit, doch auch seine Truppen hatten Verluste erlitten; weniger als Scharfenburg, aber genug, um sich nicht sofort in ein neues Abenteuer stürzen zu können.

Ein Problem war, dass die Bauern grundsätzlich ihre Felder bestellen sollten und wollten. Die Herrschaft des Adels in beiden Landen beruhte darauf, dass der Adel die Bauern beschützte und dafür mit dem Zehnt – zehn Prozent der Ernte und sonstigen Einkünften des so genannten gemeinen Volkes – entlohnt wurde. Die Aufgebote, die die Adligen zum Schutz ihrer Bauern benötigten, mussten bezahlt, verpflegt und ausgerüstet werden. Keiner der Adligen, ob Graf einer Provinz oder Baron eines Landkreises, hielt sich deshalb eine größere Truppe, als unbedingt notwendig war.

Doch es gab einige wenige Ausnahmen – und das waren Roland von Ibelin, gebürtig aus dem Königreich Jerusalem, ehemals Baron von Ibelin im Heiligen Land und Baron von Saint-Martin-au-Bois in Frankreich, Graf von Hirschfeld, Schwager von König Rudolf und Onkel und Erzieher von Prinz Martin, die Grafen der anderen kleinen Grafschaften Wenglands und Prinz Martin selbst.

Roland hatte sowohl in seinem Jerusalemer Lehen als auch später in Frankreich ein neues Verteidigungssystem genutzt, das er nach Wengland mitgebracht hatte: Er hatte alle wehrfähigen Männer zwischen 17 und 45 Jahren erfassen lassen und jedem dieser Untertanen, der fähig und willens war, angeboten, sich zum Reisigen* ausbilden zu lassen. Wer das tat, bekam eine Ausrüstung von ihm gestellt, hatte im Jahr einen Monat Dienst zu leisten, für den ihm dann der Zehnt für seine Person erlassen wurde. Von jeder Familie durfte jeweils nur ein Mann zur selben Zeit fort sein, damit die Feldarbeit, das Handwerk oder das Geschäft nicht brach lag.

Sein wenglisches Lehen, die Grafschaft Hirschfeld, hatte etwa 20.000 Einwohner, von denen etwa die Hälfte männlich und die andere Hälfte weiblich war. Von den männlichen Bewohnern war eine Hälfte zwischen 17 und 45 Jahren alt, die andere Hälfte älter oder jünger. So blieb etwa ein Viertel der Einwohner Hirschfelds, die als potenzielle Soldaten eingesetzt werden konnten, unter dem Strich rund 5.000 Männer. Sein Angebot hatten praktisch alle, die dazu in der Lage waren, angenommen. Hirschfeld verfügte damit über gute viereinhalbtausend Reisige.

Das Verhältnis von Männern und Frauen, von Wehrfähigen und Untauglichen war im Prinzip in jeder wenglischen Provinz gleich. Grob gerechnet konnte ein Graf ein Viertel seiner Untertanen als wehrfähig bezeichnen. Dennoch hatte nicht jeder Graf dieses System übernehmen wollen. Es gab durchaus welche, die meinten, dass es gefährlich sei, die eigenen Untertanen das Kämpfen zu lehren. Bewaffnete Untertanen konnten ja auf die Idee kommen, den Adel als nutzlose Kostgänger zu betrachten, wenn die eigentliche Funktion des Adels – der Schutz der Untertanen – wegfiel, weil sie sich selbst schützen konnten.

Von den großen Grafschaften, die den Thronrat stellten, war Steinburg die einzige, die Rolands System nutzte. Prinz Martin, der von seinem Onkel Roland zum Ritter erzogen worden war, hatte es im Jahr 1200 für seine Grafschaft Steinburg übernommen, als sein Vater ihn zum Grafen ernannt hatte, damit er als Graf von Steinburg auf den Kreuzzug hatte gehen können. Als größte Provinz Wenglands hatte Steinburg etwa 100.000 Einwohner. Martin konnte auf eine ständig unter Waffen stehende Streitmacht von 10.000 Kämpfern setzen. Theoretisch standen ihm im gleichen Wechselsystem wie in Hirschfeld sogar 25.000 Mann zur Verfügung.

Die Grafen von Bauzenstein, Oberwengland und Siebenberg hatten sich überzeugen lassen und beriefen ihre Truppen auf die gleiche Weise. Graf Eckart von Oberwengland hatte deshalb während des Krieges gegen Scharfenburg eine genügend große Truppe aufbieten können, um seine Grafschaft noch verteidigen zu können, obwohl die Hälfte seines Heeres sich am Krieg gegen Scharfenburg beteiligt hatte. Das hatte durchaus Eindruck gemacht.

Die so ausgehobenen Soldaten wurden in Vogteikompanien organisiert, so dass jede der zwölf Baronien zwölf Vog­teikompanien aufbieten konnte. Drei Kompanien direkt benachbarter Vogteien bildeten ein Bataillon, vier Bataillone ergaben ein Regiment. Jede Baronie stellte so ein Regiment, von denen drei benachbarte Baronie-Regimenter zu einer Brigade zusammengefasst wurden. Da jede Grafschaft zwölf Baronien hatte, hatte sie vier Brigaden, die zusammen das Heer der Grafschaft ausmachten.

Zwar konnten diese Einheiten unterschiedlich groß sein – die Einwohnerzahl in den Vogteien war nicht unbedingt gleich – aber die Wehrleute konnten sich mit ihrer Kompanie und den nächsthöheren Einheiten identifizieren. Sie schützten ihr Dorf, ihre Vogtei, ihre Baronie, ihre Grafschaft und schließlich ihr Land.

Obwohl dem Prinzen und seinem Onkel durch den Verzicht auf einen Teil des Zehntes Geld hätte fehlen sollen, sparten sie unter dem Strich sogar, denn Söldner anzuwerben war letztlich teurer. Weil beide auch auf eine gute Ausbildung von Waffenschmieden setzten, die für sie arbeiteten, mussten sie die Waffen auch nicht teuer einkaufen. Martin hatte bei seinem Onkel eine Schmiedelehre gemacht, weil es ihn interessiert hatte. Sein Wissen gab er weiter und verpflichtete jeden Schmiedemeister seiner Grafschaft, jährlich wenigstens einen Lehrling anzunehmen und auszubilden. Die Lehrlinge waren gehalten, ihr Wissen zu erweitern und frühzeitig zu lernen, selbst auszubilden.

Die Prüfung der Lehrlinge sollte in den ersten sieben Jahren Roland von Ibelin vornehmen, den König Rudolf zum Obermeister der Schmiede in Wengland ernannt hatte. Nach spätestens zehn Jahren sollten alle Meister der Schmiedekunst sich zur Zunft zusammengeschlossen haben und auf der Basis von Rolands Ausbildung die drei besten Meister zu Obermeistern wählen.

Roland von Ibelin, der Graf von Hirschfeld, hatte sich mit seiner Heeresreform und seiner erfolgreichen Kriegsführung einen Namen gemacht, der König Rudolf veranlasste, darüber nachzudenken, ob er Roland in den Thronrat aufnehmen wollte, obwohl die Bevölkerungszahl seiner Grafschaft dies nach dem Königsvertrag Wenglands nicht rechtfertigte.

Kapitel 1

Veränderungen

 König Rudolf las Martins Brief zum wiederholten Mal. Sein älterer Sohn und Thronerbe empfahl ihm, auch die Grafen der „kleinen“ Grafschaften an den grundlegenden Entscheidungen Wenglands zu beteiligen. Graf Peter von Limmenfels hatte den in den Thronrat aufsteigen wollen. Dafür hatte er Wege beschritten, die Verrat und letztlich sein Todesurteil bedeutet hatten. Wenn alle Grafen an der geteilten Macht beteiligt würden, entfiele eine solche Versuchung, die Macht eines Thronrates mit Betrug, Intrigen oder Gewalt erreichen zu wollen. Es würde auch Neid vermeiden, der zwangsläufig entstehen musste, wenn Rudolf Roland von Hirschfeld in den Thronrat aufnehmen wollte, obwohl Hirschfeld dafür viel zu wenig Einwohner hatte.

Der König nickte. Sein älterer Sohn hatte gute Ideen und diplomatischen Verstand. Aber um den Vorschlag umzusetzen, musste Rudolf alle zwölf Grafen seines Landes versammeln – und da fehlten schon drei: Martin, weil er als Gesandter in Scharfenburg weilte, Aribert von Karlsfeld, weil er sich dem Gericht durch Flucht entzogen hatte und Peter von Limmenfels, weil er hingerichtet worden war. Die Lehen beider Verräter hatte Rudolf bereits eingezogen, aber er wollte sie nicht neu vergeben, ohne dass Martin dabei war, der ihm auf den Thron nachfolgen sollte. Er wollte seinen Sohn aber nicht aus Scharfenburg abberufen, kaum, dass er dort angekommen war.

Am Valentinstag 1205, am 14. Februar, fand im Stolzenfelser Dom eine Doppelhochzeit statt: Martin von Wengland und Regina von Scharfenburg heirateten zum zweiten Mal, nun nach scharfenburgischem Recht. Mit ihnen traten Simon von Scharfenburg und Magdalena von Thannburg vor den Traualtar. Heinrich, Simons und Reginas ältester Bruder und Thronfolger Scharfenburgs, hatte seine Liliana von Spitzeck gleich nach dem endgültigen Waffenstillstand zwischen Wengland und Scharfenburg geheiratet. Sie stand nun kurz vor der Niederkunft mit ihrem ersten Kind und begleitete Heinrich mit kugelrundem Schwangerschaftsbauch zur Hochzeit seiner jüngeren Geschwister.

Bei Martin und Regina kündigte sich noch kein Nachwuchs an, was daran lag, dass sie sich noch des empfängnisverhütenden Liebestranks bedienten, den Graf Alwin von Falkenstein zubereitete. Nicht, dass sie sich beide keine Kinder gewünscht hätten, doch erlaubte das scharfenburgische Konkordat mit dem Heiligen Stuhl keine Trauung von schwangeren Frauen.

Bischof Coelestin von Kreuzburg, der das Konkordat mit ausgehandelt hatte, hing der Auffassung von Bischof Bartholomäus von Wachtelberg an, dass vor der Ehe gezeugte Kinder unehelich waren und das auch bleiben sollten – mit allen negativen Folgen, die das für ein „in Schande“ geborenes Kind hatte. Es war und blieb ein Bastard, hatte kein Erbrecht und konnte vom Vater aus der Familie verstoßen werden.

In Wengland hatte Bartholomäus diese Auffassung nur in seiner eigenen Grafschaft Wachtelberg durchsetzen können. König Rudolf hatte ihm deutlich gemacht, dass nach wenglischem Recht die Geburt in der Ehe auch eine eheliche Geburt bedeutete. Er konnte auf das bereits bestehende Konkordat verweisen, das in Wengland Trauungen bei bestehender Schwangerschaft der Braut vom mutmaßlichen oder bekennenden Vater sogar forderte – eben damit das Kind in der Ehe und damit ehelich geboren wurde. Rudolf setzte auch die Politik seiner Vorfahren fort, die unehelichen, aber vom Vater anerkannten Kindern selbstverständlich ein Erbe zuerkannte. Die Kinder konnten schließlich nichts dafür, wenn sie vor der Ehe gezeugt worden waren. Und wenn es Gottes Wille war, zuzulassen, dass ein Kind außerehelich gezeugt wurde, dann hatten Menschen diesen göttlichen Willen nicht mit Strafe an dem daran unschuldigen Kind zu belegen.

Weil Regina auch als drittes Kind des scharfenburgischen Herzogs und weiblichen Geschlechtes zumindest Geld oder ein Grundstück erben konnte, das sie an ihre eigenen Kinder weitergeben konnte, wollten sie und Martin für ihre scharfenburgische Hochzeit kein Risiko eingehen. Alwins Trank ermöglichte ihnen, zu tun, was liebenden Körper tun wollten, ohne einem Kind sein scharfenburgisches Erbe unmöglich zu machen.

Wie in Wengland und Breitenstein gehörte auch in Scharfenburg der Ehevollzug vor Zeugen zur Hochzeit dazu. Während Martin und Regina damit schon gut in Übung waren und ihren Trauzeugen – Heinrich und Liliane von Scharfenburg – den Ehevollzug zweifelsfrei beweisen konnten, hatten Simon und Magdalena damit noch ein kleines Problem, konnten es aber letztlich lösen.

Coelestin von Kreuzburg, der beide Paare getraut hatte, war ein vom Keuschheitsgebot des Priestertums und unverheirateter Menschen zutiefst überzeugter Mann, den es beim Anblick eines sich mit Leidenschaft und Hingabe liebenden Paares würgte. Er verließ kreidebleich das Schlafgemach der Brautleute und schaffte es knapp zum Notdurftbalken außerhalb der herzoglichen Burg, wo er sich übergeben musste.

Als Martin und Regina nach dem Vollzug vor Zeugen wieder allein waren, dauerte es nicht lange, bis sie sich erneut liebten – und von nun an auch mit der Absicht, König Rudolf und Herzog Ludwig noch ein Enkelchen präsentieren zu können. Das Prinzenpaar hatte den mit einiger Mühe keusch gebliebenen Simon und Magdalena gute Hinweise für den ersten Beischlaf geben können, damit dieser für beide angenehm und lustvoll war. Bischof Coelestin zog es vor, beim Vollzug der Ehe des Prinzen Simon und der Prinzessin Magdalena nicht zugegen zu sein.

Am Tag nach der scharfenburgischen Hochzeit bat Ludwig die beiden jungen Paare zur Versammlung der Grafen Scharfenburgs.

„Ihr fragt Euch, weshalb zu diesem Treffen auch mein Sohn Simon und seine holde Braut sowie meine Tochter Regina und mein lieber Schwiegersohn Martin gekommen sind. Ich will es Euch beantworten: Es gilt, einen weiteren Fehler in unserem Recht zu korrigieren“, eröffnete der Herzog die Sitzung. „Bisher gilt, dass eine Adoption das adoptierte Kind für alle Zeit aus seiner leiblichen Familie ausschließt. Das mag sinnvoll sein, wenn die leibliche Familie gar nicht bekannt ist, weil es sich um ein Findelkind handelt. Es kann aber auch sein, dass die Familie sehr wohl bekannt ist und dem Kind ein Erbe zusteht, das vielleicht für Scharfenburg wichtig sein kann. Deshalb möchte ich das Gesetz dahingehend ändern, dass ein adoptiertes Kind von seiner leiblichen Familie erben kann. Es mag eine vollständige Enterbung möglich sein, wenn das adoptierte Kind dem Erblasser an Leib und Leben bedroht hat oder ihn gar umgebracht hat. Doch wenn leibliche Eltern ihrem in eine neue Familie aufgenommenen Kind etwas hinterlassen wollen, soll das möglich sein. Das gegenwärtige Gesetz schließt selbst ein willentliches Hinterlassen aus. Bitte, äußert Euch dazu“, stellte er den Grund für die Versammlung vor.

„Ich nehme an, der Vorschlag zielt auf die beabsichtigte Adoption Eures jüngeren Sohnes Simon durch Graf Alwin von Falkenstein, mein Herzog“, mutmaßte Graf Leonhard von Thannburg.

„So ist es, Graf Leonhard. Ich habe einen Sohn, der meinen Thron erben wird. Der Krieg gegen Wengland und Wilzarien hat mir aber deutlich gemacht, dass ein Thronfolger, der ein Heer im Krieg führt, nicht weniger in Gefahr ist als seine Ritter und Soldaten. Wenn Heinrich ohne eigenen Erben stirbt, Simon Graf Alwins Sohn wird und damit als möglicher weiterer Erbe des Throns ausfällt, stirbt mein Haus aus, obwohl es jemanden von meinem eigenen Blut gibt, der die Linie fortsetzen könnte. Regina könnte als Tochter den Thron ohnehin nicht erben, erst recht nicht, weil sie ins Ausland geheiratet hat. Sie kann aber das Weingut Traubendorf erben, das Laurenz von Traubendorf mir verkauft hat und wird es an ihre Kinder weitergeben, wenn sie nicht nur Geld erben will“ erklärte Ludwig.

„Bislang ist es so, dass im Fall des Aussterbens einer Familie im Mannesstamm der Herzog über ein auf diese Weise erledigtes Lehen frei verfügen kann. Er kann es nach seiner Wahl neu vergeben oder auch als Krondomäne einziehen. Stirbt das Herzogshaus aus, können die Grafen den neuen Herzog wählen. Simon hätte als Graf von Falkenstein ebenso die Chance, zum neuen Herzog gewählt zu werden“, warf Coelestin von Kreuzburg ein.

„Als Graf von Falkenstein – wenn er von Alwin adoptiert wird und ihn beerbt – hätte Simon eine der kleinsten Grafschaften Scharfenburgs. Ich wage zu bezweifeln, dass die Grafen Scharfenburgs gerade den Grafen der mehr oder weniger kleinsten Grafschaft zum neuen Herzog wählen würden“, gab Martin zu bedenken. Fridolin von Rossensee maß den wenglischen Prinzen mit erkennbarer Verachtung.

„Was mischt Ihr als Wengländer Euch in diese Frage ein, die allein Scharfenburg betrifft? Maßt Ihr Euch jetzt schon Entscheidungsbefugnis hier an?“, fuhr er ihn an.

„Ich habe hier nichts zu entscheiden, Graf Fridolin“, entgegnete Martin ruhig. „Doch ich bin von Herzog Ludwig zu dieser Versammlung eingeladen worden und gebeten worden, Rat zu erteilen. Was Ihr aus dem Rat macht, den ich gebe, ist Eure Sache als scharfenburgische Grafen. Und ich denke, dass es Euch, Graf Fridolin, nicht zusteht, mir ein Rederecht zu verweigern, das mir der Herzog von Scharfenburg gewährt hat.“

„Wengländer haben Teile meiner Grafschaft verwüstet, in Schutt und Asche gelegt! Das habt Ihr mir zu bezahlen!“, fauchte Fridolin.

„Es wurde im Friedensvertrag vereinbart, dass die Kriegsschäden in Scharfenburg und Wengland jeweils aus den eigenen Kassen bezahlt werden und nicht zu Lasten des bisherigen Kriegsgegners gehen. Dafür sollen letztlich die Verräter geradestehen, die unsere Lande in diesen Krieg gestürzt haben“, erwiderte Martin. „Ich bin nicht hier, um den Friedensvertrag neu zu verhandeln, Graf Fridolin.“

„Das glaube ich! Ihr wollt gleich ganz Scharfenburg!“, donnerte Fridolin.

„Was lässt Euch zu dieser Annahme kommen?“, fragte der Wengländer.

„Ihr seid Wengländer! Ihr habt uns einfach überfallen!“, brüllte der Rossenseer.

„Fridolin! Seid Ihr von Sinnen?“, fuhr Ludwig dazwischen. „Ihr beschimpft den Falschen! Prinz Martin hat mit dem Kriegsausbruch so wenig zu tun wie Ihr! Gerade er hat sich für einen für beide Seiten annehmbaren Frieden eingesetzt“, erinnerte er scharf.

„Er ist ein Wengländer! Ich will hier keine Wengländer haben!“, schrie Fridolin.

„Aber ich!“, grollte Ludwig zurück. „Prinz Martin ist der Gesandte seines Vaters König Rudolf. Er genießt denselben Schutz, der auch einem Herold gebührt. Habt Ihr das verstanden, Fridolin?“

„Gesandter! Herold!“, ätzte Fridolin. „Er hat das Heer geführt, das meine Provinz verwüstet hat!“

„Das ist nicht wahr – und das wisst Ihr auch, Graf Fridolin“, versetzte Martin, der sich allmählich zur Ruhe zwingen musste.

„Ihr lügt!“, brüllte der Graf von Rossensee. Er wollte Martin anspringen, aber Leonhard von Thannburg hielt ihn fest.

„Hoheit, einer Eurer Grafen nennt mich wider besseres Wissen einen Lügner. Ihr wisst, dass ich als eine solche Beleidigung als Ritter nicht hinnehmen darf. Als Ritter kann ich Euren Grafen zum Duell fordern, um mir Genugtuung für diese Ungeheuerlichkeit zu geben. Als Gesandter, der dem Herold gleichgestellt ist, darf ich aber kein Duell führen. Sagt mir, was nun geschehen soll, wenn ich nicht der Grund für einen erneuten Krieg gegen Wengland sein soll, in meiner Ehre aber auch nicht geschädigt werde“, wandte Martin sich an den Herzog. Volker von Skarpenborn hob die Hand.

„Volker?“, erteilte Ludwig ihm das Wort.

„Hoheit, Prinz Martin darf als Gesandter nicht auf scharfenburgischem Boden kämpfen. Eine Duellforderung bei einer derart groben Beleidigung nicht auszusprechen, widerspricht aber den Ehrenregeln des Rittertums. Die Alvedrainsel ist seit je her neutraler Boden. Dort wäre ein Zweikampf zwischen Martin und Fridolin möglich, ohne Martins Status als wenglischer Gesandter zu untergraben“, schlug Volker vor. Ludwig schüttelte den Kopf.

„Nein. Das ist keine Lösung. Ich will weder meinen Schwiegersohn beleidigen lassen noch will ich, dass Fridolins Verhalten die Rechtfertigung für einen erneuten Krieg liefert. Mir fällt da aber noch was ein, Fridolin: Ihr wolltet doch einen Herold aufhalten, weil er eine Friedensbotschaft bei sich hatte. Deshalb wart Ihr schon vor zwei Jahren reif für das Schafott. Ihr habt mir damals gesagt, Ihr hättet mit den vorherigen Überfällen auf Herolde nichts zu tun. Damals habe ich Euch Gnade gewährt, weil ich Euren Beteuerungen glaubte, dass Ihr nur einen für Scharfenburg ungünstigen Frieden verhindern wolltet. Jetzt beleidigt Ihr einen Herold, nennt den vielleicht ehrenhaftesten Ritter der Verborgenen Lande einen Lügner. Ihr wisst sehr gut, dass Prinz Martin überhaupt nicht hier war, als Rossensee von Wengländern und Wilzaren angegriffen wurde. Insofern macht Ihr Euch selbst der Lüge schuldig, wenn Ihr darauf beharrt, ausgerechnet Martin für die Verwüstung Eurer Grafschaft verantwortlich zu machen.

Prinz Martin: Würde es Euch genügen, wenn Graf Fridolin seine Verfehlung einsieht und Euch um Vergebung bäte?“

„Ja, das würde mir genügen – wenn er dazu verspricht, solche Beleidigungen künftig zu unterlassen“, erwiderte der Wengländer.

„Gut. Graf Fridolin: Ich gebe Euch eine letzte Chance, Euren Kopf zu behalten, wenn Ihr hier und jetzt Prinz Martin für Eure Verfehlung um Verzeihung bittet und schwört, Martin fürderhin nicht wieder zu beleidigen“, wandte der Herzog sich an den Grafen von Rossensee.

Fridolin rang mit sich, das war ihm anzusehen. Schließlich nickte er.

„Prinz Martin, ich bitte Euch um Vergebung“, sagte er. Martin wartete eine Weile, ob Fridolin noch etwas sagen würde, aber er schwieg.

„Fehlt da nicht noch was?“, hakte der Prinz nach. Fridolin bekam einen roten Kopf.

„Wie?“

„Ihr wolltet doch noch etwas versprechen …“, grinste Martin.

„Ich schwöre, dass ich Euch nie wieder beleidigen werde. So wahr mir Gott helfe!“, schwor Fridolin mit erhobener Schwurhand.

„Dann vergebe ich Euch“, sagte Martin und lächelte ebenso sanft wie unwiderstehlich.

„Dann kommen wir zum eigentlichen Diskussionspunkt zurück: Erbrecht adoptierter Kinder von der leiblichen Familie“, setzte der Herzog spürbar erleichtert die eigentliche Sitzung fort. „Prinz Martin merkt richtig an, dass der Graf einer der kleinsten Grafschaften wohl wenig Aussichten hat, zum Herzog Scharfenburgs gewählt zu werden, wenn dafür bisher die Herrschaft über die größte Provinz erforderlich war“, sagte er.

„Moment: Simon müsste doch nicht adoptiert werden, um Graf von Falkenstein zu werden“, warf Heinrich ein. „Die Regelung, dass eine erbenlose Grafschaft an die größte Nachbarprovinz fällt und deren Baronie wird, ist doch längst aufgehoben. Erbenlose Grafschaften fallen künftig an den Herzog zurück und werden neu vergeben. Du kannst Simon nach Onkel Alwins Tod schlicht mit Falkenstein neu belehnen. In dem Fall bleibt er dein Sohn und könnte – wenn mir etwas zustoßen sollte, bevor ich einen männlichen Erben habe – für mich einspringen.“

Der Herzog schlug sich vor den Kopf, dass der Herzogshut ins Rutschen geriet und er ihn nur knapp auffangen konnte.

„Stimmt! Diese Vergiftung muss Gedächtnislücken hinterlassen haben. Danke, Heinrich!“, entfuhr es ihm, während er den Sitz der Krone mehr oder weniger diskret korrigierte.

„Ich bitte Euch, meine Grafen, um Verzeihung, dass ich Euch unnötig herkommen ließ“, ergänzte er.

 

Kapitel 2

Streitgespräch

 

Martin hob die Hand.

„Martin?“

„Ich finde, die Diskussion ist keineswegs unnötig, auch wenn der Fall, an den Ihr dachtet, anders lösbar ist“, sagte er. „Das Problem, dass adoptierte Kinder von ihren leiblichen Eltern nichts erben können, selbst wenn diese ihnen etwas hinterlassen wollen, bestünde doch weiterhin. Ich rege an, dass Ihr eine Bestimmung in das entsprechende Gesetz aufnehmt, dass ein willentliches Erbe an ein aus der Familie durch Adoption ausgeschiedenes Kind möglich sein soll. Nehmen wir mal den Fall an, dass die Familie, aus der das Kind stammt, reich ist oder nach der Adoption wird, aber keine weiteren Kinder vorhanden sind, die das Erbe übernehmen könnten. Die adoptierende Familie verliert aus irgendeinem Grund ihr Vermögen. Dann wäre es doch eine Wohltat, wenn das adoptierte Kind von seinen leiblichen Eltern erben könnte und damit seine Adoptivfamilie retten könnte“, schlug Martin vor.

„Und die Kirche geht leer aus?“, ereiferte sich Bischof Coelestin. „Solche herrenlosen Erbmassen fallen bislang an die Kirche!“

„Und eine Familie, die aus christlicher Nächstenliebe ein Kind aufgenommen hat, aber verarmt, soll Hunger leiden, weil das in Liebe aufgenommene Kind ein Erbe seiner leiblichen Eltern nicht erhalten darf, obwohl diese es eigentlich wollen?“, hakte der Prinz ein.

„Ich weiß nicht, wie großzügig der Adel in Wengland ist, wenn es um Kirchenstiftungen geht. Hier ist man damit recht … zurückhaltend … um es vorsichtig auszudrücken. Solche Erbmassen haben den Kirchen hier die Existenz gesichert“, versetzte Coelestin mit leisem Knurren.

„Sagt, Mylord Bischof, ist es möglich, dass die Kirche in Scharfenburg auch die Vermögen von Eltern erhält, deren Kinder deshalb nicht erbberechtigt sind, weil sie zwar nach der Eheschließung geboren wurden, aber als unehelich gel­ten, weil sie mutmaßlich vor der Ehe gezeugt wurden?“, fragte Martin mit spitzem Unterton.

„Ja, selbstverständlich!“, versetzte der Bischof.

„Dann ist mir auch klar, weshalb Eure Kirchen hier erstens überaus prachtvoll geschmückt sind und zweitens, dass die Reichen dieses Landes ihre Taschen recht fest zuknöpfen, wenn es um Spenden für die Kirche geht – zusätzlich zum normalen Zehnt. Wenn Ihr dann auch noch das Erbe derer beansprucht, die ohne Erben zum Herrn gehen, weil ihre Kinder aus immer welchen Gründen adoptiert wurden, muss man sich über keinen Edelstein wundern, der an Eurem Bischofsstab funkelt“, konstatierte der Prinz. „Was Wengland betrifft: Ihr müsstet es wissen, denn Ihr wart viele Jahre Weihbischof von Steinburg, nachdem Ihr aus Wilzarien fliehen musstet, als das Christentum dort verboten wurde.“

„Ihr geht zu weit, Prinz Martin!“ grollte der Bischof. „Die Frage, wann ein Kind von der heiligen Mutter Kirche als ehelich anerkannt wird, ist nicht Gegenstand dieser Diskussion! Das ist im Konkordat mit dem Heiligen Stuhl geregelt. Ihr werdet Euch nicht über die Kirche erheben!“

„Fern sei es von mir, mich in die kirchenrechtlichen Vereinbarungen Scharfenburgs einzumischen, das geht mich wirklich nichts an“, lächelte Martin verbindlich. „Aber es ist doch unbestreitbar, dass Euch das Erbe von solchen möglicherweise vorehelich Gezeugten eine Menge Geld einbringt. Regina und ich haben nicht ohne Grund darauf verzichtet, ein Kind zu zeugen, bevor wir auch nach scharfenburgischem Recht verheiratet waren. Allein aus den letzten drei Monaten kann ich um die zehn oder zwölf Bekanntschaften nennen, die wegen möglicher vorehelicher Zeugung nicht nur von einem gesetzlichen Erbe ausgeschlossen sind, sondern die – wie Adoptivkinder – auch dann nicht erben dürfen, wenn ihre Eltern es bewusst wollten. Und das sage ich als jemand, der nicht in diesem Lande zu Hause ist, also auch nur einen beschränkten Einblick hat. Wenn mir also schon zehn oder zwölf solcher Menschen bekannt sind, die von jeglichem Erbe ausgeschlossen sind, das dann die Kirche erhält, wenn ihre Eltern zu Gott befohlen werden, ist das gewiss nur ein kleiner Bruchteil aller von dieser Regelung Betroffenen. Ein wirklich warmer und nicht aufhörender Regen in die Schatullen der heiligen Mutter Kirche, kein Zweifel. Deshalb wäre meine Empfehlung an den Herzog und die hier versammelten Grafen, jedenfalls den Kindern ein Erbe zuzubilligen, die durch Adoption aus der Familie ausgeschieden sind.“

„Ich weiß, dass Euer Vater sich vehement dagegen gewehrt hat, diese sehr vernünftige Regelung in das Konkordat aufzunehmen. Gelegentlich frage ich mich, wie christlich Euer Vater wirklich ist, wenn er unehelichen Kindern Erbe zukommen lässt, wenn adoptierte Kinder weiter erben können, wenn er es zugelassen hat, dass Ihr den Kreuzzug abgebrochen habt, wenn er akzeptiert hat, einen Heiden gegen dieses christliche Land zu unterstützen. Ich sollte dem Bischof von Wachtelberg empfehlen, ihn zu exkommunizieren!“, knurrte der Bischof. Martins Lächeln war nur noch äußerlich freundlich.

„Nun, Ihr sprecht mir das Recht ab, das Konkordat zwischen Scharfenburg und dem Heiligen Stuhl auch nur zu kommentieren. Dann habt Ihr auch nicht das Recht, Euch in das unsere einzumischen. Mag sein, dass Ihr es einst mit verhandelt habt, als Ihr noch in Wengland wart, aber jetzt seid Ihr ein scharfenburgischer Graf, den das wenglische Konkordat nicht zu interessieren hat. Was den Abbruch des Kreuzzugs betrifft: Wir Wengländer haben uns geweigert, eine christliche Stadt – Zara – für Venedig anzugreifen, und wir haben uns geweigert, das urchristliche Konstantinopel zu plündern. Alle, die das getan haben, wurden vom Papst exkommuniziert. Und Ihr wollt die Exkommunikation meines Vaters empfehlen, weil seine Männer einen solchen Frevel nicht mitgemacht haben? Vergebt mir bitte, dass ich das für typisch wilzarisch halte, auch wenn Ihr zu den wenigen Christen gehört, die dieses Heidenreich jemals hervorge­bracht hat!“

„Coelestin von Kreuzburg ist ein Wilzare?“, fragte Ludwig verblüfft.

„Ja. Bischof Coelestin war Bischof von Wiesenberg im wilzarischen Fürstentum Aventur, bis König Havarik von Wilzarien das Christentum verbot“, antwortete Martin. „Er und alle Christen wurden vor die Wahl gestellt, Wilzarien in christliches Land zu verlassen oder umgebracht zu werden. Sie entschieden sich für die Auswanderung, als Graf Albin von Hirschfeld ihnen anbot, dort zu siedeln. Sie bekamen als Christen das wenglische Bürgerrecht, weshalb Ihr ihn als Coelestin von Wiesenberg, Weihbischof von Steinburg, kennen gelernt habt. Dass Wiesenberg kein wenglischer Ort ist, war Euch gewiss nicht bekannt, denn die Ortsbezeichnung gibt es seit vielen Jahren nicht mehr. Coelestin kam 1193 als neuer Bischof von Kreuzburg hierher. Zum damaligen Zeitpunkt war Wilzarien aber noch kein Feind unserer Lande. Deshalb wäre seine Herkunft aus Wilzarien seinerzeit auch kein Problem gewesen, selbst wenn es Euch bekannt gewesen wäre“, erklärte Martin.

Coelestin sprang auf.

„Weist diesen Heidenfreund aus dem Land, mein Herzog!“, rief er.

„Graf Coelestin, Ihr seid zwar Bischof des Sprengels Scharfenburg, den ich mir nicht aussuchen kann, weil das so mit dem Heiligen Stuhl vereinbart wurde, aber in weltlichen Dingen habt Ihr mir zu gehorchen, nicht ich Euch! Haben wir uns verstanden?“

„Dieser grüne Bengel erhebt sich über die Kirche und erdreistet sich auch noch, Euch ungebetene Ratschläge zu geben und mich obendrein zu verleumden! Weist ihn hinaus!“, forderte Coelestin grantig. Ludwig stand auf.

„Ihr, Graf Coelestin, hört auf der Stelle auf, meinen Schwiegersohn derartig anzugreifen! Er ist auf meinen Wunsch hier und erteilt auch auf meinen Wunsch Ratschläge. Ich habe durchaus nicht vergessen, dass Ihr mich einst aufgefordert habt, ihn als Geisel gegen seinen Vater zu missbrauchen; ihn, der in keiner Weise für den Krieg verantwortlich war, der alles daran gesetzt hat, ihn so zu beenden, dass sich Scharfenburger und Wengländer immer noch in die Augen sehen können, weil wir einen Frieden geschlossen haben, der keine Seite ungebührlich verletzt und keinen Triumph über den geschätzten Nachbarn zulässt. Bedenkt: Den Bischof kann ich mir nicht aussuchen, den Grafen sehr wohl. Das Bischofsamt von Kreuzburg ist keineswegs zwangsläufig mit der Grafenwürde dieser Provinz verknüpft, auch wenn es traditionell so gehandhabt wird. Aber wenn Ihr jetzt nicht friedlich werdet, muss ich mir überlegen, ob ich einen gebürtigen Wilzaren weiterhin als meinen Grafen dulden kann!“, fuhr er den Bischof an. Coelestin ließ sich verdattert in den Sessel fallen, aus dem er aufgesprungen war.

„Ihr … Ihr lasst es zu, dass Euer Schwiegersohn mich in den Verdacht des Verrates bringt?“, keuchte er.

„Das hat Martin nicht gesagt!“, widersprach Heinrich heftig. „Er hat lediglich Eure Drohung, die Exkommunikation seines Vaters zu empfehlen, als typisch wilzarisch bezeichnet, denn König Rudolf hat sich gegen die Kirche nichts zuschulden kommen lassen, wenn seine Männer den von Venedig befohlenen Frevel an christlichen Städten verweigert haben“, stellte er klar.

„Und wieso habt Ihr nicht versucht, von anderen italienischen Häfen ins Heilige Land zu kommen?“, hakte Coelestin bei Martin nach.

„Das haben wir, Exzellenz“, erwiderte der Prinz, der sich inzwischen auch erhoben hatte. „Aber Pisa und Genua konnten oder wollten uns keine Schiffe geben, mit denen wir hätten fahren können. Der Weg über Land hätte uns unweigerlich in den Frevel verstrickt, den wir zu meiden gedachten. Mein Vater war wenig amüsiert, als wir zurückkehrten ohne das Heilige Land betreten zu haben. Aber nach meiner Erklärung, die ihm auch von anderen Teilnehmern unseres Kreuzzuges bestätigt wurde, hat er unsere Entscheidung gutgeheißen.“

„Dann bitte ich Euch um Vergebung für meine insoweit ungerechtfertigten Vorwürfe“, sagte der Bischof.

„Gewährt, Mylord Bischof“, sagte Martin mit einer leichten Verbeugung. Ludwig bedeutete Martin, sich wieder zu setzen, was dieser auch tat.

„Also: Was haltet Ihr, meine Grafen davon, wenn adoptierte Kinder von ihrer leiblichen Familie erben können, wenn diese es wünscht?“

„Ich bin dafür“, erklärte Volker. „Und ich füge an, dass ich es für richtig halten würde, wenn auch möglicherweise vorehelich gezeugte Kinder ein Erbe erhalten können, wenn deren Familie es wünscht. Die Kinder können schließlich nichts dafür, dass ihre Eltern nicht warten konnten – oder dass sie einfach ein paar Tage zu früh auf die Welt gekommen sind. Der normale Zehnt sollte ausreichen, um die Kirchen und die Priester Scharfenburgs so auszustatten, dass sie ihren Dienst am Volk leisten können.“

„Ich bin dagegen, denn es raubt der heiligen Mutter Kirche die Pfründen, die der scharfenburgische Adel der Kirche konsequent verweigert!“, beharrte Coelestin. Doch außer ihm gab es niemanden, der fast jegliches Erbe, das in Scharfenburg anfiel, der Kirche zukommen lassen wollte. Alle, die für ein willentliches Erbe adoptierter Kinder stimmten, stimmten auch dafür, den möglicherweise vorehelich gezeugten Kindern ein willentliches Erbe zu kommen zu lassen.

„Was für ein Sündenpfuhl!“, schnaufte Coelestin. „Gott wird Euch für diesen Frevel strafen!“

„Für welchen Frevel, Mylord Bischof?“, fragte Simon verblüfft.

„Dieser Raub an der Kirche ist Frevel, sonst nichts!“, versetzte der Bischof.

„Wieso reicht der normale Zehnt, den die Kirche in Scharfenburg von jedem einzelnen Haushalt bekommt – einschließlich der Adelshaushalte, wie ich betone – nicht aus, um Kirchen auszustatten, Priester und den Bischof zu entlohnen? Rechnet mir das bitte vor“, entgegnete Simon.

„Ihr werdet diesen Frevel noch bereuen!“, drohte Coelestin erneut.

„Wollt Ihr Euren vormaligen Herrn, den König von Wilzarien, auf uns hetzen?“, hakte Simon eisig nach. „Ich garantiere Euch, dass Ihr das nicht überlebt – jedenfalls nicht als Graf dieses Landes.“

„Simon! Es ist genug!“, fuhr Ludwig seinen jüngeren Sohn an.

„Wie du wünschst, Vater“, erwiderte er, den Blick stur auf den zornigen Bischof gerichtet.

„Graf Coelestin: Setzt Euch! Wir haben noch mehr zu besprechen!“, befahl der Herzog. Zögernd nahm der Bischof wieder Platz. Simon setzte sich neben Martin.

„Ich glaube, ich sollte mir das Konkordat mal genau ansehen“, brummte er so leise, dass nur Martin und Regina es hören konnten.

 

Wenn dir diese Leseprobe gefallen hat, findest du das ganze Buch mit 198 Seiten hier:

Schwieriger Friede im Tredition Shop

Taschenbuch 12,00 €

Gebundenes Buch 20,00 €

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert