Prolog
Reisepläne
Der Ringkrieg lag nun fünf Jahre zurück. Seit fünf Jahren war Aragorn als Elessar Telcontar nun König von Gondor und Arnor. Seit fünf Jahren war eigentlich Frieden in Mittelerde, doch führte der König einen Krieg der besonderen Art: Papierkrieg! Entweder verfasste er Gesetze oder sprach Recht, schrieb Briefe, las Briefe, Berichte und Verträge, erteilte Weisungen. Im Moment wünschte er sich nichts mehr als Frieden auch an dieser Front. Der Stapel Akten, Briefe, Gesuche und Vertragsunterlagen auf seinem Schreibtisch hatte nach Elessars Überzeugung mindestens die Höhe des Mindolluin.
Der Blick des Königs suchte einen Ausweg, eine Rückzugsmöglichkeit und fiel auf eine kostbare, handgefertigte Landkarte, die eine Wand seines Arbeitszimmers schmückte, das sich im Weißen Turm von Minas Tirith über der Turmhalle befand. Es war lange her, dass er mehr als eine Stunde am Tag frische Luft geatmet hatte. Die Karte an der Wand zeigte ihm, was er – abgesehen von seiner Frau – so liebte: Mittelerdes viele Landschaften und Länder, manche dicht besiedelt, andere fast leer; manche fruchtbar, andere eher öd, aber immer interessant.
Er lehnte sich in den Schreibsessel zurück und erlaubte sich, einen Moment zu träumen – von dichten, würzigen Wäldern, von klaren Flüssen, rauschenden Wasserfällen, weiten Ebenen, Hügeln und schneebedeckten Bergen. Das Geräusch des plätschernden Wassers im Springbrunnen draußen vor dem offenen Fenster des Arbeitszimmers unterstützte seinen Tagtraum. Wie schön wäre es, wieder einmal für längere Zeit in der Natur zu sein!
‚Ich brauche schlichtweg Urlaub! Ich muss hier ‘raus, sonst bekomme ich noch eine Aktenallergie!‘, durchfuhr es Aragorn. ‚Aber wer kümmert sich dann um das Land?‘, war sein nächster Gedanke. Nein, ein König konnte nicht einfach für ein paar Wochen verschwinden. Aragorn seufzte. Bevor er König geworden war, hatte er sich mehr vor der Machtfülle gefürchtet, die dem König zu Verfügung stand, als vor dem goldenen Käfig, den das Dasein als König auch bedeutete. Jetzt war er seit fünf Jahren König von Arnor und Gondor; seine Macht hatte er eher subtil genutzt, sie nie direkt ausgespielt. Sein Volk liebte ihn, es lebte in Wohlstand und Zufriedenheit, wie es vor dem Ringkrieg nur noch im Auenland gewesen war. Seine Soldaten waren ihm treu ergeben, ebenso seine Statthalter, die er in verschiedenen Provinzen seines Reiches eingesetzt hatte. Aber seit seiner Krönung war er nur sehr selten überhaupt aus Minas Tirith herausgekommen – eindeutig zu wenig für einen Mann, der jahrzehntelang abgesehen von seiner Baumhütte in der Nähe von Bree, Besuchen in Bruchtal oder im Tänzelnden Pony kaum ein Dach über dem Kopf gehabt hatte –– und der jahrzehntelang völlig auf sich allein gestellt war. Selbst in Annúminas, der Hauptstadt Arnors, war er nur selten gewesen.
‚Das ist die beste Gelegenheit, die du finden kannst, um der Enge von Minas Tirith eine Weile zu entfliehen, Estel‘, sagte er sich. ‚Arnor braucht seinen König ebenso wie Gondor! Du solltest deinen Kram packen und für ein paar Monate nach Annúminas gehen. Du bekommst frische Luft, das Haus in Annúminas ist erheblich kleiner als der Palast hier, du brauchst nicht mal Personal mitzunehmen, weil es dort welches gibt, und unterwegs kannst du dich wieder einmal aus der Natur bedienen.‘
‚Und was ist mit der Verwaltung von Gondor?‘, meldete sich ein anderer aufdringlicher Gedanke. ‚Die willst du doch hoffentlich nicht schleifen lassen?!‘
Aragorn hatte das Gefühl, Manwe und Morgoth säßen in Miniaturgestalt auf seinen Schultern und stritten miteinander, wozu sie den König überreden wollten.
Er sah aus dem Fenster, das nach Osten gerichtet war. In der Ferne waren bläulich schimmernd die zackigen Felsen des Ephel Dúath zu erkennen. Seit Mordor von Sauron frei war, gab es sogar wieder Schnee auf den Spitzen einiger Berge. Jetzt, im Abendlicht der hinter den Ered Nimrais untergehenden Sonne, leuchteten die weißen Spitzen in glühendem Rot. Aragorn drehte sich noch einmal zu seinem Schreibtisch um und beschloss, seine Arbeit für heute zu beenden, mochte ihn sein Aktenberg auch noch so vorwurfsvoll ansehen. Seit dem frühen Morgen, seit die Sonne hinter dem Ephel Dúath aufgegangen war, hatte er gearbeitet und sein Arbeitszimmer nur zum Mittagessen verlassen. Auch von einem König konnte niemand erwarten, dass er Tag und Nacht arbeitete.
Er trat aus der Tür seines Arbeitszimmers und wäre fast mit Bergil, Beregonds Sohn, zusammengestoßen, der seit eben diesen fünf Jahren Aragorns Knappe war und der sich rührend um seinen Herrn und nicht weniger um seine Herrin bemühte.
„Lass‘ mich raten: Die Königin wünscht meine Gesellschaft beim Abendessen“, grinste Aragorn, der dem Zusammenstoß nur knapp ausweichen konnte, so wie der Junge angestürmt kam. Aragorn kannte Arwens stete Sorge, dass er sich zu wenig um sich selbst kümmerte und die ihn deshalb regelmäßig von Bergil aus seinem Arbeitszimmer im Turm holen ließ.
„Ihr habt es erfasst, Herr“, bestätigte der Knappe. „Aber es ist auch Besuch da.“
„Und wer beehrt uns?“, erkundigte sich der König.
„Herr Faramir und Frau Éowyn sind gekommen. Auch Herr Legolas ist da.“
„Oh, das sind erfreuliche Aussichten. Komm, mein Junge“, sagte er und legte Bergil väterlich einen Arm um die Schulter. Mit jetzt sechzehn Jahren hatte Bergil nun sein letztes Knappenjahr begonnen. Im nächsten Jahr um diese Zeit wollte Aragorn ihn zum Ritter schlagen und in die Turmwache aufnehmen. In den letzten zwei Jahren war der Junge in die Höhe geschossen und war inzwischen größer als sein Vater. Bergil war ein Schwertfechter geworden, der bei einem Turnier gute Aussichten auf einen der vorderen Plätze hatte. Es war Aragorn ein persönliches Vergnügen gewesen, den Jungen selbst in dieser Disziplin zu unterrichten.
„Ist dein Vater auch mitgekommen?“, fragte Aragorn.
„Ja, Herr. Ich glaube, er würde Herrn Faramir ebenso wenig aus den Augen lassen, wie …“
Bergil stockte und sah den König etwas verlegen an.
„… wie du mich oder die Königin nicht aus den Augen lassen magst, wolltest du sagen, oder?“, lachte Aragorn. „Ist schon recht, mein Junge.“
König und Knappe betraten den großen Speisesaal im königlichen Palast, wo Arwen schon für die Gäste hatte decken lassen. Arwen sah ihren Mann mit gewisser Verblüffung an.
„Du bist tatsächlich zum Essen gekommen? Wo schreibe ich das hin?“, fragte sie neckend und umarmte Aragorn.
„Vielleicht in die Annalen des Hauses Telcontar, mein Liebling“, schlug er ebenso neckend vor, erwiderte ihre Umarmung und küsste sie.
„Hat Bergil dir schon gesagt, wer zu Besuch gekommen ist?“
„Er hat. Wo sind denn unsere Freunde?“
„Hier, du ewig verliebter Kater“, meldete sich eine helle Stimme aus dem Hintergrund, die sehr nach einem Elben klang. Aragorn drehte sich um. Éowyn und Faramir standen vor ihm; Legolas hinter ihnen.
„Herzlich willkommen in Minas Tirith!“, begrüßte Aragorn die Freunde, die Fürstin und den Fürsten von Ithilien und den Fürsten der Waldelben von Ithilien, umarmte alle drei voller Freude.
„Was führt euch her?“
„Genügt es dir nicht, dass wir dich und Arwen einfach nur mal besuchen wollten?“, fragte Éowyn mit einem schelmischen Lachen.
„Natürlich. Schön, dass ihr da seid“, erwiderte der König. „Kommt, lasst uns einen Happen essen“, lud er dann zur Tafel.
Einige Zeit später, als ein reiches Mahl, begleitet von gutem Wein, seinen Weg in die hungrigen Mägen von Menschen und Elben gefunden hatte, nahmen die Freunde im einem gemütlichen Kaminzimmer Platz, Aragorn und Faramir stopften sich die Pfeifen, Arwen ließ noch von dem guten Wein für eine nette Plauderrunde servieren.
„Um der Wahrheit die Ehre zu geben:“, setzte Faramir an, „Uns haben Beschwerden über dich erreicht.“
„Beschwerden über mich?“, fragte Aragorn mit einem Seitenblick auf seine Frau, die verschwörerisch schmunzelte. „So, so; und wer beschwert sich?“
„Unsere geliebte Königin, mein König.“ grinste Faramir. „Du arbeitest zu viel, sagt sie. Du findest den Weg aus deinem Arbeitszimmer nicht mehr.“
„Ah, ja. Das sind natürlich gravierende Vorwürfe. Darf ich ein Geständnis ablegen, Hohes Gericht?“
Faramir machte eine einladende Handbewegung.
„Ich bekenne mich schuldig in diesem Anklagepunkt. Stimmt, ich sitze derzeit von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang vor meinen Regierungsakten, arbeite den lieben langen Tag, finde kaum Zeit zum Essen – und wünsche die Dinger in die Sammath Naur oder zu Sauron persönlich, wenn nicht gar bis zu Morgoth!“, erwiderte Aragorn. Mit den Händen deutete er ein großes Tor an. „Siehst du dieses sperrangelweit offene Burgtor, mein Freund, das du gerade einrennst? Mir wäre nichts lieber, als die Ered Nimrais wieder in Form von Fels als in Form von Akten zu sehen! Als ich heute Abend beinahe unter diesen Bergen begraben worden wäre, kam mir der Gedanke, Urlaub zu machen – möglichst weit weg von Minas Tirith, möglichst ohne ein Heer von Wächtern.“
Arwen, Legolas, Éowyn und Faramir sahen sich betroffen an. Sie hatten Aragorn dazu überreden wollen, endlich einmal an sich selbst zu denken und eine Weile Pause zu machen, hatten sich schon alle möglichen Argumente zurechtgelegt, mit denen sie den König zu seinem Glück nötigen wollten – und es war gar nicht erforderlich.
„Aber die Sache hat Haken“, schränkte Aragorn dann ein. „Erstens …“
„Nein, hat sie nicht“, widersprach Faramir. „Es ist klar, dass du Gondor nicht einfach ohne Verwaltung lassen kannst. Darum sind Éowyn und ich ja hier. Ich bin der Statthalter von Gondor, wie du dich dunkel erinnern wirst. Also machst du Urlaub und ich werde dich vertreten, bis du dich erholt hast. Sei sicher, dass du deinen Thron unberührt vorfinden wirst – und dass ich dich wieder in die Stadt lasse, wenn du zurückkehrst.“
„Und ich habe mich schon gefragt, wie ich es dir schonend beibringen soll, dass du für eine Weile die Regierungsgeschäfte übernehmen sollst, Faramir“, erwiderte Aragorn lächelnd.
„Allerdings …“, meldete sich Legolas zu Wort, „du wirst nicht allein herum streifen!“, sagte er.
„Es ist einfach zu gefährlich“, warnte Arwen. „Die letzten Male, die du auf eine Alleinreise bestanden hast, sind recht böse ausgegangen. Das möchte ich nicht noch mal erleben.“
„Und welche Vorschläge habt ihr Verschwörer dazu?“
„Mindestens ich werde dich begleiten“, sagte Legolas. „Was hältst du von einer Jagdreise nach Eriador? Ich meine, mich an ein wundervolles Jagdrevier am Baranduin zu erinnern, an eine Baumhütte in der Nähe von Bree …“, sagte er in Anspielung auf Aragorns früheres Waldversteck, in dem Legolas seinen menschlichen Freund oft besucht hatte, wenn er Elben auf dem Weg nach Valinor bis nach Eriador begleitet hatte. Aragorn sah Arwen an.
„Auf dem Weg liegen auch Lórien und Bruchtal. Wann hast du deine Brüder eigentlich zuletzt gesehen?“, fragte er. Arwen lächelte zauberhaft.
„Im letzten Zeitalter, liebster König.“
„Dann wird es Zeit für ein Wiedersehen! Und dann reisen wir nach Annúminas weiter und bleiben noch einige Zeit am Abendrotsee.“
„Doch keine Jagdreise?“, erkundigte sich Legolas. Es klang fast enttäuscht.
„Oh, doch! Faramir, du wirst eine Weile in Minas Tirith bleiben müssen, fürchte ich …“
Faramir lächelte.
„Vielleicht geht es mir ähnlich wie dir: Ich war lange nicht mehr dort, woher ich gekommen bin. Ich liebe Ithilien, aber geboren bin ich nun mal in Minas Tirith. Geh’ und erhole dich im Norden, mein Freund und König. Ich bleibe und wache für dich über den Süden.“
Einige Tage brauchte die Reisevorbereitung doch. Vor allem wollte Aragorn vermeiden, dass seine Abwesenheit von Minas Tirith etwa den Haradrim oder dem Volk von Rhûn, den Rhûnrim, bekannt wurde. Zu groß war die Gefahr, dass diese Völker die Abwesenheit des Königs und die damit scheinbar verbundene Schutzlosigkeit des Landes zu neuen Attacken gegen Gondor nutzen konnten. Aragorn wies Faramir in die anstehenden Arbeiten ein, in den Stand der von ihm entwickelten Gesetze und den Stand der Beratung von Vereinbarungen mit anderen Fürsten Mittelerdes und zeigte ihm dann den Palantír, der im Arbeitszimmer eigentlich mehr Schmuck als Gebrauchsgegenstand war. Aragorn nutzte ihn meist als Briefbeschwerer, der auf einem hölzernen Ring in ebener Position gehalten wurde.
„Ich nehme den Palantír mit. Den Orthanc-Palantír lasse ich hier. Falls irgendetwas passiert, das meine Anwesenheit erfordert oder falls du mir etwas mitzuteilen hast, was keinen Aufschub duldet, benutze ihn.“
Faramir sah ihn fragend an.
„Nein, ich kann dir den anderen nicht geben, mein Freund. Das, was du sehen würdest, bis du ihn wirklich unter Kontrolle hast, würde dir schreckliche Qualen bereiten und das will ich nicht“, erklärte Aragorn. Es hatte ihm selbst einen regelrechten Schock versetzt, als er den Palantír aus dem Weißen Turm einmal mehr aus Versehen angeregt hatte. Faramir hatte noch nicht verstanden, das sah Aragorn an seinem Blick.
„Faramir, diesen Palantír hielt dein Vater in der Hand, als er sich im Haus der Statthalter mit Feuer das Leben nahm, weil er keine Chance sah, dass Minas Tirith und Gondor dem Angriff Saurons standhalten konnten. Schon das Wissen, dass dein Vater auf diese Weise ums Leben kam, ist grausam genug. Du solltest nicht mitansehen müssen, was sich genau abgespielt hat“, sagte Aragorn leise. Faramir nickte.
„Ja, du hast Recht. Aber dir will ich es auch nicht zumuten. Warum willst du dich damit belasten und überhaupt einen der Palantíri mitnehmen?“
„Ich will dich damit nicht kontrollieren, versteh’ mich recht. Das Ding steckt in meiner Satteltasche und da wird es bleiben, es sei denn ich bekomme einen Ruf von dir. Ich möchte nur, dass du die Möglichkeit hast, mich zu rufen, wenn es nötig ist.“
„Man sagt, Dúnedain könnten hellsehen“, bemerkte Faramir. „Hast du ein ungutes Gefühl?“
„Nein, das habe ich nicht. Aber gewisse Ereignisse seit meinem Regierungsantritt haben mich überzeugt, dass es besser ist, auf böse Überraschungen gefasst zu sein und reagieren zu können. Stell’ dir vor, die Haradrim bekommen heraus, dass der König Minas Tirith verlassen hat und eine Reise in den Norden unternimmt. Vielleicht habe ich Glück und sie greifen mich nicht direkt an. Aber sie könnten auf die Idee kommen, Gondor einen unliebsamen Besuch abzustatten. Sie sind raffiniert und listenreich. Nicht, dass ich dir nicht zutraue, mit ihnen fertig zu werden, aber kleine Hintertüren können unendlich wertvoll sein.“
„Gut. Ich verspreche dir, dass ich ihn nur im absoluten Notfall benutzen werde. Du sollst eine Weile Ruhe haben und nicht ständig an die Arbeit hier denken müssen“, erwiderte Faramir.
Als Aragorn Faramir mit dem Gebrauch des Palantír vertraut gemacht hatte, wies er auf sein Schwert Andúril, das an einem Haken an der Wand hing.
„Das“, sagte er, „bleibt auch hier. Ich nehme mein altes Waldläufer-Schwert mit. Ich lasse auch Brego hier und nehme Hasufel für die Reise. Jedes Kind kennt das Schwert, und Bregos Fellzeichnung ist mindestens so bekannt wie das Wappen von Gondor. Zuweilen ist es besser, unerkannt zu bleiben.“
Faramir grinste.
„Du hast gelernt, wie es scheint“, sagte er.
„Ich möchte vermeiden, Arwen nochmals so viel Arbeit zu machen. Sie hatte ihre liebe Not, mich wieder zusammenzuflicken. Also werden wir ganz unauffällig reisen.“
Kapitel 1
Freundschaftsbesuch
Zwei weitere Tage später machte sich eine kleine Reisegesellschaft auf den Weg nach Norden, die kaum Aufmerksamkeit erregte. Aragorn trug seine Waldläuferkluft mit dem Umhang aus Lórien, dessen Kapuze er tief ins Gesicht gezogen hatte und Arwen ihr elbisches Reitgewand ebenfalls mit einem Umhang aus Lothlórien. Allenfalls konnte auffällig sein, dass mit Bergil, Dwiher und Celdor der Knappe des Königs und zwei seiner Leibwächter die beiden vermummten Reiter und den Elben begleiteten. Die meisten, die die Reiter sahen, nahmen jedoch an, der König habe seinem elbischen Freund eine Eskorte mitgegeben.
Asfaloth, Arod und Hasufel hatten einen ebenso schnellen wie für die Reiter angenehmen Galopp. Aragorn genoss es ebenso wie Arwen, wieder unter freiem Himmel zu nächtigen, den Sternenhimmel über sich zu sehen, am offenen Feuer Wildbret zuzubereiten, das sie selbst mit Pfeil und Bogen erlegt hatten. So erreichten sie nur fünf Tage nach ihrem Aufbruch Edoras, wo sie Station machen wollten. Gamling, nach Hámas Tod von Éomer zum Obersten der Wächter der Goldenen Halle ernannt, hielt die Reisenden vor der Halle auf.
„Halt! Wer seid Ihr?“, fragte er streng. Legolas wollte schon aufbegehren, spürte aber Aragorns Hand auf seinem Arm und hielt sich zurück.
„Meldet Eurem Herrn, Streicher sei gekommen“, kam es aus der Tiefe der Kapuze.
„Ich glaube nicht, dass König Éomer jemanden dieses Namens kennt“, erwiderte Gamling.
„Probiert es, lieber Herr Gamling. Vielleicht erinnert er sich an den Namen Telcontar.“
Gamling erschrak und wäre fast in die Knie gegangen, hätte Aragorn ihn nicht zurückgehalten.
„Verzeiht, Herr! Ihr seid es?“, hakte der Wächter betroffen nach. Aragorn schlug die Kapuze zurück.
„So ist es“, gab er sich zu erkennen. „An Euch kommt man nicht vorbei, Herr Gamling. Éomer hat einen guten Wächter“, lobte er dann.
„Kommt herein, Herr. König Éomer und Königin Lothíriel werden sich freuen, Euch zu sehen“, sagte Gamling und trat, sich noch höflich von Arwen verneigend, beiseite. Die Torwächter öffneten die Tür der Goldenen Halle und ließen die Besucher ein. Éomer bemerkte die Ankömmlinge, erkannte sie und eilte ihnen durch die Halle entgegen.
„Willkommen in Edoras, meine Freunde!“, begrüßte er den Menschen und die beiden Elben. „Was führt euch her?“
„Wir sind auf der Durchreise nach Annúminas und wollten dich einfach nicht übergehen, wenn wir schon bei dir vorbeikommen“, entgegnete Aragorn, die brüderliche Umarmung Éomers erwidernd.
„Bleibst du länger dort?“, erkundigte sich der König der Mark.
„Möglich. Ich brauche einfach mal Abstand zu meinen Aktenbergen.“
„Dann werde ich dich nicht mit Problemen belästigen, Aragorn. Wenn ihr hungrig seid, kommt ihr gerade recht. Eben habe ich den Hinweis bekommen, dass das Essen fertig ist. Kommt, gehen wir zur Tafel.“
Was Éomer auftischen ließ, hätte selbst den ausgehungertsten Hobbit satt gemacht, dessen waren sich die Gäste sicher.
„Erwartest du noch unsere kleinen Freunde aus dem Auenland?“, fragte Aragorn als er die reiche Tafel sah. Éomer lachte herzlich.
„Nein, aber Rohirrim können auch gut essen, vor allem, wenn sie den ganzen Tag draußen auf den Koppeln waren. Und ich selbst bin eben erst von einem größeren Inspektionsritt bei meinen eigenen Zuchthöfen zurückgekommen. Setzt euch.“
Das rohirrische Königspaar und seine Gäste nahmen Platz und speisten, plauderten entspannt über alle möglichen Dinge.
„Du sprachst von Problemen, Éomer“, bemerkte Aragorn nach einiger Zeit. Auf Éomers Gesicht zeigte sich ein Schatten.
„Du solltest dich einmal nicht um Probleme kümmern, Freund“, sagte er ausweichend.
„Deine Probleme sind zumeist auch die meinen. Also, was ist los?“, beharrte Aragorn.
„Genau genommen weiß ich noch nicht, ob es wirklich ein ernsthaftes Problem ist, oder ob es sich bald von selbst auflöst…“, versuchte der König der Mark eine weitere Umgehung. Aber je mehr er darüber schweigen wollte, desto mehr wollte Aragorn wissen, das spürte Éomer deutlich.
„Es gibt einen seltsamen Geheimbund, der sich im östlichen Dunland und in den westlichsten Teilen der Mark gefunden hat“, sagte er schließlich, als Aragorn nicht locker ließ. „Nach Saurons Untergang haben sich die im Grenzgebiet verbliebenen Dunländer anständig benommen und sind friedliche Bauern geworden – wie die Rohirrim auch. Wir Eorlingas sind wohl grundsätzlich ein kriegerisches Volk, aber auch das kriegerischste Volk sehnt sich wohl nach so vielen Jahrhunderten Dauerkrieg nach Frieden. Nun ist er endlich da, aber nicht alle können ihn wirklich genießen. Seit einigen Wochen werden Rohirrim, die in den äußersten westlichen Teilen der Westfold wohnen, von recht seltsamen Gestalten bedroht, die in völliger Vermummung auftreten und die nicht gerade zimperlich sind. Nun, wir Rohirrim sind es auch nicht und die Burschen haben sich schon recht blutige Nasen geholt. Aber jetzt gehen sie auch gegen Gondorer vor, die ebenfalls dort Land erworben haben. Das aber sind Leute, die hier in Rohan Ruhe und Frieden gesucht haben, die wollen nicht unbedingt kämpfen. Einerseits habe ich zu wenig Soldaten, um die Höfe zu schützen, andererseits tauchen diese vermummten Gestalten auch immer dort auf, wo gerade keine Bewachung stattfindet. Hinzu kommt, dass ich nicht zu grob zugreifen will. Gerade bei solchen Geheimbünden besteht eine große Gefahr, die Falschen zu erwischen und die vielleicht attackierten Gutwilligen zu einem Aufstand aufzustacheln – gegen den König von Rohan oder – noch schlimmer – gegen König Elessar, befürchte ich“, erklärte Éomer.
„Also könnte Verrat im Spiel sein?“, mutmaßte Aragorn. Éomer nickte.
„Vermutlich“, räumte er ein. Arwen sah den Blick, den ihr Mann und Legolas tauschten und hatte das ungute Gefühl, dass Aragorn abenteuerlustig war und dass Legolas geneigt war, mitzumachen. Sie seufzte vernehmlich.
„Warum habe ich das Gefühl, dass ich bald mehr Athelas brauche, als in deinen Beutel passt?“, fragte sie.
„Ich möchte dir nicht gern Ungelegenheiten bereiten, das weißt du“, erwiderte Aragorn sanft. „Aber wenn Gondorer bedroht werden, haben sie ein Recht darauf, dass der König für sie da ist.“
„Für gewöhnlich hat der König für solche Dinge seine Soldaten“, gab die Königin zu bedenken, doch sie entdeckte in Aragorns Augen ein Glitzern, das sie schon länger nicht mehr bei ihm gesehen hatte. Ihr war klar, dass er eher heimlich aus dem Fenster steigen würde, um seinen Untertanen zu helfen, als dass er sich davon abhalten lassen würde. Sie gestand sich ein, gewusst zu haben, dass Aragorn ein Kämpfer war, der nur dann nicht weiterkämpfte, wenn er dazu körperlich nicht mehr in der Lage war. Und wenn Menschen bedroht wurden, die sich von ihm Hilfe versprachen, wäre Aragorn der Letzte, der diese Menschen enttäuschen würde. Sie erinnerte sich, wie sehr es ihn gequält hatte, dass er Frodo und Sam auf ihrem Weg nach Mordor nicht hatte beschützen können, wie er es bei Elronds Rat versprochen hatte; dass er Merry und Pippin für eine gewisse Zeit in den Händen der Uruk-hai hatte lassen müssen; dass sie sich selbst hatten befreien müssen, weil Aragorn, Legolas und Gimli Sarumans Häschern trotz aller Anstrengungen nicht so schnell hatten folgen können, wie sie gewollt hatten.
Etwas später zogen sich die Gäste in die Gemächer zurück, die Éomer ihnen hatte bereiten lassen. Arwen stand am Fenster des Schlafgemachs und sah auf die mondbeschienene Ebene nördlich von Edoras hinaus. Ein leichter Schritt hinter ihr ließ sie sich umsehen. Aragorn stand nah bei ihr und umarmte sie zärtlich. Arwen sah ihn prüfend an.
„Möchtest du den Bart an den Wangen eigentlich wieder wachsen lassen?“, erkundigte sie sich dann. Er nickte nur und zog sie nah an sich.
„Ich kann mir vorstellen, dass du Angst hast“, sagte er leise. „Doch ich habe geschworen, Unglück von meinem Volk fernzuhalten, soweit ich es vermag. Wenn Gondorer bedroht werden, kann ich das nicht ignorieren, muin nîn[1]. Zunächst möchte ich mir ein Bild machen, was überhaupt los ist. Legolas und ich werden nicht unvorsichtig sein, das verspreche ich dir.“
„Versprich mir nichts, was du nicht halten kannst“, bat sie und sah ihn lange an. Er schüttelte den Kopf.
„Da ist noch ein kleines Problem, das wir beide nicht übersehen sollten, speziell, was Soldaten aus Gondor betrifft: Rohan ist mit Gondor und Arnor verbündet, aber ich bin in Rohan nicht König. Es ist ein selbstständiges Land, und unsere Soldaten haben hier nichts zu suchen, es sei denn, Éomer fordert mich direkt auf, ihm mit gondorischen Soldaten Hilfe zu leisten. Schon deshalb können gondorische Soldaten hier nicht für gondorische Bürger streiten – abgesehen davon, dass Éomer den hierher ausgewanderten Gondorern das rohirrische Bürgerrecht verliehen hat“, erklärte Aragorn sanft und streichelte seine Frau beruhigend. Erst, als sein Finger zart über ihr Gesicht strich, spürte sie, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. Seine Küsse beruhigten sie nur langsam.
„Gen milin“, flüsterte er. „A aníron gen, bereth nîn[2].“
„Gen milin, aran nîn[3]“, erwiderte Arwen, ebenso flüsternd. Sie spürte, dass er sie auf seine Arme hob und zum Lager trug. Die zärtliche Leidenschaft des königlichen Paares in der mondhellen Nacht verwandelte Arwens Zweifel wieder in Vertrauen in Aragorns Geschicklichkeit, Schnelligkeit und Kraft. Dicht aneinandergeschmiegt sanken sie schließlich in tiefen, ruhigen Schlaf, den niemand störte. Zwar konnte Arwen sich als Kind des Elbenvolkes durch die betrachtende Meditation der Schönheit des Sternenhimmels genügend ausruhen; doch seit sie Aragorns Gemahlin war, hatte sie sich immer stärker zu ihrem eigenen menschlichen Erbe bekannt und hatte sich angewöhnt, mit geschlossenen Augen zu schlafen.
Irgendwann in der Nacht schreckte Arwen, von einem Albtraum gepeinigt, wieder hoch. Nur langsam beruhigte sich ihr rasender Herzschlag. Sie erkannte, wo sie sich befand und atmete tief durch. Neben sich bemerkte sie Aragorn, der tief und ruhig schlief. Es dauerte eine Weile, bis sie sich erinnerte, was er am folgenden Tag vorhatte. Sie lächelte. Natürlich wollte er keine Hilfe, zumal, wenn er nur auf Erkundung gehen wollte, das wusste sie nur zu gut. Aber sie würde nicht zulassen, dass Aragorn ohne jede Unterstützung blieb, mochte Éomer auch tausend Ausreden haben, um nicht auf eigenem Boden Krieg zu führen. Ihre Idee ließ sie wieder beruhigt einschlafen. König Éomer würde helfen. Oh, ja, das würde er. So viel Überredungskunst besaß sie durchaus…
Kapitel 2
Die Kapuzenmänner von Dunland
Earendils Stern verblasste als letzter der Sterne, als Legolas und Aragorn noch vor Sonnenaufgang Edoras verließen und der Weststraße folgend in Richtung der Pforte von Rohan ritten. Arod und Hasufel gaben alles, freuten sich, wieder durch ihre alte Heimat rennen zu können. Einen Moment lang bedauerte Aragorn seinen treuen Brego, der gern mit auf die weite Reise gegangen wäre. Aber Brego war ein zu bekanntes Pferd, um seinem Herrn das Inkognito zu ermöglichen, das er wünschte. Dank des schnellen Galopps ihrer Pferde und deren Ausdauer erreichten der Mensch und der Elb Helms Klamm schon am Abend desselben Tages. Erken-brand, Éomers Burgvogt von Helms Klamm und Herr der Westfold, empfing die Männer herzlich, lud sie zu einem stärkenden Mahl ein.
„Was führt Euch her, König E…“ setzte Erkenbrand an, stockte aber auf Aragorns abwehrende Handbewegung.
„Tut mir den Gefallen und verwendet Streicher als Namen“, bat er. Erkenbrand sah den König verblüfft an.
„Seit wann reist Ihr inkognito?“, fragte er dann. Aragorn lächelte.
„Öfter und länger, als Ihr je glauben würdet, Herr Erkenbrand. Könnt Ihr mir etwas über diesen seltsamen Geheimbund sagen, der hier die Bauern und Pferdezüchter bedroht?“
„König Éomer hat Euch davon erzählt?“
„Nur ungern offensichtlich“, erwiderte Aragorn. „Was geht hier vor?“
„Ich kann es Euch nicht genau sagen, Herr Streicher. Sicher ist, dass immer nur die Höfe angegriffen werden, auf denen gerade keine Wachen sind. Es scheint, als hätten diese Geheimbündler ihre Spione unter meinen Männern“, erklärte der Burgvogt.
„Habt Ihr Dunländer unter Euren Leuten?“
„Da sei Manwe vor!“, protestierte Erkenbrand. „Solche Strolche wollte ich unter meinen Männern nicht dulden!“
„Arbeiten sonst Dunländer für Euch? Als Stallburschen oder so?“
„Nicht, dass ich wüsste. Ich habe aber ein paar Männer, die wir aus Sarumans Kerker im Orthanc befreit haben, unter den Stallburschen.“
Aragorn und Legolas sahen sich vielsagend an. War das die undichte Stelle?
„Wir schlafen heute Nacht im Stall“, sagte Aragorn. Erkenbrand schaute ihn erschrocken an.
„Wenn Éomer erfährt, wo Ihr genächtigt habt, lässt er mich vierteilen!“, übertrieb der Burgvogt. Legolas lächelte ihn mit einem überirdischen Lächeln an.
„Bei Landstreichern wie uns würde er das kaum tun“, versetzte der Elb.
„Ehe man einen Elben für einen Landstreicher hält, vertrocknen in Lebennin alle fünf Flüsse auf einmal!“, entgegnete Erkenbrand entschieden.
„Lasst das unsere Sorge sein. Ihr werdet keinen Nachteil davon haben, wenn wir auf eigenen Wunsch im Stall nächtigen“, erwiderte Legolas.
Weit von Helms Klamm entfernt, suchte Arwen das persönliche und vertrauliche Gespräch mit Éomer.
„Éomer, ich glaube, ich muss dir nicht sagen, dass Aragorn sich mit Legolas in große Gefahr begibt, wenn er diesem Geheimbund nachspüren will, oder?“, fragte sie, als sie und der König von Rohan allein waren. Éomer schüttelte den Kopf.
„Nein, das ist mir durchaus klar“, erwiderte er.
„Und du lässt die beiden allein gehen?“, hakte die Königin nach. Éomer seufzte.
„Zum einen kennst du deinen Mann gut genug um zu wissen, dass er das tut, was er sich in seinen dúnedainischen Dickschädel gesetzt hat. Zum anderen habe ich mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln alles getan, um diesen Spuk zu beenden. Es ist mir zu meinem Leidwesen nicht gelungen – und es war mir schon peinlich, dass Aragorn überhaupt davon erfahren hat.“
„Éomer, Aragorn ist dein Freund. Wenn er sich jetzt auf den Weg gemacht hat, um zu forschen, was das für Leute sind, dann nicht, um dich bloßzustellen. So gut solltest du ihn auch kennen. Aber wenn er und Legolas mit diesen Leuten zusammenstoßen, besteht die Gefahr, dass Gondor demnächst einen neuen König braucht. Aragorn ist, wie du dich erinnerst, derzeit der letzte Erbe Isildurs. Noch haben wir keine Kinder. Sollte ihm etwas zustoßen, dann ist Isildurs Nachlass ohne einen möglichen Erben. Lass’ nicht zu, dass Mittelerde wieder im Chaos versinkt, ich bitte dich! Und wenn meine Bitten nichts fruchten, muss ich wohl deine Schwester Éowyn oder deine Frau Lothíriel bitten, dir den Kopf zurechtzurücken.“
Éomer sah beschämt zu Boden. Aragorn hatte sich nach dem Ende des Ringkrieges mehr als nur großzügig gezeigt und keine Anstalten gemacht, Rohan Gondor wieder einzuverleiben, was sein gutes Recht gewesen wäre. Ohne dass Éomer auch nur ansatzweise um Eigenständigkeit gebeten hatte, hatte Aragorn von sich aus Rohan für selbstständig erklärt.
„Ich werde ihn nicht allein lassen, das verspreche ich dir“, sagte der König der Mark.
Früh am nächsten Morgen ritt eine kleine Abteilung Reiter unter Führung Éomers in Richtung Helms Klamm.
Im Stall räumten Aragorn und Legolas sich jeweils einen Stand neben ihren Pferden frei und legten sich gleich nach Sonnenuntergang in das Stroh, deckten sich mit den Umhängen zu, die ihnen einst die Elben von Lórien zum Geschenk gemacht hatten. Nicht nur, dass die Umhänge wärmer waren, als deren dünnes Gewebe vermuten ließ, sie passten sich farblich fast an ihre Umgebung an – vor allem in einem halbdunklen Stall. Praktisch ungesehen hätten der Dúnadan und der Elb die Nacht im Stall verbringen können. Legolas’ scharfes Gehör vernahm jedoch schon lange vor Mitternacht leise Schritte und sehr gedämpfte Stimmen. Ein vorsichtiger, aber bestimmter Schubs weckte Aragorn. Schweigend bedeutete Legolas ihm zu horchen.
„Iskan, bist du hier?“, flüsterte eine raue Stimme.
„Ja, hier, in der Sattelkammer!“, antwortete eine andere Stimme. Schritte entfernten sich und verstummten.
„Wer sind die seltsamen Burschen, die beim Burgvogt gewesen sind?“, fragte Iskan.
„Keine Ahnung. Sahen ja nicht bedeutungsvoll aus.“
„Weißt du, wo die geblieben sind, Mirsur?“
„Schätze, die sind in der Hornburg, wo alle Gäste bleiben“, erwiderte Mirsur flüsternd-
„Hier, das habe ich vom Großen Meister bekommen. Wir treffen uns eine Stunde nach Sonnenaufgang am Orthanc. Dort will er uns das nächste Ziel nennen.“
„Gut. Wann hauen wir ab?“
„Wir haben nicht sehr viel Zeit. Es sind über fünfzig Meilen bis nach Isengard. Wir reiten in einer Stunde. Treffen wie üblich an Helms Deich“, sagte Iskan. Leise Schritte entfernten sich aus dem Stall.
Legolas und Aragorn warteten noch eine Weile, bis sie sicher waren, dass die Geheimbündler fort waren und sie nicht mehr beobachteten.
„Komm, wir wissen vorläufig genug“, flüsterte Aragorn. Fast lautlos standen sie auf, schlichen durch einen Nebenausgang des Stalls zum Innenhof hinaus bis zum eigentlichen Burgtor. Iskan und Mirsur konnten sie unmöglich gesehen und gehört haben, denn deren Überraschung war keineswegs gespielt, als sie die beiden Männer von der Burg herunterkommen sahen.
„Oh, Ihr wollt uns schon verlassen?“, fragte Iskan harmlos.
„Wir haben noch einen weiten Weg vor uns“, erwiderte Aragorn.
„Wohin wollt Ihr?“
„Nach Lebennin“, schwindelte Aragorn ungerührt. Iskan und Mirsur sahen sich bedeutungsvoll an.
„Sollen wie Euch die Pferde satteln?“, bot Mirsur scheinheilig an.
„Danke für Euer Angebot, aber unsere Pferde lassen nur ungern andere an sich heran außer uns selbst, auch wenn sie aus Rohan stammen“, wehrte Aragorn freundlich ab.
Eilig verließen die Freunde die alte Fluchtburg und hatten bald das Klammtal hinter sich gelassen. Etwa eine Stunde, nachdem sie von der Hornburg abgeritten waren, stoppte Aragorn Hasufel, saß ab und lauschte am Boden. Dumpfes Hufgetrappel zweier Pferde aus Richtung Helms Klamm dröhnte für sein geübtes Ohr durch den Boden.
„Das sind sie“, sagte er leise. „Die Verräter kommen. Wenn sie eine Stunde nach Sonnenaufgang am Orthanc sein wollen, müssen sie sich beeilen. Komm, wir nehmen den Weg östlich des Isen. Ich kenne dort einen Hintereingang zum Orthanc.“
Einige Hügel boten östlich des Isen zusätzlich zur Dunkelheit Sichtschutz, in dem Aragorn und Legolas die südlichen Ausläufer des Nebelgebirges erreichten. Nordöstlich von Isengard überquerten sie den Fluss und gelangten von Norden zum Orthanc. Gut getarnt in einem Gebüsch ließen sie die Pferde außerhalb des von den Ents beim Sturm auf Isengard zerstörten Ringwalls zurück, schlichen durch den von den Ents gepflanzten Wald und erreichten den gewaltigen Turm aus blankem, schwarzem Obsidiangestein noch vor den beiden Verrätern aus Helms Klamm. Eine Nische im unteren Absatz des Turmes bot ein ausreichendes Versteck für Legolas und Aragorn. Ihre grauen Elbenumhänge ließen sie fast mit dem Turmgestein verschmelzen und machten sie nahezu unsichtbar. Ein Beobachter hätte schon jede einzelne Nische mit dem scharfen Blick eines Elben absuchen müssen, um die Freunde zu entdecken. Die Geheimbündler fühlten sich aber völlig sicher und hatten keine Ahnung, dass jemand um ihren Treffpunkt wissen konnte.
Eine Stunde nach Sonnenaufgang begann das Treffen. Vor dem Orthanc versammelten sich auf einer Lichtung in der Nähe des Haupteingangs ungefähr fünfzig Gestalten in vollständiger Vermummung, was hieß, dass sie fast bodenlange, schwarze Gewänder trugen und auf dem Kopf hohe, spitze, schwarze Kapuzen, die nur die Augen und den Mund freiließen. Der Große Meister – recht gut an einer Kapuze zu erkennen, die die der anderen um das Doppelte überragte – hob die rechte Hand und es trat Ruhe ein.
„Heute Nacht wird der Brennende Baum der Rächer Dunlands den Hof des Landräubers Sigaril beleuchten! Wir haben diesen Gondorer jetzt oft genug gewarnt. Er will nicht gehen! Dann werden wir nachhelfen! Nummer Eins, du und Nummer Zwei, ihr habt mit dem Brennenden Baum für ausreichende Beleuchtung zu sorgen; Nummer Drei und Nummer Vier, ihr sorgt für die richtigen Stricke, die beim Hängen nicht gleich reißen. Wir gehen in drei Gruppen auf den Hof zu: Jeweils fünfzehn von jeder Seite. Nummer Fünf, Nummer Sechs und Nummer Sieben, ihr führt die Angriffsgruppen. Der Angriff beginnt eine Stunde nach Sonnenuntergang. Verschwindet jetzt und bleibt unauffällig!“, befahl der Große Meister. Die Leute des Geheimbundes gingen einzeln vom Orthanc weg, verschwanden zwischen den Hügeln des Zauberer-Tals.
Aragorn sah nach dem Sonnenstand. Die Versammlung hatte nicht lange gedauert, dennoch blieb nicht allzu viel Zeit.
„Und wo wohnt dieser Sigaril?“, fragte Legolas.
„Das müssen wir ganz schnell herausfinden, sonst hängt der heute Abend wahrscheinlich an seinem eigenen Apfelbaum“, erwiderte Aragorn. Der Elb sah den Dúnadan mit gewissen Zweifeln an.
„Und wie viele gibt es, die den Hof verteidigen können?“
„Korrigiere mich, wenn ich falsch liege. Ich meine, du hättest bei der Schlacht um Helms Klamm allein schon zweiundvierzig Uruk-hai erledigt“, gab Aragorn zurück. „Da sollten wir auch zu zweit mit fünfzig Mann fertig werden.“
„Mit entsprechenden Verteidigungsmöglichkeiten ja, mellon“, lächelte der Elb.
„Wenigstens gehst du nicht gleich davon aus, dass wir keine Chance haben“, grinste der Dúnadan. „Komm! Vielleicht gibt es im Orthanc noch ein paar interessante Kleinigkeiten, die wir gebrauchen können.“
„Denkst du an etwas Bestimmtes?“
„Ja, an das Orthanc-Feuer, mit dem die Uruk-hai den Klammwall gesprengt haben. Ich hoffe, dass Saruman sich darüber Aufzeichnungen gemacht hat“, erwiderte Aragorn und arbeitete sich auf dem relativ schmalen Sims zum nächsten Turmfenster. Mit seinem Dolch, den Celeborn ihm in Lórien geschenkt hatte, brach er das Fenster auf, Legolas und er stiegen in den Turm ein. In dem verlassenen Turm war muffige, stickige Luft. Seit Saruman den Orthanc verlassen hatte, war er unbewohnt und dementsprechend nicht mehr gelüftet worden.
Trotz eines guten Gespürs brauchten sie doch zwei Stunden, um Sarumans Studierzimmer zu finden. Der Istar hatte sich der Tengwar, der von dem Elben Feanor entwickelten Schriftzeichen bedient, um seine Formeln aufzuzeichnen. Unter den Elben waren die Tengwar die übliche Schrift, die sowohl Aragorn als auch Legolas ebenfalls beherrschten. Auch der Umstand, dass Saruman als Schriftsprache die hochelbische Sprache, das Quenya, gebrauchte, trug nicht zur Geheimhaltung bei, denn Legolas und Aragorn waren mit beiden Varianten des Elbischen vertraut.
„Hier, das muss es ein“, sagte Legolas nach einiger Zeit, die sie das Studierzimmer durchsucht hatten. In der Hand hielt er eine Schriftrolle, auf der Saruman die Formel für seinen Sprengstoff notiert hatte. Auch eine Zeichnung war darauf, auf der die Wirkungsweise und die Herstellung des Sprengkörpers eingehend beschrieben war.
„Wenn das den falschen Leuten in die Hände fällt, haben wir irgendwann ein Problem“, seufzte Aragorn.
„Der Orthanc wird nicht mehr benutzt“, gab Legolas zu bedenken.
„Nein, aber du siehst, wie leicht man hier einbrechen kann. Ich möchte nicht, dass dieses Wissen, das hier angesammelt ist, zum Beispiel an die Haradrim kommt, die sich noch nicht entschließen konnten, mit Gondor endgültig Frieden zu machen“, erwiderte der König.
„Harad ist weit vom Orthanc entfernt. Sie würden hier nicht eindringen können, ohne dass wir etwas davon bemerken.“
„Also, wetten würde ich darauf nicht“, entgegnete Aragorn. „Die Dunländer treffen sich zwar nur hier und gehen offenbar nicht in den Turm hinein, aber ich möchte wirklich sichergehen, dass das hier“, er machte eine ausladende Handbewegung, „ganz bestimmt nicht den Feinden Gondors bekannt wird. Für jetzt genügt uns die Formel. Ich muss noch mal mit Gandalf her, um dieses Wissen in Minas Tirith zu sichern.“
„Würdest du dieses Wissen nutzen, um dein Reich damit zu vergrößern?“, fragte der Elb. Aragorn schüttelte den Kopf.
„Nein, Arnor und Gondor sind groß genug. Ich muss nicht noch mehr Länder unter die Krone Gondors bekommen“, bemerkte Aragorn. Er sah Legolas’ fragenden Blick. „Nein, mellon nîn, wenn Elrond mich nicht dazu gezwungen hätte, hätte ich die Krone nicht haben wollen. Sie ist mir immer noch zu schwer. Ich selbst wollte diese Macht nie haben“, sagte er. Der Elb nickte.
Sie steckten einige Päckchen mit Sprengstoff, die ebenfalls in der Schriftrolle beschrieben waren, in einen Sack und verließen den Orthanc, eilten zurück zu ihren Pferden, als Aragorn Legolas plötzlich festhielt und ihn hinter einem umgestürzten Mauerblock in Deckung riss. Wortlos wies er auf deutlich sichtbare Fußspuren, die zu der Mauerbresche führten, hinter der sie ihre Pferde gelassen hatten. Vorsichtig schlichen sie an eine andere Stelle der Ringmauer, die sie fast lautlos erklommen. Von der Mauer spähten die Freunde hinunter. Neben der Bresche hockten drei der Schwarzgekleideten und schienen auf jemanden zu warten. Einer der drei bemerkte die Schatten, die die Anwesenheit von Personen auf der Mauer verrieten. Er sprang auf, aber bevor er überhaupt nach seinem Bogen gegriffen hatte, durchbohrte ihn bereits ein Pfeil aus Legolas’ Köcher. Aragorn zog sein Schwert und sprang hinunter, focht mit einem zweiten, der ihm nicht lange standhalten konnte, den dritten fällte ein weiterer Pfeil des elbischen Bogenschützen.
„Wenn der Große Meister diese Männer vermisst, wird er misstrauisch werden. Die müssen verschwinden“, sagte Legolas. Aragorn nickte nur und zu zweit legten sie die Toten zusammen und häuften Steine aus der geborstenen Mauer über ihnen auf, bis nichts mehr auf deren Anwesenheit hinwies.
„Schon fast Mittag“, bemerkte der Dúnadan, als er nach dem Stand der Sonne sah. Eilig ritten sie in Richtung Helms Klamm vom Orthanc fort.
Auf halbem Weg kam ihnen Erkenbrand schon mit einer kleinen Abteilung Reiter entgegen.
„Habt Ihr Iskan und Mirsur gesehen, Herr?“, fragte Erkenbrand.
„Zuletzt sahen wir sie am Pferdestall von Helms Klamm, aber sie sind etwa eine Stunde nach uns zum Orthanc geritten, um sich dort mit ihrem Großen Meister zu treffen“, erklärte Aragorn. „Gehören die beiden zu denen, die aus den Kerkern des Orthanc befreit wurden?“
„Ja“, bestätigte der Burgvogt.
„Dann seht Euch die Leute genau an, die noch dazu gehören. Iskan und Mirsur gehören jedenfalls zu diesen Geheimbündlern, die Eure Leute bedrohen. Wir haben die Pläne mitgehört. Sie wollen heute Abend mit insgesamt fünfzig Mann den Hof eines gewissen Sigaril überfallen, der aus Gondor stammen soll. Kennt Ihr den?“, fragte der Dúnadan. Erkenbrand nickte.
„Ja, der hat seinen Hof etwa zehn Meilen östlich der Isenfurten.“
„Wie viele Leute leben dort?“
„Sigaril, seine Frau und sein Sohn. Der Junge ist jetzt etwa sechzehn, schätze ich“, erwiderte Erkenbrand. „Herr, erwartet Ihr, dass ich Euch Männer mitgebe, um den Hof zu schützen?“, erkundigte er sich dann.
„Der Gedanke ist mir gekommen“, versetzte Aragorn.
„Vergebt, wenn ich Eurer Bitte in diesem Fall nicht folge, Herr. Zum einen habe ich die Erfahrung gemacht, dass bewachte Höfe nicht angegriffen werden, zum anderen besteht die Gefahr, dass diese Räuber sich an einem anderen Hof oder Dorf vergreifen, der ganz woanders ist, wenn sie merken, dass ein Hof gut geschützt ist“, entgegnete der Burgvogt.
„Weiß König Éomer davon?“, fragte Aragorn mit grimmiger werdender Miene.
„Was könnte er schon tun, als mehr Männer zu schicken, die dann vielleicht woanders fehlen?“, konterte Erkenbrand.
„Wo ist der Hof von Sigaril genau?“, erkundigte sich Aragorn. Erkenbrand wies schräg nach Nordosten.
„Zehn Meilen in dieser Richtung.“
„Danke, Herr Erkenbrand. Wenn Ihr dem Mann nicht helfen wollt, tun wir es alleine! Komm, Legolas!“
Der König und der Elbenprinz ließen die verdutzten Rohirrim stehen und ritten, so schnell ihre Pferde noch zu laufen vermochten, in die von Erkenbrand angezeigte Richtung.
Erkenbrand und seine Männer kehrten zurück nach Helms Klamm, die sie am Nachmittag erreichten. Als sie dort eintrafen, standen sie plötzlich vor König Éomer.
„Wo ist Elessar?“, fragte er.
„Er ist zum Hof des Bauern Sigaril unterwegs, der von den Geheimbündlern bedroht wird, so sagte er mir“, erwiderte der Burgvogt.
„Und was hast du unternommen, um ihm zu helfen?“, fragte Éomer weiter.
„Was meint Ihr, Herr?“
„Wie viele Leute hast du Elessar und Legolas mitgegeben?“, präzisierte Éomer.
„Keine. Ich hatte keine Weisung von Euch, das zu tun.“
„Hat Elessar je danach gefragt, wer ihm erlaubt, Helms Klamm mit seinem eigenen Leben zu verteidigen?“, knurrte Éomer.
„Herr, Elessar ist sein eigener Herr. Ich vertrete Euch hier. Ich kann ihm doch nicht…“
„Ohne Elessar hättest du auch kaum noch die Möglichkeit dazu, Erkenbrand! Ohne den gäbe es ein Reich mit Namen Rohan gar nicht mehr, geschweige denn eine Festung Helms Klamm in den Händen der Eorlingas! Du wirst ihm helfen, mit so vielen Männern, wie nötig sind!“, befahl Éomer.
Kapitel 3
Kampf um Sigarils Hof
Sigaril war ein Mann mittleren Alters, der im Hof Holz hackte, als er zwei Reiter auf müden Pferden bemerkte, die sich seinem Hoftor näherten. Sigaril verließ den Hauklotz und ging langsam zum Hoftor, die scharfe Axt vorsorglich in beiden Händen bereithaltend.
„Wer seid Ihr und was wollt Ihr?“, fragte der Bauer. Die beiden Reiter hielten vor dem Tor an.
„Wir wären Euch dankbar, wenn wir Wasser für unsere Pferde bekommen könnten. Und wir haben Nachrichten für Euch, wenn Ihr Sigaril aus Gondor seid“, sagte Aragorn.
„Ich weiß noch immer nicht, wer Ihr seid.“
„Man nennt mich Streicher und das ist mein Freund Thranduilion“, erwiderte Aragorn. Er hatte mit keinem Wort die Unwahrheit gesagt, denn die Übersetzung des einstigen Schimpfnamens Streicher ins Quenya bedeutete nichts anderes als Telcontar, was nunmehr der Name der Dynastie Aragorns werden sollte. Thranduilion bedeutete im Sindarin Thranduils Sohn, was Legolas tatsächlich war. Dem Bauern hatte Aragorn dennoch nicht offenbart, dass er der König war.
„Na schön, dann kommt“, lud Sigaril die Ankömmlinge auf den Hof. Legolas und Aragorn ritten durch das Tor und saßen ab.
„Und was für Nachrichten habt Ihr für mich?“, fragte Sigaril, als die Pferde durstig tranken. Höflich reichte er auch den Reitern Wasser, das sie auch nicht ablehnten.
„Danke“, sagte Aragorn, während Legolas sich schweigend gemessen verbeugte und ansonsten den Hof genau betrachtete.
„Wir haben erfahren, dass Ihr eine Stunde nach Sonnenuntergang unliebsamen Besuch bekommen werdet. Fünfzig schwarzbemäntelte Geheimbündler gedenken, Euch und Eure Familie zu vertreiben“, warnte der Dúnadan. Sigaril schüttelte den Kopf.
„Sie kommen nicht mehr, um zu vertreiben, sondern um zu töten. Ich danke Euch für die Warnung, aber sie kommt leider zu spät. Wir würden es nicht einmal mehr schaffen, die nötigsten Sachen zu packen und nach Helms Klamm zu flüchten“, erwiderte er.
„Und was haltet Ihr von kämpfen, Herr Sigaril?“
„Zwei gegen fünfzig? Das ist hoffnungslos!“, widersprach der Bauer. Aragorn wies in Richtung Helms Klamm.
„Gut fünf Jahre ist es her, da wurde dort im Klammtal eine Schlacht um die Hornburg geschlagen. Dreihundert kampffähige Rohirrim und etwa hundert Elben in der Festung hielten zehntausend Uruk-hai stand, bis Éomer, damals Marschall der Mark, mit zweitausend Reitern zu Hilfe kam“, versetzte er.
„Nun, zweitausendvierhundert gegen zehntausend, das mag gut gehen. Zwei gegen fünfzig? Nein!“, beharrte Sigaril.
„Vier gegen fünfzig“, korrigierte Aragorn kühl. „Und ich sage Euch: Hoffnung gibt es immer! Vor allem, wenn wir Euren Hof ein bisschen sichern.“
„Nicht mal, wenn mein König selbst samt seinem zauberkundigen Freund noch mithelfen würde“, zweifelte Sigaril. Aragorn war nahe daran, sein Inkognito aufzugeben, um dem Bauern Vertrauen zu geben, besann sich dann aber eines anderen.
„Ihr habt die Wahl: Sterbt kampflos oder nehmt noch ein paar von denen ins Jenseits mit, wenn es Euch zu spät erscheint, Euren Hof zu verlassen“, erwiderte er.
„Was habt Ihr vor, Streicher?“
„Euren Hof so zu sichern, dass wir zu viert eine Chance haben. Sie sollten tunlichst gar nicht erst ans Haus herankommen.“
Aragorn und Sigaril präparierten den Hof mit Stolperdrähten, die etwa in Wadenhöhe kreuz und quer über den Hof reichten; Legolas sah sich das Dach des Hauses genau an und baute dann eine fast quadratische Brustwehr um den Rauchabzug, hinter der sie alle drei kniend schießen konnten. Aragorn vergrub noch einige Sprengfallen, die mit einem brennenden Pfeil jederzeit zur Explosion gebracht werden konnten. Außerdem tränkten sie das Strohdach so gründlich mit Wasser, dass es schon fast durchregnete; aber nur so konnten sie verhindern, dass die Strolche das Dach in Brand schießen konnten. Dann legten sich die Männer, Sigarils Frau Kyrwyn und sein Sohn Herlif zur Ruhe, um für einen Kampf in der Nacht ausgeruht zu sein.
Langsam wurde es dunkel. Im Westen verblasste der letzte Lichtschein, als Aragorn aus dem tiefen Schlaf erwachte. Es wurde Zeit aufzustehen. Im Schein einer nur niedrig brennenden Talglampe zog er sich an und weckte dann Legolas, der nur schwer in die Wirklichkeit zurückfand, obwohl er nach Elbenart lediglich mit offenen Augen meditiert hatte. Er sah zu Aragorn hinüber, der die Schärfe seines Schwertes prüfte und seinen Pfeilköcher bestückte. Seit Aragorn König war, hatte er die Wangen täglich von Bartstoppeln befreit und trug nur noch um Mund und Kinn den Bart. Seit der Abreise aus Minas Tirith hatte er sich aber nicht mehr rasiert. Ein dunkler Stoppelbart umrahmte sein ebenmäßiges, sonnengebräuntes Gesicht und gab ihm ein verwegenes Aussehen, das wieder sehr nach dem Waldläufer Streicher aussah.
„Ist fast wie damals in Helms Klamm, als wir auf den Angriff der Uruk-hai gewartet haben“, bemerkte Aragorn mit einem fast wölfischen Grinsen.
„Aussehen tust du fast so – nur dass du heute keinen Absturz hinter dir hast“, erwiderte der Elb. Er sah die eiskalte Entschlossenheit in Aragorns Blick. Meist war ein freundliches Leuchten in seinen Augen, aber jetzt schien die blaugraue Iris aus Gletschereis zu bestehen. Die steile Falte zwischen den Augen verhieß ebenfalls nichts Gutes.
„Mir tun die Brüder schon fast Leid. Die wissen gar nicht, mit wem sie sich angelegt haben!“, seufzte der Elb. Ein metallisches Geräusch zeigte, dass Aragorn sein Schwert nachschliff. Das war keine leere Drohung, das war eine Ankündigung für den Fall, dass es doch zum Nahkampf kommen sollte. Legolas wusste um die Fechtkunst seines Freundes.
„Ich hoffe, du wirst nicht auch noch Verwundete erschlagen.“
„Kommt drauf an“, erwiderte der Dúnadan. „Wer sich ergibt hat sicher bessere Chancen als jemand, der meint, er müsse auch noch verwundet auf einen von uns einschlagen. Letzterer hat Pech gehabt.“
Der Fackelzug der Geheimbündler war nicht zu übersehen. Die Männer in den schwarzen Kutten machten sich nicht die Mühe, sich zu tarnen oder heimlich an das gewählte Ziel heranzugehen. In der Regel verbreitete schon ihr Aufzug mit Fackeln und Kapuzen Angst und Schrecken. Hinter den Maskenkapuzen erkannte sie ja niemand. Und bisher hatten sie auch noch nirgendwo ernsthaften Widerstand erhalten. Bei einem Verhältnis von fast zwanzig zu eins war das auch kein allzu großes Wunder. Die Rächer von Dunland kamen in dieser Nacht nicht, um jemanden zu verjagen, sie kamen, um zu töten. Oft genug hatten sie Sigaril gewarnt, ihn bedroht. Er hatte nicht weichen wollen. Heute Nacht würden er und seine Familie die Quittung für seine Sturheit bekommen. Nummer Drei hatte seine Stricke bereit, um mögliche Überlebende der Angegriffenen an Ort und Stelle aufzuhängen. Nummer Eins und Nummer Zwei schleppten den großen Baum, der als brennende Visitenkarte nach dem Überfall jeden abschrecken sollte, dem Geheimbund Widerstand zu leisten. Drei Leichen, die im Licht des brennenden Baumes baumelten – das würde schon für die nötige Angst der Rohirrim und Gondorer sorgen. Der Zug teilte sich auf ein Handzeichen des Großen Meisters in drei Gruppen. Die eine Gruppe umging den Hof südlicher Richtung, eine andere marschierte schnurstracks auf das Hauptgebäude zu, die dritte kam aus Richtung eines kleinen Baches.
„Sie kommen“, sagte Legolas. Er nickte Aragorn zu, der sein Nicken erwiderte. Sie stiegen in das Krähennest hinauf. In dem Nicken der beiden Männer stand die unausgesprochene Vereinbarung, in dieser Nacht ebenso gezielt zu schießen, wie sie es im Ringkrieg getan hatten. Legolas war als Elb zum Scharfschützen prädestiniert und von Aragorn hatte es stets geheißen, dass es kaum einen besseren Bogenschützen unter den Menschen gab als ihn. Sie wollten den in deutlich sichtbarer Überzahl kommenden Geheimbündlern keine Chance geben, das Haus zu stürmen, um die Bewohner im Nahkampf zu überwältigen. Aragorn sah hinaus auf den Hofplatz, der jetzt von den vielen Fackeln der schwarzen Brüder erhellt wurde. Einen Moment noch hatte er Gewissensbisse, gezielt tödlich zu schießen, aber als er die Stricke in der Hand von Nummer Drei sah, wurde ihm klar, dass er sein eigenes Leben und das seiner Mitstreiter nur erhalten konnte, wenn er tödlich traf.
„Sigaril! Komm heraus!“, rief der Große Meister vor dem Haupthaus.
„Wenn ich komme – was passiert dann?“, fragte Sigaril von oben. Der Rauchabzug lag im Dunkeln, die Geheimbündler konnten ihn nicht sehen, wohl aber hören.
„Wir haben dir oft genug gesagt, dass du mit deiner Brut hier verschwinden sollst, Sigaril! Wir wollen hier keine Gondorer! Du hast nicht gehört – und jetzt ist unsere Geduld am Ende! Du wirst hängen – samt deiner Familie!“
„Ihr wollt einen Jungen von sechzehn Jahren hängen? Ihr wollt eine Frau hängen? Ihr seid nichts als Abschaum, seid einfach feige Banditen!“, rief Sigaril vom Dach. „Aber wenn ihr uns hängen wollt, dann müsst ihr uns erst einmal haben. Los, kommt, und holt uns, wenn ihr könnt!“
„Verdammt, wo ist der Kerl?“, grollte der Große Meister, der den gut getarnten Mann zwar zu Recht auf dem Dach vermutete, ihn aber nicht entdecken konnte. „Stellt endlich den Baum auf und macht mehr Licht!“
Eine Explosion erschütterte die Nacht, als eine Stichflamme aus der Scheune schoss, die in hellen Flammen stand. Erschrocken prallten die Geheimbündler zurück, die von hinten gegen das Haupthaus vorgingen, obwohl es ihre eigenen Genossen waren, die die Scheune in Brand gesteckt hatten.
„Ich warne euch! Der Hof ist mit Feuerfallen gespickt! Verschwindet, solange ihr noch Zeit habt!“, schrie Sigaril.
Obwohl der Große Meister Sigaril nicht sah, ging er weiter davon aus, leichtes Spiel mit einem Mann, einer Frau und einem halbwüchsigen Jungen zu haben.
„Los, schießt, was die Bogen hergeben, Jungs! Macht sie alle!“, befahl der Anführer.
Ohne genau zu sehen, worauf sie eigentlich schossen, eröffneten die im Hof befindlichen Geheimbündler den Beschuss mit Pfeilen und wunderten sich, dass das Strohdach trotz einiger Brandpfeile kein Feuer fing. Aragorn hob seinen Bogen und erwiderte die Pfeilschüsse der vorderen Schwarzkittel tödlich gezielt, während Legolas die Brandpfeile aus dem Stroh zog. Fünf Pfeile, vier Mann sanken tot zu Boden, der Fünfte schrie schwer verwundet vor Schmerzen. Unbeeindruckt davon stürmten die nächsten auf Befehl des Anführers vor und verhedderten sich in den Stolperdrähten und wurden von Aragorn und Legolas so mit Pfeilen eingedeckt, dass sie sich wieder zurückziehen mussten, weitere vier Tote zurücklassend.
Sigaril nahm sich die Horde vor, die weiterhin von hinten an das Haus heranzukommen versuchte. Eine weitere Sprengfalle explodierte, riss drei Geheimbündler in den Tod und verwundete weitere sechs. Mit ihren Fackeln standen die schwarzen Brüder mitten im Licht und waren für die drei Bogenschützen auf dem Dach lebende Zielscheiben, die sie nicht verfehlen konnten.
Der Große Meister versuchte es nun von der Stallseite, doch auch dort wurden die Pfeile massiv erwidert. Kyrwyn, Sigarils Frau und auch der junge Herlif verteidigten ihr Leben ebenso verbissen wie der Vater und die beiden Fremden auf dem Dach. Auch an dieser Seite starben vier Geheimbündler, sieben waren kampfunfähig verwundet und schrien um Hilfe.
Die Rächer Dunlands zogen sich zunächst zurück. Sigaril hielt Aragorn davon ab, auch auf die Zurückweichenden zu schießen.
„Nein“, sagte er mahnend, „sie weichen zurück. Lass es!“
Widerstrebend senkte der Dúnadan den schon erhobenen Bogen.
„Die sind gleich wieder da“, erwiderte er. „Die fragen sich im Moment, wie viele wir eigentlich sind. Sie werden bald nachgezählt haben.“
Der Große Meister hatte inzwischen nachgerechnet. Er hatte die Hälfte seiner Leute schon verloren, aber aufgeben kam für ihn nicht infrage. Es bestand die Gefahr, dass einige der Verwundeten trotz aller seine Vorsichtsmaßnahmen doch zu viel wussten und den Rest der Gruppe auffliegen lassen konnten. Das Risiko war dem Anführer zu hoch. Er befahl den Angriff von allen Seiten gleichzeitig. Die schwarzen Brüder stürmten vor und verfingen sich erneut in Stolper- und Sprengfallen, im gezielten Pfeilhagel der Verteidiger des Hofes. Der Große Meister rappelte sich gerade wieder auf, nachdem er über einen der vielen Stolperdrähte gefallen war und zielte auf das Dach, von wo die heftigste Gegenwehr kam. Zu seinem Pech hatte Aragorn ihn im Visier und war wieder schussbereit. Der Dúnadan zielte sorgfältig, traf den Großen Meister genau zwischen die Augen und tötete ihn auf der Stelle. Ebenso erging es Nummer Eins, den Sigaril erschoss und Nummer Zwei, der Legolas’ Pfeil zum Opfer fiel.
Der komplette Ausfall der Führungsriege verunsicherte die verbliebenen Geheimbündler nun doch. Sie zogen sich wieder zurück in Richtung der brennenden Scheune. Diesmal schickte auch Sigaril noch Pfeile hinter den Zurückweichenden her. Aragorn nahm einen Brandpfeil und zielte auf eines der Sprengstoffdepots, die er und Sigaril um den Hof verteilt hatten. Entsetzt sprangen die Geheimbündler vor der vernichtenden Explosion beiseite – in Richtung der brennenden Scheune, deren wabernde Hitze sie wieder zurücktrieb. Jetzt wichen sie zum Haus hin zurück, verwirrt und jetzt auch verängstigt.
Legolas sah die Chance, die Männer zum Aufgeben zu bewegen. Er legte seinen Bogen weg und stand auf und legte die Hände an den Mund.
„Gebt auf! Es hat keinen Zweck! Der Hof ist zu gut gesichert. Ihr habt keine Chance!“, rief er laut. Seine helle Stimme verriet den Elben, mochte er auch im Dunkel nur schwer erkennbar sein.
„Verdammt! Ein Elb!“, fluchte einer der schwarzen Brüder. „Der weiß eindeutig zu viel! Legt ihn um!“, brüllte er dann und schoss sofort. Bevor Aragorn Legolas in Deckung reißen konnte, sackte der getroffen zusammen und schrie auf. Ein Pfeil ragte aus seiner rechten Brustseite, knapp unterhalb der Schulter. Er versuchte, den Pfeil herauszuziehen, Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor. Unten wurde es noch lauter, als die Rächer Dunlands ihre Chance in der Pfeilpause nutzten und wieder vorstürmten. Aragorn ließ Legolas vorsichtig zu Boden, warf sich wieder hinter die Brustwehr und schoss schnell und gezielt auf die Angreifer. Die völlig überraschten Brüder hatten wieder schlimme Verluste, weil der wütende Aragorn jetzt keinerlei Pardon mehr kannte und Sigaril ebenfalls tödlich genau zielte. Sieben der zehn Angreifer vor dem Haus blieben tot auf dem Platz. Die überlebenden drei Mann zogen sich wieder zurück.
„Sie ziehen sich wieder zurück!“, rief Sigaril.
„Wie viele sind’s noch?“, fragte Aragorn
„Schätze zehn bis fünfzehn“, kam es vom Bauern zurück, der sich auch nach hinten orientieren konnte.
Der Hauptangriff der schwarzen Brüder hatte sich gegen die Front des Hauses gerichtet, dort, wo das Licht am besten war. Fünf der Angreifer hatten nach des Großen Meisters Befehl, von allen Seiten anzugreifen, bemerkt, dass die stallabgewandte Seite des Hauses völlig ruhig geblieben war. Sie arbeiteten sich über die Stolperdrähte an diese Seite heran. Sigaril konnte die Geheimbündler vom Dach aus nicht wahrnehmen, weil sie es inzwischen geschafft hatten, in den toten Winkel des Krähennestes zu kommen.
Unten im Haus brach eine Tür. Die Angreifer drangen in das Haus ein.
„Vorsicht!“, warnte Legolas, als der Erste durch den Rauchabzug sichtbar wurde. Aragorn sprang hinunter, zog noch im Sprung das Schwert und hieb auf den auf den Eindringling ein. Mit einem Schmerzensschrei stolperte der Kuttenmann rückwärts und riss den nachfolgenden Mann gleich noch mit. Aragorn sprang gleich weiter, packte sein Schwert beidhändig und griff auch den dritten an. Der dritte Mann, mit einem Bogen bewaffnet, schoss. Der Pfeil traf Aragorn in die linke Schulter, der das Schwert mit links nicht mehr stabilisieren konnte. Aber mit der rechten Hand konnte er fest genug zufassen und hieb nach einem weiteren Satz dem Mann den Kopf ab. Die verbleibenden Eindringlinge merkten, dass ihre Chancen trotz der offensichtlichen Verwundung des Dúnadan nicht zu ihrem Besten standen und wollten fliehen. Sie kamen nicht weit, weil Aragorn sie ohne jede Rücksicht mit seinem Dolch und einem Stiefelmesser bewarf und niederstreckte. Selbst vor Schmerz stöhnend, stieß er die Waffen der Schwarzkittel weg und verpasste einem, der aufstehen wollte, einen so brutalen Tritt in die Weichteile, dass der Mann augenblicklich ohnmächtig war.
Die letzten acht Geheimbündler, die angesichts des aussichtslosen Kampfes fliehen wollten, standen plötzlich vor Burgvogt Erkenbrand und zwanzig weiteren Männern, die der Burgvogt als Verstärkung mitgenommen hatte. Völlig geschockt hoben die Kapuzenmänner die Hände zum Zeichen ihrer Kapitulation. Das Desaster für den Geheimbund war komplett. Nicht nur, dass sechsundzwanzig von ihnen tot und sechzehn mehr oder weniger schwer verwundet waren, nein, man hatte sie gefangen genommen, konnte ihnen Tat und Mitgliedschaft im Geheimbund der Rächer von Dunland zweifelsfrei nachweisen.
„Jetzt ist’s genug!“, rief Erkenbrand. „Im Namen des Königs: Ihr seid verhaftet!“
„Elender Forgoil[4]!“, fluchte einer der Schwarzbemäntelten. Er hatte keine Gelegenheit mehr, die unbedachten Worte zu bereuen. Erkenbrand erschlug ihn.
„Noch jemand, der dumme Bemerkungen machen will?“, fragte der Burgvogt die wenigen verbliebenen schwarzen Brüder. Sie schwiegen erschrocken. Die Rohirrim trieben die Gefangenen auf den Hof Sigarils zurück. Der Hof glich einem Schlachtfeld, war übersät mit Toten und Verwundeten.
Sigaril kam aus dem Krähennest herunter, während seine Frau sich schon um die Verwundungen von Legolas und Aragorn kümmerte.
„Ihr habt Glück gehabt, Thranduilion. Es ist nur eine Fleischwunde“, sagte sie und verband Legolas’ Brustverletzung.
„Ich danke Euch“, sagte der Elb, als die Bauersfrau Aragorns Schulter untersuchte.
„Die Spitze steckt noch drin, Streicher. Ich kann sie nicht entfernen. Ihr braucht einen Heiler.“
Aragorn verzog schmerzvoll das Gesicht und stöhnte unterdrückt, als Kyrwyn ihm einen Verband anlegte, um die Blutung zu stillen.
„In Edoras ist ein Heiler. Der wird die Spitze schon herausschneiden“, ächzte er. „Legt den Arm einfach nur still, damit ich ihn nicht bewegen kann.“
Kyrwyn nickte, legte seinen linken Arm in eine Schlinge, befestigte auch die linke Hand fest am Körper und half dem Dúnadan, sich wieder anzuziehen.
„Ich habe noch keinen, der nicht elbischen Bluts ist, so präzise schießen sehen wie Euch, Streicher. Ich glaube, ich habe Euch sehr unterschätzt“, bemerkte Sigaril.
Aragorn bedankte sich bei Kyrwyn für die Notversorgung und wandte sich dann an ihren Mann:
„Das, Sigaril, ist auch anderen schon so gegangen. Aber jetzt bin ich neugierig, was eigentlich Euer Umdenken bewirkt hat, Herr Erkenbrand. Eigentlich wolltet Ihr Eure Männer doch woanders einsetzen“, sagte Aragorn, an den Burgvogt gewandt. Ein Reiter aus Erkenbrands Éored trieb sein Pferd nach vorn und nahm den Helm ab. Éomer kam zum Vorschein.
„Mein lieber Burgvogt hätte wohl noch eine Weile überlegt, ob er berechtigt ist, euch zu helfen, wenn ich ihn nicht überredet hätte, sofort sein Pferd zu satteln, um euch mit seiner Éored zu Hilfe zu kommen!“, grinste der König der Mark. Sigaril, der als Untertan des Königs von Rohan das Knie beugte, sah mit einiger Verblüffung, dass Streicher das nicht tat. Im Gegenteil, König Éomer verneigte sich vor ihm!
„Gondor ist ein glückliches Land, mein Freund, und die Gondorer können stolz sein auf ihren König, der für seine Landsleute mit seinem eigenen Leben einsteht! Heil, König Elessar!“
Sigaril erstarrte vor Schreck.
„Ihr …“, stotterte er und wollte wieder in die Knie gehen, aber Aragorn hinderte ihn.
„Lasst es, mein Freund. Vor mir wird nicht im Staub gelegen.“
„Wie kann ich Euch nur danken?“
Aragorn lächelte.
„Bleibt hier, seid meinem Freund Éomer ein treuer Untertan, züchtet gute Pferde und borgt meinen Boten zuweilen eines aus, wenn sie hier Pferde wechseln müssen. Und außerdem – den Dank verdiene ich nicht alleine. Auch Legolas, Fürst der Elben vom Grünwald, hat Euch beigestanden.“
Während der überraschte Bauer und seine Familie nicht recht wussten, wie und wem sie zuerst danken sollten, waren die überlebenden Geheimbündler nun vollends in Angst und Schrecken versetzt. Sie hatten den König selbst angegriffen! Welche Strafe würde sie erwarten? Zunächst ließ Éomer sie in Helms Klamm sicher verwahren und wies Erkenbrand an, die Gefangenen zu vernehmen und nach den Ergebnissen der Vernehmungen seine Männer auszuschicken, um eventuelle Reste der Bande ebenfalls festzunehmen. Nie wieder sollten Rohirrim oder Gondorer durch solche Banditen bedroht werden.
Mit gewisser Mühe bestiegen Aragorn und Legolas ihre Pferde und ritten mit Éomer und einem recht beschämten Erkenbrand zunächst nach Helms Klamm zurück.
„Sag’ mir bitte, lieber Freund, was dich hierher verschlagen hat“, forderte Aragorn ihn auf.
„Arwen hat mir keine Ruhe gelassen, als du gestern nicht nach Edoras zurückgekommen bist. Sie hat mir – in aller Freundschaft – angedroht, mir meine Schwester auf den Hals zu hetzen, wenn dir etwas zustößt!“, lachte Éomer. „Du solltest dazu wissen, Aragorn, dass Éowyn für dich immer noch sehr viel mehr als nur Freundschaft empfindet. Sie liebt Faramir sehr, aber du bist für sie ebenso ein großer Bruder, wie ich es auch bin. Es würde ihr mindestens ebenso wehtun wie deiner Frau, wenn dir ernsthaft etwas geschieht. Was ist eigentlich mit deiner Schulter?“
„Es steckt noch eine Pfeilspitze drin“, erwiderte Aragorn, dessen linker Mundwinkel immer wieder schmerzvoll zuckte. Éomer sah von der Seite Legolas an, der schwieg.
„Schneidest du sie ‘raus oder muss ein grober Pferdeherr seine Künste ausprobieren?“, fragte Éomer.
„Ich fürchte, das muss ich in diesem Fall einem anderen überlassen“, erwiderte der Elb. Auf Éomers staunenden Blick offenbarte der Elb seine eigene Verwundung.
„Also grober Pferdeherr!“, grinste der König der Mark. „Ihr werdet euch noch wundern!“, kicherte er.
Kapitel 4
Ruhige Tage in Rohan
Als die Éored Helms Klamm erreichte, lotste Éomer Aragorn und Legolas gleich in einen ruhigen Raum, wo sich ein Heilkundiger ihrer Wunden annahm. Wider alles Erwarten verstand der rohirrische Arzt Méoden mehr von der Kunst, eine Pfeilspitze zu entfernen, als mancher, der in den Häusern der Heilung von Minas Tirith dieser Aufgabe nachkam. Legolas’ Wunde verband er frisch, nachdem er sie noch einmal gründlich gereinigt hatte und empfahl dem Elben, den rechten Arm möglichst einige Tage nicht zu bewegen. Dann untersuchte er die Wunde in Aragorns linker Schulter. Die Untersuchung verursachte heftige Schmerzen, Aragorn biss die Zähne zusammen und versuchte, gegen den Schmerz anzukämpfen. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, als der Heiler vorsichtig nach der Spitze tastete. Als der Heiler die Spitze fand und darauf drückte, war es mit dem Kampf vorbei. Aragorn wurde kreideweiß und kippte um wie ein gefällter Baum, ehe der Heiler und sein Helfer es verhindern konnten. Zu seinem Glück hatte er schon auf einem Bett gesessen, so dass er nicht weit fallen konnte. Méoden nutzte die Bewusstlosigkeit des Königs aus, schnitt rasch und präzise die Spitze heraus, säuberte die stark blutende Wunde und drückte die Wundränder dann zusammen und ließ seinen Assistenten einen festen Verband machen, um die Blutung zu stillen und die Wunde fest zu verschließen.
Aragorn erwachte, als es bereits wieder dunkel war. Er sah sich um und stellte fest, dass er sich nicht mehr in dem Zimmer befand, in dem Méoden die Spitze aus der Wunde entfernt hatte. Nur das wärmende Feuer im Kamin erhellte den Raum. Am Fenster entstand Bewegung.
„Ja, ja, das kommt davon, wenn man alte Freunde einfach ignoriert, du langes Ende!“, grunzte eine kleine Gestalt im Schatten eines Sessels, deren Umrisse sich scharf gegen den mondhellen Himmel abzeichneten.
„Gimli?“, fragte Aragorn. Dröhnendes Lachen zeigte, dass er sich angesichts des unübersehbaren langen Gabelbartes nicht getäuscht hatte.
„Wer sonst?“, lachte der Zwerg. „Was fällt euch eigentlich ein, Helms Klamm einen Besuch abzustatten und Aglarond nicht zu beehren, das keine fünfzig Klafter dahinter ist?“, schimpfte er dann. Durch sein Schimpfen hindurch war deutlich zu hören, dass er es keineswegs ernst meinte.
„Wir wollten dich so gern wieder zetern hören, Herr Zwerg!“, erwiderte Aragorn noch matt, aber schon wieder amüsiert. „Wie geht’s dir, Fürst der Zwerge von Aglarond?“
„Besser als dir allemal!“, versetzte Gimli. „Du kannst es auch nicht lassen, dich immer wieder in Abenteuer zu stürzen, was?“
Aragorn lächelte schwach.
„Manchmal geht es mit den Abenteuern schneller, als man es sich selbst wünscht“, erwiderte er.
„Weiß Arwen schon, was mit dir und Legolas passiert ist?“, fragte der Zwerg.
„Nun, sie hat Éomer hinter uns her gescheucht. Sie wird jedenfalls ahnen, dass nicht alles so glatt gegangen ist, wie ich es mir vorgestellt habe.“
„Du müsstest doch inzwischen klüger sein, nach allem, was dir seit deiner Krönung schon widerfahren ist“, mutmaßte Gimli. Aragorn richtete sich auf, was besser ging, als er selber angenommen hatte.
„Ich habe den Eindruck, als ob meine sämtlichen Freunde – Legolas eingeschlossen – der Meinung sind, dass ich nicht mehr in der Lage bin, mich meiner Haut zu wehren!“, versetzte er. Gimli kniff ein Auge zu.
„Dein Zustand scheint das eher zu bestätigen, mein lieber Freund!“
„Glaubt ihr eigentlich alle, ich wäre siebzig Jahre durch Mittelerde spaziert, ohne solches Ungemach? In Zeiten, in denen es mehr Orks als Zwerge gab? Lieber Gimli, ich habe in meiner Zeit als Waldläufer ebenso häufige und so schwere Verletzungen gehabt wie seit dem Ende des Ringkrieges, wenn nicht noch schlimmere!“
Gimli trat ins Licht des Feuers und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett. Seine kurzen Beine reichten kaum bis auf den Boden.
„Aragorn, du bist ein Dúnadan. Dúnedain haben ein langes, ein sehr langes Leben, gemessen an dem, was für euch Menschen normal ist. Aber auch ein Dúnadan ist und bleibt sterblich.“
„Du möchtest mich also darauf hinweisen, dass ein Mann mit vierundneunzig Jahren solche Reisen nicht mehr unternehmen sollte“, stellte Aragorn fest.
„Nein, eher darauf, dass bei Menschen irgendwann die Kraft nachlässt. Du bist keine zwanzig mehr, Junge!“
„Korrekt! Ich bin vierundneunzig, Gimli. Ich habe meinen Vater und meinen Großvater, die allerdings gewaltsam starben, um einige Jahrzehnte überlebt. Meine Frau Mutter war hundert, als sie das Zeitliche segnete. Das, was mich hier getroffen hat, hat nichts damit zu tun, dass ich mich nicht ausreichend dagegen gewehrt hätte!“, entgegnete Aragorn scharf und wies auf seine Wunde. „Wenn du meinst, im Ringkrieg hätte ich mehr Kraft gehabt, täuschst du dich. Ich war nur viel zorniger.“
„Du erinnerst dich an unsere Jagd nach den Uruk-hai, die Merry und Pippin geschnappt hatten? Wir sind drei Tage und Nächte fast ohne Pause gerannt, wir haben so gut wie nichts gegessen. Wir haben in Edoras nur einen Happen gegessen, dann sind wir nach Helms Klamm weitergezogen. Du bist bei dem Kampf mit den Wargreitern einige Dutzend Klafter tief abgestürzt, dass weder Legolas noch ich noch Théoden damit gerechnet haben, dass du jemals wieder auftauchen würdest. Und dann kommst du angeritten, spazierst direkt zum König und raufst anschließend bis zum nächsten Morgen noch mit Uruk-hai und Dunländern – und kein Mensch sieht dir an, dass du auch nur müde bist! Merkst du eigentlich nicht, dass du nicht mehr der Alte bist?“, hielt Gimli ihm vor.
„Gimli, was ich dir jetzt sage, das wirst du mir nicht glauben, aber ich sage es trotzdem: Ich habe bei der Schlacht um Helms Klamm den Tod gesucht. Und genau das hat mir diese ungeheure Kraft gegeben, die mich letztlich hat überleben lassen“, versetzte Aragorn. Gimli sah ihn an, als wären ihm Hörner gewachsen.
„Wie bitte?“, fragte er erschrocken.
„Ja, du hast richtig gehört: Ich wollte nicht mehr leben. Und weißt du auch warum?“
Gimli schüttelte sprachlos den Kopf.
„Ich hatte keine Hoffnung mehr, Arwen jemals heiraten zu können. Ich hatte ihr den dringenden Rat gegeben, auf ihren Vater zu hören und nach Valinor zu gehen. Ein Leben ohne sie war für mich aber unerträglich. Mein Versprechen, die Hobbits zu schützen, war gründlich danebengegangen, denn Frodo und Sam waren schutzlos nach Mordor unterwegs, weil ich sie hatte gehen lassen. Merry und Pippin hatten wir nicht finden können. Was mit ihnen passiert war, ob sie wirklich bei Baumbart in Sicherheit waren, das konnte nicht einmal Gandalf ganz genau wissen. Nein, Gimli, ich wollte nicht mehr leben!“
Gimli schwieg einen Moment verdutzt.
„Ehrlich, auf die Idee wäre ich nie und nimmer gekommen. Den Valar sei Dank, dass du deinen Plan nicht verwirklich konntest“, sagte er nach einer Weile.
„Als ich Arwen dann wieder sah, ist mir noch nachträglich ganz anders geworden, als ich daran dachte, dass ich die Schlacht um die Hornburg eigentlich nicht hatte überleben wollen, das darfst du mir glauben, Freund Zwerg. Und seitdem habe ich mein Leben nicht mehr willentlich aufs Spiel gesetzt. Was zwischenzeitlich geschehen ist, ist unter Pech einzuordnen“, fuhr Aragorn fort.
„Ah, ja. Und was war das mit diesen seltsamen Kapuzenmännern?“, hakte Gimli in seiner unnachahmlich direkten Art nach.
„Gimli, ich bitte dich als meinen Freund jetzt um einen Rat: Eine Familie, die aus Gondor stammt, wird von einem Geheimbund bedroht, der es sich offenbar zum Ziel gesetzt hat, im Grenzland der Westfold Angst und Schrecken zu verbreiten. Éomer ist sich nicht sicher, ob das ein anhaltender Prozess ist, der zu einer ernsten Gefahr werden kann oder ob es sich um eine kurzfristige Laune von ein paar übermütigen Rüpeln handelt. Er hat zudem berechtigte Sorge, bei hartem Zugreifen vielleicht den Falschen auf die Füße zu treten und einen allgemeinen Aufstand erst herauszufordern. Dann erfährst du, dass du knapp zehn Stunden Zeit hast, um besagte Familie wenigstens zu warnen – und der für den Schutz der Westfold zuständige Burgvogt meint, er könne leider nichts machen. Du weißt genau, dass eine Stunde nach Sonnenuntergang fünfzig Schwarzbemäntelte diese Familie heimsuchen werden – und zwar um zu töten. Du kannst deine eigenen Soldaten nicht zu Hilfe holen, weil sie erstens eine gute Wochenreise entfernt sind und zweitens, weil du dich auf dem Territorium Rohans befindest, das ein zwar verbündetes, aber eigenständiges Land ist. Du kannst nicht einmal mehr Éomer klarmachen, dass es eben doch eine ernsthafte Bedrohung ist, weil Edoras auch mindestens einen Tagesritt weit ist. Du hast nur einen deiner besten Freunde als Verstärkung, der aber ein elbischer Bogenschütze ist und für gewöhnlich nicht daneben trifft. Der allein hat bei Helms Klamm schon zweiundvierzig Uruk-hai in die Große Leere zu Morgoth geschickt und deine eigenen Künste als Bogenschütze sind auch nicht zu verachten. Würdest du, wärst du in dieser Situation, einfach nach Hause reiten und darauf hoffen, dass die Valar Dunland rechtzeitig im Meer versenken?“, erklärte Aragorn Gimli die Situation. Der Zwerg kratzte sich am Bart.
„Nun, du hast sicher Recht, dass in dieser Situation nicht mehr viel anderes bleibt, als zu kämpfen, wie ihr es getan habt“, erwiderte er. Doch bevor Aragorn vielsagend mit den Schultern zucken konnte, ob er abwehrend die Hand.
„Es ist aber eine andere Frage, mein Freund, ob es klug war, dass du mit Legolas allein von Edoras weggeritten bist, dass du überhaupt nur zwei Leibwächter und deinen Knappen mitgenommen hast. Hättest du dir ein Bataillon deiner Turmwache mitgenommen, sähe die Geschichte anders aus“, gab er zu bedenken.
„Und du hältst mich doch für altersschwach!“, versetzte Aragorn. „Gimli, ich bin ein Mensch. Und ich bin mir durchaus bewusst, zuweilen Fehler zu machen. Mag sein, dass es ein Fehler ist, dass ich nicht ständig von Heerscharen umgeben sein will. Aber es schnürt mir einfach die Luft ab.“
„Ich versteh’ schon“, brummte Gimli. „Ich verstehe, dass du hin und wieder mal alleine an der Luft sein willst. Nur, mein Freund, bedenke eines: An dir allein hängt Mittelerdes Schicksal. Stirbst du, ohne einen Thronerben zu hinterlassen, versinkt Mittelerde trotz des Friedens, den deine Herrschaft gebracht hat, im Chaos. Als wir auf der Ringfahrt waren, waren wir stets mindestens zu dritt: Du, Legolas und ich, Merry und Pippin mit Baumbart, und sogar Gollum hat noch seine Aufgabe gehabt, als er Frodo und Sam zum Schicksalsberg führte. Aber wir waren nie allein, wir konnten uns gegenseitig schützen. Ich weiß, dass du jahrzehntelang allein gelebt hast, von Besuchen in Bruchtal mal abgesehen – aber da wusste auch so gut wie niemand, wer sich hinter dem Waldläufer Streicher verbarg; Gandalf, Legolas und Elrond sicher ausgenommen. Jetzt ist das anders. Jeder weiß, wer König Elessar ist.“
Aragorn grinste jungenhaft.
„Das ist ja das Schöne: Die normalen Leute, die wissen wohl, dass es einen König Elessar gibt, aber sie kennen sein Gesicht nicht. Was glaubst du, weshalb ich Brego und Andúril zu Hause gelassen habe? Wenn Éomer nicht eine entsprechende Äußerung gemacht hätte, wüsste der Bauer noch nicht, dass ihm jemand geholfen hat, der zufällig eine Krone trägt.“
Gimli seufzte.
„Kann es sein, dass dir die Krone zu eng ist?“
„Ja, manchmal schon“, gab Aragorn zu.
Arwen wartete mit wachsender Unruhe in Edoras. Ihre Befürchtungen hatten sich wohl doch bestätigt. Aragorn und Legolas musste etwas zugestoßen sein, sonst wären sie doch längst wieder zurückgekehrt. Nun war auch Éomer schon zwei Tage fort. Sie war nahe daran, Gamling zu bitten, sie nach Helms Klamm zu begleiten, als Bergil hereinstürmte.
„Sie kommen, Herrin! Euer Gemahl kehrt zurück!“, rief er voller Begeisterung. Arwen lächelte. Sie wusste um die bedingungslose Verehrung, die der Junge seinem König entgegenbrachte. Sie selbst hatte es nun aber auch eilig, nach Meduseld zu gehen, um die Heimkehrer zu begrüßen. Ihr Schrecken war entsprechend, als sie sah, dass sowohl Aragorn als auch Legolas jeweils einen Arm in der Schlinge trugen.
„Tu so etwas bitte nie wieder!“, beschwor Arwen ihren Mann, als sie ihn umarmte. Aragorn konnte ihre Zärtlichkeit nur mit dem rechten Arm erwidern, da der linke nach wie vor in der Schlinge hing. Dafür drückte er die geliebte Frau umso fester an sich.
„Ich hoffe, es lässt sich vermeiden“, erwiderte er mit einem warmen, zärtlichen Lächeln und küsste sie.
Éomer lud zum Mahl in Meduseld und ließ auffahren, was Küche und Keller hergaben.
„Ich hoffe, ihr bleibt noch etwas bei uns“, sagte er schließlich. Aragorn und Legolas sahen sich an. Beiden war klar, dass sie einige Zeit brauchen würden, um wieder einen Bogen spannen zu können. Bevor sie nach Bruchtal weiterziehen konnten, um dort auf die Jagd zu gehen, war es besser, die Wunden auszukurieren – schon wegen anderer Gefahren, die auch in friedlichen Zeiten drohen konnten. Weder der Elb noch der König der Menschen mochten sich ohne eigene Kampfkraft auf den Weg nach Norden machen, nur gestützt auf den Schutz zweier Leibwächter und eines noch nicht voll ausgebildeten Knappen.
„Wenn du uns eine Weile als Gäste erträgst, nehmen wir dein Angebot gern an, Éomer“, erwiderte Aragorn. Arwen atmete sichtlich auf, hatte sie doch befürchtet, Aragorn würde trotz seiner Verwundung auf einer Weiterreise bestehen.
„Also, muin nîn, was ist mit deiner Schulter?“, fragte Arwen, als sie mit Aragorn wieder in den Gemächern war, die Éomer ihnen zur Verfügung gestellt hatte.
„Ich habe einen Pfeil abbekommen, aber die Spitze war stecken geblieben. Méoden, der Heiler von Helms Klamm hat sie herausgeschnitten und die Wunde versorgt, nachdem die Frau von Sigaril sie notdürftig verbunden hatte“, erklärte er.
„Ich möchte sie mir ansehen“, sagte Arwen. Niemand behandelte seine Wunden mit mehr Aufmerksamkeit und Liebe als Arwen, wusste Aragorn. Er setzte sich auf die Bettkante und schnürte sein Hemd auf. Mit Arwens Hilfe zog er Oberwams und Hemd aus; sie nahm den Verband ab und untersuchte die Wunde vorsichtig.
„Das sieht nicht wirklich gut aus, muin nîn“, sagte sie, besorgt über die Entzündung, die sich in der Wunde gebildet hatte. In der Feuerstelle erhitzte sie Wasser, kochte einige Athelas-Blätter auf und reinigte die Wunde vorsichtig von Eiter und Schmutzpartikeln, die mit dem Eiter aus der Wunde gedrungen waren. Aragorn verzog schmerzvoll das Gesicht, sagte aber nichts. Arwen bemerkte es dennoch, obwohl sie sich auf die Wunde konzentrierte.
„Ich bin gleich fertig“, sagte sie, tauchte das Tuch nochmals ein und wusch die Reste des verbliebenen Schmutzes ab. Dann trug sie ebenso sanft von einer Salbe auf, die sie vorsorglich aus Athelas-Auszügen und Fett gemischt hatte, verband sie seine Schulter frisch und schiente den Arm, bevor sie zu guter Letzt wieder die Schlinge anlegte. Aragorn atmete sichtbar auf.
„Oh, ja, das fühlt sich bedeutend besser an. Hannon le, muin nîn[5]“, bedankte er sich. Arwen küsste ihn und sah ihn einen Moment an.
„Es ist besser, wenn du jetzt schlafen gehst“, sagte sie leise. Er bemerkte die Spur von Verzicht, die sich auf ihren Zügen zeigte.
„Und dich ein weiteres Mal vernachlässigen?“, fragte er. Sie lächelte und strich ihm sanft über das Gesicht.
„Nein, nicht in dem Zustand. Erst muss deine Schulter wieder besser werden. Wenn du nicht wieder ausreißt, um unnötigen Abenteuern nachzugehen, brauche ich mich auch keineswegs vernachlässigt zu fühlen.“
Er lächelte.
„Kein Sorge. Diese kleine Behinderung macht so etwas schlicht unmöglich.“
In der Nacht schreckte Arwen hoch und bemerkte, dass Aragorn sich unruhig herumwarf, stark schwitzte und schwer atmete. Sie hielt ihn vorsichtig fest, legte ihm sacht die Hand auf die Stirn, die heiß vor Fieber war. Leise stand sie auf, schürte das Feuer in der Feuerstelle wieder auf und bereitete aus Athelas einen starken Tee. Zwar wurde eine Abkochung in der Regel äußerlich angewendet, aber Elrond hatte seine Tochter gelehrt, dass der Tee aus diesen Blättern in Fällen von Wundfieber besser wirkte als eine Einreibung. So lange er zog, setzte sie sich wieder an das Bett und tupfte ihrem Mann mit einem gut ausgedrückten Tuch sanft den Schweiß ab. Schließlich weckte sie ihn.
„Hm, was ist?“, fragte er verschlafen.
„Du hast Fieber, Liebster. Komm, trink; das wird dir helfen“, erwiderte sie und flößte ihm den Tee löffelweise ein, ließ nicht locker, bis er die ganze kleine Suppenschüssel geleert hatte. Müde und vom Fieber erschöpft schlief er wieder ein. Arwen wartete noch eine Weile, aber sein Schlaf war jetzt ruhig. Der Tee wirkte schnell und so ließ das Fieber schon kurze Zeit nach der Einnahme nach. Arwen legte sich wieder schlafen, als sie sich nochmals davon überzeugt hatte, dass er den Rest der Nacht wohl Ruhe haben würde.
Drei Tage plagten ihn noch Nachwirkungen des Fiebers, dann begann die Wunde zu heilen und es ging Aragorn erheblich besser. Er spürte auch fast keinen Schmerz mehr – jedenfalls, solange er den linken Arm nicht zu weit nach hinten bewegte. Am Ende dieses dritten Tages nach Aragorns Rückkehr nach Edoras bat Arwen ihn, sich zu setzen, damit sie seine Wunde nochmals kontrollieren konnte. Er kam ihrem Wunsch nach, zog sein Wams aus und setzte sich auf die Bettkante. Arwen öffnete vorsichtig den Verband und untersuchte die verheilende Wunde. Die Art, wie ihre sanften, schlanken Finger seine Haut streiften – scheinbar zufällig und doch mit gezielter Zärtlichkeit – verriet Aragorn ebenso wie ihr weicher Blick, dass die Kontrolle der Wunde eher ein Vorwand für unmittelbare körperliche Nähe war. Aragorn sah ihr interessiert zu, ließ sie mit einem wissenden Lächeln tun, was sie tun wollte, die sachte Berührung ihre schmalen Hand einfach genießend, als sie den Verband abnahm und die Wunde ganz vorsichtig reinigte. Er lehnte sich in die Kissen zurück und schloss die Augen, als unendlich zarte Elbenfinger sachte über die vernarbende Wunde glitten – ein zartes Streicheln, erregend und beruhigend zugleich.
„Habe ich dir heute schon gesagt, dass ich dich liebe?“, fragte er dann. Statt einer Antwort küsste sie ihn voller Liebe und Zuneigung. Sie rückte näher an ihn heran, spürte seine Wärme, seinen Herzschlag unter ihren Händen. Ihr Schoß verlangte nach dem seinen und die Berührung seiner Haut, das Fühlen seiner kräftigen Muskulatur, die von keinem Gran Fett zu viel umgeben war, machte Lust auf mehr. Sie bemerkte, dass seine Hand auf eine sanfte Wanderschaft an ihrer Hüfte ging. Warm war seine Hand, legte sich leicht und zärtlich auf ihren Schenkel, wo er sachte die Verschnürung ihres Kleides aufzuknüpfen begann – langsam und ohne jede Hast, dennoch zielstrebig. Sanft glitt seine Hand hinein zu ihrer zarten Haut. Ein Wonneschauer durchrieselte Arwen, als sie seine Hand auf ihrer Haut spürte. Sein Streicheln war sacht und unaufdringlich, aber zutiefst erregend. Sie beugte sich über ihn und küsste ihn erneut. Ihre linke Hand wanderte unter sein Hemd zu seinem Bauch, den sie sanft kraulte, während ihre Rechte an seinem Hosenverschluss nestelte. Genussvoll schweigend im Kuss versunken befreiten sie sich gegenseitig von den Kleidern, lagen schließlich Haut an Haut, Herz an Herz, glitten langsam zusammen, einander genießend, liebten sich voller Zärtlichkeit und Glück.
Der Sonnenaufgang des folgenden Tages fand Arwen in Aragorns Armen. Langsam erwachte die schöne Halbelbin. Neben sich spürte sie die Wärme des geliebten Mannes und ein sanftes Kraulen an der rechten Schulter. Sie schlug die Augen auf und sah in sein warmes Lächeln. Er war offenbar schon eine ganze Weile wach.
„Guten Morgen, muin nîn. Hast du schön geschlafen?“, fragte er leise.
„Ja“, erwiderte sie ebenso leise, „ich hoffe du auch.“
Er nickte, zog sie noch etwas näher an sich und küsste sie.
„Wir werden noch einige Tage hier bleiben“, sagte er dann. „Was hältst du davon, wenn wir – sofern meine Schulter wieder in Ordnung ist – nach Minas Tirith zurückkehren?“
„Wolltest du nicht nach Annúminas?“, erinnerte sie sanft.
„Gimli hat mir sehr ins Gewissen geredet, dass es nicht sehr klug ist, eine so weite Reise ohne wirklich ausreichenden Schutz zu unternehmen. Vielleicht sollte ich zurückkehren und mir eine Abteilung der Turmwache holen – samt Brego und Andúril.“
„Ich habe eine andere Idee: Du gibst Faramir Bescheid, dass er die Abteilung nachschickt. Wir warten hier in Edoras und reisen weiter, wenn die Turmwächter hier sind.“
Aragorn brummte zustimmend.
„Das heißt ungefähr zwei Wochen Urlaub in Rohan. Ich wollte mir schon lange Éomers Zuchtstall ansehen“, sagte er und küsste seine Frau.
Noch am selben Vormittag ritten Dwiher und Celdor eilig zurück nach Minas Tirith, versehen mit einer mündlichen Anweisung von Aragorn, in der er um Entsendung einer Abteilung Turmwächter, um Brego und Andúril bat – wohlgemerkt bat, denn er liebte es nicht, einem guten Freund wie Faramir Befehle zu erteilen. Allerdings war Aragorn klar, dass er damit seine Abwesenheit von Minas Tirith praktisch als öffentlichen Aushang an die Ered Nimrais schrieb. Er konnte nur hoffen, dass Feinde Gondors, die es in Harad und Rhûn immer noch gab, diesen Umstand nicht ausnutzten.
Die zwei Wochen, in denen das Königspaar, Legolas und Bergil auf die Ankunft der Turmwächter warteten, vergingen wie im Flug. Éomer zeigte Aragorn seine Pferdezucht, deren Gutshof einige Meilen östlich von Edoras am Schneeborn lag.
„Ich hätte eine Bitte an dich“, sagte Éomer zu Aragorn, als sie den Stall besichtigten.
„Und was kann ich für dich tun?“
„Brego ist ein Zuchthengst, dessen Eigenschaften man bei anderen Pferden nur selten findet. Wenn deine Begleiter kommen, gönne ihm das Vergnügen mit einigen rossigen Stuten hier. Ich hätte in meiner Zucht gern einige Fohlen von deinem Wundertier“, bat Éomer.
„Ich habe damit kein Problem, aber Brego vielleicht“, grinste Aragorn.
„Was meinst du, mein Freund?“
„Nun, seit Brego Asfaloth kennt, Arwens schöne Stute, geht es ihm wie seinem Vorgänger: Im Natursprung fast nicht mehr zu gebrauchen! Der sieht mich an, als wollte ich ihn zum Ehebruch anstiften, wenn er andere Stuten bespringen soll“, grinste Aragorn. Éomer lachte herzlich.
„Das sieht dem Burschen ähnlich. Das wollte er schon nicht gern, als Théodred ihn noch ritt. Wenn er hier ist, probieren wir’s einfach aus.“
Noch einige Tage später gingen die Freunde gingen zusammen in der Ostfold auf die Jagd, wobei sich erwies, dass sowohl Aragorn als auch Legolas schon wieder in der Lage waren, ihre Bogen zu spannen und gezielt zu schießen.
Schließlich, kaum dass Aragorn und Legolas keine stützenden Schlingen mehr um die Arme der verwundeten Schultern benötigten, ritten die Freunde nochmals nach Isengard, um Sarumans gefährliche Geheimnisse sicherzustellen. Die Menge an gefährlichen Erkenntnissen des abtrünnigen Istar ließ Aragorn, Legolas, Gimli und Éomer noch nachträglich schaudern. Alle vier schätzten sich glücklich, diese Geheimnisse vor anderen entdeckt und für Gondor und seine Verbündeten gesichert zu haben. Es war ein recht unhandlicher Packen Schriftrollen, den Aragorn Éomer zur sicheren Verwahrung übergab, damit er sie bei seiner Rückkehr aus Annúminas nach Minas Tirith mitnehmen konnte.
„Sei sicher, mein Freund, dass Rohan dieses gefährliche Wissen nicht preisgeben wird“, versprach Éomer. „Wirst du es nutzen wollen?“, fragte er dann.
„Nicht ohne Not – allenfalls, um Gondor und seine Verbündeten zu verteidigen. Auf keinen Fall, um damit andere anzugreifen. Ich muss mein Reich nicht noch vergrößern“, erwiderte Aragorn. Éomer nickte. Eine andere Reaktion hatte er von König Elessar auch nicht erwartet.
„Eine Sache haben wir noch hier gemeinsam zu erledigen: Das Gericht über die Kapuzenmänner. Ich habe Nachricht von Erkenbrand, dass er noch einige von den Banditen gefangen genommen hat“, sagte der König der Mark.
„Der König von Rohan bist du, Éomer. Es steht dir allein zu, hier Recht zu sprechen“, entgegnete Aragorn.
„Dennoch bitte ich dich, dem Gericht beizutreten. Schließlich ist mit Sigaril nicht der einzige Gondorer angegriffen worden, wie Erkenbrand herausbekommen hat. Und außerdem gehört Dunland zu deinem Königreich. Ich möchte nicht allein über deine Untertanen richten, auch wenn sie ihre Taten in Rohan begangen haben.“
„Be iest lîn[6]“, erwiderte Aragorn.
Kapitel 5
Strafgericht zu Rohan
Drei Tage darauf saßen die beiden Könige in der Goldenen Halle Meduseld in Edoras über die insgesamt zwanzig Dunländer zu Gericht, die beschuldigt waren Mordbrenner, Räuber und Verschwörer zu sein. Die Angeklagten – vierzehn Überlebende des Überfalls auf Sigaril und seine Familie und sechs weitere, die Erkenbrands Männer nach den Verhören der Gefangenen noch festgenommen hatten – standen recht bleich vor den richtenden Königen. Éomer hatte zum Zeichen dessen, dass er und Elessar in Rohan gleichrangig waren, für die Dauer des Gerichtes den Thron auf der Empore in der Halle durch zwei gleichartige Stühle ersetzen lassen. Für die Angeklagten waren Bänke vor den Richterstühlen aufgestellt, für den Ankläger Elfhelm ein Sitz auf der rechten Seite der Halle, für die Zeugen auf der linken Seite – gesehen vom Halleneingang aus.
Als die Angeklagten von rohirrischen Reitern in die Halle geführt wurden, schlossen sie mit dem Leben ab, angesichts der Tatsache, dass nicht nur die überfallene Familie und Legolas als Zeugen in der Halle standen, sondern dass einer der beiden Richter ebenfalls unmittelbarer Augenzeuge ihrer Taten gewesen war.
Elfhelm, Marschall der Ostfold, trug die Anklage vor, nachdem Sigaril, seine Familie und Legolas aus der Halle geschickt worden waren: Als Zeugen sollten sie unbeeinflusst von dem sein, was der Ankläger den Angeklagten vorzuwerfen hatte.
„König der Mark, vor dir und König Elessar von Gondor stehen zwanzig ruchlose Verbrecher. Ich, Elfhelm, Marschall der Ostfold, klage sie an, sich gegen Gondor und Rohan verschworen zu haben indem sie durch schwarze Gewänder und Maskenkappen unkenntlich gemacht das Isengut des freien Bauern Sigaril aus Gondor zehn Meilen östlich der Isenfurten am 1. September 3 des Vierten Zeitalters überfallen haben. Sie kamen in der Dunkelheit, entzündeten einen Schwarzen Baum und wollten den Bauern Sigaril, seine Frau Kyrwyn und seinen Sohn Herlif sowie alle, die sich sonst auf dem Hof aufhielten, ermorden. Sie wollten dies tun, weil sie Eorlingas wie Gondorer schlicht hassen. Bei dem Kampf, der auf dem Hof ausbrach, weil Sigaril, seine Familie und die Gäste sich nicht einfach morden lassen wollten, wurde die Scheuer mit der eingefahrenen Ernte zerstört, vier Stück Milchvieh und eine Zuchtstute der Mearas getötet, die auf dem Hof anwesenden Gäste, die auch Zeugen für die Untat sind, wurden gar verwundet. Für dies alles nenne ich den freien Bauern Sigaril, seine Gemahlin Kyrwyn, deren Sohn Herlif sowie Legolas, Thranduils Sohn, und Aragorn, Arathorns Sohn, als glaubwürdige Zeugen. Höre sie Herr und richte nach der Gerechtigkeit der Könige der Mark.“
Das zornige Raunen, das durch die versammelten Eorlingas laut wurde, als Elfhelm vom Verlust einer Mearas-Stute gesprochen hatte, zeigte die Wut der Rohirrim auf diese Leute mehr als deutlich. Die Mearas-Pferde galten als die edelsten Pferde Mittelerdes und wurden seit alters her ausschließlich für den Gebrauch des Königshauses gezogen; nur wenige der rohirrischen Züchter außerhalb des Königshofes hatten das Privileg, Mearas-Stuten zu halten. Grundsätzlich waren die Fohlen, die diese edlen Stuten gebaren, für den Hof des Königs bestimmt. Seit Éomer König war, konnte es aber auch vorkommen, dass der König ein solches Fohlen großzügig an einen seiner Untertanen verschenkte, wenn er sich als Krieger Rohans besonders hervorgetan hatte oder dem König einen besonderen Dienst erwiesen hatte.
Sigaril gehörte zu Letzteren. Er hatte kurz nach seiner Übersiedelung nach Rohan eines der Mearas-Pferde aus Éomers eigenem Besitz gerettet, das in der Entwasser zu ertrinken drohte. Sigaril hatte sein eigenes Leben riskiert, um das edle Tier zu retten. Zum Dank hatte er die wunderschöne Stute geschenkt bekommen und durfte mit ihr für den königlichen Hof in Edoras züchten.
Aragorn bekam einen nachdenklichen Gesichtsausdruck, was sich besonders in der Querfaltenbildung auf seiner Stirn zeigte. Auf ein Nicken von Éomer setzte Elfhelm sich in gemessener Würde. Éomer dankte dem Ankläger und sah dann die Angeklagten scharf an.
„Ihr habt gehört, was Marschall Elfhelm euch vorwirft. Er hat fünf Zeugen aufgeboten, von denen er sagt, dass sie eure Untaten bestätigen können. Wollt ihr euch zu diesen Beschuldigungen äußern? Wenn ja, was habt ihr dazu zu sagen?“, fragte er mit strenger Miene.
Einer der Angeklagten erhob sich. Aragorn erkannte ihn als Iskan wieder, den er und Legolas im Stall von Helms Klamm gesehen und gehört hatten. Im Gegensatz zu jener Nacht im Stall schlotterten ihm jetzt die Knie vor Angst.
„Ich möchte etwas sagen, Herr“, sagte er leise, dass es kaum bis zur Empore zu hören war, die keinen vollen Klafter von den Anklagebänken entfernt war.
„Wie ist dein Name?“, fragte Éomer, ganz der gestrenge Richter.
„Iskan, Herr. Ich bin aus dem Dorf Isen westlich der Isenfurten.“
„Also, Iskan, was hast du zu sagen?“
„Herr, ich bekenne mich schuldig. Ja, ich habe das getan, was der Marschall Elfhelm uns vorwirft. Es hat – jedenfalls für die, die an dem Überfall auf den Hof beteiligt waren – keinen Sinn, zu leugnen, denn unser König war selbst Zeuge dieses Überfalls und auch Ihr habt uns dort gesehen.“
Aragorn beugte sich vor.
„Und warum habt ihr das getan?“, fragte er. Iskan war überrascht, dass der König ihm diese Frage ohne jede Schärfe stellte.
„Herr, ihr wisst, dass wir Dunländer vor und während des letzten Krieges stets Feinde der For… äh, der Rohirrim waren. Sie haben unser Volk aus Calenardhon vertrieben und uns dort nicht mehr geduldet. Dafür wollten wir uns rächen“, erklärte Iskan, nach der eher sanften Frage Elessars mutig geworden.
„Du bist aus Isen, das westlich der Isenfurten liegt. Habe ich dich richtig verstanden?“
„Ja.“
„Iskan, wann sind Dunländer erstmals in Calenardhon gewesen und wann haben die Rohirrim sie von dort verjagt?“, fragte Aragorn weiter.
„Das … da… das w… weiß ich nicht so genau“, stotterte Iskan, nun rot werdend.
„Und wann haben sie dich vertrieben? Oder deine Spießgesellen?“, fragte Aragorn weiter. Iskan lief vollends rot an wie ein Hahnenkamm und schwieg betreten.
„Calenardhon war durch die schlimme Pestepidemie von 1636 des Dritten Zeitalters fast völlig entvölkert und blieb es weit über achthundert Jahre. 2510 des Dritten Zeitalters kamen eure Vorfahren, die Balchoth, die vorher östlich des Anduin gelebt hatten. Sie erschlugen die letzten noch vorhandenen Einwohner von Calenardhon und griffen Gondor an, das ihnen nichts getan hatte. Cirion, der Statthalter von Gondor, hatte nur wenige Männer, die Calenardhon noch schützen konnten, doch bekam Gondor Hilfe von den Eorlingas, die nördlich von Lórien am Anduin lebten. Mithilfe der Eorlingas wurde Gondor der Bedrohung durch eure Vorfahren Herr und gab das durch Pest und den Überfall eurer Vorfahren völlig entvölkerte Land den Eorlingas als dauerhaftes, eigenes Land. Die Eorlingas sind die Rohirrim, die heute in diesem Land leben, das in Gondor seither nicht mehr Calenardhon, sondern Rohan heißt und von den Eorlingas die Mark genannt wird. Seit dieser Zeit sind deutlich mehr als fünfhundert Jahre vergangen“, versetzte Aragorn schärfer. „Selbst, wenn die Eorlingas eure Vorfahren aus einem Land Calenardhon vertrieben hätten, selbst wenn die Gesetze der Blutrache gelten würden, wäre die Zeit der Rache längst vorbei, denn auch unter den Bedingungen einer Blutrache gilt in Mittelerde, dass diese spätestens sieben Generationen nach dem ersten Blutvergießen beendet ist. Sieben Generationen unter Menschen, die höchstens siebzig Jahre alt werden, sind nach zweihundert Jahren beendet, denn dann ist die achte Generation geboren, die von der Blutrache schon ausgenommen ist. Was ihr getan habt, ist schlicht und einfach ein Verbrechen, ein gewaltsamer Bruch des Friedens!“
„Ja, Herr, das stimmt“, räumte Iskan leise ein.
„Reut es euch?“, fragte Aragorn weiter. Iskan nickte zögernd, als habe er Angst, dass ihm der Kopf gleich von den Schultern fallen würde – auch ohne Mitwirkung eines Henkers.
„Ja, wir bereuen das.“
„Éomer, König der Mark, welche Strafe steht in Rohan auf das, was diese Männer getan haben?“, erkundigte sich Aragorn. Éomer sah ihn mit gewisser Verblüffung an. Aragorn musste doch wissen, dass solche Aufrührer in Rohan mit nichts weiter zu rechnen hatten, als mit dem Tod.
„In Rohan wird solches Tun mit dem Tode bestraft. Und welche Strafe droht in Gondor?“
„Grundsätzlich auch der Tod – doch ich nehme mir die Freiheit, reuigen Tätern Bewährung zu ermöglichen“, erwiderte Elessar.
„Auch Mordbrennern, Räubern und Verschwörern?“, fragte Éomer und sah die Angeklagten scharf an, die wieder ein Stück kleiner wurden vor seinem zornigen Blick.
„Menschen machen Fehler; sie sind schwach, verführbar, habgierig und machtgierig. Das ist die Natur des Menschen, sagen die Elben und sie haben Recht. Aber Menschen können auch versuchen, Fehler wieder gutzumachen. In diesem Fall, in dem der Mord zwar geplant, aber nicht ausgeführt worden ist, bitte ich dich, Éomer, König der Mark, um Gnade für die Reumütigen. Sie sollen nicht ohne Strafe bleiben, doch bitte ich dich, ihr Leben diesmal zu schonen.“
Éomer sah Aragorn an. Mit eben diesem Gnadengesuch hatte er gerechnet, kannte er Aragorn doch als rücksichtslosen Kämpfer, aber auch als Mann von Gerechtigkeit, Spürsinn und einfühlsamer Milde. Elessars erwartete Bitte um Gnade für die Angeklagten ermöglichte Éomer das von ihm gedachte Urteil, ohne dass er das Gesicht vor seinem Volk verlor, das eher nach dem Prinzip Auge um Auge Gerechtigkeit suchte.
„Und an welche Strafe denkst du Elessar, König von Gondor?“
„Sigarils Hof ist beschädigt, seine Ernte vernichtet und sein Vieh ist tot. Sie sollen den Schaden ersetzen und reparieren, was sie zerstört haben, sie sollen Wergeld leisten. Mit einer Wiederherstellung seines Gutes wäre Sigaril mehr geholfen, als mit dem Tod der Aufrührer, der ihm vielleicht Genugtuung einbringt, aber kein Heu und kein Korn. Wenn Sigaril einverstanden ist und akzeptiert, dass die Schädiger den Schaden beheben, wäre das mein Urteil als König von Gondor“, erwiderte Aragorn. Er sah die Angeklagten an, die schon vorsichtig aufatmeten. Ganz so einfach wollte er es ihnen aber doch nicht machen. Sie sollten ruhig noch eine Weile schwitzen.
„Aber hier ist Rohan und die Taten wurden in der Mark verübt“, setzte er hinzu und die Angeklagten wurden wieder kleiner. Mit einem strengen Ausdruck im Gesicht wandte Éomer sich an die vor Angst zitternden Banditen.
„Ihr hört, dass König Elessar, dessen untreue Untertanen ihr seid, für euch Nichtsnutze um Gnade bittet? Was habt ihr dazu zu sagen?“, fuhr er die Angeklagten an, die noch etwas bleicher wurden. Alle zwanzig fielen vor dem Richterpult auf die Knie.
„Herr, wir sind bereit, den Schaden wieder gutzumachen, soweit wir es vermögen“, sagte Iskan – und es klang flehend.
Éomer wandte sich an Gamling.
„Gamling: Holt den Zeugen Sigaril und seine Familie!“, wies er den obersten Wächter an. Gamling verneigte sich, verließ kurz die Goldene Halle und kehrte mit den Geschädigten des Überfalls zurück.
„Wer bist du und woher kommst du?“, fragte Éomer.
„Ich bin Sigaril, Hîrions Sohn. Geboren wurde ich in Lebennin, wuchs auf in Lossarnach in Gondor. Seit dem Ende des Krieges gegen Sauron lebe ich mit meiner Frau Kyrwyn und meinem Sohn Herlif auf dem Isengut in Rohan.“
„Sigaril, Hîrions Sohn, du bist Eigentümer des Isengutes?“
„Ja, Herr.“
„Kennst du diese Männer?“
„Ja, Herr. Die meisten jedenfalls“, bestätigte Sigaril nach einem eingehenden Blick auf die Angeklagten.
„Woher kennst du sie?“
„Die, die ich kenne, Herr, haben am 1. September das Isengut überfallen. Sie sagten, sie wollten uns töten. Sie hätten es sicher getan, hätten nicht Herr Legolas, Thranduils Sohn, und der König meiner Heimat für uns gestritten und wären nicht Eure Soldaten zu Hilfe gekommen.“
„Man sagt, die Männer, die dich und deine Familie überfallen haben, seien maskiert gewesen. Warum sagst du, dass du sie erkennst?“, fragte Éomer weiter.
„Nun, Herr, Eure Soldaten nahmen ihnen die schützenden Kutten weg. Und diese, die hier sitzen, die waren dabei. Die sechs dort auf der anderen Bank, die kenne ich nicht. Aber diese hier vorn, die waren dabei. Ich schwöre es.“
„Ist bei dem Überfall jemand zu Tode gekommen oder verwundet worden?“, fragte der König der Mark weiter.
„Ja, Herr. Herr Legolas und Herr Elessar, die uns beistanden, wurden beide verwundet. Tot ist zum Glück niemand, jedenfalls kein Menschen oder Elb.“
„Welcher Schaden ist dir sonst noch entstanden?“
„Meine Ernte ist vernichtet, die in der Scheuer war, vier Milchkühe und meine Zuchtstute Niphredil, die Mearas-Stute, die ich von Euch geschenkt bekam, sind getötet worden.“
„Wäre dir geholfen, wenn die, die dir den Schaden zugefügt haben, deine Scheune wieder aufbauen und dir den Preis für deine Tiere bezahlen oder ihn bei dir abarbeiten? Oder wäre es dir lieber, wenn ich sie mit dem Tode bestrafe?“
„Herr, vergebt meine Kühnheit, aber mir liegt mehr daran, dass mein Hof wieder in Ordnung kommt und ich Ersatz für mein Vieh bekomme“, sagte Sigaril.
Éomer ließ seinen Blick über die Angeklagten streifen.
„Dann sei es so. Ihr seid Mordbrenner, Räuber und Verschwörer, das habt ihr selbst zugegeben. Eure Strafe ist, dass ihr den Hof von Sigaril wieder aufbaut und außerdem so lange für ihn arbeitet, bis er von seinen Erträgen das verlorene Vieh und seine Mearas-Stute ersetzen kann. Insoweit gewähre ich euch Bewährung und überlasse euch der Gerechtigkeit Elessars. Danach mögt ihr gehen, wohin es euch beliebt. Doch betretet ihr je wieder Rohan, seid ihr des Todes!“, entschied Éomer in strengem Ton. „Gamling: Ihr werdet zuverlässige Männer aussuchen, die diese Verschwörer bei ihrer Arbeit überwachen, damit sie nicht auf dumme Ideen kommen und ihr Vorhaben doch noch in die Tat umsetzen. Rohan gewährt seinem Volk Schutz!“, setzte er dann hinzu.
Die Verhandlung war mit Éomers Urteil geschlossen, die Verurteilten wurden abgeführt und die Gerichtsversammlung löste sich auf. Schließlich waren nur noch Aragorn und Éomer in der Halle. Aragorn vergewisserte sich, dass sie beide allein waren.
„Du wolltest sie nicht zum Tode verurteilen“, sagte er dann.
„Wie kommst du darauf?“, fragte der König der Mark harmlos.
„Éomer, ich kenne dich gut. Ich kenne dich, wenn du zornig bist und ich kenne dich, wenn du nur so tust, als wärst du der Zorn der Valar in Person. Und heute hast du nur so getan.“
„So?“
„Du wolltest Gnade walten lassen, aber du brauchtest mich dazu, weil die Eorlingas eigentlich nur die Rache kennen und von Milde wenig verstehen.“
Éomer sah Aragorn offen an.
„Ja, du hast Recht, mein Freund“, bekannte er dann. „Und ich danke dir, dass du meinen Plan erkannt und ihn unterstützt hast.“
Éomer machte eine kurze Pause und sah zu Boden.
„Weißt du“, sagte er dann langsam, „du hast die Krone immer als Erbe vor Augen gehabt, ich nicht. Als Neffe des Königs, der einen Erben hatte, habe ich nie mit der Möglichkeit gerechnet, meinem Onkel Théoden auf den Thron von Rohan zu folgen. Du bist mir als König Vorbild.“
„Ausgerechnet ich!“, schnaufte Aragorn. „Oh, Éomer, mein brüderlicher Freund, wenn die Krone Arnors und Gondors nicht der Brautpreis für Arwen gewesen wäre – ich hätte sie nicht ums Verrecken haben wollen. Ich habe sie auch nie gewollt. Und außerdem warst du eher König als ich.“
Éomer grinste.
„Also, du König wider Willen, komm, lass’ uns was essen gehen.“
Kapitel 6
Faramirs Entdeckung
„Beregond, ich brauche die große Karte von Gondor! Wo ist die?“, fragte Faramir den Hauptmann seiner Leibgarde.
„Ihr habt sie gestern mit in das Arbeitszimmer des Königs genommen, Herr Faramir“, erwiderte Beregond. „Soll ich sie holen?“, bot er dann an.
„Nein, lass’ nur; ich hole sie eben selbst. Stell’ die anderen Sachen für die Besprechung mit den Hauptleuten aber schon zurecht, Beregond“, wies Faramir Beregond an und verließ den königlichen Palast von Minas Tirith. Weil es bereits dunkel geworden war, nahm der Statthalter eine Lampe mit, um auf dem sonst unbeleuchteten Platz zwischen Palast und Turm sehen zu können, wohin er trat, und ging mit eiligen Schritten zum Weißen Turm hinüber, in dem sich Aragorns Arbeitszimmer befand.
Auf dem Weg dorthin fiel dem Statthalter ein leichtes Flackern im Arbeitszimmer auf. Faramir zuckte erschrocken zusammen. Hatte er etwa vergessen, die Lampe zu löschen, die auf dem Schreibtisch stand? Mit noch längeren Sätzen eilte er zur Haupttür des Turms; viel zu lange erschien es ihm zu dauern, bis er endlich die Tür unten offen hatte, sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die gewundene Treppe in den ersten Stock hinauf. Erst im dritten Anlauf fand er den richtigen Schlüssel für das königliche Arbeitszimmer. Als er die Tür endlich offen hatte, sah er gerade noch, dass der Palantír, der neben der ordentlich gelöschten Lampe auf dem Schreibtisch stand, leuchtete – und dann dunkel wurde. Faramir sah verblüfft auf die glänzende schwarze Steinkugel. Er brauchte eine Weile, um sich zu erinnern, weshalb er eigentlich hergekommen war, nahm die vermisste Karte und verließ das Arbeitszimmer wieder.
Kaum hatte er die Haupttür des Turmes wieder verschlossen, als zwei Wächter aufgeregt nach oben zum Arbeitszimmer des Königs wiesen.
„Habt Ihr das gesehen, Herr Faramir?“, fragte einer. Faramir blieb stehen und sah in die Richtung, in die die beiden Männer wiesen – und sah den rötlichen Lichtschimmer. Der Statthalter kehrte eilig um, winkte den Wächtern, mit ihm zu kommen. Sie rannten so schnell sie konnten in das erste Stockwerk des Weißen Turmes hinauf, Faramir öffnete die Tür – und blieb wie angewurzelt stehen, mit der Folge, dass die beiden Wächter ihm prompt in die Hacken liefen.
„Entschuldigung, Herr Fa… oha, was ist das?“, entfuhr es dem vorderen Wächter, als er die glühend rote Kugel auf dem Schreibtisch sah. Faramir nahm ob der unheimlichen Erscheinung allen Mut zusammen und berührte die Steinkugel vorsichtig mit dem linken Zeigefinger. Sie war kalt wie sonst auch, nur, dass sie in einem unheimlichen Rot bis Orange leuchtete, das in seltsamen Wolken durch die Tiefe des Sichtsteins rollte – fast so, als sähe man Gewitterwolken, die von einem Brand oder einem Vulkanausbruch angeleuchtet würden. Starr vor Schreck standen alle drei vor der unerwarteten Erscheinung.
„Bei den Valar, was ist das?“, fragte nun auch der andere Wächter. Faramir schüttelte den braunen Lockenkopf.
„Ich hab’ dafür nur eine Erklärung: König Elessar versucht, Verbindung mit mir aufzunehmen. Es ist sehr schwierig, einen Palantír zu benutzen. Auch er wird seine Schwierigkeiten damit haben. Es ist gut, ihr könnt gehen“, entließ er die beiden entsetzten Wächter. Faramir setzte sich an den Schreibtisch und wartete eine Weile, ob Aragorn sich zeigte, aber nichts dergleichen geschah. Schließlich, es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, erlosch der Palantír wieder, ohne, dass der König sich gezeigt hatte.
Faramir wartete noch eine Weile, aber es geschah nichts. Schließlich nahm er klopfenden Herzens den magischen Stein in beide Hände – so wie Aragorn es ihm gezeigt hatte – und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, Aragorn zu erreichen. Zwar begannen nach kurzer Zeit blaue Wolken durch den durchsichtig werdenden Palantír zu wabern, aber eine Verbindung mit Aragorn bekam der Statthalter nicht. Nach geraumer Zeit gab er es schließlich auf und legte den Palantír wieder auf den stabilisierenden Holzring zurück. Als Faramir dann aufstand, begann die Welt um ihn sich zu drehen. Er sackte neben Aragorns Schreibtisch zusammen, dann wurde es schwarz um ihn.
Hauptmann Beregond machte sich Sorgen, weil Faramir so lange ausblieb. Es war mindestens ungewöhnlich, dass der sonst so pünktliche Statthalter eine von ihm selbst angesetzte Besprechung mit den Hauptleuten nicht rechtzeitig begann. Er suchte Faramirs Frau Éowyn auf und berichtete ihr kurz, dass der Statthalter eigentlich nur nach einer Karte unterwegs war und bisher nicht wiedergekommen war. Éowyn teilte die Sorge des Hauptmanns.
„Wo wollte er denn hin?“
„In das Arbeitszimmer des Königs“, erwiderte Beregond.
„Komm, Beregond, wir gehen ihn suchen“, entschied Éowyn und ging mit dem besorgten Beregond zum Turm hinüber.
Sie fanden Faramir bewusstlos neben dem Schreibtisch.
„Was ist passiert?“, fragte Beregond. Éowyn zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht. Bring’ ihn in das Gästezimmer im Palast und dann hol’ den obersten Heiler“, wies sie den Hauptmann an.
„Ja, Herrin“, bestätigte Beregond.
Faramir erwachte in seinem Bett im Gästezimmer des Königspalastes von Minas Tirith. Éowyn beugte sich besorgt über ihn.
„Den Valar sei Dank – du wachst doch noch auf“, sagte sie erleichtert und küsste ihn. Faramir rang sich ein mühsames Lächeln ab.
„Was ist eigentlich passiert?“, fragte er und hob mit einiger Mühe seine Hand, um Éowyns Wange zu streicheln.
„Das, liebster Faramir, sollte ich dich fragen“, gab sie zurück. Faramir berichtete ihr mit gewisser Mühe von dem leuchtenden Palantír, seiner Vermutung und seinen vergeblichen Bemühungen, mit Aragorn Verbindung aufzunehmen.
„Nur wenige können mit einem Palantír umgehen“, entgegnete Éowyn. „Selbst Aragorn hat damit große Mühe. Deinen Vater hat es schlicht um den Verstand gebracht, Liebster. Lass’ es bleiben. Das ist kein Spielzeug!“, warnte sie dann. Faramir seufzte mit gewisser Reizung in der Stimme.
„Natürlich ist es das nicht!“, versetzte er. „Aber welche andere Bedeutung kann es haben, dass der Palantír plötzlich leuchtet? Es gibt nur noch zwei Palantíri. Einen hat Aragorn mitgenommen, der andere ist hier. Ich habe keine andere Erklärung, als dass Aragorn Verbindung aufnehmen will. Oder hast du eine bessere Erklärung?“
Éowyn schüttelte den Kopf.
„Nein, die habe ich auch nicht“, räumte sie ein.
„Wenn Aragorn mich ruft, dann ist etwas Ernsthaftes passiert. Du kennst ihn doch: Er braucht seine Nase nur aus Minas Tirith hinauszustrecken und prompt hängen ein paar Thronräuber dran!“, schnaubte Faramir.
„Und wer sagt, dass er es noch selbst versuchen kann, wenn wir schon bei Gefahren sind? Außer Aragorn selbst weiß ich nur von Gandalf, dass er mit diesen Sichtsteinen umgehen kann. Alle anderen – Arwen eingeschlossen – haben keine Erfahrung mit diesem Ding“, gab Éowyn zu bedenken. Verzweifelt raufte Faramir sich die Haare.
„Daran habe ich auch schon gedacht, aber es nützt herzlich wenig! Ich weiß ja nicht mal, wo sie sich im Moment befinden. Sie können längst hinter Lothlórien sein oder sich noch in Edoras aufhalten. Ich habe keine Ahnung, wo ich sie überhaupt suchen sollte, wenn es nicht gelingt, eine Verbindung mit dem Palantír zu bekommen! Deshalb wollte ich es ja mit dem Sichtstein versuchen!“
„Was hältst du davon, wenn wir den Palantír im Auge behalten und zunächst abwarten, ob nochmals ein Ruf erfolgt?“, schlug Éowyn vor. Faramir nickte langsam.
„Ja, das wird wohl das Beste sein“, sagte er schließlich.
Einige Tage vergingen, in denen der Palantír aber keine erneute Aktivität zeigte. Dann meldete ein Wächter, dass die beiden Leibwächter des Königs zurückgekehrt waren. Faramir ließ alles stehen und liegen und ließ die beiden Männer sofort zu sich bringen.
„Welche Kunde bringt ihr?“, fragte er. Dwiher und Celdor verbeugten sich gemessen.
„König Elessar sendet uns mit der Bitte, dass Ihr ihm eine Abteilung berittener Turmwächter nach Edoras nachsendet – auch sein Pferd Brego und das Schwert Andúril sollen wir mitbringen“, erklärte Dwiher. Faramir atmete sichtlich auf. Wenn es so war, konnte das Aufleuchten des Palantírs nur bedeuten, dass Aragorn tatsächlich versucht hatte, ihn zu rufen, aber die Verbindung aus unbekannten Gründen nicht zustande gekommen war.
„Ist König Elessar etwas zugestoßen, dass er nach Verstärkung verlangt?“, fragte er dann doch besorgt nach.
„Er ist mit Herrn Legolas zusammen in einen Kampf mit dunländischen Rebellen verwickelt worden. Beide wurden dabei verwundet. Die Wunden waren wohl nicht wirklich schwer, aber Herr Gimli hat König Elessar dringend angeraten, nicht mit so wenigen Begleitern zu reisen, wie wir gehört haben“, gab der Leibwächter Auskunft.
„Und wo wart ihr zwei, als es zum Kampf kam?“, erkundigte sich der Statthalter streng.
„König Elessar und Herr Legolas wollten unbedingt allein auf Erkundung gehen und wünschten keine Begleitung durch uns“, erwiderte Celdor kühl. Faramir standen die Zweifel so deutlich im Gesicht, dass Dwiher hinzufügte:
„Ihr kennt ihn, Herr Faramir. Und ihr wisst, dass er es wirklich hasst, wenn wir ihm gegen seinen Willen folgen.“
Faramir nickte. Dwiher hatte durchaus Recht mit seinem Einwand. Der Statthalter winkte dem Wächter an der Tür und befahl ihm, Galhir, den Hauptmann der Reiter von Gondor zu holen, der auch wenig später in der Turmhalle erschien.
„Hauptmann Galhir, König Elessar benötigt eine Abteilung deiner Reiter in Edoras“, eröffnete der Statthalter.
„Ich werde umgehend zwanzig meiner Männer bereit haben, Herr Faramir“, bestätigte Galhir. Faramir nahm es nickend zur Kenntnis.
„Bis Edoras werde ich euch begleiten, weil ich mit Elessar noch etwas zu besprechen habe.
Als Faramir am Abend seiner Frau von seinem Vorhaben erzählte, war es für ihn keine Überraschung, dass Éowyn unbedingt mit ihm reiten wollte. Sie hatte ihren Bruder Éomer gut ein Jahr nicht mehr gesehen, ihr letzter Besuch in Rohan war bereits zwei Jahre her, denn Éomer hatte sie zuletzt in Ithilien besucht. Aber Faramir wäre ohnehin nur ungern ohne Éowyn nach Edoras geritten. Zum einen liebte er sie zu sehr, um sie ohne Not mindestens zwei Wochen allein zu lassen. Andererseits war Éowyn geradezu unentbehrlich, wenn es darum ging, Brego nach Edoras zu bringen. Brego war hinsichtlich seiner Reiter überaus wählerisch. In der Regel duldete er außer Aragorn selbst fast niemanden in seiner Nähe, ließ nicht einmal die im Umgang mit Pferden sehr geschickte Arwen auf seinen Rücken. Nur bei Éowyn machte er eine Ausnahme. Éowyn ließ es sich denn auch nicht nehmen, das Pferd, das einmal ihrem Vetter Théodred gehört hatte, selbst zu reiten. In der Frühe des übernächsten Morgens rückten Galhir, zwanzig gondorische Reiter, Faramir und seine Frau von Minas Tirith ab. Brego genoss es, der Enge des Stalls wieder entkommen zu sein und so war die ebenso freiheitsliebende Éowyn meist sehr weit vor den übrigen Gondorern und ihrem Mann. So, wie Brego das Tempo vorgab, würde die Reise nach Edoras nur eine knappe Woche dauern.
In Rohan genossen Arwen und Aragorn derweil traute Zweisamkeit, Legolas besichtigte zum wiederholten Mal Aglarond, Gimlis Reich, und fand es noch schöner vor als bei seinem letzten Besuch vor ungefähr einem Jahr. Bergil, Aragorns Knappe, fand die Zuchtställe von Rohan so interessant, dass Aragorn ihm einige Tage Urlaub gewährte. Bei seiner Erkundung der rohirrischen Pferdezucht gelangte Bergil auch auf Sigarils Hof, der von den dunländischen Gefangenen gerade wieder aufgebaut wurde. Bergil begleitete die neue Zuchtstute, die Éomer dem Bauern aus seinem eigenen Zuchtstall überließ. Die strahlend weiße Stute, die auf den Namen Aisha hörte, war eine Tochter von Gandalfs wundervollem Hengst Schattenfell und sie war genau so eigensinnig wie ihr Vater. Zu Bergil hatte die schöne Stute aber schnell Vertrauen gefasst. Das mochte auch daran liegen, dass Bergil zu den wenigen Menschen gehörte, die Brego in seinem Stand duldete, mit dem Aisha über einige Umwege verwandt war. Der vertraute Geruch eines rohirrischen Hengstes stimmte die eigensinnige Stute sanfter und sie ließ sich von Bergil führen. Auf dem Hof von Sigaril traf Bergil auf den fast gleichaltrigen Herlif, der Pferde ebenso liebte wie Bergil. Als Bergil Sigarils Hof am Ende seines Urlaubs verließ, hatte er in Herlif einen Freund gefunden, mit dem er unbedingt Verbindung halten wollte.
Drei Tage darauf meldete ein Wächter Éomer, dass eine Anzahl Reiter unter der Fahne Gondors von Osten durch die Ebene nach Edoras heraufkäme. Éomer ließ seine Gäste unterrichten, die auch gleich zur Goldenen Halle eilten, um die Ankömmlinge in Empfang zu nehmen.
„Wenn mich nicht alles täuscht, führt Faramir die Turmwächter selbst – und Éowyn ist auch dabei“, sagte Legolas. Die Reiter waren noch weit unten in der Ebene, etwa vier Meilen entfernt, aber Legolas’ scharfe Elbenaugen konnten schon auf diese Entfernung erkennen, dass zwei der Reiter einen graugrünen Lederpanzer trugen, der über den sieben Sternen Gondors noch mit dem Mond von Ithilien verziert war – Zeichen für die Truppen Faramirs – und dass einer dieser beiden keinen Bart hatte, was ausschließlich auf Éowyn zutraf, denn die Männer Gondors und Ithiliens schätzten Bärte als Gesichtsschmuck sehr und trugen fast ausnahmslos einen Bart. In der Regel waren das Vollbärte, wobei sich seit dem Ringkrieg ein kurzer, aber doch fülliger Bart um Mund und Kinn sowie kurze Stoppeln an den Wangen besonders durchgesetzt hatten, was präzise der Art und Weise entsprach, in der Aragorn ihn bis zum Ende des Ringkriegs getragen hatte.
„Es hätte mich auch sehr gewundert, wenn meine Schwester die Gelegenheit nicht nutzen würde, um einen Besuch in Edoras zu machen“, lächelte Éomer.
Faramirs Truppe von etwa zwanzig Turmwächtern blieb vor der Stadt, während Éowyn und Faramir durch das Tor ritten und mit viel Freude begrüßt wurden. Die Menschen von Rohan liebten ihre Prinzessin ebenso wie ihren König, und den Fürsten von Ithilien schätzten sie ebenfalls als freundlichen und liebenswerten Mann. Die Begrüßung vor der Goldenen Halle war eine lange Reihe herzlicher Umarmungen und pure Wiedersehensfreude. Éomer freute sich, seine Schwester und seinen Schwager wieder einmal in Edoras zu Gast zu haben, Éowyn war froh, wieder einmal in ihrer Heimat zu sein, die sie nun auch schon einige Zeit nicht mehr gesehen hatte, Aragorn war sehr erfreut, den Großteil seiner besten Freunde wieder einmal um sich versammelt zu haben.
Am Abend, als sich der König und seine Gäste zurückzogen, hielt Faramir Aragorn am Arm fest.
„Warte“, sagte er. Aragorn blieb stehen.
„Ja?“
„Hast du versucht, mich über den Palantír zu rufen?“, erkundigte sich Faramir. Aragorn schüttelte den Kopf.
„Nein, bestimmt nicht. Ich hatte dir doch gesagt, ich nehme ihn nicht mit, um dich zu kontrollieren.“
„Das meine ich auch gar nicht. Nein, ich hatte den Eindruck, dass der Palantír vor kurzem aufleuchtete.“
„Wann hast du das beobachtet?“, fragte Aragorn.
„Ein paar Tage, bevor die Leibwächter kamen, die du mitgenommen hattest. Als sie ankamen, habe ich angenommen, du hättest ihre Ankunft ankündigen wollen. Hast du den Palantír benutzt?“
„Faramir, es kostet viel Überwindung den Sichtstein zu benutzen – sowohl der eigenen Furcht vor dem, was gerade der einem zeigt, als auch der Anstrengung, die es bedeutet, einen Palantír zu nutzen. Ich würde ihn nie verwenden, nur um dir die Ankunft von Boten anzukündigen. Dazu kostet das Ding zu viel Kraft“, erwiderte der König. „Was hast du gesehen?“
„Es war schon recht dunkel und ich hatte etwas im Arbeitszimmer vergessen. Und als ich hereinkam, schimmerte er rötlich, fast wie ein Sonnenuntergang. Es sah erst aus wie eine Fackel, die sich in der glatten Oberfläche spiegelt, und weil ich eine Öllampe in der Hand hatte, nahm ich deshalb davon erst auch gar nicht richtig Notiz. Nur dann wurde das Leuchten heller, der Stein fast durchsichtig wie ein großer Salzkristall – und plötzlich war er wieder schwarz, undurchsichtig. Dann fing er wieder an zu leuchten, wurde wieder richtig glühend, aber es war niemand zu sehen. Ich hab’ mich richtig erschrocken. Bist du ganz sicher, dass du deinen Palantír nicht angefasst hast?“
„Wann war das genau?“
Faramir dachte einen Moment nach.
„Vor zehn Tagen“, sagte er schließlich. Aragorn überlegte und rieb sich nachdenklich die Stirn.
„Ungefähr zu der Zeit habe ich in meiner Satteltasche nach Athelas gesucht, weil Arwen noch etwas für meine Schulterwunde brauchte. Ich habe den Palantír etwas länger in der Hand gehabt. Zuweilen ist er empfindlich und springt schnell an. Vielleicht habe ich ihn versehentlich zum Leben angeregt“, mutmaßte Aragorn. „Passiert ist es mir schon einmal“, fuhr er fort. „Da saß ich harmlos an meinem Schreibtisch und habe über ein Problem nachgedacht. Dabei habe ich den Palantír in die Hand genommen, weil ich an ein Pergament wollte, das ich damit beschwert hatte – und über dem Lesen dieses Pergaments fing der Palantír an, durchsichtige Wolken im Inneren zu bilden. Dann waren die Wolken plötzlich verschwunden und ich sah die Hände deines Vaters, der den Palantír…“
Aragorn brach ab, weil er Faramir weitere Einzelheiten über den Tod seines Vaters ersparen wollte. Faramir begriff und gab sich mit der Auskunft zufrieden und auch Aragorn hatte keinen Grund anzunehmen, dass etwas anderes geschehen sein könnte, als er Faramir gesagt hatte.
Kapitel 7
Herbst im Goldenen Wald
Eine Woche, nachdem die berittenen Turmwächter Edoras erreicht hatten, setzten Aragorn und seine Begleiter den Weg nach Norden fort. Ihnen schloss sich auch Gimli Glóinssohn an.
„Ich komme mit euch“, sagte er. Legolas machte eine einladende Handbewegung.
„Arod hat uns beide schon weit getragen. Er schafft uns auch beide bis nach Annúminas“, erwiderte der Elb.
„Nein, ich komme nicht bis ganz nach Annúminas mit. Aber ich will euch bis Moria begleiten“, sagte Gimli.
„Bis Moria?“, fragte Legolas verblüfft nach.
„Vielleicht ist es bis an deine scharfen Elbenohren noch nicht gedrungen, aber Moria existiert wieder“, versetzte der Zwerg nicht ohne Stolz. Legolas sah Aragorn fragend an. Der nickte nur.
„Balin der Jüngere hat Moria wieder in Betrieb genommen“, erklärte er.
„Entschuldigung, wer, bitte, ist Balin der Jüngere?“, erkundigte sich der Elb.
„Balin der Jüngere ist einer der Söhne von Balin dem Älteren“, erklärte Gimli. „Als mein Vetter Balin seinerzeit nach Moria ging, um das alte Zwergenreich wieder zu errichten, ist sein jüngster Sohn Balin der Jüngere nicht mitgegangen. Nach dem Ringkrieg hat er Aragorn um Erlaubnis gebeten, einen neuen Versuch zur Inbetriebnahme Morias zu machen.“
„Und was hast du dazu gesagt?“, fragte Legolas an Aragorn gewandt. Der König lächelte.
„Ich habe ihm mitgeteilt, dass ich nicht Herr von Moria bin, weil Moria immer ein Zwergenreich war und ich nicht Herr über Zwerge bin, sondern nur ein König der Menschen. Insofern konnte ich ihm keine Erlaubnis dafür geben. Aber wenn er dazu einen Rat haben wollte, habe ich ihm geschrieben, könne ich ihn dazu nur ermutigen, denn der Balrog, den Durins Volk geweckt hatte, ist nicht mehr da und die Orks sind besiegt. Ferner habe ich ihm mitgeteilt, dass ich ihn – falls er sein Vorhaben durchführen sollte – als neuen Herrn von Moria anerkenne und ihm Glück wünsche“, sagte er.
„Ob wir ihn dann auf dem Weg gleich besuchen sollten?“, schlug Legolas vor.
„Ich würde das gern auf dem Rückweg tun, denn eigentlich wollte ich schon längst in Bruchtal sein“, erwiderte Aragorn. Legolas schüttelte den Kopf.
„Du solltest einmal nicht gehetzt unterwegs sein“, mahnte er. Aragorns Lächeln wurde noch breiter.
„Eben deshalb wollte ich ihn auf der Rücktour besuchen. Das neue Moria wird sicher sehr interessant sein und da möchte ich mir gern etwas Zeit lassen können. Wir haben drei Wochen in Rohan verbracht, die ich ganz und gar nicht als verlorene Zeit betrachte, aber in Annúminas wird sicher einiges zu tun sein. Ich war lange nicht dort. Insofern möchte ich jetzt möglichst schnell hin.“
Legolas machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Dir ist nicht zu helfen!“, schnaufte er.
Am folgenden Tag verließ die Reisegesellschaft des Königs, bereichert um Gimli Glóinssohn, Edoras und schlug den Weg Richtung Lórien ein. Aragorn ritt wieder seinen Brego, der seinen Gram, im Stall einfach alleingelassen worden zu sein, in Gesellschaft seines geliebten Herrn schnell vergaß. Aragorn trug auch wieder Andúril, das neugeschmiedete königliche Schwert Númenors. Gleichzeitig verließen auch Faramir und Éowyn die Hauptstadt Rohans, um Gondor bis zu Aragorns Rückkehr zu verwalten, nahmen Aragorns Waldläuferschwert und seinen Hengst Hasufel mit zurück nach Minas Tirith. Eine Éored der Reiter von Rohan begleitete sie.
Aragorn und seine Begleiter blieben auf dem gut zweihundert Meilen langen Weg (so wie der Vogel fliegt) nach Lórien von unangenehmen Überraschungen verschont und zwei Wochen nach dem Verlassen von Edoras erreichten sie ohne Zwischenfälle Lórien. Galadriel hatte Mittelerde zusammen mit Elrond drei Jahre zuvor verlassen, Celeborn hatte seine Gattin zwar bis zu den Grauen Anfurten begleitet, war jedoch noch in Lindon geblieben. Sein Königreich selbst hatte er aber aufgegeben. Seither war Lórien das Reich von Arwens Bruder Elladan, der als Enkel des Herrscherpaares zum Erben eingesetzt worden war. Doch seit Elladans Amtsantritt hatten Arwen und Aragorn noch keine Gelegenheit gehabt, dem neuen König von Lórien ihre Aufwartung zu machen. Schon deshalb wollte Aragorn seinen Schwager auf dem Weg nach Annúminas besuchen und nicht den schnelleren Weg durch die Pforte von Rohan nehmen, der sich wegen der Verzögerung in Edoras geradezu aufgedrängt hatte. Es gab gewisse diplomatische Verpflichtungen, denen Aragorn sich weder entziehen konnte noch wollte. Zum einen war er dazu viel zu höflich gegenüber anderen Fürsten Mittelerdes, zum anderen war Elladan nicht nur der Bruder seiner Frau, sondern eben auch Aragorns Ziehbruder und ein guter Freund, mit dem er so manches Abenteuer erlebt hatte.
Es war jetzt Anfang Oktober und die ersten Bäume zeigten herbstliche Farben. Gimli, der auf einem kräftigen Doppelpony neben Legolas ritt, sah Lórien aus der Entfernung in der gleichen Gestalt wie auf der Ringfahrt. Doch als sie Lórien erreichten, war der Goldene Wald auch für Gimli erkennbar verändert. Auf dem Boden lagen viel mehr Schichten des Mallornlaubes als er von der Ringfahrt in Erinnerung hatte.
„Sag, täusche ich mich, oder sieht es hier anders aus als auf der Fahrt mit den Hobbits?“, fragte der Zwerg.
„Nein, du täuschst dich nicht, Freund Gimli“, erwiderte Legolas und stieg vom Pferd. Er griff in die Laubschichten und nahm eine Handvoll auf. „Sieh her: Es sind vollständige Laubkleider, die die Mallornbäume im Winter verlieren. Bald werden sie ganz kahl sein. Ja, Lórien hat sich verändert“, bestätigte der Elb.
„Und warum?“, erkundigte sich Gimli.
„Als wir auf der Ringfahrt waren, schützte Galadriels Zauber diesen Wald. Ihr Zauber war gebunden an den Ring Nenya, der ihr anvertraut war. Als der Eine Ring von Frodo vernichtet wurde, verloren alle Ringe der Macht ihre Kraft und alles, was durch sie geschaffen worden war, musste vergehen. Das galt auch für die Ringe der Elben, die von Saurons unmittelbarem Einfluss zwar frei waren, aber doch unter ähnlichen Voraussetzungen geschaffen waren. Deshalb verging auch der Zauber, der Lórien vor der Hitze des Sommers und der Kälte des Winters schützte. Jetzt gibt es hier alle vier Jahreszeiten wie bei uns im Düsterwald auch“, erklärte Legolas. Gimli sah sich um. Das Licht, das in den Wald schien, war immer noch so golden, wie er es in Erinnerung hatte, die Schatten auf dem Boden wirkten immer noch anders, durchsichtiger als in anderen Wäldern, die er mit Legolas schon durchwandert hatte. Dennoch wirkte der Wald verändert, ohne dass Gimli hätte sagen können, was sich genau verändert hatte.
„So ganz vergangen scheint es mir aber doch nicht“, widersprach er dem Elben.
„Stimmt“, warf Aragorn ein.
„Und woran liegt das?“, fragte Gimli weiter.
„Am Elbenzauber“, erwiderte Aragorn.
„Legolas hat mir gerade erklärt, dass es den seit Galadriels Fortgang aus Mittelerde nicht mehr gibt“, versetzte Gimli.
„Ja und Nein. Das ist so ähnlich wie in Minas Morgul. So, wie sich Saurons Schwärze in den tausend Jahren seiner Herrschaft über Minas Morgul so in den Mauern festgesetzt hatte, dass es für Elben, Zwerge, Hobbits und Menschen immer noch unmöglich ist, dort zu leben, so hat sich auch der gute Elbenzauber in Lórien und Bruchtal so festgesetzt, dass es noch immer besondere Orte sind – auch wenn sie jetzt alle vier Jahreszeiten kennen und die Bäume im Winter ihr Laubkleid vollständig verlieren, ja, sogar Schnee fällt“, erklärte der König.
„Und es ist immer noch gut bewacht!“, ertönte eine Stimme hoch aus den Bäumen. Die Köpfe Aragorns und seiner Begleiter zuckten nach oben. In der Krone des nächsten Mallorns saßen vier Elben mit schussbereiten Bogen. Aragorn erkannte den Anführer als Thalion, einen Gefolgsmann Elladans.
„Mae govannen, Thalion Tóronnion. Im Aragorn, Arathornion, i aran gondor. Aníron cened Elladan, i aran lórien, vuindor a vellon nîn![7]“, rief Aragorn hinauf. Thalion stutzte.
„Mae govannen Aragorn! Mas Arwen, Elrondsell, muinthel en Elladan?[8]“
„Im sí, Thalion[9]“, meldete sich Arwen und trieb ihre Asfaloth neben Brego, den Aragorn ritt. Thalion lächelte.
„Ah, pedich tîr! Mae govannen, mellyn! Togon na Garas Galadhon. Aphado nin[10]!“, sagte Thalion, befahl seinen Leuten, die Pfeile wegzustecken und stieg vom Baum. Er ging dem König und seinen Gefährten voraus, die samt und sonders abstiegen und die Pferde durch den Wald führten. Bald hatten sie die Elbenstadt in den Mellyrn erreicht, die nach wie vor ein geradezu überirdisches Licht ausstrahlte. Elladan hatte die Baumstadt wieder herrichten lassen, nachdem Caras Galadhon unmittelbar nach dem Ringkrieg zunächst aufgegeben worden war und sehr verfallen war. Jetzt erstrahlte sie wieder fast in altem Glanz.
Thalion eilte zu Elladans königlichem Flett in den zentralen Mallorn von Caras Galadhon hinauf und kündigte die Ankunft des Königspaares an. Elladan, der seine Schwester und seinen Ziehbruder schon lange nicht mehr gesehen hatte, hielt nichts mehr auf seinem Sitz. Er lief ihnen entgegen und empfing sie schon auf der halben Treppe mit einer herzlichen Umarmung und unter Freudentränen.
„Mae govannen, muinthel a muindor nîn[11]!“, sagte er. Arwen und Aragorn erwiderten seine Begrüßung ebenso freudig.
„Bleibt ihr länger?“, fragte Elladan.
„Einige Tage, wenn du nichts dagegen hast. Dann wollen wir weiter nach Bruchtal und nach Annúminas“, erwiderte Aragorn.
Elladan führte seine Gäste durch Caras Galadhon, zeigte ihnen den neuen, fast alten Glanz der Elbenstadt in den Bäumen. Schließlich – es war bereits dunkel und über ihnen schienen die Sterne – kamen sie auch zu Galadriels persönlichem Garten. Galadriels Spiegel, das flache Silberbecken auf dem steinernen Sockel, gab es noch immer, die Quelle, aus der das Wasser für den Spiegel entsprang, sprudelte ebenfalls noch immer und ergoss sich in den Quellenfluss; auch die silberne Kanne, mit der Galadriel das Wasser für den Spiegel geschöpft hatte, stand immer noch dort. Elladan wies mit einem eher traurigen Blick auf die Relikte des Zaubers von Lórien.
„Er ist immer noch da, aber ohne Nenya, den Ring unserer Großmutter, ist es leider nur eine dürftige Erinnerung an Frau Galadriel“, sagte er. Arwen strich über die silberne Schale, erinnerte sich an viele Male, die sie mit ihrer Großmutter in den Spiegel geschaut hatte. Die letzte Vision, die sie darin erblickt hatte, stand nun leibhaftig neben ihr und sah sie liebevoll an: Aragorn.
„Nur Earendils Stern kann diesen Spiegel anregen“, sagte sie leise. „Großmutters Ring fing dessen Licht ein und gab es an den Spiegel weiter. Nein, ohne den Ring wird er nie wieder leuchten.“
Sie spürte Aragorns Hand, die sich leicht auf ihre schmale Schulter legte und sah ihn an.
„Das Licht des Abendsterns nimmt weder ab noch zu. Es gehört mir, drum kann ich es schenken, wem ich will – wie mein Herz“, zitierte er sanft ihre Worte kurz vor dem Abschied aus Bruchtal, an die er sich auf der Flucht nach Helms Klamm erinnert hatte. „Earendils Stern wird Gil-Estel als Morgenstern und Undómiel als Abendstern genannt. Es ist aber immer derselbe Stern. Du, geliebte Frau Undómiel, hast mir den Abendstern geschenkt und du hast mir etwas dazu gesagt, bevor ich Bruchtal verließ: Ae ú-esteliad nad, estelio han, estelio ammen[12]“, flüsterte er vertraulich. Er nahm den Abendstern ab und gab ihn ihr. Arwen zögerte einen Moment, dann lächelte sie. Mit der Kanne schöpfte sie Wasser aus dem Quell, goss es in die Silberschale und hielt den Abendstern so, dass er das Licht des von den Elben so besonders geliebten Sterns einfangen und an den Spiegel weitergeben konnte. Es dauerte einen Moment, bis die Sterne, die sich in der sich beruhigenden Oberfläche des Wassers spiegelten, einem Bild wichen, das eine Höhle tief unter der Erde zeigte. Dort arbeiteten Zwerge nebeneinander mit – Orks! Schon dieser Anblick versetzte die drei Betrachter des Bildes in Erstaunen. Doch noch mehr verblüffte sie, dass das Gestein, an dem diese Wesen arbeiteten, plötzlich rot bis orange aufleuchtete und ein Bild zeigte, das aber gleich wieder verlosch. Schwarz war das Gestein, schwarz wie ein Palantír und es glänzte ebenso. Arwen schüttelte zweifelnd den Kopf.
„Großmutter sagte: Auch der Weiseste kann nicht sagen, was der Spiegel zeigen wird. Er hat seinen eigenen Willen. Der Spiegel zeigt Dinge die waren, Dinge die sind und Dinge, die vielleicht sein mögen. Ob das so eine Vision ist, die vielleicht sein könnte, aber nie eintreffen wird? Zwerge, die mit Orks zusammen arbeiten, sind für mich einfach nicht vorstellbar.“
Aragorn rieb sich nachdenklich den Bart.
„Ich wäre mir da nicht so sicher, dass es völlig unmöglich ist. Es gibt durchaus Wesen, die wir zu den Unwesen zählen und die sich dennoch Sauron widersetzt haben. Ihr erinnert euch doch bestimmt an den Troll Gulda. Er hat sich erst Morgoth und später Sauron widersetzt, hat mich und später auch Elben gerettet. Warum sollte es nicht auch Orks geben, die sich von Sauron losgesagt haben? Warum sollte Balin sich nicht mit ihnen arrangiert haben, wenn sie Moria gut kennen und ihm Hinweise geben können, wo wertvolle Steine oder gar Mithril zu finden sind?“, gab er zu bedenken.
„Wenn wir das einmal annehmen“, sagte Elladan langsam, „welche Erklärung hast du für das Aufleuchten des Gesteins?“, fragte er und sah Aragorn an. Der König seufzte.
„Ich weiß es nicht, ganz ehrlich. Vielleicht hat es denselben Grund, den auch das Aufleuchten des Palantírs in Minas Tirith hatte. Faramir, mein Statthalter, hat mir berichtet, dass der Palantír, den ich bei ihm zurückgelassen habe, ohne erkennbaren Grund aufgeleuchtet ist. Wir konnten uns letztlich zusammenreimen, dass ich den Palantír, den ich mitgenommen habe, beim Suchen in der Satteltasche wohl etwas zu lange in der Hand gehalten habe und er angesprungen ist. Wir wissen nicht, ob das, was der Spiegel zeigt, Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft ist. Es kann also sein, dass das, was wir sehen, zum gleichen Zeitpunkt geschehen ist, wie das Aufleuchten des Palantírs in Minas Tirith“, erwiderte er.
„Die Palantíri wurden von den Noldor in Eldamar geschaffen. Das ist außerhalb von Mittelerde. Nur dort gab es das Material, aus dem die Sichtsteine bestehen“, bemerkte Elladan.
„Arda ist groß, Elladan. Letztlich gehörte auch Eldamar zu Arda. Es gehört mit zu unserer Welt, wenn es auch nach dem Untergang Númenors entrückt wurde und seither nur noch für die Schiffe der Elben erreichbar ist. Warum sollten die Gesteine, die sich im Inneren dieser Welt befinden, nur an einer Stelle zu entdecken sein? Ist es nicht möglich, dass auch in Moria, in dem die Zwerge so tief gruben, dass sie den Balrog versehentlich befreiten, dieses Gestein zu finden ist?“, entgegnete Aragorn. Elladan dachte einen Moment nach, schließlich nickte er.
„Den Valar ist nichts unmöglich, wenn Ilúvatar es will“, sagte er. Aragorn lächelte.
„Wir können ja nachsehen. Auf dem Rückweg wollen wir ohnehin bei Balin vorbeischauen.“
„Warum wollt ihr nicht auf dem Hinweg nachsehen?“, erkundigte sich der Elbenherr.
„Moria wird sicher einige Zeit in Anspruch nehmen, nach dem, was Balin der Jüngere daraus gemacht hat. Dafür hätte ich gern etwas Zeit und ich möchte noch nach Annúminas weiter, wo gewiss einiges zu tun ist, weil ich lange nicht dort war. Wir werden auch in Bruchtal bleiben – und dann, nun ja…“
„Wollt ihr den Hinweg über den Caradhras-Pass nehmen?“, fragte Elladan.
„Ja.“
„Das wird kaum möglich sein. Es hat dieses Jahr früh geschneit und der Pass ist bereits nicht mehr offen zu halten, wie ich erfahren habe. Wenn ihr von hier aus nach Bruchtal weiterziehen wollt, werdet ihr durch Moria gehen müssen, mellon“, grinste Elladan.
Über dem Gespräch hatten Elladan und Aragorn nicht mitbekommen, dass der Spiegel die Vision gewechselt hatte und nun vier Hobbits auf Ponys zeigte, die in Richtung Bruchtal unterwegs waren. Nur Arwen hatte dies noch gesehen, bevor der Spiegel erloschen war.
Als sie später mit Aragorn auf dem Gästeflett allein war, das ihr Bruder ihnen gegeben hatte, erzählte sie Aragorn davon.
„Hast du eine Vorstellung, warum sie sich wieder auf den Weg gemacht haben?“, fragte sie. Er schüttelte den Kopf.
„Nein, habe ich nicht – wenn es die nahe Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft war, die du gesehen hast. Kann es auch die fernere Vergangenheit sein, die du gesehen hast? Als sie wegen des Rings unterwegs waren?“
„Ich meine, sie waren schon hinter Bree. Von Bree an warst du bei Ihnen – und dich habe ich nicht gesehen. Deshalb müsste es jetzt um diese Zeit sein“, erwiderte Arwen. Aragorn nahm sie in die Arme und küsste sie.
„Dann werden wir sehen, muin nîn. Auch ohne Spiegel. Sie werden dann sicher länger in Bruchtal bleiben, weil der Weg recht beschwerlich ist. Wenn sie jetzt unterwegs sind, werden wir sie wohl treffen.“
„Würdest du den Palantír benutzen, um nachzusehen?“, fragte Arwen.
„Ich benutze ihn nicht gern. Erstens, weil es mich einige Überwindung kostet, ausgerechnet diesen Palantír zu verwenden, zweitens, weil ich Faramir nicht unnötig erschrecken will, denn der Palantír in Minas Tirith könnte sich genötigt fühlen, wieder zu leuchten und drittens, weil ich in einigen Tagen in Bruchtal sehe, ob es zutreffend ist. Oder ist es dir besonders wichtig, jetzt Gewissheit zu haben?“, erwiderte Aragorn sanft.
„Nein, du hast schon Recht. Selbst Gandalf kostet es viel Kraft, den Palantír zu benutzen“, sagte Arwen. „Gehen wir morgen zum Cerin Amroth?“, fragte sie dann.
„Mae, bereth nîn. Galunen daw. Losto mae[13]“, sagte er und küsste sie wieder.
„Galunen daw, aran nîn. Losto mae“, erwiderte sie mit einem zärtlichen Lächeln, kuschelte sich dicht an ihn und war bald eingeschlafen.
Kapitel 8
Frodos Traum
Sam schreckte mitten in der Nacht hoch. Abgesehen von der vom Bühl her herauf leuchtenden Straßenbeleuchtung war kein Licht zu sehen, in Beutelsend war es sonst dunkel. Neben ihm schlief Rosie wie üblich tief und fest, auch aus dem Kinderzimmer, wo sein Töchterchen Elanor schlief, kam kein Laut – wohl aber aus Frodos Schlafzimmer. Sam stand leise auf und sah nach seinem Freund. Seit ihrer Rückkehr ins Auenland war Sam nicht mehr der angestellte Gärtner von Beutelsend, sondern als Frodos bester Freund neben ihm selbst ebenfalls Herr auf Beutelsend. Jetzt stand er in Frodos Schlafraum und war entsetzt, dass Frodo sich im Schlaf wie im Fieber wand, schwitzte, als ob er wieder dieses Morgulfieber hatte wie nach seiner Verwundung auf der Wetterspitze. So, wie er im Schlaf ächzte, hatte Frodo mindestens einen Albtraum.
‚Gegen Albträume hilft nur Wecken!‘, entschied Samweis pragmatisch, wie er veranlagt war. Er setzte sich auf die Bettkante und schüttelte Frodo kräftig durch.
„He, Herr Frodo, wach’ auf!“, rief er.
Frodo kam hoch, als habe der Fürst der Nazgûl ihn nochmals mit der Morgulklinge gestochen.
„Hmm? Sam? Was ist denn?“, brummte er verschlafen. „Brennt es?“
„Das sollte ich besser dich fragen, Herr Frodo. Du machst halb Hobbingen rebellisch, so wie du im Schlaf jammerst. Was ist denn los? Hast du schlecht geträumt, Herr Frodo?“
Frodo richtete sich auf, rieb sich die Augen und versuchte, klar zu denken.
„Ja, habe ich. Wenn es nicht so absurd wäre, würde ich jetzt am liebsten Gandalf zu Hilfe rufen. Aber das kann einfach nicht sein …“
„Was kann nicht sein?“, fragte Sam.
„Was ich geträumt habe, ist so abwegig, das kann nicht sein“, erwiderte Frodo. Sam seufzte. Aus Frodo etwas herauszubekommen, war manchmal harte Arbeit.
„Herr Frodo, du hast Träume, die meist einen wahren Kern haben. Denk’ mal, wie oft du schon angeblich Blödsinn geträumt hast, der sehr wohl zutraf. Was war das denn in den Emyn Muil, als du geträumt hast, dass Gandalf gar nicht tot ist? Oder die Geschichte mit diesem Giftkraut? Nein, nein, sag’ nicht immer, dass deine Träume nur Schäume sind, Herr Frodo!“, widersprach Sam heftig. „Also, was hast du geträumt?“, fragte er dann. Frodo sah Sam geradeheraus an. Im ungewissen Licht der Straßenlampe unten am Bühl konnte Sam das blanke Entsetzen in den blauen Augen seines Freundes sehen.
„Sam, ich habe geträumt, dass es nicht nur noch zwei Palantíri gibt! Ich habe geträumt, dass der Palantír, den Sauron hatte, gar nicht zerstört ist, wie Gandalf und Aragorn immer angenommen haben. Und ich habe geträumt, dass jemand ihn gefunden hat und nun gegen Aragorn einsetzen will!“, erklärte Frodo. Sam spürte einen eisigen Schauer. Wenn das zutraf, dann konnte man den König nur noch der Gnade der Valar anempfehlen!
„Du hast Recht, Herr Frodo. Das sollte Gandalf erfahren – und zwar am besten vorgestern.“
„Ich habe nur keine Ahnung, wo Gandalf überhaupt ist. Er wollte ja keinen festen Wohnsitz haben, wie Aragorn mir geschrieben hat“, bemerkte Frodo mit einem tiefen Seufzen.
„Und wer könnte wissen, wo er sich aufhält?“, fragte Samweis. Frodo zuckte mit den Schultern.
„Er hat viele Schlupfwinkel; er kann in Bree sein, er kann in Bruchtal sein, in Minas Tirith oder sonst wo. Ganz ehrlich, ich weiß es nicht, Sam.“
„Und wenn du gleich an Streicher schreibst? Den betrifft dein Traum doch als Ersten.“
„Sam, das ist so ungeheuerlich, das kann ich nicht schreiben. So zuverlässig unsere Postboten im Auenland sind – wenn die Post nach draußen geht, bin ich nicht so sicher, dass diese Nachricht nicht in die falschen Hände gerät“, erwiderte Frodo. Sam zog fragend die Augenbrauen hoch.
„Hast du zu Streichers Boten kein Vertrauen?“, fragte er. Königsboten waren wohl das Zuverlässigste, was ein Hobbit sich außer einem auenländischen Postboten vorstellen konnte. Nie und nimmer hätte Elessar unter seinen Boten Männer geduldet, die ihm unzuverlässig erschienen. Frodo sah Sams Zweifel. Er legte ihm begütigend eine Hand auf den Arm.
„Nein, Aragorns Boten meine ich nicht, Sam. Aber du weißt, dass es immer noch Leute gibt, die Aragorn nicht als König akzeptieren oder die ihm den Thron neiden. Die schrecken auch nicht davor zurück, Königsboten abzufangen, schätze ich. Nein, wenn ich das schreibe, wissen seine Feinde es eher, als es gut sein kann“, sagte er.
„Und wie willst du Streicher dann warnen, Herr Frodo?“, hakte Sam nach. Er blieb einfach hartnäckig bei dem Namen, den Gerstenmann Butterblüm ihnen seinerzeit als Namen des ihm gefährlich erscheinenden Waldläufers zugeflüstert hatte. Ganz falsch war es letztlich nicht, wenn man berücksichtigte, dass Aragorns Dynastiename Telcontar eben dies bedeutete. Frodo seufzte.
„Ich fürchte, ich muss das Auenland nochmals verlassen, Sam …“, sagte er.
„Verstehe, Herr Frodo. Aber Sam kommt mit. Ich lasse dich nicht allein gehen“, erwiderte Sam.
Ein Räuspern ließ Sam und Frodo zu Tür herum zucken.
„Auf die Idee, mich zu fragen, ob ich einverstanden bin, kommt ihr beide wohl nicht, was?“, fragte Rosie, eine Lampe in der Hand, die warmes Licht verbreitete.
„Äh, Rosie …“, setzte Sam an, aber seine Frau machte eine hilflose Handbewegung.
„Männer!“, seufzte sie. „Macht ein Spektakel mitten in der Nacht, dass halb Hobbingen wach wird und fragt dann noch, was eigentlich los ist!“
„Entschuldige bitte, Frau Rosie, aber ich habe schlecht geträumt, das hat den armen Sam geweckt“, versuchte Frodo die Situation zu entschärfen. Rosie verdrehte die Augen.
„Ja, nur dass wach werden mitten in der Nacht bei Hobbits zu großem Appetit führt. Wenn ihr also naschen wollt, müsst ihr euch das bis nach dem Einkauf morgen aufheben. Es reicht gerade noch für das erste Frühstück – für heimliche Naschaktionen á la Beutlin & Co. ist nicht mehr genug Vorrat da“, versetzte die besorgte Hausfrau. Sam stand auf und umarmte seine Frau.
„Das weiß ich, mein Schatz. Wir werden also jetzt wieder brav schlafen gehen und lieber das Bettzeug annagen als deine Vorräte zu dezimieren“, versprach er.
„Als ob ein Hobbit schlafen könnte, ohne etwas gegessen zu haben. Der Hobbit ist noch nicht geboren, lieber Sam. Außerdem habe ich von heimlichen Naschaktionen gesprochen, meine Herren“, schmunzelte sie und zog hinter ihrem Rücken einen Korb mit Kuchenresten vom Vier-Uhr-Tee hervor.
„Rosie, du bist ein Schatz!“, entfuhr es Sam. Er umarmte Rosie und gab ihr einen Kuss. Zu dritt ließen sie sich Rosies Kuchen schmecken. Es fanden sich auch noch ein paar Reste Köttelklumpen, die ebenfalls versehentlich den Vier-Uhr-Tee überlebt hatten, etwas Käse vom Abendessen und ein paar Speckpflaumen vom Nachtmahl. Als in Beutelsend das Licht von Rosies Lampe wieder erlosch, schliefen drei halbwegs gesättigte Hobbits wieder ein.
Als das Frühstück am folgenden Tag beendet war, fuhren Sam und Rosie mit dem von Pony Lutz gezogenen Wagen zunächst nach Hobbingen, um einige Vorräte zu ergänzen. Sie brauchten einige Brote verschiedener Sorten, diverse Käse, Kartoffeln, Schlagrahm und Butter, ebenso Kaffee und diverse Teesorten, die immer schnell ausgingen; außerdem wollte Rosie Wurst machen, weshalb sie auch den Metzger Straffgürtel auf der Liste der zu besuchenden Händler hatten. Die Einkaufstour würde durch halb Hobbingen führen und am Beutelhaldenweg Nummer 3 bei Sams Vater, dem alten Ohm, enden, wo sie gewöhnlich ihre Kartoffeln bezogen. Frodo nahm sich derweil der kleinen Elanor an, die ihren Patenonkel liebte und meist von seinem Schoß nicht wegzubringen war.
Trotz der ausgedehnten Besorgungen waren Sam und Rosie rechtzeitig zum zweiten Frühstück zurück, das Frodo schon teilweise gerichtet hatte und das jetzt vervollständigt werden konnte. Zum zweiten Frühstück erschienen auch – wie bestellt – Merry und Pippin. Beide hatten ein ausgezeichnetes Gespür für zu erwartende Abenteuer. Als sie am großen Tisch von Beutelsend saßen, eröffnete Frodo ihnen, dass er vorhatte, zusammen mit Sam Aragorn eine wichtige Nachricht zu bringen, die er keinem Brief anvertrauen wollte.
„Wann ziehen wir los?“, fragte Pippin mit vollen Backen.
„Ihr wollt doch nicht etwa mit?“, fragte Sam.
„Wenn du mitgehst, Herr Samweis, dürfen wir doch wohl nicht fehlen!“, versetzte Merry, ebenfalls kauend und bestrich sich schon die nächste Scheibe Brot mit Butter und gab eine schöne Scheibe herzhaften Schinken drauf.
„Außerdem könnt ihr auf unsere Kampferfahrung doch nicht verzichten“, ergänzte Pippin und schleckte sich die Finger nach dem Genuss eines reichlich bemessenen Stücks Rosinenkuchen mit Schlagrahm ab und langte gleich nach einer weiteren Scheibe Zwiebelbrot, die er mit reichlich Butter und kräftigem Käse garnierte.
„Kampferfahrung?“ grinste Sam spitz und nahm einen weiteren Schöpflöffel von Rosies gutem Haferbrei, zu dem er noch eine Kelle eingemachter Früchte hinzugab und mit etwas Zimt nachwürzte.
„Klar“, sagte Merry. „Wir haben immerhin für Rohan und Gondor gekämpft, als ihr zwei einfach diesem Gollum nachgeschlichen seid“, kicherte er. Frodo hätte beinahe sein zweistöckiges Käsebrot aus der Hand verloren bei Merrys Bemerkung, doch kannte er seinen Vetter gut genug, um zu wissen, dass es scherzhaft gemeint war. Er konnte den vom Salatblatt rutschenden Käse gerade noch auffangen.
„Ja“, kicherte er, „dich hat der Schreck in Form dieses Ober-Nazgûls glatt umgehauen und Pippin ist irgendwie unter einen Troll geraten und steckte da fest, bis Gimli ihn herausgezogen hat, wie ich gehört habe.“
Alle vier Reisenden lachten herzlich. Ihre große Reise, die Ringfahrt, war ein überaus gefährliches Abenteuer gewesen, das sie alle vier an den Rand ihrer Kräfte gebracht hatte und bei dem sie mehr als einmal nur knapp dem Tod entgangen waren, aber Hobbits sind besondere Wesen, die auch der übelsten Situation noch eine komische Seite abgewinnen können – zumindest im Nachhinein.
„Wie dem auch sei: Wir lassen dich nicht ohne anständige Begleitung zu Aragorn gehen. Der Weg ist weit nach Minas Tirith. Auch, wenn jetzt Frieden ist, ist es nicht einfach, einen so weiten Weg allein zu gehen, Herr Frodo“, erklärte Merry, als er sich vom Lachen wieder beruhigt hatte. Im Laufe des ausgedehnten zweiten Frühstücks fassten sie den Plan, wieder zunächst nach Bree zu gehen und sich von dort nach Bruchtal zu wenden. Immerhin konnte es sein, dass Elrohir, der neue Herr von Bruchtal, noch eine andere Möglichkeit hatte, seine Schwester zu erreichen.
„Aber diesmal gehen wir lieber auf der Straße lang, oder musst du wieder mit Nazgûl rechnen, Herr Frodo?“, erkundigte sich Sam.
„Nein, das wohl nicht, aber wir waren auch schon lange nicht mehr beim alten Tom Bombadil.“
„Oh, wenn ich noch an die Rahmwaffeln von Goldbeere denke, läuft mir immer noch das Wasser im Mund zusammen“, sagte Pippin mit verzücktem Lächeln und biss in eine dicke Scheibe Graubrot, auf der sich über einer schönen Butterschicht hausgemachte Mettwurst, Gurkenscheiben und Tomaten, verziert mit einer von Rosie ebenfalls hausgemachten Mayonnaise türmten.
„Lang nicht mehr ist eine echte Beutlin’sche Untertreibung, Frodo!“, versetzte Merry. „Seit wir Tom Bombadil auf der Ringfahrt verlassen haben, waren wir nicht mehr dort. Aber sollten wir den nicht lieber auf dem Rückweg besuchen? Ich meine, wenn es eilig ist, sollten wir lieber sehen, dass wir auf dem schnellsten Weg nach Bruchtal kommen“, schlug er vor.
Noch während Rosie damit beschäftigt war, den 11-Uhr-Imbiss zu richten, holten Merry und Pippin ihre Ponys und ihre Rüstungen von Rohan und Gondor, brachten sie nach Beutelsend. Sam und Frodo suchten ebenfalls ihre Ausrüstung zusammen. Frodo wollte weder auf sein Mithrilhemd noch auf sein Schwert Stich verzichten, Sam packte wieder einen Rucksack zusammen, der auch Kochgeschirr und natürlich Salz enthielt und schwor sich, sich nie wieder auf Lembas vertrösten zu lassen, so lange er noch etwas anderes kochen konnte. Lutz, sein Pony, schien zu ahnen, dass es wieder etwas anderes für Sam tun konnte, als nur den Pflug des alten Ohm oder den Wagen zu ziehen und trat schon am Abend unruhig wie ein Mearas-Hengst von einem Huf auf den anderen
Am Tag darauf sattelten sie schon vor Sonnenaufgang ihre Ponys und ritten auf der großen Oststraße in Richtung Bree. Ihre Vorräte hatten sie so bemessen, dass sie bis Bree reichen würden – vorausgesetzt, Bauer Maggot würde ihnen wieder ein paar Pilze mitgeben. Obwohl sein Hof nicht auf dem direkten Weg lag, steuerten die vier Reisenden zunächst zu Bauer Maggot, denn dessen Pilze waren so vortrefflich, dass ein Hobbit nur ungern auf diesen Genuss verzichtete. Doch im Gegensatz zur Ringfahrt gedachte Frodo, die Pilze diesmal ganz legal zu erwerben.
Zu Pferd und ohne Verfolgung durch die Ringgeister erreichten sie Bree erheblich schneller als auf der Ringfahrt, auch in Bree selbst gab es diesmal kein Problem – auch, wenn es wieder wie aus Kübeln schüttete wie damals, als sie Bree in der Nacht erreichten. Lutz Farnrich war schließlich nicht mehr dort, es drohten keine Ringgeister mehr und auf Gandalf brauchten sie auch nicht zu warten, weil sie ihn auch nicht erwarteten. Als sie am Abend noch in der Gaststube Zum Tänzelnden Pony saßen und sich neben einem hobbitmäßigen Abendessen noch von Butterblüms gutem Bier schmecken ließen, fiel Frodos Blick in die Kaminecke, in der er damals Aragorn zum ersten Mal gesehen hatte. Heute saß er dort niemand und dem Hobbit fehlte etwas in diesem Haus. Er sah auf seinen Bierkrug.
‚Wenn mir das alles klar gewesen wäre – das mit dem Ring, wer Streicher war, wer diese geheimnisvollen Reiter waren, was alles auf mich zukam – ich hätte nicht für alle drei Silmaril auf einen Schlag diese Reise gemacht, nicht einmal für kostenloses Futter bis ans Ende meiner Tage. Aber wo wäre Mittelerde dann heute…?‘
Schaudernd brach er den Gedanken ab.
Fast gleichzeitig öffnete sich die Tür und ein patschnasser, riesengroßer Hut mit nach hinten geknickter Spitze aus blaugrauem Filz tauchte dort auf, darunter ließ sich ein langer, weißer Bart sehen – und unübersehbare weiße Brauen, die knapp über die breite Hutkrempe hinausschauten.
„Gandalf!“ rief Gerstenmann Butterblüm erfreut. „Schön, dich wieder einmal zu sehen, alter Freund!“
Gandalf schüttelte sich, um die Nässe des heftigen Gusses loszuwerden und kam dann in den vollen Gastraum.
„Hallo, Butterblüm! Hast du ein gutes Bier im Anstich?“, fragte er. Butterblüm zwinkerte ihm zu.
„Und wenn ich das nicht hätte, würde ich glatt ein Sonderfass für dich öffnen, lieber Gandalf! Aber was machst du? Wo warst du so lange? Wo willst du jetzt hin? Ich hab’ dich ja Ewigkeiten nicht gesehen!“
„Oh, ich war hier und will nach da“, erwiderte der Zauberer, wies bei der ersten Bemerkung nach hinten, bei der zweiten nach vorn. Gandalf wanderte immer noch durch Mittelerde, machte hier Station und dort, aber einen festen Platz lehnte er nach wie vor ab – sehr zum Leidwesen Aragorns, der den weisen Freund gern in seiner Nähe gehabt hätte und ihm schon Wohnung in Minas Tirith oder auch die Übernahme des Orthanc angeboten hatte. Dennoch war Gandalf ruhiger geworden, nachdem ihn keine unmittelbare Pflicht mehr drückte.
„Man hört ja wieder allerhand: Dass der König unterwegs ist, dass es wieder Zwerge hinter Bruchtal gibt, und so weiter. Weißt du Näheres?“, fragte der stets neugierige Butterblüm.
„Nein“, erwiderte Gandalf. „Was hast du gesagt? Der König ist unterwegs? Woher weißt du das?“
„Och, hier waren ein paar Leute, die sagen, sie wären aus Gondor. Die haben davon erzählt“,
„Haben sie gesagt, wohin er wollte?“, hakte Gandalf ein. Butterblüm schüttelte den Kopf.
„Nein, ich hab’ auch nicht gefragt. Ach, hier sind ein paar Hobbits, ich glaube, das sind die gleichen, die mal nach dir gefragt haben. Der Herr Unterberg oder so“, sagte Butterblüm und wies in die Richtung, in der die Hobbits saßen. Alle vier waren so mit ihren Bierkrügen und dem Mahl beschäftigt, das Butterblüm ihnen serviert hatte, dass sie die Ankunft des Zauberers gar nicht bemerkt hatten. Gandalf grinste, nahm seinen Bierkrug und ging zum Tisch der Hobbits.
„Sucht ihr Streicher?“ fragte er.
Frodo, der mit dem Rücken zum Tresen saß, wäre fast der Bissen im Hals steckengeblieben, als er diese Worte hörte. Vorsichtig drehte er sich um, während sich die Mienen der anderen drei Hobbits bereits aufhellten.
„Gandalf! Diesmal haben wir dich gar nicht erwartet und du bist da!“, jubelte er, sprang auf und umarmte den Zauberer, der die Umarmung gerührt erwiderte.
„Du weißt doch: Ein Zauberer kommt nie zu spät!“, versetzte er. „Aber was treibt euch wieder aus eurem geliebten Auenland fort?“ fragte er dann. Frodo sah sich vorsichtig um. Die Ringfahrt hatte ihn gelehrt, sich nie zu sicher zu fühlen.
„Wir wollen Aragorn besuchen“, sagte er dann. Gandalf bemerkte, dass Frodo nicht die volle Wahrheit ausgesprochen hatte, dafür kannte er den Tonfall Frodos zu lange und zu gut.
„Und weshalb?“, fragte er leise. Frodos Blick wurde noch vorsichtiger.
„Später“, sagte er dann halb murmelnd. „Wo warst du?“, fragte er, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Streichers Lektion in Sachen Vorsicht gerade in diesem Gasthaus saß tief in ihm.
„Hier und dort und überall“, erwiderte Gandalf.
„Aragorn hat mir geschrieben, er hätte dir angeboten, den Orthanc zu bewohnen, aber du hättest abgelehnt. Warum?“, fragte Frodo weiter. Gandalf lächelte leicht.
„Später“, sagte er. Frodo begriff, dass auch Gandalf nicht alles sofort und vor allen Leuten ausplauderte. So beließen die vier Hobbits und der Zauberer es zunächst bei allerlei anderen Themen, die von Fremden nicht zum Schaden genutzt werden konnten.
Einige Zeit später zogen sie sich in das Zimmer zurück, das Butterblüm ihnen gegeben hatte. Es war eines der Hobbitzimmer im ersten Stockwerk, dessen Fenster ebenerdig zum Hügel nach hinten hinausgingen – jenes Zimmer, das sie schon bei der Ringfahrt hätten haben sollen, das Aragorn aber angesichts der sie verfolgenden Ringgeister zu gefährlich erschienen war. Gandalf folgte ihnen mit einer Viertelstunde Abstand. Niemand sollte direkt bemerken, dass die Hobbits und der Zauberer etwas zu besprechen hatten.
„Also: Was treibt euch an?“, fragte er, als sie allein waren.
„Gandalf, ich habe etwas Furchtbares geträumt. Das treibt uns“, erwiderte Frodo.
„Und was hast du geträumt?“
„Ich habe es für ein Hirngespinst gehalten, aber dann…“, setzte Frodo an, brach wieder ab. Doch auf Gandalfs fragenden Blick fuhr er fort:
„Der Palantír von Barad-dûr ist nicht zerstört!“
Gandalf wurde bleich.
„Wie bitte?“
„Ich weiß, das kann keiner glauben, aber…“
„Nein, das meine ich nicht!“, entgegnete Gandalf. „Habe ich dich richtig verstanden? Du hast geträumt, dass der Palantír, den Sauron hatte, noch immer existiert?“
Frodo nickte.
„Ja. Und noch schlimmer: Ich habe geträumt, dass er von Aragorns Feinden gefunden wurde und dass sie ihn zu seinem Nachteil benutzen wollen!“
„Hast du Aragorn darüber schon informiert?“
„Das ist so ungeheuerlich, das wollte ich nicht schreiben. Deshalb sind wir ja auf dem Weg nach Minas Tirith – außer Elrohir von Bruchtal hat noch eine andere Möglichkeit, Königin Arwen aus der Ferne zu unterrichten, damit sie Aragorn warnt.“
„Ihr Hobbits seid wirklich besondere Wesen!“, entfuhr es dem Zauberer. „Du hast völlig richtig gehandelt. Ich komme mit“, sagte Gandalf.
Kapitel 9
Die Wunder von Khazad-dûm
Aragorn und seine Reisegesellschaft verließen Lórien eine knappe Woche nach ihrer Ankunft und schlugen den Weg zum Schattenbachtal ein, das nach Moria hinaufführte. Gimli konnte es kaum erwarten, den Kheled-zâram, den Spiegelsee, zu sehen. Auf der Ringfahrt hatten sie keine Zeit gehabt, die Schönheit dieses wundervollen Bergsees zu genießen, aber diesmal wollte auch Aragorn sich dies nicht entgehen lassen. Zu dicht waren ihnen die Orks auf den Fersen gewesen, als dass sie einen längeren Aufenthalt am See hatten riskieren können.
Glatt, eiskalt und schwarz lag der See da. Obwohl es heller Tag war, spiegelten sich statt des blauen Himmels und der Sonne die Sterne der Nacht in ihm – Durins Krone, jenes Sternbild, das der Zwergenkönig Durin I. dort schon im Ersten Zeitalter gesehen hatte. Schroffe Berge mit nur wenig Vegetation umgaben den kalten Bergsee.
„Schade, ich hätte es so gern Frodo gezeigt“, sagte Gimli, als er daran dachte, dass er schon auf der Ringfahrt mit Frodo an dieser Stelle gestanden hatte und doch das Wunder von Kheled-zâram nicht wirklich hatte vorführen können. Er spürte Legolas’ Hand auf der Schulter.
„Du wirst es ihm zeigen können, Gimli. Ich fühle es“, sagte der Elb. Gimli sah zu ihm hoch.
„Meinst du, dass wir die Hobbits noch in Moria treffen? Weiter wollte ich ja nicht mitkommen“, bemerkte er. Legolas grinste.
„Vielleicht solltest du etwas flexibler werden, Herr Zwerg.“
„Ach, ihr Elben habt doch keine Ahnung von den Verpflichtungen eines Zwergenfürsten“, grunzte Gimli unwillig. Legolas’ Grinsen wurde breiter.
„So wenig, wie ein Zwerg sich Gedanken über die Verpflichtungen des Königs der Menschen macht“, erwiderte er neckend. Gimli wollte eine grantige Erwiderung machen, sah aber das freundliche Lachen seines elbischen Freundes, begriff und lachte. Immerhin so laut, dass Aragorn aufmerksam wurde und nachsah, was seine Gefährten so belustigte.
„Erzählt Gimli wieder das Märchen von der Ähnlichkeit der Zwergenfrauen mit ihren Männern?“, fragte er.
„Nein“, erwiderte Legolas, „Gimli meint nur, er könnte nichts sehen außer ein paar Sternen. Ich habe ihm angeboten, ihm eine Kiste zu besorgen, damit er einen besseren Blickwinkel hat“, setzte er in Anspielung auf ein Gespräch mit Gimli unmittelbar vor der Schlacht um Helms Klamm hinzu.
Einige Stunden später erreichten sie das Osttor von Moria. Zwergenwächter hielten die Reisenden auf.
„Halt! Wer seid ihr und was wollt ihr in Khazad-dûm?“, rief einer der Posten. Gimli baute sich vor ihm auf.
„Gimli Glóinssohn, Herr von Aglarond, bin ich und ich will zu Balin, dem Herrn von Moria!“
„Ah, ja. Und wer sind die dort?“, fragte der Posten ungerührt und wies auf die stattliche Reisegesellschaft.
„Erstens sind sie meine Freunde, zweitens müssen sie den Weg durch Moria nehmen, um auf die andere Seite des Gebirges zu gelangen und drittens hast du es mit Elessar Telcontar zu tun, dem König des Wiedervereinigten Reiches, dem wir Zwerge unsere Unabhängigkeit überhaupt verdanken!“, schnauzte Gimli den Wächter an. Der Wächter rief einen zweiten, sprach leise mit ihm, worauf der zweite Zwerg sich eilig entfernte und schon nach kurzer Zeit zurückkehrte. Der Posten vor dem Tor winkte den Reisenden, nachdem der zurückgekehrte Zwerg ihm Anweisungen erteilt hatte.
„Herr Balin erwartet euch“, sagte er.
„Wie gnädig!“, grunzte Gimli. Aragorn schüttelte den Kopf.
„Ich weiß ja inzwischen, dass deine Höflichkeit gegenüber Elben zuweilen zu wünschen übrig lässt, aber dass das auch für Zwerge gilt, verblüfft mich doch“, bemerkte er. Gimli machte nur eine wegwerfende Handbewegung und durchschritt das Osttor von Moria. Aragorn und seine übrigen Begleiter folgten ihm und dem Wächter, der sie führte.
Das, was Aragorn, Legolas und Gimli jetzt zu sehen bekamen, hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem Moria, das sie aus der Ringfahrt noch in eher unangenehmer Erinnerung hatten: Lichter leuchteten die gewaltigen Steinhallen aus, deren Größe und architektonisches Wunder nun erst sichtbar wurden: Glatte, scharfkantige Säulen von quadratischem Querschnitt schienen das Himmelsgewölbe selbst zu stützen, soweit reichten die Gewölbedecken nach oben und der Grund nach unten. An der gut ausgeleuchteten Decke der Gewölbe glitzerten Kristalle, wie sie sonst nur in Aglarond zu finden waren und vervielfältigten das Licht der vielen Lampen zu einem sonnengleichen Strahlen.
Nur wenige Klafter hinter dem Osttor erreichten sie die neue Brücke von Khazad-dûm, nunmehr nicht nur für eine einzelne Person breit genug und über dem endlosen Abgrund eher wie eine aufrecht stehende krumme Klinge erscheinend, sondern wenigstens zwei Klafter breit, aber immer noch mit einem freitragenden einzelnen Bogen, der die Kluft überspannte. Aragorn erinnerte sich mit Schaudern an den zusammenbrechenden Treppenabsatz jenseits der Brücke, auf dem er mit Frodo gestanden hatte. Er hatte nicht erwartet, dass irgendetwas in Moria hatte wiederhergerichtet werden können – erst recht nicht diese Treppe, die sich jetzt solide und sorgfältig gemauert vor ihm auftat. Er sah noch voller Bewunderung auf die neue Treppe, als er eine Hand auf dem Arm spürte.
„Eure Pferde werden die Treppe zwar hinaufgehen, aber nicht wieder herunter“, sagte der Zwerg, der sie führte. „Folgt mir zu einer Rampe, die auch Pferde benutzen können“, setzte er hinzu. Aragorn nickte nur, bedeutete seinen Gefährten, dem Zwerg zu folgen.
„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, ihr hättet über den Zustand von Moria richtig geschwindelt“, sagte Arwen, die Asfaloth führend neben ihm ging.
„Ich kann selbst kaum glauben, was ich hier sehe. Das ist ein Wunder“, erwiderte Aragorn, der nicht wusste, wohin er zuerst sehen sollte. „Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein finsteres Loch diese Zwergenstadt war, als wir auf der Ringfahrt hindurchgingen“, sagte er dann, Arwens Hand sanft drückend. Sie sah ihn an.
„Ich sehe es in deinem Blick, muin nîn. Das letzte Mal, als du diesen Blick hattest, haben wir uns nach dem Abschied in Gondor wieder gesehen.“
Aragorns Blick tauchte in den ihren.
„Ich hatte eigentlich gedacht, dir täglich einen solchen Blick zu schenken“, erwiderte er und legte ihr einen Arm um die Schulter. Arwen ließ es nur zu gern geschehen und lehnte sich an ihn.
„Es ist wunderschön“, sagte sie leise.
Hinter der Rampe kamen Zwerge, die ihnen die Pferde abnahmen und zu einer Stallhalle führten. Brego brauchte gewisses Zureden seines Herrn, um sich von ihm entfernen zu lassen. Der Zwergenwächter führte die ganze Gruppe dann in den neuen Thronsaal, der entstanden war, als man die alte Archivkammer mit der alten Halle 21 verbunden hatte.
Dort, in der Archivkammer, hatte sich auf der Ringfahrt das Grab Balins befunden, und jetzt musste jeder, der vom Osttor her den Thronsaal betrat, zunächst an Balins Grab vorbei. Zwar war es mindestens ungewöhnlich, dass der Herr von Moria im Angesicht eines Grabes residierte, doch Balin der Jüngere hing viel stärker an seinem hier ums Leben gekommenen Vater, als er sich früher selbst hatte eingestehen wollen. Er hatte die Grabplatte seines Vaters erneuern lassen, die bei den Kämpfen zwischen den Gefährten und den Orks seinerzeit schwer beschädigt worden war. Damals hatte sie aus glatt behauenem und geschliffenem Granit bestanden, jetzt war sie aus einem tiefschwarzen Marmor, der sich in den unergründlichen Tiefen von Zwergenbinge fand. Die Gravierung auf der Platte war mit Mithril ausgefüllt und um die Lebensdaten des toten Herrn von Moria erweitert worden. Gimli, Aragorn, Arwen und Legolas standen berührt vor der Grabplatte, die unmittelbar hinter der Zugangstür vom Osttor mitten im Raum stand.
Der Zwerg fasste sich als Erster, ging vor dem Grab in die Knie und küsste die Platte, Legolas und Arwen verneigten sich zunächst schweigend, dann streckten sie die rechte Hand über das Grab aus.
„Hiro hon hîdh ab ‘wanath[14]“, murmelten sie den elbischen Totengruß.
Aragorn hob die zu einer leichten Faust geformte rechte Hand an die Lippen, dann an die Stirn, legte sie dann ehrerbietig auf die Grabplatte und verneigte sich ebenfalls, schwieg aber.
Balin der Jüngere saß auf seinem Thron unter dem erweiterten und mit architektonischen Verzierungen wie Rosetten und Spitzbogenmaßwerk geschmückten Fenster der Halle und bemerkte mit Verwunderung und Freude, dass seine Gäste zunächst seinem toten Vater Ehre erwiesen.
„Ich heiße Euch in Khazad-dûm willkommen, Elessar, König von Gondor, und Arwen, Königin von Gondor. Auch dich heiße ich willkommen, Gimli Glóinssohn, meinen Vetter; ebenso dich, Legolas vom Düsterwald. Was führt euch nach Khazad-dûm?“
„Zunächst der Wunsch, dieses Wunder mit eigenen Augen zu sehen, Herr Balin. Als wir Moria auf der Ringfahrt durchschritten, hatte es keine Ähnlichkeit mit dem, was wir heute sehen. Es war ein finsteres, unwegsames Loch voller Gefahren, von denen die Orks noch eher das kleinere Übel waren. Ich beglückwünsche Euch und Euer fleißiges Volk zu dem, was Ihr hier geleistet habt“, erwiderte Aragorn mit einem freundlichen Lächeln. „Außerdem hatte ich noch keine Gelegenheit Euch seit Eurem Amtsantritt zu besuchen und Euch im Kreise der Fürsten Mittelerdes willkommen zu heißen.“
„Ich danke Euch, König Elessar. Seid sicher, dass von Moria keine Gefahr mehr ausgeht – sei es für unsere unmittelbaren Nachbarn in Lórien oder Bruchtal oder sonst wo in Mittelerde“, sagte Balin.
„Gimli, lieber Vetter, ich danke für deinen Besuch“, wandte er sich dann an Gimli, den nach Aragorns höflicher Einführung nichts mehr hinter seinem menschlichen Freund hielt und der einfach auf Balin zustürmte und ihm – impulsiv, wie er nun einmal war – um den Hals fiel.
„Balin, das, was ich heute zu sehen bekommen habe, hatte ich meinen Gefährten schon auf der Ringfahrt als das Wunder von Khazad-dûm angekündigt. Was wir dann zu sehen bekamen, war der größte Schock, den ich je erlebt habe – abgesehen von der Steigerung, dass dein Vater nicht mehr lebte“, entgegnete Gimli und herzte den Großvetter nochmals so heftig, dass dessen Stirnreif schon ins Rutschen geriet und der Herr von Moria ihn nur knapp zu fassen bekam, ohne jedoch seine königliche Würde einzubüßen.
Nach einem ausgedehnten Gastmahl ließ Balin es sich nicht nehmen, seine Gäste selbst durch Morias Wunderwelt zu führen. Schließlich erreichten sie einen Stollen, in dem sich glänzendes, schwarzes Gestein befand. In diesem Stollen arbeiteten neben eifrigen Zwergen auch Gestalten, die mindestens Gimli dort nie erwartet hatte: Orks! Er stieß seinen Großvetter an.
„Sag mal, sind das wirklich Orks?“, fragte er halblaut. Balin nickte.
„Oh ja, Vetter!“, erwiderte er.
„Seit wann arbeiten denn Zwerge mit Orks?“, erkundigte sich Gimli verblüfft.
„Eschnách, komm bitte mal her!“, rief Balin statt einer Antwort. Ein Ork, ordentlich gekleidet, kam aus einer Nische etwas weiter hinten. Er verbeugte sich vor Balin.
„Du hast gerufen, Herr Balin?“
„Eschnách, mein Vetter Gimli wundert sich, dass du und deine Leute mit uns in Frieden leben. Erklär’ ihm bitte, weshalb.“
Eschnách verbeugte sich auch vor Gimli.
„Ich gehörte zu einer Gruppe von Orks, die hier in Moria waren und die nicht damit einverstanden waren, dass jeder angegriffen wurde, der seinen Fuß hier hineinsetzte. Als ihr das Westtor geöffnet habt, haben wir euch bemerkt und versucht, eure Anwesenheit hier geheim zu halten und euch vor Angriffen der anderen zu schützen. Es ist uns zwei Tage lang gelungen, aber als einer von euch etwas in den alten Brunnen in der Wachstube warf, wussten es auch die, die von eurer Anwesenheit besser nichts bemerkt hätten. Sie haben ja nicht nur euch gejagt, sondern auch den Balrog geweckt. Leider waren wir zu wenige, um euch wirklich schützen zu können. Wir mussten sogar vor unseren eigenen Leuten fliehen und haben von den Adlern erfahren, dass Sauron endlich besiegt war. Seitdem sind wir auch nicht mehr an die Nacht gebunden und können uns endlich frei bewegen“, erklärte der Ork. Gimli schüttelte zweifelnd den Kopf.
„Bis ich das glaube, werden noch ein paar Zeitalter vergehen“, grunzte er.
„Nun, Herr Zwerg, bis wir das sind, was wir einmal waren, werden sicher auch noch einige Zeitalter vergehen. Aber wir geben die Hoffnung nicht auf, wieder die Elben zu werden, die wir einmal waren, bevor Sauron uns gefangen nahm und uns so lange quälte und verhexte, bis wir zu Orks wurden. Nicht alle Orks haben sich damit abgefunden, eben das zu sein, auch wenn es nur sehr, sehr wenige waren – und noch weniger, die sich dem widersetzt haben“, versetzte Eschnách mit einem kühlen Unterton, der Gimli beinahe an Legolas erinnerte. Er sah zu Legolas hoch, der angesichts des gerade stehenden und verständlich redenden Ork einen in sich gekehrten Eindruck machte.
„Du warst ein Elb?“, fragte er mit belegter Stimme.
„Ja, das weiß ich sicher. Aber vieles ist aus meinem Gedächtnis verschwunden. Die Sprache der Elben beherrsche ich nicht mehr. Auch meinen früheren Namen weiß ich nicht mehr“, erwiderte Eschnách. Dann wandte er sich wieder an Balin:
„Bevor ich es vergesse: Mir ist etwas hier unten aufgefallen – schon vor einiger Zeit, aber ich hatte noch keine Gelegenheit, dich zu unterrichten.“
„Und was?“, fragte Balin interessiert. Eschnách winkte Balin und seinen Besuchern und führte sie zu einer frischen Haustelle zwei Stollen weiter.
„Hier, an dieser Stelle leuchtete das Gestein plötzlich auf. Es wurde richtig durchsichtig. In seinem Inneren entwickelten sich – wie soll ich sagen? Wolken? Ja, Wolken – rote Wolken, so als wären sie glühend. Es schien mir sogar, als ob ich ein steiniges Land gesehen hätte, aber so, als sähe ich es durch eine rote Glasscheibe. Und dann war plötzlich wieder alles dunkel. Einige Zeit später erschien dieses Leuchten nochmals. Ich weiß nicht, was das war. Wir hatten alle große Angst, dass Sauron wiedererstanden ist. Ist das so?“
Balin schüttelte den Kopf.
„Nein – oder habt Ihr etwas in dieser Richtung erfahren, König Elessar?“, wandte er sich an Aragorn.
„Nein“, erwiderte der König. „Aber ich würde gern etwas ausprobieren.“
„Und was?“, fragte Balin.
„Lasst Euch überraschen“, lächelte Aragorn geheimnisvoll. „Wie komme ich am schnellsten in die Stallhalle?“, wandte er sich an den begleitenden Zwergenwächter.
„Folgt mir“, sagte der Wächter und führte Aragorn auf einem kurzen Weg zur Stallhalle.
Brego hörte die Nähe seines Herrn und machte sich wiehernd bemerkbar. Aragorn hatte auch ein paar Leckerbissen für seinen treuen Hengst und machte sich dann an der Satteltasche zu schaffen, die auf einem Sattelbaum im Stand hing, während Brego ihm vertraulich in den Rücken stupste und mit dem Maul sanft an Aragorns Tunika zog. Aus der Tasche nahm Aragorn den Sack mit dem Palantír heraus und verließ den Stand wieder, nicht ohne sein Pferd noch einmal an der weichen Nase gekrault zu haben, dass dessen Halsflanken vor Wonne bebten. In einer stillen Nische der gewaltigen Mine bat er den Zwergenwächter, ihn allein zu lassen, aber in Hörweite zu bleiben. Dann nahm er den Palantír aus seiner Verhüllung in beide Hände und konzentrierte sich. Es gelang ihm sogar, einigermaßen schnell über das schreckliche Bild der Hände Denethors in den Flammen seines Scheiterhaufens hinwegzukommen und den Blick auf die Zwergenkolonie von Moria zu richten, doch es kostete den König viel Kraft. Aber der Lohn war, die verblüfften Gesichter Balins, Gimlis, von Legolas und Arwen zu sehen. Es war offensichtlich, dass sie ihn wahrnahmen, doch war ebenso klar, dass sie ihn nicht hören konnten, als er sie ansprach. Aragorn ließ die Palantír-Verbindung zusammenbrechen, lehnte sich erschöpft gegen den Stein hinter sich und schloss die Augen.
Erst, als der Zwergenwächter ihn vorsichtig anstieß, wurde er wieder wach.
„Seid Ihr krank?“, fragte der besorgt. Aragorn lächelte etwas mühsam und stand auf.
„Nein, es ist schon gut. Begleitet mich bitte wieder zu Balin.“
„Wenn Herr Balin und seine Gäste noch dort sind; Herr Elessar …“, murmelte der Zwerg, aber er führte Aragorn wieder in die Halle zurück, aus der sie fortgegangen waren. Tatsächlich waren noch alle dort anwesend.
„Bei den Valar, was war das?“, fragte Balin erschrocken.
„Herr Balin, dieses Gestein hier hat schon äußerlich viel Ähnlichkeit mit einem Palantír. Dieses kleine Experiment überzeugt mich davon, dass es dasselbe Material sein muss, aus dem die Noldor einst die Palantíri schufen“, sagte Aragorn. Er nahm den Palantír aus dem verhüllenden Sack und hielt ihn gegen die kristalline Wand. Abgesehen von der vollkommenen Kugelgestalt des geschliffenen Palantírs unterschied ihn nichts von den Kristallen an der Stollenwand.
„Ob es wohl möglich wäre, aus diesem Gestein einen neuen Palantír herzustellen?“, mutmaßte Balin und rieb sich nachdenklich den Bart. Er sah Aragorn und Gimli an. „Nichts wäre mir lieber, als auf diese Weise mit euch Verbindung halten zu können“, setzte er dann hinzu.
„Es scheint, als wäre das Material allein nicht entscheidend. Offenbar muss auch die Form stimmen“, warf Arwen ein. „Wir konnten dich zwar sehen, aber nicht verstehen, was du gesagt hast.“
„Zugegeben, ich habe noch nie versucht, mit einem anderen Palantír Verbindung aufzunehmen“, erwiderte Aragorn. „Es kann sein, dass ich dafür noch nicht genug geübt habe; aber es ist natürlich denkbar, dass die Verbindung auch von der Kugelgestalt abhängig ist.“
Eschnách sah den Menschenkönig und den Herrn der Zwerge an.
„Es ist ein sehr hartes Gestein. Eine solche Kugel bedarf eines großen Klumpens, der dann sehr sorgfältig bearbeitet werden muss, vor allem für diese vollkommene Kugel, Herr Balin. Bei der Härte wird das sicher länger dauern“, warnte er. Balin nickte.
„Eschnách, lass’ von deinen besten Leuten entsprechende Klumpen aus der Wand schlagen. Ferlin und Dwigli werden sich um den Schliff kümmern“, sagte der Zwergenherr.
Balin setzte zunächst die weitere Besichtigung seines unterirdischen Reiches mit seinen Gästen fort, dann, als die Gäste in ihren Quartieren waren, beauftragte er Ferlin und Dwigli, seine beiden besten Kristallexperten, sich mit Eschnách wegen des neuen Palantírs zu treffen und ihm über die Fortschritte zu berichten.
„Glaubst du, dass es klug ist, einen neuen Palantír zu schaffen?“, fragte Arwen, als sie mit Aragorn allein war.
„Ich weiß es nicht, so ehrlich bin ich“, erwiderte er. „Ich weiß sehr wohl, dass es die großen Künstler der Noldor waren, die diese Steine schufen. Insofern scheint es vermessen, wenn sich die Zwerge daran versuchen wollen. Doch beide, die Zwerge und die Noldor waren – und sind – die besonderen Schüler Aules, dessen Welt die der Steine, Kristalle und Metalle ist. Da es die Noldor in Mittelerde praktisch nicht mehr gibt, wenn ich von Frau Galadriel und dir und deinen Brüdern als ihren Enkeln einmal absehe, wer anders als die Zwerge könnte dann so etwas vollbringen?“
Arwen lächelte.
„Ich meine nicht die Fähigkeit, ein solches Stück herzustellen. Du hast völlig Recht: Nur die Zwerge können es in unserer Welt. Ich meine den Palantír selbst. Ich halte es für gefährlich, wenn es wieder Palantíri gibt – zudem sind Zwerge eher auf Gewinn aus, im Gegensatz zu Elben. Es besteht doch die Gefahr, dass Balins Zwerge diese Palantíri an jeden verkaufen, der sie haben will. Und so etwas wüsste ich nur ungern in den Händen unserer Feinde“, gab sie zu bedenken. Aragorn umarmte sie.
„Ja, das stimmt. Ich danke für deinen Rat. Wenn ich auch glaube, dass Balin das selbst nicht will, werde ich doch mit ihm reden, damit er das nicht tut“, erwiderte er.
„Glaubst du, dass ein gewinnstrebendes Volk sich von einer Unterredung abhalten lassen wird, Gewinn zu erwirtschaften?“, zweifelte Arwen weiter.
„Es kann auch nicht in Balins Sinn sein, wenn jeder, der es will, seine Minen ausspionieren kann. Genau das werde ich ihm vor Augen führen, und das wird ihn daran hindern, jedem Hergelaufenen, der den Preis bezahlen kann, so ein Ding anzuvertrauen.“
„Und was ist mit den so genannten treuen Orks? Aragorn, Orks sind unsere schlimmsten Feinde!“, erinnerte die Königin.
„Wenn es stimmt, was Gandalf und Elrond mir über die Entstehung der Orks erzählt haben – dass sie einst Elben waren, die Morgoth – oder später Sauron – gefangen nahm, folterte und verhexte, sie verdrehte, bis sie keine Ähnlichkeit mehr mit dem schönen Volk der Elben hatten und alles vergaßen, was gut und edel war, ja dass sie zu hassen begannen, was sie einst selbst waren – dann frage ich mich, warum noch nie versucht worden ist, dieses entsetzliche Verbrechen an diesen Elben rückgängig zu machen und ihnen die Rückkehr zu ihrem Volk zu ermöglichen. Oder ist es versucht worden und nicht gelungen?
Arwen lehnte sich an ihn und seufzte tief.
„In vielen Elbenfamilien gibt es Verluste durch Morgoths und Saurons schreckliche Taten zur Zucht dieser Unwesen. Natürlich ist es versucht worden. Aber nicht einmal meinem Vater ist es gelungen. Er konnte auch nicht die vergiftete Wunde meiner Mutter heilen, die Orks ihr beigebracht haben. Gegen Morgoths oder Saurons Gifte war sogar er machtlos.“
„Was Gifte betrifft, habe ich andere Erfahrungen mit deinem Vater. Seine Kunst hat mich mehr als einmal gerettet, speziell bei vergifteten Wunden. Wenn es versucht wurde, die Verwandlung in Orks rückgängig zu machen und nicht geklappt hat, hatte dann Sauron seine Hand im Spiel? Falls das zutrifft, besteht jetzt doch die Möglichkeit, denn Sauron ist nun wirklich vernichtet.“
„Aragorn, wenn ich etwas an dir schätze, ist es die Tatsache, dass du eher zu bescheiden bist, als dich mit deinen Fähigkeiten zu brüsten. Ein solcher Vorschlag passt nicht zu dir“, erwiderte Arwen. Aragorns Lächeln wurde breiter.
„Nein, ich kann das nicht, dessen bin ich mir bewusst. Ich kann nur ein bisschen heilen und das auch nur unter Zuhilfenahme von Athelas, muin nîn. Aber es gibt noch mindestens einen Maia in Mittelerde und nur einem solchen würde ich dieses Wunder zutrauen. Wenn jemand die Fähigkeit hätte, eine solch grausame Verwandlung rückgängig zu machen, dann Gandalf“, sagte er leise. Arwen sah ihn an und lächelte. Das klang schon eher nach ihrem geliebten, bescheidenen Dúnadan.
„Verzeih mir, dass ich dich für so überheblich gehalten habe.“
„Ú-moe edaved, muin nîn[15]“, flüsterte er vertraulich und küsste sie.
Aragorn und seine Begleiter hielten sich etwas mehr als eine Woche in Moria auf. Während dieser Zeit berichteten die Kristallexperten täglich von ihren Fortschritten hinsichtlich des neuen Palantír. Sie kamen nur mühsam voran, weil die ersten drei Klumpen sich beim Schleifen nicht als kompakt genug erwiesen hatten und zerbrochen waren. Der Klumpen, an dem sie nun arbeiteten, war härter und stabiler – aber die größere Härte erforderte mehr Geduld beim Schleifen. Sie schätzten die weitere Zeit auf mindestens vier Wochen, um überhaupt eine halbwegs passable Kugelform heraus zu schleifen, ganz abgesehen von der Zeit, die es benötigen würde, eine perfekte Kugelform mit vollkommen glatter Oberfläche herauszuarbeiten. Balin sah ein, dass es keinen Sinn hatte, die Männer zu sehr unter Druck zu setzen. Seit Jahrtausenden hatte niemand mehr versucht, einen Palantír herzustellen. Es gab keine Erfahrungswerte dafür, wie lange die Herstellung dauern konnte, denn die Noldor, die die Palantíri geschaffen hatten, hatten ihr Geheimnis mit nach Valinor genommen oder waren in Mittelerde eines gewaltsamen Todes gestorben. Auf Anraten von Aragorn beschloss der Zwergenkönig, Ferlin und Dwigli alle Zeit zu geben, die sie benötigten. Vor allem aber wirkte Aragorns Warnung bei Balin, einen Palantír nur ganz vertrauenswürdigen Personen zu geben und daraus keine Handelsware im üblichen Sinn zu machen.
„Sei unbesorgt“, sagte Balin nach dem Gespräch mit Aragorn. „Ich möchte gern mit dir und Gimli Verbindung halten. Deine Sorge teile ich, was die Vergabe dieser Sichtsteine betrifft. Dein Vertrauen werde ich nicht enttäuschen, mein Freund.“
Kapitel 10
Geheimnisse
Als sie Moria verließen, um nach Bruchtal weiterzureisen, blieb Legolas still und in sich gekehrt. Seine Freunde, die den Elben ohnehin als eher schweigsam kannten, führten dies auf den Umstand zurück, dass er wohl zum ersten Mal in seinem langen Leben einem klar und verständlich redenden Ork begegnet war, etwas über dessen Vergangenheit erfahren hatte und die Nachricht, dass es sich tatsächlich um einen früheren Elben handelte, zunächst verarbeiten musste.
Doch nachdem er auch nach weiteren drei Tagen immer noch kein Wort gesagt hatte, wurde Aragorn stutzig. Zwar redete Legolas nicht viel, aber dass er überhaupt nichts sagte, das kannte er auch nicht. Der König wartete auf den Elbenprinzen und lenkte Brego neben Arod.
„Man garich?[16]“, fragte er. „Neder oer sedhich. Amma?[17]“
Legolas sah Aragorn an, als verstünde er nicht, was sein Freund gesagt hatte. Aragorn bemerkte, dass der Elb, sonst Auge und Ohr einer Reisegruppe, von sehr weit her kam, mehr mit offenen Augen geträumt hatte, als dass er wie sonst die Umgebung scharf beobachtete.
„Minlû garn vuindor … Hon harnen ai dannen ned dagor na yrch. Dan ú-chîrnin[18]!“, erwiderte Legolas mit einer Verzweiflung in der Stimme, die Aragorn an dem sonst so kühlen Elben gänzlich fremd war.
„Coeliach Eschnách no munidor lîn[19]?“, fragte Aragorn. Legolas zuckte mit den Schultern.
„Ú-iston[20]“, seufzte er.
„Nauthon, mellon nîn. Estelio amarth[21]!“, sagte Aragorn und legte dem Elben eine Hand auf die Schulter. Legolas sah ihn einen langen Moment an.
„Ab dad venig idhrinn? Law![22]“, versetzte er. Aragorn lächelte.
„Estelio, mellon! A no tiriel![23]“, wiederholte er. Legolas verstand nicht recht, warum Aragorn ihn in einer völlig unmöglichen Hoffnung bestärken wollte, aber er nickte schließlich. Dennoch verfiel er wieder in die Schweigsamkeit der letzten Tage und sagte kein Wort mehr.
Legolas’ Schweigsamkeit war auch Arwen aufgefallen.
„Legolas – man gar hon?[24]“, fragte sie besorgt, als Aragorn wieder neben ihr ritt.
„În munidor eglant han[25]“, erwiderte Aragorn mit einem Seufzen. Arwen sah ihn verblüfft an.
„Das ist schon einige Zeit her“, bemerkte sie.
„Stimmt, vor zweitausend Jahren; aber für euch Elben ist das doch knapp gestern, oder? Weißt du etwas über seinen Bruder?“
„Eigentlich nicht sehr viel“, erwiderte Arwen. „Ich weiß, dass Legolas einen jüngeren Bruder hatte, der bei einem Kampf gegen Orks spurlos verschwunden ist. Er hat lange nach ihm gesucht, hat ihn aber nie gefunden.“
„Weißt du einen Namen?“
„Echnorn.“
„Klingt ähnlich wie Eschnách, oder?“
„Meinst du, dieser Ork… Nein, das mögen die Valar verhüten!“, entfuhr es Arwen. „Ich glaube, es wäre das Schrecklichste für beide, wenn es wirklich so wäre. Es gibt keine schrecklichere Vorstellung für einen Elben als zu einem Ork zu werden.“
„Kann ich mir denken“, sagte Aragorn mit einem mitfühlenden Blick in Legolas’ Richtung.
‚Aber was, wenn diese Ork-Entwicklung doch rückgängig zu machen wäre?‘, dachte Aragorn bei sich.
‚Hör auf mit unerfüllbaren Wünschen und Hoffnungen!‘, mahnte ihn eine innere Stimme.
‚Hoffnung … gibt es immer!‘, versetzte eine andere innere Stimme. Da waren sie wieder: Manwe und Morgoth, die auf seinen Schultern saßen und sich stritten.
‚Sollte Gandalf in Bruchtal sein, werde ich mit ihm über diese Sache reden‘, entschied Aragorn und brachte damit weitere Zweifel energisch zum Schweigen.
Bruchtal zeigte sich von seiner schönsten Seite, als der König und seine Begleitung über die obere Bruinenbrücke unmittelbar unterhalb des Felsabsatzes zum Haupttor der Elbenfestung ritten. Seit Elrond die Elbensiedlung hier 1375 D.Z. gegründet hatte, war sie befestigt gewesen – ein Schutz gegen die ständige Bedrohung, die Mordor auch in so weiter Entfernung darstellte. Hinter den schroffen Felsen im Westen versank die Sonne, hüllte die westliche Bergkette in eine orangerote Aura, die fließend in den unten hellen und oben dunkler werdenden Himmel überging und malte rotglühende Flecken an die ebenso schroffen Felsen der östlichen Talseite, auf deren mittlerem Absatz die Elbensiedlung gebaut war. Nur der Aussichtsturm, das am höchsten ragende Gebäude der Siedlung, wurde noch von den letzten Sonnenstrahlen beleuchtet, sonst lag Bruchtal selbst bereits im Abendschatten.
Bruchtal teilte sich in zwei Siedlungsteile: Den größeren, nördlich des Bruinenfalls, zu dem auch Elronds Haus, die Bibliothek und die Versammlungshalle gehörten und den kleineren, südlich des Bruinenfalls, wo das Haus der Dúnedain zu finden war. Die kleine Brücke, auf der Aragorn und Arwen sich während des Aufenthaltes der Ringgemeinschaft in Bruchtal nächtlicher weise getroffen hatten, verband die beiden Siedlungsteile. Drei Wasserfälle schäumten durch die Siedlung, vereinigten sich am Fuß der steilen Hänge zum Bruinen, dem Lautwasser, und flossen von dort zum Baranduin. Zahlreiche weitere Fälle tosten in die schmale Schlucht. So still es in Bruchtal selbst auch war – sah man vom Gezwitscher vieler Vogelarten und dem Gesang der Elben in der Siedlung ab – außerhalb des Tales hörte man das Rauschen der Wasserfälle so laut, dass Nichteingeweihte dort keine Siedlung vermutet hätten.
Elrohir begrüßte seine Schwester und seinen Ziehbruder, der nun auch sein Schwager war, mit einem für Elben eher untypischen Überschwang und herzlicher Umarmung.
„Den Valar sei Dank, dass ihr den Weg nach Bruchtal gefunden habt“, sagte er schließlich. Arwen sah ihn verblüfft an.
„Meinst du, wir wüssten den Weg nach Hause nicht mehr?“, fragte sie. Elrohir grinste auf eine erstaunlich menschliche Art.
„Da ihr seit eurer bisher einzigen Reise nach Annúminas 3020 des Dritten Zeitalters nicht mehr hier wart, muss ich das fast annehmen“, scherzte er. „Auch wenn ihr jetzt wieder auf dem Weg nach Annúminas seid, hoffe ich, ihr bleibt etwas länger hier.“
„Was verstehst du unter länger, Bruderherz?“, erkundigte sich Aragorn mit einem breiten Lächeln. Elrohir zwinkerte.
„Von mir aus könnt ihr hier bleiben, bis die Welt sich wandelt, das wisst ihr doch. Aber unter drei Wochen lasse ich euch hier nicht wieder weg! Arwen und du, ihr wart so lange fort! Bruchtal ist ohne euch einfach nicht recht Bruchtal.“
Aragorn zog die Brauen hoch.
„Dann ist Bruchtal nur selten Bruchtal gewesen, so oft, wie Arwen und ich für lange Zeit nicht hier waren“, bemerkte er halb spöttisch.
„Stimmt“, erwiderte Elrohir. „Wenn ihr beide nicht hier wart, dann fehlte hier etwas. Das ging nicht nur mir so, auch Elladan und Vater haben das so empfunden.“
Der neue Herr von Bruchtal begrüßte auch Legolas und Gimli – letzterer war doch weitergereist und nicht in Moria geblieben – in entsprechender Weise, ebenso die Turmwächtertruppe, die Aragorn und Arwen begleitete. Die Soldaten Gondors wurden nicht schlechter untergebracht als deren Königspaar und dessen enge Freunde.
„Denk’ nicht, dass ich euch beide auf die andere Seite abschieben will, aber ich habe euch das Haus der Dúnedain herrichten lassen“, eröffnete Elrohir Arwen und Aragorn ihr Quartier. Arwen lächelte ihren Bruder süß an.
„Ich wäre dir bis ans Ende der Welt gram gewesen, wenn du uns eine andere Unterkunft gegeben hättest. Das Haus der Dúnedain ist nun einmal unser Zuhause hier in Imladris“, sagte sie. Elrohir zwinkerte.
„Wer wüsste das besser als ich, nachdem ich euch schon Vater vom Hals gehalten habe, als es Aragorn einmal so schlecht ging. Und ich habe auch nicht vergessen, dass Arwen hierher umgezogen ist, nachdem du mit der Ringgemeinschaft weggegangen warst, muindor nîn.“
Aragorn verbeugte sich leicht.
„Hannon le, munidor nîn[26]“
Elrohir erwiderte die Verbeugung.
„Aníron cen bain lû ned Imladris[27]“, wünschte er und ließ das Königspaar in ihrem Haus allein.
Noch vor dem Frühstück des folgenden Tages nahm Elrohir seine Schwester beiseite.
„Seit wann ist Legolas so schweigsam? Er hat seit gestern Abend kein Wort gesagt“, fragte er.
„Er trauert um seinen verschwundenen Bruder“, antwortete sie.
„Das ist ungefähr zweitausend Jahre her!“, wunderte sich Elrohir. „In diesem Zustand habe ich ihn seit fast dieser Zeit nicht mehr gesehen.“
„Ich auch nicht“, sagte Arwen. „Aber in Moria sind wir einem Ork begegnet, der sich mit einigen anderen von Sauron losgesagt hat. Die Zwerge haben mit ihnen Frieden geschlossen, und diese Orks arbeiten jetzt in der Mine. Seit Legolas diesem Ork namens Eschnách begegnet ist, ist er so still. Aragorn vermutet, es könnte sich um Legolas’ verschwundenen Bruder handeln. Ich hoffe, dass das nicht der Fall ist. Oder könntest du dir etwas Schlimmeres vorstellen, als dass unser Bruder Elladan zu einem Ork geworden wäre?“
„Nein“, entfuhr es Elrohir. „Bei Manwe, kann das sein?“
„Ich weiß es nicht. Ist Gandalf in letzter Zeit hier gewesen?“
„Nein. Warum?“
„Aragorn wollte mit ihm darüber sprechen, ob es möglich ist, die Verwandlung in einen Ork rückgängig zu machen.“
„Ada[28] hat es schon vergeblich versucht …“, wandte Elrohir ein. Arwen nickte und legte ihm beschwichtigend eine Hand auf den Arm.
„Ich weiß. Aber Gandalf kann vieles, was selbst Ada nicht kann“, erwiderte sie.
„Nein, er war lange nicht mehr hier“, entgegnete Elrohir.
Es waren – trotz Legolas’ anhaltender Melancholie – frohe Tage und für Arwen und Aragorn ebenso wunderbare Nächte. Sie genossen es, füreinander Zeit zu haben ohne den ständigen Druck königlicher Pflichten, die in Minas Tirith nur zu häufig dazu führten, dass Aragorn erst spät in der Nacht in den Palast kam und ihn oft schon vor Sonnenaufgang wieder verließ. Aber hier in Bruchtal, wo keine entsprechenden Pflichten die traute Zweisamkeit behinderten, blieb genügend Gelegenheit für Zärtlichkeiten.
„Wie habe ich eigentlich so viele Jahrzehnte ohne deine Nähe leben können?“, fragte er mit einem sanften Lächeln, als er und Arwen aus den wunderbaren Träumen einer zutiefst zärtlichen Nacht erwachten. Arwen kuschelte sich dicht an ihn, legte den Kopf auf seine rechte Schulter, genoss sein zärtliches Streicheln an ihrer rechten Schulter und kraulte ihrerseits sachte seine Brust, liebkoste eine alte Narbe.
„Die gleiche Frage stelle ich mir auch immer wieder“, sagte sie und sah mit einem schelmischen Lächeln zu ihm auf. „Nur mit Jahrhunderten“, setzte sie kichernd hinzu.
„Arwen?“
„Ja?“
„Reut es dich, dass du deine Unsterblichkeit aufgegeben hast?“, erkundigte Aragorn sich. Arwen sah wieder hoch und entdeckte einen schuldbewussten Ausdruck in seinen Augen. Sie strich sanft über seinen wieder vollen Stoppelbart.
„Ich gebe zu, es wäre noch schöner, wenn du hättest unsterblich werden können, aber nur ich hatte die Wahlmöglichkeit. Das Glück, das ich mit dir gefunden habe, hätte ich mit keinem Elben erleben können.“
Aragorn sah sie fragend an. Arwen erkannte die unausgesprochene Frage, warum sie sich nicht in seinen Freund Legolas verliebt hatte – edelster elbischer Herkunft, ebenfalls deutlich über zweitausend Jahre alt, von durchaus liebenswerter Natur und seit langem ein guter Bekannter in Elronds Haus. Arwen lächelte und strich ihm sanft über das Gesicht.
„Elben haben ein großes Problem: Sie können Fehler fast nicht zugeben. Für einen Elben machen gewöhnlich nur Menschen Fehler – und das halte ich für einen großen Fehler. Über diese Frage bin ich mit Legolas einmal in einen heftigen Streit geraten. Er hat es irgendwann eingesehen – ich glaube, ungefähr zweihundert Jahre später – aber da kannte ich dich schon. Außerdem hätte Legolas nie um mich geworben und eine Werbung meinerseits schon gar nicht akzeptiert, denn er war früher anders als heute. Früher sah er in mir und auch in meinem Vater und meinen Brüdern keine wirklichen Elben. Mein Vater ist ein Halbelb, für reinrassige Elben nichts Halbes und nichts Ganzes. Selbst wir Kinder sind für reinrassige Elben keine wirklichen Elben, weil wir noch menschliches Blut in uns haben, wenngleich unsere Mutter eine echte Elbin ist. Legolas hat sich in dieser Hinsicht geändert, was für einen Elben eine ungeheure Anstrengung ist, und steht Menschen heute sehr viel aufgeschlossener gegenüber als früher. Auch das ist übrigens dein Verdienst, liebster Aragorn.“
Aragorn sah sie zweifelnd an.
„Ausgerechnet ein so fehlerhaftes Exemplar von Mensch wie ich sollte einen ein paar tausend Jahre älteren Elben geändert haben? Ú-goelion![29]
„Ai mae, muin nîn![30] Wenn überhaupt ein Mensch dazu in der Lage ist, dann du, Aragorn Arathornion!“, versetzte sie. „Und rede nicht immer von Fehlern, die du machst.“
Aragorns Lächeln wurde breiter.
„Oh, doch, schließlich bin ich ein Mensch – und Menschen machen nun einmal Fehler“, widersprach er. Arwen sah ihn einen langen Moment an.
„Ich glaube, dein größter Fehler ist, stets anzunehmen, dass du Fehler machst“, sagte sie dann. Er schüttelte den Kopf.
„Nein, ich bin nicht perfekt; ich mache Fehler, wie jeder andere Mensch auch. Und ich habe Angst, Fehler zu machen.“
Sie legte ihm zwei Finger auf die Lippen, verbot ihm mit einem liebevollen Lächeln, weiterzusprechen.
„Nein, hör jetzt auf damit. Es stimmt einfach nicht“, sagte sie und küsste ihn, bevor er noch etwas erwidern konnte.
Später an diesem Tag fragte Aragorn seinen Schwager, ob er wisse, wo Gandalf sei.
„Nein, ich weiß es nicht genau. Aber Glorfindel ist gerade von einer weiten Reise zurückgekehrt. Vielleicht weiß er etwas. Ich werde ihn fragen“, sagte Elrohir. Wenig später kam er in die Bibliothek zurück, wo Aragorn sich in ein Buch über Heilpflanzen vertieft hatte.
Das Archiv von Minas Tirith war gut sortiert, aber was Heilmethoden betraf, war die Bibliothek von Bruchtal mit nichts zu vergleichen, fand Aragorn. Sein gesamtes – und reiches – Wissen um Heilkunst hatte er von seinem Zieh- und Schwiegervater. Diese Bibliothek enthielt nicht nur die eigenen Erkenntnisse Elronds aus mehr als eineinhalbtausend Jahren Tätigkeit als einer der größten Heiler Mittelerdes, hier waren auch die Weisheiten früherer Elbenheiler zusammengetragen. Zum Teil stammten sie sogar noch aus Eldamar in Aman. Aragorn hörte den leichten Schritt seines Ziehbruders, der viel Ähnlichkeit mit Elronds Schritt hatte und sah von seinem Buch auf.
„Glorfindel hat Gandalf nicht weit von hier gesehen; er ist ihm am Amon Sûl begegnet – und vier Hobbits waren auch bei ihm. Glorfindel ist nur schneller hier gewesen, weil er vorausgeritten ist. Sie werden in ein paar Stunden hier eintreffen“, sagte Elrohir. Dann wies er auf das Buch, das Aragorn in der Hand hielt. „Bist du inzwischen auch der oberste Heiler in Gondor?“, fragte er. Aragorn schüttelte den Kopf.
„Nein, das überlasse ich anderen. Ich kann mit Athelas umgehen, das ist alles“, wehrte er ab. Elrohir lächelte.
„Du bist der beste Beweis, dass die Erben Isildurs heilende Hände haben – abgesehen davon, dass unser Vater dich noch zusätzlich ausgebildet hat. Ich glaube, ich sollte dir sagen, dass Vater Elladan und mich angewiesen hat, dass wir uns an dich wenden sollen, wenn wir Probleme mit schweren Verwundungen haben sollten. Wir beide können nämlich längst nicht so gut heilen wie du oder Arwen“, sagte er. Aragorn hob die freie Hand.
„Also, was Arwens Heilkunst betrifft, daran bin ich unschuldig.“
„Das weiß ich. Elladan und ich haben uns nie so dafür interessiert wie gerade ihr beide.“
Aragorn machte eine ausladende Handbewegung.
„Elrohir, du hast hier eine Bibliothek, die eigentlich nur aus Büchern über Heilkunde besteht. Bruchtal war und ist ein Zentrum des Wissens, ganz besonders in dieser Hinsicht. Alles, was du wissen musst, findest du hier.“
„Weißt du, Elladan und ich, wir sind eher Jäger und Krieger als alles andere. Am liebsten würde ich dir anbieten, dass du diese Bibliothek nach Minas Tirith mitnimmst.“
Aragorn grinste jungenhaft.
„Dann hätte ich ja – abgesehen davon, meinen Ziehbruder zu sehen – keinen Grund mehr, herzukommen“, lachte er. „Und außerdem habe ich nur hier daheim überhaupt Gelegenheit, etwas anderes zu lesen als Briefe, Gesuche, Verträge und Gesetze. Nein, diese Bücher werden hier bleiben, wohin sie gehören.“
„Du sagst: Hier daheim. Ist nicht Minas Tirith dein Zuhause?“
Aragorn klappte das Buch zu und legte es beiseite. Er sah seinen Ziehbruder einen langen Moment an.
„Daheim, Elrohir, das ist dort, wo man aufgewachsen ist und wo man glücklich ist. Beides bin ich hier in Bruchtal. Ich habe dieses wundervolle Tal als mein erstes Zuhause wahrgenommen, das ist es geblieben, als ich Mittelerde als Waldläufer durchstreift habe und hierher immer wieder zurückkehrte und das ist es immer noch, auch wenn ich jetzt ganz woanders eine Lebensaufgabe habe. Und zudem können deine Schwester und ich wohl nur hier unser privates Glück wirklich genießen und füreinander da sein.“
„Dann nochmals willkommen daheim, Bruder.“
Tatsächlich trafen Gandalf und die Hobbits einige Stunden später ein. Pippin, Merry und Sam redeten wie die Wasserfälle auf Aragorn ein, konnten ihm gar nicht genug erzählen von dem, was im Auenland so geschehen war. Der König hörte geduldig zu und versuchte, alles mitzubekommen, was seine kleinen Freunde ihm erzählten. Nur Frodo und Gandalf blieben zurückhaltend, wie Aragorn bemerkte.
„Frodo, was ist denn mit dir? Gibt’s auf Beutelsend nichts Neues oder hat Sam mir schon alles erzählt?“, fragte er schließlich. Frodo schüttelte ernst den Kopf.
„Nein, das hat er nicht, weil er nicht alles weiß, Aragorn. Aber was ich zu erzählen habe, ist zu ernst, um es in so einer frohen Runde zu sagen.“
Frodos Gesichtsausdruck war nicht weit von dem entfernt, was Aragorn schon auf der Ringfahrt gesehen hatte, wenn der Ring Frodo wie ein Mühlstein um den Hals gehangen hatte.
„Du schleppst wieder eine Last mit dir herum. Was ist los?“, erkannte er. Frodo stand auf, ging nah zu Aragorn und umklammerte die rechte Hand des Königs.
„Ich habe etwas Schreckliches geträumt, mein Freund: Ich habe im Traum gesehen, wie Barad-dûr zusammenbrach und der Palantír, den Sauron hatte, hinunterstürzte. Der Turm verging, aber der Sichtstein kollerte davon weg – und blieb unzerstört. Er fiel in eine tiefe Spalte, aber er blieb erhalten. Und dann habe ich geträumt, dass Menschen, die aussahen, als wären sie Ostlinge oder Haradrim, die Gegend um Barad-dûr untersucht haben. Sie haben in meinem Traum den Palantír gefunden. Sie hoben ihn auf und während ihn einer lange ansah, wurde er durchsichtig – so wie wenn man durch eine rote Scheibe sieht. Wenn mich nicht alles täuschte, habe ich dein Arbeitszimmer im Weißen Turm darin gesehen, aber es war leer. Einer, der aussah wie ein König, sagte in meinem Traum, jetzt habe er endlich einen Weg gefunden, dich zu beobachten. Ich denke, wenn das, was ich geträumt habe, wahr ist, dann droht dir große Gefahr. Darum wollte ich dich unterrichten, aber ich wollte das keinem Brief anvertrauen.“
Aus Aragorns gebräuntem Gesicht wich alle Farbe.
„Elbereth Gilthoniel!“, entfuhr es ihm leise. Er schluckte trocken, dann fasste er sich langsam wieder.
„Wie lange ist das her, Frodo?“
„Der Traum? Mehr als drei Wochen. Ich habe das auch nicht nur einmal geträumt, sondern ein paar Tage hintereinander. Beim letzten Mal habe ich sogar Sam geweckt, so laut habe ich vor Schreck geächzt.“
„Drei Wochen …“ murmelte Aragorn. „Nein, das kommt nicht hin. Heute ist doch schon der 30. Oktober.“
„Was kommt nicht hin?“, erkundigte sich Frodo.
„Wie lange wart ihr unterwegs?“, fragte Aragorn weiter.
„Drei Wochen. Diesmal hat uns ja niemand behindert und verfolgt“, erwiderte Frodo.
„Du hast deinen Traum vermutlich geträumt, als das alles schon fast zwei Wochen her war“, sagte Aragorn. „Hast du in den letzten Tagen nochmals etwas über diesen Palantír geträumt?“, fragte er dann weiter.
„Nicht direkt. Aber vor ungefähr zehn Tagen, da habe ich nochmals was Seltsames geträumt.“
„Und was?“
„Jetzt hältst du mich für völlig verrückt: Dass die Zwerge von Moria ein Gestein gefunden haben, das dem der Palantíri gleicht – und dass sie dabei sind, einen neuen Palantír zu machen“, erwiderte Frodo mit einem schiefen Grinsen. Doch entgegen seiner Erwartung brach Aragorn nicht in schallendes Gelächter aus – im Gegenteil: Im Gesicht des Königs spiegelte sich blankes Entsetzen.
„Bei Manwe!“, entfuhr es ihm. „Dann ist es also wahr!“
„Was ist wahr?“
„Was du geträumt hast, Herr Frodo! Und zwar alles! Denn die Zwerge von Moria haben das Gestein gefunden, aus dem man Palantíri machen kann – und sie stellen gerade einen neuen Sichtstein her! Frodo, Gandalf, kommt bitte mit!“, erwiderte Aragorn mit einem Ausdruck im Gesicht, der von Panik nicht mehr weit entfernt war. Eilig lief der König zum Haus der Dúnedain; Frodo und Gandalf hatten Mühe, ihm zu folgen.
Als der Hobbit und der Zauberer das Haus der Dúnedain hechelnd erreichten, hatte Aragorn seinen Palantír bereits ausgepackt und war dabei, die schreckliche Vision von Denethors Händen in den Flammen zu überwinden. Beide sahen, wie viel Kraft es auch den willensstarken Aragorn kostete, den Palantír nach seinem Willen zu lenken. Rot-orangefarbene Wolken durchwaberten den Sichtstein, langsam zeichnete sich eine öde, trockene Landschaft voller Steine ab. Frodo wollte etwas sagen, spürte aber Gandalfs Hand auf seiner Schulter und sah hoch. Der Zauberer bedeutete ihm, still zu sein. Schweigend betrachteten beide das Bild, das auch der König sah.
„Könnte Mordor sein, so steinig, wie es dort ist“, sagte Aragorn mehr zu sich selbst. Er ließ den Blick um die Umgebung des Palantír kreisen. Gandalf war verblüfft, dass Aragorn den Stein bereits so weit beherrschte.
„Könnte auch Harad sein. Da sind Zelte, wie die Haradrim sie benutzen. Ja, das ist ein Olifant. Und da sind Soldaten, die aussehen, als wären sie Haradrim. Oha!“, murmelte der König, ließ den Stein los, der nur Augenblicke danach erlosch, warf das Tuch wieder darüber und lehnte sich müde zurück.
„Gerade noch!“, entfuhr es ihm.
„Was meinst du?“, erkundigte sich Gandalf.
„Ich habe die Verbindung gerade noch unterbrechen können, bevor Markilan, der König der Haradrim, etwas gemerkt hat.“
„Du meinst …?“, setzte Gandalf an.
„Der Palantír liegt neben seinem Teller auf seinem Tisch im Zelt. Zum Glück war der Brotkanten darauf hoch genug, dass er das Aufleuchten in dem ohnehin rötlichen Licht seines Zeltes nicht gesehen hat.“
Gandalf zog die buschigen Brauen zusammen.
„Palantíri haben ein Problem: Man weiß nie genau, wer sonst noch zusieht. Davor habe ich schon Saruman gewarnt. Glaubst du, dass Markilan mit dem Palantír schon so gut umgehen kann, dass er ihn bewusst lenken kann?“
Aragorn zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht. Aber ich habe jetzt keine Zeit mehr zu verlieren. Ich muss Faramir warnen!“
Gandalf wies auf den schwarzen Stein.
„Aber doch hoffentlich nicht damit?“, fragte er.
„Gandalf, es sind fast vier Wochenreisen nach Minas Tirith, wenn wir zwölf Stunden am Tag reiten! Selbst, wenn wir heute noch abreiten, halte ich es nicht für gesichert, dass wir rechtzeitig eintreffen“, erwiderte Aragorn. „Harad ist einfach sehr viel näher an Gondor, als wir es sind. Sogar Schattenfell braucht noch mindestens zwei Wochen, um von hier nach Minas Tirith zu kommen. Ich fürchte, ich habe keine andere Wahl, als den Palantír zu benutzen. Der Einzige, der es schnell genug schaffen könnte, wäre Gwaihir“, gab der König zu bedenken. Gandalf und Aragorn sahen sich lange an – wohl wissend, dass der König die zur Verfügung stehenden Mittel und Möglichkeiten realistisch einschätzte.
„Gandalf?“, meldete sich Frodo. Der Zauberer zuckte sichtlich zusammen, als der Hobbit ihn vorsichtig am Arm fasste. Gandalf kam von sehr weit her, als er sich Frodo zuwandte.
„Frodo?“
„Gandalf, kannst du den gestohlenen Palantír nicht einfach verzaubern?“, fragte Frodo vorsichtig. Im ersten Impuls schüttelte der Istar eingedenk des Verbotes der Valar den Kopf. Die Istari durften den Kindern Ilúvatars in Mittelerde nicht mit Zaubermacht begegnen.
„Nicht mal einen kleinen Blitz?“, hakte Frodo nach. Es musste doch eine Möglichkeit geben, Markilan die Benutzung des Sichtsteins zu verleiden! Gandalf schmunzelte schelmisch – was wieder sehr viel mehr nach Gandalf dem Grauen aussah als nach Gandalf dem Weißen.
„Gib mir den Palantír, Aragorn – und dann lasst mich allein“, forderte Gandalf den König auf. Aragorn gab ihm den Stein, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern.
„Komm, Frodo, lassen wir Gandalf sein Feuerwerk machen“, sagte er zu dem Hobbit, dem zunächst die Enttäuschung über das für ihn ausfallende Feuerwerk wie mit mondbeschienenem Ithildin im Gesicht geschrieben stand. Doch Frodo verstand. Wenn Gandalf zaubern wollte, brauchte er einerseits Ruhe, um sich konzentrieren zu können und andererseits in diesem Fall möglichst keine Zeugen. Als er einst in Edoras Théoden Sarumans bösen Geist ausgetrieben hatte, hatte er das Verbot der Valar nicht übertreten, weil sein exorzierender Zauber sich nicht gegen die Wesen Mittelerdes gerichtet hatte, sondern gegen einen abtrünnigen Maia, der ebensolche Kräfte besaß. Jetzt sah das möglicherweise anders aus.
Gandalf war allein mit dem Palantír, legte die rechte Hand darauf, und der Stein begann zu arbeiten. Helle Schatten wogten durch die Tiefe des Kristalls. Frodos Hinweis auf einen Blitz hatte den Zauberer zu einem Feuerwerk inspiriert, das er allein mit der Kraft seines mächtigen Geistes entwarf und in den Stein projizierte. Der Zauberer beherrschte den Palantír geradezu meisterhaft. Dabei war auch hilfreich, dass Markilan den Ithil-Palantír in Händen hatte, während Aragorn den Anor-Palantír mitgenommen hatte. Ehedem im Besitz der Söhne Elendils, waren diese beiden Palantíri besonders eng aufeinander abgestimmt.
Markilan, König von Harad, saß in seinem Feldlager in Mordor, unterhalb von Cirith Ungol. Harad war heiß und trocken, aber Mordor kannte keinen Vergleich – trotz der Tatsache, dass es Sauron nicht mehr gab. Die unendliche Schwärze seines verderbten Geistes hatte sich schon in den gut tausend Jahren seiner Herrschaft über Minas Morgul so in den Mauern und im Boden festgesetzt, dass dieser Ort von den Kindern Ilúvatars nicht mehr bewohnt werden konnte. Umso mehr galt das für Mordor selbst, das ganze Zeitalter der Sitz des personifizierten Bösen gewesen war.
Doch selbst die Unannehmlichkeiten Mordors waren erträglich, wenn Markilan seine kostbare Beute betrachtete: Den angeblich zerstörten Palantír von Minas Ithil, der bei der Eroberung der Stadt im Jahr 2002 D.Z. Sauron in die Hände geraten war, mit dem der gefallene Maia Saruman auf seine Seite gezogen und Denethor um den Verstand gebracht hatte.
Der König der Haradrim streichelte den Stein liebevoll und lächelte grimmig. Das Lächeln ließ in seinem braunen Gesicht eine lange Narbe fast weiß hervortreten, die sich von der rechten Augenbraue über die leere rechte Augenhöhle bis zur rechten Seite des Kinns zog, die bei jedem Wetterwechsel grausam schmerzte – für Markilan einen schlimme Erinnerung an die Schlacht vor dem Morannon, wo er mit Aragorn zusammengestoßen war. Die Narbe war Folge eines fürchterlichen Hiebs mit Andúril. Das meisterhaft geschmiedete königliche Schwert Elessars hatte den Helm des Haradrim aufgerissen, die Augenbraue bis in den Knochen durchtrennt, das Auge gekostet, die Wange durchtrennt, das Jochbein zerschlagen und ihm auch noch den Kiefer gebrochen. Nur das beherzte Eingreifen seines jüngsten Sohnes Salidan hatte dem König das Leben gerettet. Salidan hatte Elessar im Kampf lange genug beschäftigt, damit der ältere Sohn Valadin den schwer verwundeten Vater aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich schaffen konnte. Salidan war schließlich nach wildem Schlagwechsel mit Elessar gefallen und der verwundete Markilan samt seinen beiden älteren Söhnen in gondorische Gefangenschaft geraten. Wirklich überlebt hatte Markilan nur deshalb, weil König Elessar seinen Gefangenen selbst behandelt hatte und ihm und seinen Söhnen schließlich Leben und Freiheit geschenkt hatte. Doch Markilan sah im König von Gondor immer noch den Mörder seines jüngsten Sohnes und einen vernichtungswürdigen Feind – und dieser Stein würde ihm dabei helfen, wenn er ihn richtig beherrschte.
Während er gedankenverloren über den Stein streichelte, wurde der lebendig. Markilan kannte das bereits und ließ sich zunächst auch nicht aus der frohen Betrachtung bringen – zunächst! Doch plötzlich schossen blendend helle Blitze durch die Tiefe des Steins, feurige Drachen zeigten sich, glühende Kugeln schossen auf ihn zu, brennende Pfeile, lodernde Sterne; intensiv grün leuchtende Knochenfinger griffen nach dem König, der den Palantír erschrocken losließ. Dabei fiel der Stein neben den stabilisierenden Holzring und rollte über die leicht geneigte Tischplatte auf den entsetzten Haradrim zu, schien explodieren zu wollen, so tobte das Gewitter im Inneren. Markilan sprang voller Panik auf, stieß seinen Stuhl um, fiel beinahe noch hin und stolperte mit einem markerschütternden Schrei aus dem Zelt.
Kapitel 11
Versprechen
Gandalf konnte die Reaktion des Königs der Haradrim durch den Palantír sehen und erlaubte sich ein schadenfrohes Grinsen. Der würde den Stein so schnell nicht wieder anfassen! Langsam kam der Istar wieder aus seiner Konzentration zurück in das Haus der Dúnedain in Bruchtal. Leise Unterhaltung drang an sein Ohr, Aragorn und Frodo sprachen miteinander. Gandalf ließ den Palantír erlöschen und ging hinaus auf die Terrasse.
„Und du meinst, dass diese Entwicklung rückgängig gemacht werden kann?“, fragte Frodo.
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Aragorn und sah, dass Gandalf kam. „Aber vielleicht weiß Gandalf es.
„Was soll ich wissen?“, fragte der Zauberer.
„Später. Was hast du mit Markilan angestellt?“, fragte Aragorn. Gandalf lächelte so breit, dass sich sein weißer Bart sträubte.
„Der ist gelaufen, als ob Sauron persönlich hinter ihm her war. Wenn ich das noch einige Male wiederhole, fasst der nie wieder einen Palantír an!“, erwiderte Gandalf. „Und was soll ich wissen?“
„Gandalf, ist es möglich, die Verwandlung eines Elben in einen Ork rückgängig zu machen?“, fragte der König. Gandalf sah ihn an, als habe Aragorn plötzlich ein drittes Auge auf der Stirn.
„Wie bitte?“
„Es ist doch richtig, dass zunächst Morgoth, später Sauron Elben gefangen nahm und sie durch eine grauenhafte Behandlung zu Orks gemacht hat, oder?“, fragte Aragorn weiter und wies einladend auf eine bequeme, freie Bank, die auf der Terrasse stand. Aragorn und Frodo saßen bereits auf je einer der drei anderen Bänke.
„Ja, das stimmt“, bestätigte Gandalf und setzte sich dem König gegenüber.
„Wenn diese Entwicklung in die eine Richtung geht, dann kann sie doch auch umgekehrt werden, oder?“
„Möglich; vielleicht bei denen, die wirklich aus Elben zu Orks wurden. Bei denen, die später gezüchtet wurden, würde ich das nicht annehmen“, erwiderte Gandalf. Er sah in Aragorns Blick eine Art von Hoffnung, die er darin noch nie gesehen hatte.
„Aber ich weiß nicht, ob und wie das möglich sein kann“, ergänzte er.
Die Hoffnung in den Augen des Dúnadan erlosch.
„Warum fragst du danach?“, wunderte sich Gandalf. Aragorn berichtete ihm mit einem schweren Seufzen von der Begegnung in Khazad-dûm.
„Und du meinst, es könnte sich tatsächlich um Legolas’ Bruder handeln?“
„Ich bin mir so wenig sicher wie Legolas selbst. Aber wenn es eine Möglichkeit gibt, die Orks, die wirklich einmal Elben waren wieder zu Elben zu machen, könnte das in vielen Elbenfamilien die immer noch vorhandene Trauer um ihre verlorenen Angehörigen in Freude verwandeln.“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Diejenigen, die zu Orks gemacht wurden, haben nicht nur ihre Sprache vergessen. Sie haben alles hinter sich gelassen, was einen Elben ausmacht; sie haben Elben bewusst und gewollt getötet, vergiss das nicht“, warnte Gandalf.
„Wenn jemand einen anderen – sei es Mensch, Elb, Hobbit oder sonst ein denkendes Wesen – gegen dessen Willen so mit berauschenden Mitteln abfüllt, dass dieses denkende Wesen nicht mehr weiß, was es tut, dann kann man dieses arme Wesen für das, was es in diesem widerwillig rauschhaften Zustand angestellt hat, nicht verantwortlich machen. Das sagt das Gesetz der Menschen. Ich habe lange unter Elben gelebt, und ich weiß, dass dieser Grundsatz auch unter ihnen gilt. Das, was die Elben als Orks getan haben, kann man ihnen nicht vorwerfen, wenn sie wieder Elben würden. Nichts anderes haben Morgoth und Sauron getan, als sie Elben mit Gewalt und Zauberei zu Orks machten.“
Gandalf dachte eine Weile nach. Wenn es wirklich möglich war, auf diese Weise die noch verbliebenen Orks zu verändern, würde der Friede in Mittelerde sicher haltbarer sein, als wenn es weiterhin Wesen gab, in denen der böse Geist Saurons fortwirkte. Der Zauberer kannte Aragorn gut genug, um zu wissen, dass der sich ausrechnete, mit einem solchen Schritt gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, wenn nicht sogar drei oder vier: Erstens die Sicherung des Friedens durch die Schwächung oder Beseitigung feindlicher Orks, zweitens eine Stärkung der Elben in Mittelerde, drittens damit verbunden ein Nachlassen der Abwanderung nach Valinor, denn viele Elben verließen Mittelerde aus blanker Trauer um auf diese Weise verlorene Söhne, Töchter, Schwestern und Brüder und viertens – viertens könnte eine solche Möglichkeit die Elben wieder enger mit den Menschen verbinden, mindestens aber mit deren Hochkönig. Gandalf sah hoch und wusste, dass die vierte Möglichkeit in persönlicher Hinsicht nicht unbedingt beabsichtigt war, dafür war Aragorn viel zu bescheiden; aber ein engeres Zusammenleben von Menschen und Elben, ein gegenseitiges noch besseres Verstehen beider Völker lag schon angesichts seiner Ehe mit Arwen in seinem Interesse. Eine Stärkung der Freien Völker Mittelerdes insbesondere durch eine größere Anzahl unsterblicher Elben würde auch feindliche Menschen von aggressivem Verhalten abhalten.
„Ich glaube, Saruman hat es einmal versucht, als er noch auf der weißen Seite stand …“, murmelte Gandalf. „Es war wohl sein Forscherdrang, der ihn dazu brachte. Aber ob er es geschafft hat, das weiß ich nicht“, sagte er.
„Aus Sarumans schwarzer Zeit stammen seine Züchtungen von Uruk-hai, einer Kreuzung aus Bilwissmenschen und Orks, wie mir Elrond nach einem Gespräch mit dir sagte. Wenn er, wie du sagst, es einmal versucht hat, könnte es doch sein, dass er den Weg gefunden hat und ihn später wieder in der Umkehrung bei der Herstellung seiner Armee der Weißen Hand angewendet hat“, mutmaßte Aragorn.
„Wenn das so ist …“, brummte Gandalf. „Falls er es geschafft hat …“
„Ich habe einen Besuch im Orthanc gemacht. Legolas und ich haben Aufzeichnungen über die Herstellung des Orthanc-Feuers gefunden – und eine Menge sonstiger Aufzeichnungen über seine Forschungen. Beim flüchtigen Durchsehen habe ich entdeckt, dass er auch über eher unscheinbare Ergebnisse Notizen gemacht hat. Legolas, Éomer, Gimli und ich haben seine Aufzeichnungen erst einmal nach Edoras gebracht, wo Éomer sie verwahrt. Ich werde sie auf dem Rückweg mit nach Minas Tirith nehmen. Wenn er also etwas über diese Ork-Verwandlung gewusst hat, dann muss es in seinen Aufzeichnungen vorhanden sein.“
„Du hättest das besser im Orthanc gelassen, Aragorn. Sarumans Wissen ist gefährlich“, warnte der Istar.
„Das ist mir vollkommen klar, Gandalf. Aber der Orthanc ist nicht sicher, wenn er nicht bewohnt wird. Du wolltest keinen festen Platz bewohnen, schon gar nicht den Orthanc, also steht er leer und ist, außer von den Bäumen, unbewacht. Dass die Bäume nur begrenzt als Wächter taugen, haben Legolas und ich festgestellt, als wir dort eine Versammlung dunländischer Rebellen beobachtet haben. Als wir dann im Orthanc Sarumans Notizen über seine gefährlichen Forschungsergebnisse fanden, hielt ich es nicht für klug, dieses gefährliche Wissen unbewacht zu lassen und habe mich entschlossen, es nach Minas Tirith zu bringen. Bei Éomer ist es einstweilen gut aufgehoben“, erwiderte Aragorn.
„Du bist ein kluger und weiser Mann, aber werden deine Nachfolger es auch sein?“
„Meine Hellsicht ist begrenzt, Gandalf. Insofern weiß ich nicht, ob meine Nachfolger mein Interesse an Frieden und Gerechtigkeit teilen werden. Sollten Arwen und ich einen Sohn haben, wird er sicher diesem Weg folgen. Was danach geschieht, kann ich nicht übersehen. Aber du kannst noch nach mir oder meinem Sohn da sein, wenn du dich nicht noch für Valinor entscheidest. Du kannst der Hüter dieses Wissens sein und es vor unbefugtem Zugriff schützen.“
Gandalf sah in die Ferne, in das Tal, das sich hinter der Terrasse auftat. Er erinnerte sich an einen Traum, den er gehabt hatte, als er sich zum Verlassen Mittelerdes entschlossen hatte. Manwe, der oberste der Valar, war ihm erschienen.
„Olórin“, hatte er gesagt, „du kannst jetzt nach Valinor gehen. Lange hast du uns in Mittelerde treu gedient, und du hast es mehr als verdient, dir jetzt Ruhe zu gönnen. Das Böse ist vernichtet, doch es gibt noch seine Saat. Nicht alle Menschen sind friedfertig. Nicht jeder, der so wie Elessar ein großer Kämpfer mit dem Schwert ist, teilt seinen Wunsch nach Frieden und Gerechtigkeit. Ich will dir keine neue Aufgabe stellen, Olórin, denn du hast mehr getan, als wir es von dir erwarten konnten. Ich sende dich nicht und ich befehle es dir nicht, es ist allein deine Entscheidung: Du kannst in Mittelerde bleiben und dem König helfen, den Frieden zu sichern und die Ringträger schützen. Wenn du das willst, wirst du die Macht haben, zu spüren, wann und wo du gebraucht wirst. Wenn du es nicht willst, geh zu den Grauen Anfurten und steig auf Círdans Schiff, dass es dich nach Valinor bringe. Ich stelle dir keine Aufgabe. Du allein entscheidest, was du jetzt tun willst. Wir haben dich einst als unseren Diener dorthin gesandt. Wenn du bleibst, wirst du dein eigener Herr sein, wie du es auch sein wirst, wenn du heimkommst nach Valinor.“
In der grauen Ferne der Nebelberge sah Gandalf die drei Bergspitzen, unter denen Khazad-dûm lag und er erinnerte sich an den letzten Kampf mit dem Balrog, als er danach als Gandalf der Graue gestorben war, heimkehrte nach Valinor und von den Valar zurückgeschickt worden war, weil seine Aufgabe noch nicht erfüllt war. Jetzt war er freiwillig geblieben – weil er weder Elessar noch Frodo oder Sam mit ihren Lasten allein lassen wollte. Dennoch hatte er, wie schon früher, einen festen Wohnsitz abgelehnt. Ganz aus seinem Inneren drängte sich ihm die Frage auf, ob er nicht in Minas Tirith bei Aragorn bleiben sollte – oder doch eher in Lindon, das dem Auenland viel näher war? Bruchtal? Lórien? Es gab viele Plätze in Mittelerde, die Gandalf liebte, an denen er gern länger blieb. Aber der Orthanc, nein, der gehörte gewiss nicht dazu! Der alte Turm war für ihn ein riesiges Gefängnis und das nicht erst, seit Saruman ihn dort gefangen gehalten hatte. Gandalf brauchte frische Luft. Sein Blick fiel auf Aragorn. Auch der König benötigte den freien Himmel über sich, um sich wohl zu fühlen. Der Zauberer wusste, wie eingesperrt Aragorn sich in seiner Hauptstadt fühlte – und doch blieb er dort, um seinem Volk zu dienen. Dass er zuweilen ausriss, um Frischluft zu bekommen, das war eine andere Sache. Doch er kehrte stets nach Minas Tirith zurück, um seinen Pflichten als König nachzukommen, mochten sie ihm auch noch so unbequem sein. Gandalf seufzte. Aragorn gab ihm in dieser Hinsicht ein Beispiel. Und Sarumans Forschungen waren wirklich zu gefährlich, um sie mehr oder weniger offen herumliegen zu lassen. Der Istar traf seine Entscheidung. Er würde nach Minas Tirith gehen, um dort zu bleiben – wenn er die Freiheit hatte, sich hin und wieder abzusetzen und niemandem Rechenschaft schuldig war. Aber das musste er Aragorn jetzt noch nicht sagen …
„Gut“, sagte er, an Aragorn gewandt, „ich werde mir die Notizen ansehen. Wenn dort eine Möglichkeit enthalten ist, aus direkt geschaffenen Orks wieder Elben zu machen, will ich sehen, ob ich das nach Sarumans Aufzeichnungen tun kann.“
„Danke, Gandalf“, erwiderte Aragorn und stand auf.
„Was hast du vor?“, fragte Frodo, der dem Gespräch seiner Freunde aufmerksam schweigend zugehört hatte.
„Faramir ahnt nichts von der Gefahr, die sich in Mordor zusammenbraut. Ich will ihn warnen und ihm sagen, dass wir auf dem schnellsten Wege zurückkehren“, antwortete Aragorn. Gandalf hob abwehrend die Hand.
„Nein, warte noch ein paar Stunden. Ich möchte erst sicherstellen, dass Markilan den Palantír nicht mehr für seine Zwecke missbraucht. Dafür muss ich ihn noch ein bisschen erschrecken“, bremste der Zauberer. Aragorn lächelte.
„Dann mach’ ihm Feuer! Ich möchte Faramir jetzt nicht länger im Ungewissen lassen, über das, was sich an der Grenze tut.“
Spät an diesem Abend löste sich ein fröhliches Fest auf, bei dem sogar Legolas wieder gelacht hatte, was er seit der Begegnung in Khazad-dûm nicht mehr getan hatte. In der Elbensiedlung verloschen die Lichter, als Arwen und Aragorn zu der kleinen Brücke über den Bruinen kamen. Arwen blieb stehen und sah in den Nachthimmel hinauf.
„Ir Ithil …“, sagte sie leise. „I anor en veleth[31].“
„A en hogad …[32]“, lachte Aragorn leise. Bei dem fröhlichen Fest war auch froh gezecht worden. Arwen sah ihn an.
„Du wolltest mit Faramir sprechen …“ erinnerte sie ihn.
„Bis jetzt hatte Gandalf den Stein, um Markilan die Benutzung gründlich zu verleiden. Ich hoffe, er hat es geschafft, so dass ich Faramir endlich warnen kann. Mir ist nicht wohl, wenn ich Markilans Haradrim nur drei Schritte von der Grenze Gondors entfernt weiß.“
„Willst du es bei einer Warnung lassen und nach Annúminas weiterziehen oder willst du umkehren?“, fragte Arwen. Aragorn nahm ihre schmalen Hände und sah einen Moment zu Boden. Unter ihnen rauschte das Wasser durch den Brückenbogen.
„Im aran gondor. I aran û-pûl arandur în a ‘waith în awartha na beleth. Boe bedin dan na Vinas Tirith. Han bâd nîn[33]“, sagte er mit einem Gesichtsausdruck, der den ganzen Ernst der Situation verdeutlichte.
„A minlû nauthach bo gen?[34]“
„Renon pennich nin i vedui govannem mîn or iant sen, ú-’arin in naeth na i ‘obennas.[35] Das stimmt so nicht. Vielleicht ganz zu Anfang, als ich dich zum ersten Mal in diesem Garten gesehen habe, aber seit diesem Zeitpunkt hatte ich Sorgen: Die Sorge, ob dein Vater mich als deinen Mann akzeptiert; die Sorge um dich, wenn du dich für mich entscheidest und deine Unsterblichkeit aufgeben musst; die Sorge, dass ich dafür eine erdrückende Pflicht auf mich nehmen muss – nämlich die Krone der Hochkönige zu tragen, die ich nie und nimmer wollte. Ich habe diese Pflicht übernommen und nun muss ich sie auch erfüllen. Das ist der Weg, den ich gewählt habe.“
Arwen lächelte.
„Han bâd mîn![36]“, erwiderte sie. Aragorn nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie. Neben ihrer zarten Haut wirkten seine Kämpferhände rau und grob, doch verstand er es, unendlich zärtlich zu sein.
„Gen milin, bereth nin. Tolo, bedim na gar mîn[37]“, flüsterte er.
„Gen milin, aran nin. Telin go cen[38]“, erwiderte sie ebenso leise. Aragorn legte ihr den Arm um die Schulter und sie gingen zum Haus der Dúnedain.
Der König fand den Palantír auf seinem Lagerring, wo Gandalf ihn zurückgelassen hatte. Er fand auch eine Nachricht des Zauberers vor:
„Du hattest Recht. Gondor ist in großer Gefahr. Die Zeit drängt. Wenn du diese Nachricht findest, bin ich bereits auf dem Weg nach Rohan. Schattenfell ist schnell, so dass ich hoffe, in gut zwei Wochen bei Éomer zu sein. Ich werde ihn in deinem Namen auffordern, sein Heer marschbereit zu machen, denn Markilans Horden sind groß. Markilan wird den Palantír wohl nicht wieder anfassen, nachdem er sich fast die Finger daran verbrannt hat. Eilt mir nach, so schnell eure Pferde laufen können! Nehmt mit, wen ihr finden könnt! Jeder wird gebraucht, der weiß, wie man ein Schwert anfasst! Gandalf.“
Aragorn setzte sich an den Tisch. Mit beiden Händen erweckte er den Palantír zum Leben, überwand die Vision von Denethor und sah – endlich – Faramirs Gesicht.
„Faramir“, sprach er ihn an. Der Statthalter legte gleichfalls eine Hand auf den Palantír.
„Du rufst mich, mein Freund und König?“, erwiderte er.
„Es droht Gefahr aus Mordor. Gib Acht. Wir kommen zurück“, warnte Aragorn.
„Was hast du erfahren?“
„Ich kann nicht ganz frei sprechen. Es könnte sein, dass noch jemand zuhört. Berio i vinas nim mîn dan i charadrim, arandur nîn![39]“, warnte Aragorn. Faramir beherrschte Sindarin zwar nicht wie Aragorn als Muttersprache, doch reichte seine Kenntnis soweit, dass König und Statthalter diese Sprache zum Zweck der Geheimhaltung nutzen konnten.
„Mae, aran nîn. Minlû telithach?[40]“
„Canad enquië[41]“, antwortete Aragorn. Faramir nickte.
„Wir werden alles vorbereiten“, versprach er dann in der Gemeinsprache.
„Gut. Wir sehen uns dann“, verabschiedete sich Aragorn und ließ den Palantír los, der nur wenige Augenblicke später erlosch. Aragorn lehnte sich zurück und spürte Arwens sanftes Streicheln an seiner Schulter. Sie stand neben ihm und sah in voller Liebe an.
„Elrohir wird nicht erfreut sein, aber wir sollten morgen aufbrechen“, sagte er und lehnte sich an sie.
„So, wie ich meinen Bruder kenne, wird er nicht still sitzen bleiben. Er ist mit dir auf die Pfade der Toten gegangen und hat mit dir für Mittelerde gekämpft. Er wird es wieder tun.“
Aragorn nickte schweigend.
„Tolo na chaust si, muin nîn[42].“
Earendils Stern stand noch als einziger Stern am Himmel, als Aragorn aufstand und auf seine Terrasse trat. Es war ein kalter Herbstmorgen, Nebelschwaden zogen unten durch das Tal und verbargen den Bruinen unter einer weißen Decke. Ganz allein machte er einen Frühspaziergang durch Bruchtal.
‚Warum kann ich nicht einmal in Frieden nach Annúminas reisen? Werde ich denn wirklich mein ganzes Leben lang verfolgt, wie Elrond es mir einst weissagte?‘, durchfuhr es ihn. Ohne es bewusst gewollt zu haben, war er zum Grab seiner Mutter gegangen. Es war von Efeuranken überwuchert wie jedes Mal, wenn Aragorn nach langer Abwesenheit nach Bruchtal zurückkehrte. Die Elben, die Bruchtal bewohnten, hatten in ihrer Unsterblichkeit kein Verhältnis zum Tod und zu Gräbern. Grabpflege war daher bei ihnen unbekannt. Aragorn entfernte die Ranken vorsichtig von dem weißen Marmor und legte die Tengwar-Inschrift wieder frei, die den Namen seiner Mutter und deren Lebensdaten darstellte.
‚Ich war nie bei dir, wenn du mich gebraucht hast. Du bist mit mir hierhergekommen, um mich zu schützen, um mir die Chance zum Überleben zu geben. Und ich? Ich bin fortgegangen ohne dich je zu fragen, ob du mich vielleicht brauchst. Ich war nicht hier, als du starbst, war irgendwo in der Wildnis unterwegs. Es tut mir so Leid!‘, dachte er und strich sanft über den Grabstein.
„Es braucht dir nicht Leid zu tun, Aragorn“, hörte er eine leise Stimme. Erschrocken sah er sich um, konnte aber niemanden sehen.
„Hier bin ich! Sieh in den Spiegel!“, forderte ihn die Stimme auf. Immer noch an einen Scherz seiner Hobbit-Freunde glaubend, sah er sehr unauffällig zu einer Steinfigur in der Nähe des Grabes, die eine steinerne Schüssel trug. In dieser Schüssel sammelte sich Regenwasser, das die Vögel gern zum Baden und Trinken nutzen. Der noch dunkle Himmel spiegelte sich darin und der einsame Stern, der in der Morgendämmerung noch sichtbar war. Aber hinter dieser Spiegelung sah er die Gesichter seiner Mutter, Elronds und eines ihm unbekannten Mannes, der aber eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm selbst hatte. Es war sein Vater, den er nie bewusst gesehen hatte, weil der gefallen war, als sein Sohn gerade zwei Jahre alt war.
„Wie ist das möglich?“, murmelte Aragorn, der jetzt den Verdacht hatte, Halluzinationen zu haben.
„In Mandos’ Hallen ist vieles möglich, mein Sohn“, hörte er die Stimme seines Vaters. „Selbst das Zusammentreffen von Sterblichen und Unsterblichen.“
„Du fragst dich, ob du jemals Ruhe finden wirst“, sagte nun Elrond. „Ja, du wirst sie finden, aber noch hast du Feinde. Doch du hast auch Freunde und Verbündete. Geh zurück nach Minas Tirith, besiege den Feind, der sich gegen dich aufmacht. Nutze den Palantír weise, mein Sohn.“
Das Bild hinter der Himmelsspiegelung verblasste mit zunehmender Helligkeit und verschwand schließlich ganz. Aragorn sah hoch und bemerkte, dass Earendils Stern nicht mehr sichtbar war. Er verbeugte sich vor dem Grab seiner Mutter, wischte sich verstohlen die aufsteigenden Tränen ab und kehrte langsam zum Haus der Dúnedain zurück.
Kapitel 12
Freunde
Als Aragorn beim gemeinsamen Frühstück in der großen Halle von Bruchtal seine Absicht zur Umkehr äußerte, trat zunächst völlige Stille ein. Nur noch das Knacken des brennenden Holzes im Kamin war zu hören.
„Und warum?“, fragte Elrohir in die Stille hinein.
„Gondor ist in Gefahr. Haradrim und Rhûnrim stehen in Mordor und bereiten einen Angriff auf Gondor vor. Ich muss zurück“, erwiderte Aragorn. Elrohir lehnte sich, bleich geworden, zurück.
„Ich frage nicht, woher du diese Information hast, aber ich fühle, dass sie stimmt. Ich komme mit dir – und es werden sicher auch sonst noch Bruchtaler Elben mitkommen, muindor nîn.“
„Mae“, bekräftigte Glorfindel, der neben Elrohir saß. Die Hobbits sahen sich an. Pippin nickte nur.
„Denethor nahm mich einmal in die Truppen Gondors auf. Wenn ich auch mein gemütliches Zuhause über alles liebe, so habe ich doch im Ringkrieg begriffen, dass es ein friedliches Auenland nur geben kann, wenn ich auch meinen bescheidenen Anteil dazu beitrage, die Feinde des Königs auf Distanz zu halten, denn sie sind auch die Feinde des Auenlandes. Ich komme mit!“, sagte er entschieden. Frodo, Sam und Merry nickten beifällig.
„Und wir werden weder dich noch Pippin alleinlassen“, sagte Frodo. „Hobbits sind keine Abenteurer, brauchen ihre Ruhe und genügend Futter, aber das Auenland wird den König nicht im Stich lassen.“
„Macht ja einen Abstecher nach Aglarond! Da warten noch ein paar Zwergenäxte auf die Hälse von Haradrim und deren Kumpanen. Wenn die spitzohrigen Elben mitmachen, werden die Zwerge nicht zurückstehen“, knurrte Gimli bärbeißig.
Es vergingen keine drei Stunden, dann rückten eine ansehnliche Anzahl von Menschen und Elben sowie ein Zwerg und vier Hobbits gut beritten in Richtung Khazad-dûm ab.
„Tolo! Herio![43]“, rief Aragorn und trieb Brego zu einem zügigen Galopp an, dem die Ponys der Hobbits und Gimlis nur mit Mühe folgen konnten. Aragorn hatte es jetzt eilig, nach Minas Tirith zu kommen. Jeweils zwölf Stunden ritten sie am Tag und erreichten knapp sechs Tage nach dem Verlassen Bruchtals die Wegscheide, an der die Straße am Sirannon zum Westtor von Khazad-dûm führte. Kaum hatten sie die Wegscheide erreicht, als Legolas Arod neben Brego trieb.
„Willst du durch die Pforte von Rohan?“, fragte er Aragorn.
„Das wäre in diesem Falle schneller“, entgegnete Aragorn.
„Dann werde ich durch Moria gehen und versuchen, zum Düsterwald zu kommen, um auch von dort Verstärkungen zu holen. Vielleicht kommen auch noch Elben aus Lórien mit. Wir würden uns beeilen und könnten euch in Rohan treffen“, schlug der Elb vor. Aragorn lächelte.
„Du bringst mich auf eine gute Idee. Wir werden alle durch Moria gehen“
Legolas sah den König verblüfft an.
„Warum reitest du nicht direkt nach Rohan?“, fragte er. Aragorns Lächeln wurde breiter.
„Ich möchte dich aus einem bestimmten Grund nicht allein lassen, mein Freund. In Moria könntest du Beistand gebrauchen. Und ich könnte die Zwerge gebrauchen.“
Legolas begriff und erwiderte Aragorns freundliches Lächeln.
„Zunächst geht es darum, einen Angriff auf Gondor abzuwehren. Du weißt, dass ich alles dafür tun werde“, sagte er.
„Daran zweifle ich nicht einen Augenblick, mellon nîn. Aber meine dúnedainische Weitsicht sagt mir, dass sich uns jemand anschließen wird, von dem du es nicht annehmen würdest.“
„Meinst du, dass die … die Orks … Nein, das meinst du nicht ernst!“, stieß Legolas hervor.
„Komm jetzt!“, erwiderte Aragorn und versetzte Brego wieder in Galopp.
Die Zwergenwächter, die das nunmehr offene Hulstentor, das Westtor von Khazad-dûm, bewachten, sahen mit Erschrecken die große Anzahl von Reitern, die der schmalen Straße zum Trotz im gestreckten Galopp das Tal heraufkamen.
„Halt!“, rief einer der Wächter und zog die Axt. Sein Kamerad tat es ihm gleich. Aragorn hob den Arm und ließ vor dem Tor halten. Die gut fünfzig Reiter parierten ihre Pferde und kamen zum Stehen.
„Elessar von Gondor erbittet Einlass nach Khazad-dûm!“, rief der König. Die Wächter senkten die schon erhobenen Äxte.
„Ihr habt es eilig, scheint es!“, sagte der Ranghöhere.
„Allerdings! Dennoch bitte ich um Einlass. Doch wäre es mir lieb, wenn ihr euch für eine Entscheidung nicht zu viel Zeit lasst“, erwiderte Aragorn.
Der Zwergenwächter erkannte, dass er es mit Leuten zu tun hatte, die seinem Herrn wichtig waren. So schnell ihn seine kurzen Beine trugen, rannte er in die Wachstube und meldete Elessars Ankunft an Balin.
Der Herr von Moria ließ die eiligen Reiter zu sich kommen.
„Ich kann mir denken, weshalb du es so eilig hast, Elessar“, sagte er. Seine Hand wies auf eine vollkommene Kugel aus poliertem, schwarzem Kristall. Aragorn zog fragend eine Braue hoch.
„Ich habe es gesehen, mein Freund“, erklärte Balin.
„Was hast du gesehen, Balin?“
„Ich habe gesehen, dass Truppen aus Harad und Rhûn dein Reich angreifen, mein Freund Aragorn.“
„Wann hast du das gesehen.“
„Vor einer Woche.“
„Seltsam. Vor einer Woche habe ich mit Faramir gesprochen. Er hat mir nichts davon gesagt, dass er bereits angegriffen wird“, wunderte sich Aragorn.
„Nun, ich habe mich auch gewundert und habe versucht, dich oder Herrn Faramir zu erreichen. Ich konnte zwar dich und deinen Statthalter sehen, aber ihr offenbar mich nicht. Es mag sein, dass ich damit noch nicht wirklich umgehen kann, aber …“
„Darf ich etwas ausprobieren, Herr Balin?“, bat Aragorn.
„Und was?“
„Es könnte möglich sein, dass du einen besonderen Palantír hast“, erwiderte der Menschenkönig. Balin ließ den Palantír, der auf einer Säule in der Nähe seines Thrones stand, enthüllen und machte eine einladende Handbewegung. Aragorn legte die Hände um die Steinkugel. Graue Wolken zeigten sich, dann erschien das Innere seiner eigenen Satteltasche. Legolas, der neben ihm stand, tauschte einen kurzen Blick mit Aragorn und war im nächsten Moment aus der Thronhalle verschwunden. Wenig später sah Aragorn, dass Legolas’ Hände seinen Palantír aus der Satteltasche nahmen. Er konnte das fragende und verwunderte Gesicht seines elbischen Freundes sehen. Er schien nichts sehen zu können.
Legolas hielt den schwarzen Palantír noch in den Händen, als er wieder in die Thronhalle kam. Alle sahen verblüfft auf den undurchsichtigen Palantír in den Händen des Elben und auf den auf der Säule, der nun die Situation in der Thronhalle zeigte.
„Es sieht so aus, als hätte Dwigli einen Palantír geschliffen, mit dem man zwar sehen kann, der aber nicht gerufen werden kann“, stellte der Elbenprinz fest. „Ich habe davon gehört, dass so etwas möglich ist. Die Noldor haben auch einen solchen Stein geschaffen: Den, der in Elostírion auf den Turmbergen stand und den Elrond und Galadriel nach Valinor mitnahmen“, setzte er hinzu.
„Oder der Palantír von Minas Tirith kann ihn nicht rufen“, mutmaßte Aragorn. „Nur der oberste Palantír von Osgiliath konnte alle anderen Palantíri von Mittelerde erreichen. Aber jetzt macht es mich neugierig…“
Er legte wieder die Hände um den Palantír Balins und konzentrierte sich auf den von Minas Ithil, den nun Markilan besaß. Wieder wogten graue Wolken durch den Stein, dann erschien das Lager der Haradrim, das Zelt, in dem Markilan saß. Er starrte auf den Sichtstein, konnte aber ebenso offensichtlich nichts darin sehen wie vorher Legolas mit dem Palantír von Minas Tirith. Markilan winkte einem seiner Diener, der den Palantír aus dem Zelt des Königs von Harad entfernte und nach draußen zu dessen sonstigem Gepäck trug. Die Truppen, die Aragorn durch den Stein sehen konnte, machten einen abmarschbereiten Eindruck. Fast gleichzeitig sah Aragorn aus dem Augenwinkel, dass sein eigener Palantír ansprang.
„Deck’ ihn zu!“, wies er Legolas an, der rasch seinen Umhang über den Sichtstein warf und damit verhinderte, dass Aragorns Palantír eine Rückmeldung gab.
„Nun, es wird jetzt klar“, konstatierte Aragorn. „Die Palantíri von Minas Anor und Minas Ithil sind so eng miteinander verbunden, dass der andere sofort anspringt, wenn ihn jemand länger als wenige Augenblicke in der Hand hält. Aber dieser hier, der kann sehen, doch nicht gerufen werden. Balin, mein Freund, du hast in der Tat einen besonderen Palantír. Du kannst sehen, aber nicht gesehen werden.“
„Das war nicht meine Absicht, Elessar, glaub’ mir“, wehrte Balin ab.
„Versteh’ mich recht: Ich glaube nicht, dass du den Palantír in genau dieser Weise hast schaffen lassen, damit du spionieren kannst“, entgegnete Aragorn. „Doch Dwigli hat uns damit ein unendlich wertvolles Instrument geschaffen, um dem König von Harad auf die Finger zu schauen – und um seine Pläne zu durchschauen. Genau genommen, können wir mit deinem Palantír genau das tun, was er selbst beabsichtigte, als er den Palantír von Barad-dûr an sich nahm. Bist du bereit, mir gegen meine Feinde zu helfen, Balin?“
„Die Zwerge von Khazad-dûm werden König Elessar nicht allein lassen! Und ich werde den Palantír mitnehmen, damit du sehen kannst ohne gesehen zu werden, König Elessar. Aber nicht nur wir Zwerge stehen bereit, mit dir zu gehen …“
Auf Balins Wink kamen wenigstens zwanzig Orks, angeführt von Eschnách.
„Elessar, König von Gondor, wir werden versuchen zu vergelten, was anderer unserer Art verbrochen haben. Verfüge über uns, Gebieter“, bot der Ork an und sank vor Aragorn auf die Knie. Der König bekam ihn am Arm zu fassen und zog ihn wieder hoch.
„Ich erwarte von niemandem, dass er vor mir auf die Knie geht – weder von Menschen noch von Elben, Zwergen oder Hobbits. Und auch nicht von Orks, die in Frieden mit einem befreundeten Volk leben.“
Der Ork verbeugte sich gemessen.
„Hannon le, aran nîn[44] “, sagte er. Aragorn sah ihn erstaunt an.
„Hast du Sindarin gelernt oder erinnerst du dich deiner früheren Sprache, Eschnách?“
Der Ork zeigte etwas, das wie ein Lächeln aussah.
„Beides. Denn als ich Herrn Balin bat, mich in der Sprache der Eldar zu unterrichten, kam auch wieder die Erinnerung. Es ist sehr hilfreich, denn die Sprache meines früheren Volkes ist kompliziert“, erwiderte Eschnách.
„Woher weißt du, dass du wirklich einmal ein Elb warst?“, fragte Legolas.
„Der Palantír, den Dwigli schaffen konnte, hat uns gezeigt, was wir einst waren“, erwiderte Eschnách.
„Hat er dir auch gezeigt, wer du einmal warst?“, hakte der Elbenprinz nach.
„Nein, soweit konnten wir es noch nicht erkennen“, sagte der Ork. Legolas sah ein Glitzern in dessen gelben Augen, das die Erinnerung an seinen jüngeren Bruder wieder wachrief. Aber da Eschnách es nicht aussprach, wies er diese Vorstellung doch von sich.
„Würdet ihr zu dem, was ihr einst wart, gern zurückkehren?“, fragte Aragorn.
„Herr, wir wagen nicht darauf zu hoffen, dass es möglich ist, aus Orks wieder Elben zu machen. Aber wenn es eine solche Möglichkeit gäbe – wir alle würden sie sofort annehmen, was immer es auch für uns bedeuten mag. Doch du wirst in uns auch dann treue Diener haben, wenn dies nicht möglich ist“, erwiderte Eschnách. Aragorn sah den Ork an und dachte daran, wie viele Orks in den vielen Jahrzehnten seines Waldläuferdaseins seinem Schwert zum Opfer gefallen waren. Niemals hatte er daran gedacht, dass es unter den Orks eine große Anzahl gab, die nicht bloß gezüchtet waren, sondern die wirklich einmal Elben gewesen waren – Elben, reine, gute Wesen, die er grundsätzlich als seine Freunde betrachtete. Konnte es überhaupt möglich sein, dass diese dunklen, hässlichen, buckligen Wesen mit den vorstehenden Zähnen und unförmigen Klauen einmal Elben gewesen waren? Wesen, die schier über dem Boden schwebten, die nicht einmal im Schnee Spuren hinterließen, denen Schmutz und übler Geruch einfach unbekannt waren? Und doch, etwas war an ihnen, das Aragorn hoffen ließ, sie eines Tages wieder als die schönen, anmutigen Geschöpfe Ilúvatars zu sehen, welche die Elben waren.
Legolas hatte Mühe, seinen Ekel zu überwinden, das sah Aragorn ihm deutlich an, aber der Elb ging auf Eschnách zu.
„Nad no ennas[45]“, sagte er und legte vorsichtig dem Ork eine Hand auf die Schulter. Der Ork sah den Elben eine Weile an.
„Renon …[46] Es ist eine sehr dunkle Erinnerung, aber das ist etwas …“
Die rechten Hände eines Elben und eines Ork umfassten sich zu einem festen Händedruck.
„Wir haben allerdings keine Pferde, König Elessar, und Zwerge sind auch keine guten Reiter“, warf Balin ein. „Aber wir werden euch so schnell folgen, wie es uns irgendwie möglich ist. Wir haben entdeckt, dass das Nebelgebirge von einem gigantischen Höhlensystem durchzogen ist, das an der Pforte von Rohan endet. Wir werden euch durch dieses System folgen, in dem wir Zwerge schneller sind, als ihr zu Pferd, wenn ihr euch durch Lórien, den Fangorn-Wald und Emnet schlagen müsst.“
„Ich danke dir, Balin von Khazad-dûm“, sagte Aragorn und verneigte sich vor dem Herrn von Moria. Eschnách grinste orkisch breit.
„Wir Orks haben noch ein paar Warge, die gut dressiert sind. Sie können mit euren Pferden mithalten“, sagte er.
„Warge!“, entfuhr es Gimli. „Das meinst du nicht ernst, Eschnách!“
Er dachte mit Schaudern an den Angriff der Wargreiter auf dem Weg nach Helms Klamm; daran, dass er unter zwei gefällten Wargen und einem toten Ork begraben gewesen war. Er wusste immer noch nicht recht, wie er sich unter diesem Leichenberg herausgearbeitet hatte.
„Oh, doch. Warge sind schnell, und sie sind furchtlos. Diese Warge gehen sogar auf Mûmakil, auf Olifanten, los“, erwiderte Eschnách.
Die Truppe, die am folgenden Tag aus dem Osttor von Khazad-dûm galoppierte, konnte nicht gemischter sein: Pferde, Ponys und Warge geritten von Hobbits, einem Zwerg, Menschen, Elben und Orks. Auf halbem Weg nach Lórien holte Legolas wieder zu Aragorn auf, der an der Spitze des Zuges ritt.
„Ich sehe dort am Waldrand Elben, die sehr nach Elben aus dem Düsterwald aussehen. Lass mich vorausreiten.“
Aragorn nickte nur und hielt Brego zurück, der Legolas’ Hengst Arod sonst schon aus purer Hengstrivalität nicht vom Fuß gewichen wäre.
„Noro lim, Arod! Noro lim, mellon nîn![47]“, feuerte der Elb das Tier an, das in langen Sätzen vorwärts stürmte.
Obwohl er die Düsterwald-Elben schon weit voraus erkannt hatte, war Legolas doch überrascht, dass es sein Vater und wenigstens fünfzig Elbenkrieger sowie deren Frauen aus seiner weiteren Verwandtschaft waren, die sich dort am Waldrand aufhielten.
„Mae govannen, adar! Man matha gen sí?[48]“, entfuhr es dem Elbenprinzen.
„Mae govannen, ionn nîn! Gen aníram cên![49]“, erwiderte Thranduil mit einem freundlichen Lächeln. Vater und Sohn umarmten sich herzlich.
„Hannon cen! Mae govannen ned Lórien. Telich ammen?[50]“
„Man idh rochyn no ennas?[51]“, erkundigte sich Thranduil und wies auf die Reiter, die Legolas folgten. Legolas lächelte.
„Mellyn nîn: Aragorn, Arathornion, i aran gondor; Arwen a Elrohir, i chîn en Elrond a edhil o Imladris; Gimli Glóinion; canad pheriain a edain o Gondor[52]“, antwortete er mit einer ausladenden Handbewegung. Die ebenfalls in seiner Begleitung befindlichen Orks hatte Legolas in seiner Freude schon vergessen.
„Yrch![53]“, schrie einer der Elbenkrieger, als er die Orks auf ihren Wargen bemerkte, die den Reitern folgten. Legolas erschrak, riss Arod herum und stellte sich den Kriegern in den Weg.
„Law! Dartho! Ú-órui yrch![54]“, rief er. Verwirrt senkten die Elbenkrieger seines Vaters die schon gespannten Bogen.
„Sain anner i ‘waedh na Elessar a naugrim – a na eldar![55]“
„Yrch anner i ‘waedh? Law![56]“, widersprach Thranduil.
„Mae, adar nîn[57]“, bestätigte Legolas.
Thranduil und seine Krieger sahen die herannahende Truppe noch recht verwirrt an, als Aragorn den König und sein Gefolge erreichte.
„Mae govannen, Thranduil, Oropherion, aran e-tawarwaith[58]“, begrüßte er den Elbenkönig.
„Mae govannen, Elessar Telcontar, aran gondor[59]. Du reist in seltsamer Gesellschaft“, erwiderte Thranduil und wies auf die Orks.
„Nun, ein König, dessen Reich bedroht wird, kann jede Unterstützung brauchen, die ihm angeboten wird, König Thranduil. Eschnách und seine Männer haben Treue geschworen. Du kannst sie für ihre äußere Gestalt nicht verurteilen, denn das, was sie sind, wurde ihnen gegen ihren Willen angetan. Bedenke, mein Freund, viele Elben haben Verwandte dadurch verloren, dass Morgoth oder Sauron sie ihnen nahmen und sie durch unvorstellbare Qualen und Hexerei zu Orks machten. Ich weiß, dass du selbst einen Sohn verloren hast, über dessen Verbleib nichts bekannt ist. Was würdest du tun, wenn dein verlorener Sohn Echnorn ein solcher Ork wäre?“, entgegnete Aragorn. Thranduil wurde bleich vor Entsetzen.
„Aragorn! Wie kannst du…?“
„Mir ist es ebenso gegangen, großer Thranduil, glaub’ mir. Ich habe in meinem Leben viele Orks erschlagen, ohne auch nur darüber nachzudenken, was sie einmal gewesen sind. Aber, bei Eru und den Valar: Wenn es auch nur die kleinste Möglichkeit geben sollte, dass dieses entsetzliche Verbrechen rückgängig gemacht werden kann, werde ich sie nutzen. Und sollten Elben aus deinem Reich darunter sein und sie bei dir nicht mehr willkommen sein, obwohl sie für ihre jetzige Gestalt nichts können, dann werden sie in Gondor eine neue Heimat finden“, versetzte Aragorn. Thranduil sah ihn einen Moment an.
„Menschen machen Fehler …“, sagte er dann.
„Ich behaupte nicht, perfekt zu sein. Aber vielleicht war es auch ein Fehler, die Verwandlung von Elben in Orks schicksalsergeben hinzunehmen. Ich möchte künftig den Fehler vermeiden, ein Wesen nur nach seinem Äußeren zu beurteilen und zu verurteilen.“
„Mögen die Valar mit dir sein, Elessar. Dein Mut ist groß, wenn du Orks in deinem Rücken duldest. Mein Sohn Echnorn ist – falls er noch lebt und nicht doch umgebracht wurde – länger von mir getrennt, als er bei mir war.“
„Ich weiß, dass gut zweitausend Jahre vergangen sind, seit du deinen jüngeren Sohn verloren hast. Doch gilt nicht bei den Eldar, dass sich in Mandos’ Hallen trifft, wer stirbt oder Mittelerde verlässt? Meister Elrond sagte mir zum Abschied, er freue sich auf das Wiedersehen mit seiner Gemahlin Celebrían, die seit fast fünfhundert Jahren in Valinor auf ihn wartet. Wenn du Mittelerde verlässt und Legolas bleibt hier, um deine Nachfolge anzutreten, wirst du ihn doch nicht abweisen, wenn er vielleicht in fünftausend Jahren nach Valinor kommt.“
„Deine Worte sind treffsicher wie die Pfeile der Eldar, Arathorns Sohn. Ich kenne dich und nenne dich Freund. Ich will dir vertrauen, mellon. Wir werden dich begleiten“, erwiderte Thranduil.
„Hannon le, Thranduil, mellon nîn“, lächelte Aragorn.
Die Elben aus dem Düsterwald und Aragorns Begleitung wollten den Weg nach Süden fortsetzen, als Thalion, der Wächter des Goldenen Waldes, mit einigen weiteren Wächtern aus dem Dickicht trat.
„Mae govannen, mellyn“, grüßte er. „Aran nîn aníra gen cên. Aphado nin.[60]“
„Mae“, bestätigte Thranduil. Dann sah Thalion die Orks auf ihren Wargen. Aragorn sah sein blankes Entsetzen und hielt es nicht für klug, seinen Ziehbruder derart zu überraschen.
„Galhir!“, rief er. Der Hauptmann seiner Turmwächter ritt an seine Seite.
„Mein König?“
„Bleib’ mit deinen Männern bei Eschnách und seinen Leuten“, wies Aragorn ihn an.
„Traut Ihr den Orks nicht, Herr?“
„Ich schon, aber Elladan vielleicht nicht. Ich möchte ihn und mich selbst nicht in Verlegenheit bringen, wenn wir mit zwanzig Orks durch den Goldenen Wald reiten. Allzu schnell könnten Pfeile in die falsche Richtung fliegen.“
„Hoffentlich wird der Schreck für ihn nicht noch größer, wenn Ihr mit ihm herkommt, Herr“, warnte Galhir.
„Nein, denn ich werde ihn vorwarnen, mein Freund“, erwiderte Aragorn mit einem freundlichen Lächeln und winkte Eschnách zu sich.
„Ich bitte dich und deine Freunde, euch nicht beleidigt zu fühlen, wenn wir euch hier vorerst verlassen und euch nicht in den Goldenen Wald mitnehmen. Der Goldene Wald ist nicht mein eigenes Reich, ich habe dort keine Macht. Doch ich habe dort Freunde und hoffe, dass auch sie mit uns ziehen werden. Wartet hier mit Galhir und meinen Männern auf uns“, bat er den Anführer der Orks. Eschnách verbeugte sich leicht.
„Geh, mein König. Ich habe Verständnis, wenn du deinem Freund erst erklären möchtest, wer und was wir sind“, erwiderte er. Aragorn winkte seinen übrigen Begleitern und zusammen mit Thranduils Elben ritten sie in den Goldenen Wald.
Elladan zögerte ebenso wenig wie Elrohir, seinem Ziehbruder mit seinen Kriegern zu folgen. Als Elladan und seine Gefolgsleute Lórien verließen und zum Waldrand kamen, wo Galhir mit seinen Männern und den Orks wartete, waren sie längst nicht so erschrocken über die Anwesenheit von Orks wie Thranduil und seine Leute es gewesen waren. Elladan erinnerte sich an die Vision in Galadriels Spiegel.
„Großmutter hatte Recht: Der Spiegel sagt die Wahrheit, wenn es um gegenwärtige oder vergangene Dinge geht“, stellte Elladan fest. „Nur, was die Zukunft betrifft, ist er nicht unbedingt verlässlich“, setzte er hinzu. Aragorn sah ihn an.
„Man cennich?[61]“, fragte er. Elladan schaute zu den Orks.
„Ich sah, dass Orks zu Elben wurden … Und das kann ich nicht glauben, Bruder.“
„Vielleicht doch …“, erwiderte Aragorn. „Denn jene dort waren wirklich einmal Elben.“
„Woher weißt du das?“
„Dwigli, ein Zwerg von Khazad-dûm, konnte einen neuen Palantír schaffen. Wie ich mich überzeugen konnte, scheint dieser ebensolche Fähigkeiten zu haben wie der Spiegel Galadriels und der Palantír von Elostírion. Er ist nicht nur geeignet, Bilder aus ferner Gegend zu empfangen sondern auch Vergangenheit, Gegenwart und mögliche Zukunft zu zeigen. Balin wird ihn mitbringen, wenn wir uns mit ihm treffen. Er folgt uns mit seinen Zwergen zu Fuß“, erklärte Aragorn.
„Dann wird er wohl zu spät kommen“, lächelte Elladan.
„Warten wir es ab. Sie wollten uns an der Pforte von Rohan erwarten, weil sie annehmen, durch das ihnen bekannte Höhlensystem schneller zu sein als wir es außen herum sein können. Dennoch sollten wir uns jetzt beeilen, mein Freund. Harad ist marschbereit.“
Kapitel 13
Traum und Treue
Seitdem Aragorn und seine inzwischen sehr zahlreichen Begleiter den Waldrand von Lórien verlassen hatten, war eine volle Woche vergangen. Sie waren gut vorangekommen, hatten den Limklar überschritten und lagerten mitten in den Ödlanden südlich der Hügellande auf der rechten Seite des Anduin. Aragorn saß mit Arwen, Legolas, Gimli und den Hobbits an einem der vielen Feuer, die die Nacht erhellten.
„So viele Völker in Mittelerde sind deine Freunde, Streicher. Warum wollen Haradrim und Rhûnrim sich dir nicht auch anschließen?“, fragte Sam nach einer Weile, die sie schweigend von Merrys gutem Pfeifenkraut geraucht hatten. Aragorn lächelte über die Anrede.
„Vielleicht solltest du Markilan danach fragen oder Lanadúr, den König von Rhûn, Samweis. Ich kann es dir nicht sagen. Nach dem Ringkrieg habe ich beiden Freundschaft angeboten, aber sie wollten sie nicht akzeptieren und schon gar nicht erwidern“, erwiderte der König.
„Nun“, sagte Legolas, „sie sind Menschen. Menschen erkennen zuweilen nicht, was gut und richtig wäre.“
Arwen sah zu Aragorn, der aber keine Regung zu Legolas’ Bemerkung zeigte. Aragorn kannte den Prinzen vom Düsterwald zu lange und zu gut, um diese Bemerkung auf sich persönlich zu beziehen.
„Legolas …“, setzte Arwen nun an, um den Elben zurechtzuweisen, doch Aragorn wehrte mit einer leichten Handbewegung ab.
„Legolas hat völlig Recht. Auch dein Vater hat Recht, wenn er uns Menschen als schwach, habgierig und fehlerhaft bezeichnet. Tatsächlich sind das die Eigenschaften des Menschen, liebste Arwen. Harad und Rhûn haben sich stets dagegen gewehrt, von Gondor beherrscht zu werden. Das war nach den alten Überlieferungen schon zu Elendils Zeiten so und daran hat sich auch nichts geändert, weil das Volk der Menschen sich ebenso nicht ändert wie alle anderen Völker Mittelerdes sich nicht ändern. Ilúvatar hat uns allen bestimmte Eigenschaften gegeben, mit denen wir umgehen müssen. Den Menschen gab er eben diese Eigenschaften, die dein Vater schon so treffend beschrieben hat. Aber es gibt Menschen, die versuchen, ihre Fehlerhaftigkeit zu begrenzen und solche, die ihre Fehlerhaftigkeit nicht erkennen, sondern ihr Tun für richtig und gut halten. Markilan und Lanadúr sind im Begriff einen Fehler zu machen, nämlich Gondor anzugreifen, das sie für schutzlos halten. Ich bin vielleicht auch dabei einen Fehler zu machen, indem ich mich dieser Absicht entgegenstellen will – mithilfe der Völker, die sich Gondor oder seinem König verbunden fühlen.“
„Warum hältst du das für einen Fehler, Streicher?“, erkundigte sich Sam.
„Sam, die Dúnedain haben bis zu einem gewissen Grad die Gabe der Voraussicht. Aber wenn es um Harad oder Rhûn geht, versagt sie seltsamerweise. Es gibt Dinge, die ich vorausahnen kann. Sie müssen nicht eintreffen. Das ist ähnlich wie mit dem, was Frodo einmal in Galadriels Spiegel gesehen hat.“
„Woher weißt du, was ich in Galadriels Spiegel gesehen habe?“, fragte Frodo erschrocken. Aragorns Lächeln wurde breiter.
„Auf der Ringfahrt, lieber Frodo, habe ich immer nur mit einem Auge geschlafen. Ich habe gemerkt, dass du dich in jener Nacht davongeschlichen hast, um Frau Galadriel zu folgen. Weil ich sichergehen wollte, dass du zu ihr gegangen bist und dich nicht im Goldenen Wald verlaufen würdest, bin ich dir gefolgt und habe gesehen, was ihr beide gesehen habt“, erklärte er.
„Du hast mir bei unserer ersten Begegnung im Tänzelnden Pony gesagt, du könntest vermeiden, gesehen zu werden, wenn du es nicht willst. In der Tat, ich habe dich nicht bemerkt. Aber dass Frau Galadriel dich auch nicht bemerkt hat …“, wunderte sich Frodo.
„Es ist schwer, sehr schwer, den scharfen Sinnen eines Elben zu entgehen – es sei denn, die scharfen Sinne sind anderweitig beschäftigt. Galadriel hat sich auf deine Vision konzentriert. Deshalb hat sie mich wohl nicht entdeckt“, erwiderte Aragorn. „Legolas könnte ich nicht entwischen, genauso wenig Arwen. Beide haben mich schon böse überrascht, zu meinem Glück nur im Scherz. Aber sie haben mir beide gezeigt, dass man sich Elben besser nicht zum Feind macht; denn Elben können sich wirklich nahezu unsichtbar machen und noch leiser schleichen als ihr fast lautlosen Hobbits. Aber, um auf begrenzte Voraussicht zurückzukommen: Bei Harad und Rhûn kann ich nicht voraussehen, was sie tun wollen und vor allem nicht, warum sie etwas tun wollen. Bei diesen muss ich mich auf meinen Waldläuferinstinkt verlassen. Und der sagt mir, sie wollen Gondor. Seit Umbar wieder treu zu Gondor steht, haben Haradrim und Rhûnrim keinen direkten Zugang mehr zur See. Ihre Länder sind trocken, heiß und recht öd. Es wächst nicht viel dort, und oft ist der Hunger bei ihnen zu Gast. Sie sind darauf angewiesen, Feldfrüchte, Fleisch und Fisch außerhalb ihrer Grenzen einzukaufen. Das ist auf Dauer teuer und so scheint es billiger zu sein, sich mit Gewalt zu holen, was man zum Leben braucht. Zudem ist beiden Königen ihr eigenes Land nicht groß genug. Sie möchten ihre Länder auf Kosten Gondors vergrößern. Scheint, als hätte wenigstens Markilan sich schon näher mit Mordor befasst, sonst hätte er den Palantír von Barad-dûr nicht bekommen können. Doch Mordor, das ist selbst für genügsame Haradrim nichts. Und nun haben sie Gondor endgültig zu ihrem Ziel erklärt. Doch dafür müssen sie an Faramir und meiner Wenigkeit vorbei – und ich habe nicht vor, sie vorbei zu lassen“, erwiderte Aragorn. Sein Blick ging zum sternenübersäten Himmel. „Wir wollen morgen früh aufbrechen und sollten jetzt besser schlafen gehen“, mahnte er dann.
Nach und nach erloschen die Feuer und bald waren nur noch wenige Elben und einige Orks wach, während die meisten anderen Elben im Sternenlicht meditierten und die übrigen Orks, Menschen, Hobbits und Zwerg Gimli schliefen. An dem weit heruntergebrannten Feuer der Gefährtenrunde saß nur noch Legolas aufrecht, denn auch Arwen hatte ihrer menschlichen Seite nachgegeben und schlief neben Aragorn. Bald fiel Legolas auf, dass Frodo sich unruhig hin und her warf. Vorsichtig hielt er den Hobbit fest. Frodo schreckte hoch.
„Oh, du bist es, Legolas!“, keuchte er erschrocken.
„Was hast du?“, fragte der Elb leise.
„Ich habe geträumt, die Haradrim würden uns angreifen.“
„Wo?“
„Hier!“
Sie hatten leise gesprochen, aber nicht leise genug für Aragorn. Der König zuckte hoch. Alle drei lauschten angestrengt in die Dunkelheit hinaus.
„Nad no ennas, Aragorn[62]“, flüsterte Legolas.
„Man cenich?[63]“, fragte Aragorn, ebenfalls flüsternd. Bei dieser Dunkelheit verließ er sich lieber auf Legolas’ erheblich bessere Sehfähigkeit als auf sein eigenes scharfes Gehör.
„Von Osten nähern sich mehrere Gestalten“, flüsterte der Elb.
„Frodo, du bist besser als jeder Palantír, mein Freund. Erhalte dir deine wertvollen Träume!“, sagte Aragorn leise und klopfte dem Hobbit anerkennend auf die Schulter. Legolas stieß Gimli an, der schlaftrunken hoch kam, aber auf das Signal des Elben schwieg.
„Haradrim!“, zischte der leise. Gimli nickte nur und zog langsam seine Axt.
Haduran, der jüngere noch lebende Sohn des Königs von Harad, der Anführer der Haradrim, die sich durch das nördliche Ithilien und die Emyn Muil nach Norden durchgeschlagen hatten, bemerkte eine Bewegung an den fast erloschenen Feuern. Eigentlich hatten sie an dieser Stelle etwa das Lager des verhassten Königs von Gondor erwartet. Doch dann erkannte er im Schein der erlöschenden Feuer Orks. Das Gesicht des haradischen Prinzen entspannte sich wieder.
„Sehr gut. Das sind Orks. Die werden uns helfen, die Gondorer und ihren König zu finden“, frohlockte er. Doch dann stieß ihn einer seiner Männer an.
„Haduran, siehst du dort auch einen Elben sitzen?“, fragte er. Haduran sah genauer hin. Nach und nach entdeckte er, dass es mehrere Elben waren, die friedlich zusammen mit Orks lagerten.
„Das gibt’s doch nicht!“, entfuhr es Haduran. „Orks und Elben und die tun sich nichts? Wo schreibe ich das hin?“
Fast im selben Moment weckte Legolas Gimli und diese Bewegung blieb bei den Haradrim im Schutz der Nacht nicht unbemerkt.
„Verdammte Elben!“, fluchte Haduran leise. „Die haben was bemerkt! Los, vorwärts!“, kommandierte er dann. Seine Haradrim sprangen auf und stürmten mit lautem Geschrei auf das vor ihnen liegende Lager los.
Im Lager des Königs waren die Elben die Ersten, die wach und kampfbereit waren. Gegen deren Scharfsichtigkeit nützte den angreifenden Haradrim nicht einmal der Schutz der Dunkelheit etwas, denn Elben sahen bei Nacht fast ebenso gut wie bei Tag. Den Männern um Haduran war dieser Umstand auch recht gleichgültig, denn sie waren mutige, unerschrockene Männer, die sich für diese Aufgabe freiwillig gemeldet hatten und die wussten, dass es lebensgefährlich war, sich mit König Elessar selbst ins Gefecht zu begeben. Jeder hatte seinen persönlichen Grund, Elessar Telcontar zu seinen Ahnen zu versammeln. Haduran hatte den dringenden Wunsch, seinen jüngeren Bruder Salidan zu rächen, der unter Elessars Streichen gefallen war.
Haduran suchte auch sofort nach dem König Gondors und bekam als Erster zu spüren, was es hieß, Elessar in seinem Zorn zu treffen. Andúril und das Schwert des Prinzen von Harad prallten funkensprühend aufeinander. Gegen das beidhändig und mit aller Kraft geführte königliche Schwert Númenors hatte der junge Prinz mit seinem normalen Einhandschwert schlechte Chancen. Es dauerte nur wenige Minuten, bis Hadurans Schwert unter Aragorns scharfen Hieben zersplitterte und sein Schild barst. Der nächste Hieb des Königs riss Hadurans ledernen Harnisch auf und hinterließ eine tiefe Wunde an dessen rechter Körperseite. Haduran ging mit einem Aufschrei zu Boden, während Aragorn schon den nächsten Harader angriff und ihn bald ebenso fällte.
Weiter entfernt schlugen sich die Elben vom Düsterwald, hervorragende Bogenschützen, deren Treffsicherheit nur von Prinz Legolas und König Thranduil selbst übertroffen wurde. Doch den Haradrim gelang das Kunststück, sich den Bogenschützen bis zum Nahkampf zu nähern. König Thranduil und seine unmittelbaren Gefolgsleute gerieten trotz ihrer Geschicklichkeit auch im Umgang mit den kurzen, scharfen Elbenschwertern in Bedrängnis und es wäre wohl für manchen von ihnen übel ausgegangen, hätten nicht Eschnách und seine Orks an genau dieser Stelle ausgeholfen. Mehr aus dem Augenwinkel bemerkte Eschnách den haradischen Bogenschützen, der auf König Thranduil angelegt hatte. Im Reflex warf er sich vor den Elbenkönig, den der Pfeil nach seiner Einschätzung tödlich getroffen hätte. Der Pfeil verfehlte Eschnáchs erhobenen Schild um einen halben Zoll – und traf ihn knapp unter dem linken Rippenbogen so unglücklich in eine kleine Lücke seines Ringpanzers, dass der Ork schwer getroffen vor die Füße Thranduils stürzte. Thranduil erkannte im Bruchteil des Augenblicks, was der Ork für ihn getan hatte, schleuderte sein Kurzschwert mit gleicher Präzision, wie er Pfeile abschoss und tötete den Harader auf der Stelle, dem das elbische Kurzschwert in den Kehlkopf drang.
Die Hobbits scharten sich um Königin Arwen und brachten den Haradern mit den elbischen Kurzschwertern aus Lórien aus ihrer tiefen Position ebenso schlimme Verluste bei, wie Arwen es mit Hadhafang oben tat. Gimlis Axt hielt schreckliche Ernte unter Hadurans Leuten.
Prinz Haduran hatte König Elessar und seine Gefährten zwar mit einer großen Anzahl von Kriegern angegriffen, doch hatte er sich in der Zahl und der Kampfkraft seiner Gegner völlig verschätzt. Eine knappe halbe Stunde nach dem Angriff der Haradrim stand von ihnen keiner mehr auf den Beinen. Verwundete schrien vor Schmerzen, einige röchelten noch ein letztes Mal, bevor sie starben, als der Kampf zu Ende war.
„Sucht alles ab!“, befahl Aragorn, nachdem es von den Haradrim keinen Widerstand mehr gab. „Die Verwundeten nehmen wir mit, gleich ob sie zu uns gehören oder ob es Harader sind. Die Toten werden begraben. Sam, du kommst mit mir. Ich brauche Athelas.“
Während Aragorn und Sam Gamdschie eilig nach Athelas suchten, trugen die anderen die Toten und Verwundeten zusammen. Auch unter Menschen, Elben und Orks hatte es Verluste gegeben. Vier Turmwächter, sieben Elben aus dem Düsterwald und drei aus Bruchtal waren tot, ebenso fünf der Orks; Eschnách und drei weitere Begleiter des Königs von Gondor schwer verwundet.
Aragorn und Sam hatten bald ein kleines Feld mit Athelas gefunden und ernteten ab, was sie erwischen konnten. Aragorn war auf seinen langen Beinen um einige Minuten früher zurück im Lager als Sam und kümmerte sich schon um die Verwundeten, als Sam ihm noch diverse Büschel des heilenden Krautes brachte.
„Danke, Sam“, sagte der König, der sich gerade um Haduran bemühte. Der haradische Prinz atmete nur noch schwach, hörte schließlich damit auf. Aragorn legte ihm die Hände auf die Wunde und die Stirn.
„Haduran, Markilans Sohn!“, rief er ihn an. „Komm zurück!“
Erst, nachdem er ihn einige Male auf diese Weise gerufen hatte, kehrte Leben in den haradischen Königssohn zurück. Er atmete wieder, wenn auch schwer.
„Gut. Verbinde ihn, Sam. Achte darauf, dass die Athelas-Blätter in der Wunde bleiben.“
„So wie bei Frodo damals?“, erkundigte sich Sam. Aragorn nickte nur und Sam tat, was der König ihm aufgetragen hatte.
Als Aragorn sich umdrehte, stand hinter ihm Thranduil, der Eschnách auf den Armen trug. Der Pfeil ragte noch aus der tiefen Wunde in der Seite des Ork.
„Ohne Eschnách hätte Legolas mich heute beerbt“, sagte der Elbenkönig leise. „Er hat den Pfeil abgefangen, der mir zugedacht war. Es tut mir Leid, dass ich nicht geglaubt habe, Orks könnten sich ändern.“
„Ú-moe edaved, ada[64]“, flüsterte Eschnách so leise, dass nur Thranduil und Aragorn es hören konnten. Auf den ebenmäßigen Zügen des Elbenkönigs zeigte sich der ganze Schock.
„Ada?“, fragte er erschrocken. „Ihr habt es gewusst, König Elessar, oder?“, fragte er dann nach, als Aragorn keine so heftige Reaktion zeigte.
„Gewusst habe ich es nicht, Thranduil, Orophers Sohn, König vom Düsterwald. Aber eine bestimmte Reaktion Eures älteren Sohnes Legolas ließ mich vermuten, Eschnách könnte Euer verschollener Sohn sein.“
„Kannst du ihm helfen, Aragorn?“, fragte Thranduil dann wesentlich weniger förmlich.
„Ich will tun, was ich kann“, versprach der Dúnadan.
Neben sich spürte er Legolas’ unmittelbare Nähe und war sich plötzlich im Klaren, warum er spätestens nach Legolas’ langem Schweigen vermutet hatte, Eschnách könnte dessen Bruder sein: Er konnte es fühlen, wenn sein elbischer Freund oder dessen Vater in seiner Nähe war. Oft, so erinnerte sich Aragorn, hatte er Legolas’ Anwesenheit schon lange gespürt, bevor er ihn gesehen hatte – insbesondere in seinem alten Waldrevier, in dem Legolas ihn häufig besucht hatte. Als Eschnách zum ersten Mal in Khazad-dûm erschienen war, hatte er das gleiche Gefühl gehabt, wie früher, wenn er bemerkt hatte, dass Legolas die Grenze seines Waldreviers überschritten hatte, nur stärker, eben verdoppelt.
„Hilf mir bitte mit dem Panzer, Legolas“, bat er. Der Elbenprinz griff schweigend zu und befreite Eschnách vorsichtig aus dem Ringpanzer. Aragorn sah den nun freiliegenden Pfeil und zögerte einen Moment. Den Pfeil herauszuziehen, konnte eine tödliche Wunde verursachen. Ihn aber durchzustechen, würde Eschnách töten, dessen war er sich sicher. Er entschied sich für eine dritte Möglichkeit, zog seinen scharfen Dolch und legte ihn ins Feuer.
„Merry, Pippin, ich brauche heißes Wasser. Macht schnell!“, wies er die beiden Hobbits an, die ebenfalls in seiner Nähe waren.
„Eschnách, ich muss dir sehr wehtun, aber es geht nicht anders“, bat der König vorsorglich um Entschuldigung. Eschnách nickte.
„Ich vertraue dir, Elessar“, flüsterte er. Aragorn winkte noch zwei seiner Turmwächter herbei.
„Haltet fest!“, wies er sie an, kniff die Lippen zusammen, nahm den Dolch aus dem Feuer und schnitt rasch am Pfeil entlang, bis er die Spitze zu fassen hatte und sie herausziehen konnte, ohne die Wunde zu sehr zu vergrößern. Eschnách bäumte sich in übermächtigem Schmerz auf, schrie laut auf und verlor dann endgültig das Bewusstsein. Aragorn sah im Schein einer Fackel in die Wunde hinein, aus der schwarzes Blut floss.
„Scheint so, als wäre innen nichts weiter verletzt. Entweder funktionieren die elbischen Selbstheilungskräfte auch bei Orks, die direkt aus Elben gemacht wurden oder sie sind innen sehr viel stabiler als alle anderen Wesen Mittelerdes“, resümierte er seine Untersuchung, wusch sie mit dem heißen Wasser aus, das Merry ihm brachte, drückte die Wundränder dann fest zu und belegte die Wunde reichlich mit aufgekochtem Athelas, verband sie dann mithilfe von Legolas, der Eschnách stützte.
„Glaubst du, dass es möglich ist, dass er wieder der Elb wird, der er einmal war?“, fragte Legolas leise.
„Ich hoffe es“, seufzte Aragorn. „Ich habe Gandalf gebeten, in Sarumans Aufzeichnungen zu forschen, ob es eine solche Möglichkeit gibt. Es waren Maiar, die Elben zu Orks verdrehten. Dann sollte es für einen Maia wie Gandalf auch die Möglichkeit geben, deren Taten rückgängig zu machen. Wenn ich nur daran denke, wie viele ehemalige Elben ich selbst schon ohne jede Frage erschlagen habe, wird mir ganz übel.“
Legolas nickte langsam.
„Denkst du auch gerade an Moria? Als uns die Orks hinter der alten Wachstube angriffen? Ich habe nicht einen Augenblick gezögert, gezielt zu schießen…“
„Keiner von uns, Legolas, keiner von uns. Sie haben uns auch keinen Grund gegeben, sie vertrauensvoll zu empfangen und erst zu fragen, ob sie uns Böses wollten und dann erst zu schießen“, erwiderte Aragorn mit unüberhörbarem Schuldgefühl. „Komm, suchen wir ein paar Lanzen zusammen. Haduran und Eschnách müssen wir liegend transportieren.“
Aragorn wollte aufstehen, spürte aber Legolas’ Hand auf seinem Arm.
„Aragorn, er heißt Echnorn“, sagte der Elb sanft, dennoch bestimmt.
„Be iest lîn[65]“, lächelte Aragorn.
Im Morgengrauen machte sich die große Truppe von Menschen, Elben, Hobbits und Orks auf den weiteren Weg nach Edoras, das noch gut einhundert Meilen entfernt war. Mit den beiden Schwerverwundeten auf Bahren, die von Pferden nachgeschleppt wurden, konnten sie den bisherigen Schnitt nicht halten; das war nicht nur Aragorn klar. Sie würden mindestens drei Tage bis nach Edoras brauchen.
Kapitel 14
Feuerzeichen
Faramir zählte die ungeduldig Tage. Fast drei Wochen waren vergangen, seit Aragorn ihm angekündigt hatte, er werde in etwa vier Wochen zurück in Minas Tirith sein. Seither hatte der Statthalter nichts mehr von seinem König gehört.
‚Es ist noch nicht sehr lange her, da gab es nichts weiter als berittene Boten, um eine Nachricht zu übermitteln. Allenfalls gab es noch die Leuchtfeuer in den Ered Nimrais‘, dachte Faramir. ‚Heute kann ich den Palantír benutzen, aber so recht habe ich mich an die Anwendung noch nicht gewöhnt.‘
Etwa fünfunddreißig Meilen nordnordwestlich von Minas Tirith befand sich auf dem Amon Dîn der Kreideturm, der der Hauptstadt Gondors am nächsten war. Die Reihe der Leuchtfeuer setzte sich dann am nördlichen Rand der Ered Nimrais jeweils in Abständen von rund fünfundzwanzig Meilen fort bis zum Halfirien, wo sich das nördlichste der sieben Leuchtfeuer Gondors keine zehn Meilen von der Grenze Rohans entfernt befand. Diese Leuchtfeuer waren weithin sichtbar – zumindest bei Nacht. Notfalls konnte man am Tag stark rauchende Feuer entfachen, wenn der Notruf bei Tag abgesetzt werden musste. Bis zum Ringkrieg waren diese Kreidetürme und der Rote Pfeil die einzigen Möglichkeiten gewesen, die Eorlingas zu Hilfe zu rufen. Jetzt gab es zwar die beiden Palantíri in der Hand des Königs und seines Statthalters, aber Faramir mochte der neuen und doch so alten Methode der Nachrichtenübermittlung immer noch nicht ganz vertrauen.
Nachdenklich ging er bis in die äußerste Spitze der Veste im obersten Ring von Minas Tirith, um Ausschau zu halten – nach Aragorn und seinen Begleitern, aber auch, um nach Osten zu schauen, von wo sich zum ungezählten Mal in der Geschichte Gondors Gefahr in Gestalt der Haradrim und der Rhûnrim näherte. Faramir hatte seinen Plan fertig. Seine eigenen Truppen in Ithilien mussten die Angreifer lange genug aufhalten, bis Aragorn mit den Rohirrim eintraf.
‚Gebe Manwe, dass es ausreicht, was ich getan habe‘, dachte der Statthalter bei sich.
Markilan ging in seinem Zelt am Ostrand des Ephel Dúath unruhig auf und ab. Seit gut zwei Wochen hatte er keine Nachricht von seinem Sohn Haduran, der mit dreißig seiner besten Männer die Totensümpfe umgehen wollte und durch Rhovanion und die Braunen Lande zum Anduin gelangen wollte, um dort zu verhindern, dass von Norden her Verstärkungen für Minas Tirith kommen konnten.
Ein finsterer Blick des Königs traf den Palantír, der noch immer auf seinem Tisch lag. Er beherrschte ihn nicht, konnte ihn nicht nach seinem Willen lenken. Die letzten Male, die er ihn hatte benutzen wollen, hatte diese seltsame Steinkugel nur Explosionen wie von einem Feuerwerk gezeigt, war fast selbst explodiert – den Anschein hatte es jedenfalls bei Markilan geweckt. Seit wenigstens drei Wochen hatte er diese magische Kugel nicht mehr angefasst, so hatte er sich erschreckt. Jeder seiner Diener machte um den Tisch mit dem geheimnisvollen Ding einen großen Bogen. Manchmal, so schien es dem König der Haradrim, zuckte immer noch ein Blitz durch den Palantír – völlig unberechenbar, ohne erkennbaren Grund. Nein, den Palantír konnte er nicht dazu benutzen, König Elessar auszuspionieren.
Dabei hatte ihm das Ding anfangs so gute Dienste geleistet. Markilan hatte sehen können, dass Aragorn fort geritten war, dass Faramir nicht in Ithilien war, was durchaus die Vorbereitungen für den Feldzug erleichtert hatte. Aber jetzt? Er konnte ihn nicht mehr benutzen. Nicht dafür, Elessar zu suchen, nicht dafür, Haduran zu suchen. Es war zum Verzweifeln! Unschlüssig und zornig stand Markilan vor dem dunklen Kristall, als er den schweren Schritt seines Feldherrn Sidaran hörte.
„Was willst du, Sidaran?“, fragte er grimmig, ohne den Feldherrn anzusehen.
„Eure Krieger erwarten Eure Anweisungen, mein Gebieter“, erklärte der Feldherr mit einer tiefen Verbeugung.
„Hast du Erkenntnisse, ob Haduran den Weg für die verfluchten Spitzohren und die ebenso verfluchten Flachsköpfe sperren konnte?“, fragte Markilan.
„Nein, Herr. Seit sie das Morannon passiert haben, gibt es keine Nachricht mehr. Aber, wenn Ihr mir die Bemerkung erlaubt, Ihr müsst in den nächsten Tagen eine Entscheidung treffen, ob wir weiterziehen und nach Ithilien vordringen oder ob wir zurückgehen, mein Gebieter.“
Markilan fuhr herum und blitzte seinen Feldherrn wütend an.
„Du wagst es, mir Befehle zu geben, du Wurm?“, schrie er. Sidaran wich zwar ob der Lautstärke des Königs ein Stück zurück, doch er blieb stehen und fiel keineswegs auf die Knie.
„Herr, es ist November! Bald wird es Winter sein. Gondor ist zwar wärmer als die anderen Gebiete Elessars, aber auch hier fällt Schnee. Eure Männer sind zu allem bereit, aber einen Winter auf freiem Feld überstehen sie nicht. Die Temperaturen, die in Gondor im Winter herrschen, sind Eure Soldaten nicht gewöhnt. Bitte, bedenkt das“, erwiderte der Feldherr, allen Mut zusammennehmend.
Der Mann hatte Recht, das war dem König der Haradrim nur zu klar. Sein Volk war zwar den heißen, trockenen Sommer gewöhnt, nicht aber die feuchte Kälte eines zwar milden, aber doch feuchten Winters. Die Winter in Harad waren wohl ebenfalls mild und niemals fiel Schnee oder gefror das Wasser, doch waren sie ebenso trocken, wie die Sommer. Die Kleidung seiner Krieger schützte sie wohl vor heißer Sonne, aber auszuprobieren, ob sie auch für durchdringende Nässe gut war, war ein großes Risiko. Markilan hatte – außer von Rhûn – keine Verstärkungen zu erwarten. Er konnte es sich nicht leisten, zu viele Männer allein durch widrige Wetterverhältnisse zu verlieren. Doch er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als das gegenüber seinem Feldherrn zuzugeben.
„Sende deine Späher aus, Sidaran. Wenn sie bis morgen Abend keine Spuren von Haduran entdecken, marschieren wir weiter nach Ithilien. Für den Fall der Fälle richten wir uns in Minas Morgul ein“, wies Markilan den Feldherrn an.
„Euch ist bekannt, dass dort ein Troll wohnt?“, fragte der Feldherr vorsichtig nach.
„Ja. Wir Haradrim haben von Trollen nichts zu befürchten. Wir standen auf der Seite Saurons, genau wie die Trolle“, entgegnete Markilan. Seine wedelnde Handbewegung, die darauf schließen ließ, dass er ein lästiges Insekt verscheuchen wollte, machte dem Feldherrn deutlich, dass er entlassen war und sich um seinen Auftrag kümmern sollte. Er verbeugte sich nochmals und verließ dann den König.
Am Tag darauf strebten die vereinigten Heere der Haradrim und der Rhûnrim dem Morannon zu, um Mordor zu verlassen und nach Ithilien weiterzugehen. Der Heerwurm war lang und zählte etwa fünfzehntausend Männer, die von etwa zehn Mûmakil begleitet wurden. Die unübersehbaren Olifanten waren denn auch das Erste, was die Wächter Faramirs von den vordringenden Truppen der Ostlinge zu sehen bekamen. Borothor, der örtliche Befehlshaber der fürstlichen Truppen Ithiliens, sandte sofort einen Reiter zum Henneth Annûn, um die Truppen Ithiliens gemäß dem Befehl des Statthalters zusammenzurufen und um den Angriff nach Minas Tirith zu signalisieren. Dort, oberhalb des Wasserfalls, war nach dem Ringkrieg auf Faramirs Anweisung ein Kreideturm errichtet worden, der die Kette der Leuchtfeuer in den Ered Nimrais ergänzte.
Selbst in den dichten Wäldern Ithiliens wurde der dichte Rauch des Tagessignals von nahezu jeder Ecke des Waldfürstentums gesehen, auch bei den Waldelben, die unter Legolas’ Regentschaft in Ithilien eine Heimat gefunden hatten. Gildor, jener Elb, der Frodo, Sam, Merry und Pippin nach ihrem Aufbruch aus dem Auenland die erste Hilfe gewährt hatte, bevor sie in Bree Aragorn getroffen hatten, hatte sich mit seinen Gefährten Legolas angeschlossen und war in Abwesenheit des Elbenprinzen sein Stellvertreter.
„Arandun, i charadrim a rhûnrim! I beleth tôl o rhuven![66]“, meldete Gilion, der oberste Wächter, Gildor. Legolas’ Stellvertreter wies den Wächter an, alle verfügbaren Männer marschbereit zu machen und unverzüglich Borothor zu Hilfe zu eilen.
Borothors Signal blieb auch in Minas Tirith nicht unentdeckt. Beregond, der in der Veste mit der täglichen Einteilung der Wachen beschäftigt war, sah die dunkle Rauchwolke, die sich über dem Henneth Annûn erhob.
„Es geht los“, sagte er. „Sie kommen!“
Eilig winkte er einen Wächter zu sich.
„Geh sofort zu Herrn Faramir und sage ihm, dass Haradrim und Rhûnrim die Grenze nach Ithilien überschritten haben!“, wies er ihn an. Der Wächter bestätigte den Auftrag und nur Minuten später war Statthalter Faramir auf der östlichen Spitze der Zitadelle.
„Sie kommen. Aber wie viele mögen es sein? Können meine Ithilier standhalten?“, fragte der Statthalter. Beregond zuckte mit den Schultern.
„Das Signal sagt nur, dass wir angegriffen werden; aber die Anzahl der Angreifer ergibt sich daraus nicht.“
„Halte Ausschau, ob ein Reiter kommt. Wenn bis heute Abend keiner hier ist, sende einen Reiter zu Borothor!“, wies Faramir Beregond an.
Der Reiter, den Borothor ausgesandt hatte, ritt eilig nach Minas Tirith weiter, nachdem er das Signal veranlasst hatte und erreichte Gondors Hauptstadt am Nachmittag, so dass Beregond niemanden aussenden musste. Der diensthabende Turmwächter brachte den Reiter gleich zu Faramir in den Weißen Turm.
„Herr, die Haradrim und die Rhûnrim kommen!“
„Das Signal habe ich gesehen. Wie viele sind es?“, erwiderte Faramir.
„Wir haben fünfzehntausend gezählt. Außerdem haben sie zehn Olifanten bei sich. Gildor und seine Waldelben haben sich bereits zu uns gesellt. Borothor bemüht sich, sie aufzuhalten“, meldete der Reiter. Faramir nickte.
„Gut. Beregond: Die Hälfte der Fußtruppen soll sich bereitmachen, um Ithilien zu schützen. Die andere Hälfte und die Turmwächter besetzen sofort die Mauern von Minas Tirith. Schickt Boten nach Lebennin, damit wir auch von dort Hilfe bekommen. Und zündet die Leuchtfeuer, damit Rohan alarmiert wird!“, befahl der Statthalter. Seine Männer liefen aus dem Weißen Turm, um ihre Aufträge zu erfüllen. Faramir sah noch einen Moment zweifelnd auf den schwarzen Palantír, den er aus Aragorns Arbeitszimmer oben im Turm in die Halle gebracht hatte. Dann schlossen sich seine Hände um die dunkle Kristallkugel.
Edoras wimmelte wie ein Ameisenhaufen – ein Ameisenhaufen, der sich ausgebreitet hatte. Nach Gandalfs Ankunft hatte Éomer keinen Moment gezögert, sein Heer marschbereit zu machen. Das, was Gandalf ihm erklärt hatte, hinterließ beim König der Mark nicht den geringsten Zweifel, dass es wieder an der Zeit war, Eorls Eid treulich zu erfüllen. In einem Umkreis von wenigstens zehn Meilen zu Füßen der Hauptstadt Rohans breiteten sich Zeltstädte aus, in denen die Eorlingas sich zur Heerschau versammelten. Es war ein klarer, kalter Herbstmorgen in der dritten Novemberwoche, an dem König Éomer von der Plattform vor der Goldenen Halle Meduseld auf das unterhalb der Stadt versammelte Heer sah.
„Ich schätze, Aragorn wird zufrieden sein, wenn er sieht, wie viele Eorlingas ihm diesmal zur Verfügung stehen“, sagte Éomer mit einem grimmig-entschlossenen Ausdruck im Gesicht. Sein Blick ging zu Gandalf, der auf seinen weißen Stab gestützt neben ihm stand. Das, was sich dort unten versammelte, war mindestens doppelt so stark wie der Heerbann, den König Théoden für den Entsatz von Minas Tirith im Ringkrieg aufgeboten hatte.
Auf der Ebene, die sich nördlich von Edoras bis in die blaue Ferne erstreckte, in der die südlichsten Hügel der Ödlande nur zu ahnen und die südlichen Ausläufer des Nebelgebirges gerade noch an den weißen Spitzen erkennbar waren, zeigten sich zwei kleine Punkte, die in schnellem Tempo dem Reitweg zustrebten, der nach Edoras hinaufführte. Gandalf kniff die Augen zusammen.
„Boten von Aragorn …“, murmelte der Zauberer. „Hoffentlich mit guten Nachrichten“, setzte er dann hinzu.
„Gamling, lass’ Elessars Boten gleich zu mir vor!“, wies Éomer seinen obersten Wächter an. Gamling verneigte sich ehrerbietig.
„Ja, mein Gebieter“, bestätigte er.
Kaum eine Stunde später standen Celdor und Dwiher vor König Éomer in der Goldenen Halle.
„Bringt Ihr Kunde von König Elessar?“, fragte Éomer.
„So ist es, Éomer, König der Mark. König Elessar ist mit einer größeren Anzahl von Elben und Menschen sowie einigen Orks auf dem Weg hierher. Er hat zwei Schwerverwundete bei sich, die er der Obhut Eures Volkes anvertrauen möchte, bis sich die Situation in Minas Tirith geklärt hat“, erklärte Celdor.
„Moment: Aragorn hat Orks bei sich? Ist er von Sinnen?“, keuchte Éomer.
„Durchaus nicht, mein Herr Éomer. Sie haben ihm Treue geschworen; Eschnách, der Anführer dieser Orks, hat unter Einsatz seines eigenen Lebens das des Elbenkönigs Thranduil gerettet. Die Elben waren sehr misstrauisch, was diese Orks betraf, aber nach diesem Beweis ihrer Treue sind zumindest König Thranduil und sein Sohn Legolas anderer Meinung. Herr Aragorn führt auch diverse Gefangene mit sich. Haradrim, die uns nächtens überfielen und die dabei in Gefangenschaft gerieten. Er bittet Euch, diese einstweilen sicher zu verwahren. Ihr Anführer, Prinz Haduran, ist der zweite Schwerverwundete“, sagte Dwiher. Éomer sah zu Gandalf.
„Kannst du mir etwas dazu sagen, Meister Gandalf?“
„Wozu?“
„Seit wann vertragen sich Menschen und Elben mit Orks?“
„Seit Arnor und Gondor einen weitsichtigen König haben, der nicht nur das Äußere sieht, mein Freund“, schmunzelte Gandalf. „Seit langem ist bekannt, dass Sauron und vor ihm Morgoth Elben fangen ließ und sie durch grauenhafte Behandlung und Hexerei zu dem machte, was wir als Orks kennen. Saruman ging noch ein Stück weiter und schuf aus Orks und Bilwissmenschen von Dunland seine Uruk-hai. Doch nicht alle, die dieser entsetzlichen Folter unterworfen wurden, verloren ihren Verstand. Es gibt einige, die sich widersetzt haben – unter anderem die, mit denen Aragorn herkommt.“
Éomer seufzte.
„Täusche ich mich, oder war im Ringkrieg noch alles einfacher? Es gab die Freien Völker Mittelerdes, zu denen die Menschen, die Elben und die Hobbits zählten – und es gab Saurons und Sarumans Unwesen, die es zu bekämpfen galt. Gilt das etwa nicht mehr?“
„Ja, du hast Recht. Im Ringkrieg war es alles einfacher. Dennoch haben gerade im Ringkrieg auch Menschen auf der Seite des Bösen gestanden, vielleicht mehr oder weniger freiwillig. Denk nur an die Dunländer oder die Haradrim oder das Volk von Rhûn.“
Éomer nickte.
„Ja, das stimmt, Gandalf. Gut. Berichtet König Elessar, er kann seine Verwundeten in Edoras lassen. Berichtet ihm auch, dass das Heer von Rohan marschbereit ist.“
Dwiher und Celdor verneigten sich und wollten gehen, doch eine Handbewegung Gandalfs ließ sie stehen bleiben.
„Sagt Aragorn auch, dass ich gefunden habe, wonach zu suchen er mich gebeten hat. Sagt ihm, es gibt Hoffnung.“
Die beiden Boten verbeugten sich noch einmal und waren wenig später schon wieder auf dem Weg zu Aragorn – allerdings nicht, ohne sich selbst und ihre Pferde entsprechend zu stärken.
„Was für eine Hoffnung meinst du, Gandalf?“, fragte Éomer, als die beiden Boten gegangen waren. Bevor Gandalf antworten konnte, wurde die Tür der Halle aufgestoßen und Gamling stürzte atemlos herein.
„Herr! Das Feuerzeichen! Gondor ruft um Hilfe!“
Kapitel 15
Hoffnung
„Das war zu erwarten, nachdem, was du schon gesagt hast, Gandalf. Gamling, sende einen Boten zu dem nächstgelegenen Leuchtfeuer Gondors. Wenn das Signalfeuer dort erloschen ist, soll es eine Bestätigung an Faramir geben, dass die Eorlingas bereit sind und kommen werden“, wies Éomer den Höfling an. Gamling verbeugte sich und eilte hinaus, um die Weisung seines Herrn zu erfüllen.
Zwei Tagereisen entfernt zog Aragorn mit seinen Begleitern im Schritttempo in Richtung Edoras. Immer wieder mussten sie halten, um den insgesamt fünf Schwerverwundeten eine Pause zu gönnen. Die gefangenen Haradrim bemerkten zu ihrer großen Verblüffung, dass Aragorn sich selbst um die Verwundeten bemühte und offensichtlich alles tat, um deren Leben zu erhalten. Haduran war inzwischen aus seiner Bewusstlosigkeit aufgewacht. Die Wunde an seiner rechten Seite schmerzte, als er sich leicht drehte.
„Du solltest dich besser nicht bewegen“, mahnte Aragorn und hielt ihn vorsichtig fest.
„Warum … warum tust du das, Elessar? Ich bin … dein Feind.“
„Du bist zunächst einmal ein Mensch; dann jemand, der Hilfe braucht – und erst zuletzt jemand, der mit dem Schwert auf mich losgegangen ist“, erwiderte Aragorn.
„Du hast nicht … immer … so gedacht“, erinnerte der haradische Prinz.
„Nein, das ist wahr. Aber ich habe gelernt und festgestellt, dass es falsch ist, ein Wesen nur nach seinem Äußeren zu bewerten – ja sogar, nach seiner Herkunft zu beurteilen.“
„Du hast meinen Bruder getötet.“
„Wenn du jetzt erwartest, dass ich deshalb um Entschuldigung bitten werde, weil ich heute eine andere Meinung von der Beurteilung anderer Wesen habe, irrst du dich vermutlich. Bis auf eine Ausnahme habe ich in meinem Leben nur dann zugeschlagen, wenn ich angegriffen wurde. Und diese Ausnahme war nicht dein Bruder. Er hat mich wie du als seinen Feind betrachtet und entsprechend behandelt, schätze ich.“ entgegnete der König.
„Du weißt, wer ich bin, oder?“
Aragorn nickte.
„Du bist Haduran, der zweitälteste Sohn Markilans. Dein Schlangenwappen war ja nicht zu übersehen.“
„Was wirst du tun?“
„Du erwartest doch nicht wirklich, dass ich dir das offenbare, Haduran, Markilans Sohn, oder?“, versetzte Aragorn mit einem spöttischen Grinsen. Haduran wurde rot und schwieg beschämt.
Aragorn ging weiter und kam zu Eschnách, der nach wie vor ohne Bewusstsein war.
‚Echnorn!‘, korrigierte er sich in Gedanken, als er Legolas dort sitzen sah. Der Elb sah nicht sehr glücklich aus.
„Wie geht es ihm?“, fragte Aragorn. Legolas schüttelte den Kopf.
„Gar nicht gut. Er scheint Fieber zu haben.“
Aragorn sah genauer hin. Eschnách schien größer geworden zu sein – und gerader.
‚Er hat sich verändert‘, dachte er. ‚Sieht aus, als wäre er gewachsen … Scheint, als wäre er auch nicht mehr so tiefschwarz. Nein, das muss ein Irrtum sein …‘, dachte er, setzte sich an die andere Seite und kontrollierte vorsichtig den Verband. Er saß fest und war äußerlich sauber. Der Ork atmete schwer. Als Aragorn ihn leicht an der Stirn berührte, spürte er die starke Hitze des Fiebers. Eschnách bewegte sich und schlug die Augen auf.
„Nin laug[67]“, flüsterte er matt. Aragorn und Legolas sahen sich verblüfft an. Die Stimme hatte mit dem heiseren, schwer verständlichen Krächzen eines Ork nicht viel gemein. Eschnách hatte schon in Khazad-dûm gut verständlich gesprochen, aber immer noch mit dem typischen Ork-Krächzen in der Stimme. Was sie jetzt hörten, klang der Stimme von Legolas sehr viel ähnlicher als noch vor wenigen Tagen – auch im Tonfall.
„Harnen long ech[68]“, erwiderte Aragorn leise. Es war ein Versuch, wie weit Echnorn wieder Sindarin verstand. Der Verwundete nickte.
„Iston. Legolas, mas Firwen?[69]“
Der Elb konnte nicht antworten. Er schluckte hart und wandte sich ab. Eschnách wollte sich aufrichten, aber Aragorn hinderte ihn.
„Sedho, Echnorn. Aniratham Firwen[70]“, versprach er leise.
„Hannon le.“
Eschnách schloss die Augen wieder.
Aragorn stand auf und trat zu Legolas, der ein paar Schritte weiter stand.
„Man garich?“, fragte er. Als Legolas sich nicht umdrehte, begriff Aragorn, dass der sonst so kühle Elb von seinen Gefühlen überwältigt wurde. Er legte ihm mitfühlend eine Hand auf die Schulter und schwieg.
„Iston si: Hon munidor nîn. Echnorn mill Firwen a hen mill chon[71]“, brachte Legolas kaum hörbar hervor.
„Valinor?“, fragte Aragorn. Legolas drehte sich um und schüttelte den Kopf. Er hatte immer noch Tränen in den Augen.
„Nein“, erwiderte der Elb in der Gemeinsprache. „Sie liebt ihn so sehr, dass sie nie aufgehört hat, auf seine Rückkehr zu warten.“
„Ist sie hier?“, fragte der König weiter.
„Ja. Aber ich kann ihr nicht … das … nein, das kann ich nicht. Das kann ich ihnen beiden nicht zumuten“, wehrte Legolas ab. Aragorn sah wieder zu Eschnách.
„Echnorn spricht wieder Sindarin. Ich höre den Akzent des Düsterwaldes bei ihm. Hast du ihm vor seiner Verwundung noch Unterricht gegeben? Oder jemand anders?“
„Nein. Vor dem Angriff wollten meine Verwandten die Orks nicht in ihrer Nähe haben. Ich habe seit dem Verlassen von Khazad-dûm kaum mit ihm gesprochen.“
„Legolas, hier geschieht etwas. Ich kann es selbst noch nicht recht glauben, aber …“
„Du meinst … die Rückverwandlung …“, fragte Legolas ungläubig. Aragorn zuckte mit den Schultern.
„Wirklich, ich bin mir nicht sicher“, murmelte er. „Wir sollten uns beeilen, nach Edoras zu kommen. Vielleicht hat Gandalf inzwischen etwas herausgefunden.“
Ein heftiges Winken von Frodo forderte Aragorns Aufmerksamkeit. Der Hobbit saß auf seinem Pony neben Brego und hatte wohl mit Arwen gesprochen. Jetzt wies er hektisch auf den Lichtschein, der aus Aragorns Satteltasche drang. Aragorn sprang mit langen Sätzen zu seinem Pferd und hatte gleich den leuchtenden Palantír in der Hand.
„Faramir, ich grüße dich!“, sagte der König, als er das vertraute Gesicht seines Statthalters sah.
„Ich grüße dich ebenfalls, mein König. Aragorn, der Angriff beginnt. Ithilien wird schon von den Haradrim angegriffen“, erwiderte Faramir.
„Wir sind auf dem Weg. In ein oder zwei Tagen müssten wir in Edoras sein. Wir lassen die Verwundeten dort und kommen so schnell es möglich ist nach Minas Tirith.“
„Gut. Wir sind soweit vorbereitet. Borothor und Gildor in Ithilien versuchen standzuhalten, solange es geht. Ich werde ihnen mitteilen, dass sie versuchen sollen, die Haradrim auf das Fennfeld zu locken. Aber es sind viele. Fünfzehntausend, hat Borothor übermitteln lassen.“
Aragorn schluckte. In Ithilien hatte Faramir kaum zweitausend Männer stationiert, die Waldelben konnten etwa fünfhundert Krieger aufbieten.
„Deine Idee ist gut. Wir beeilen uns!“, versprach er nochmals.
Arwen sah ihren Mann an und bemerkte, dass er heftig mit sich kämpfte.
„Ich sehe es dir an: Du überlegst, wie du die Frauen und die Verwundeten möglichst gut geschützt nach Edoras bringst, ohne jemanden wegzuschicken, den du brauchst“, sagte sie. Aragorn sah sie geradeheraus an.
„Du kennst mich gut. Ja, genau das überlege ich“, erwiderte er.
„Reiter! Dwiher und Celdor sind zurück!“, rief Bergil, der Arwen ebenso nicht von der Seite wich, wie die Hobbits es nicht taten. Aragorn schwang sich in den Sattel und winkte die Boten zu sich. Dwiher berichtete ihm kurz, dass in Edoras praktisch alles vorbereitet war.
„Gandalf trug uns noch auf, Euch zu sagen, er habe gefunden, wonach Ihr ihn zu suchen gebeten habt“, ergänzte Celdor Dwihers Bericht an den König. Aragorns Gesicht leuchtete auf.
„Den Valar sei Dank!“, stieß er hervor. Er drehte sich um und winkte nach Galhir, der schnell herbeikam.
„Galhir, du nimmst dir Bergil, die Hobbits und die Orks sowie zehn Turmwächter. Ihr bringt die Frauen der Elben, die Königin, die Verwundeten und die Gefangenen nach Edoras. Éomer wird wohl Gamling als Statthalter zurücklassen. Richte Herrn Gamling meine Grüße aus und bitte ihn, die Gefangenen gut zu verwahren, damit sie nicht flüchten und für eine gute Behandlung der Verwundeten zu sorgen. Besonders Eschnách und Haduran brauchen gute Pflege.“
„Herr, Haduran ist ein Harader!“, erinnerte Galhir.
„Das habe ich nicht vergessen, mein Freund. Aber ich will mit Harad Frieden. Wenn wir die Gefangenen gut behandeln, sollte auch Markilan einmal erkennen, dass Gondor nicht sein Feind sein will“, entgegnete Aragorn.
„Nein, Herr. Gondor will vielleicht nicht der Feind Harads sein, aber ich fürchte, Harad will der Feind Gondors sein“, versetzte der Hauptmann.
„Weise gesprochen, Hauptmann Galhir. Entweder Markilan wird vernünftig – oder ich muss ihm Vernunft mit Andúril beibringen“, lächelte Aragorn. Galhir verbeugte sich. Aragorn winkte auch Gimli heran.
„Gimli, geh’ mit Galhir mit und hol’ deine Zwerge aus Aglarond. Folgt uns, so schnell ihr könnt.“
„Wir werden dort sein“, versprach der Zwerg.
„Dwiher, Celdor: Reitet zurück nach Edoras. Sagt Éomer, dass wir schon hier zum Fennfeld abgebogen sind und er uns mit seinem Heerbann folgen möge“, wies Aragorn seine Boten an, die den Auftrag bestätigten und gleich kehrt machten, um nach Edoras zurückzukehren.
„Frodo, Sam, Merry, Pippin!“, rief Aragorn die Hobbits. „Ich weiß, dass ihr keine Abenteurer seid“, fuhr er fort, als alle vier um ihn waren. „Ihr seid kleine Leute, und es könnte sein, dass man euch im Getümmel leicht übersieht. Ich möchte nicht, dass euch etwas zustößt. Ihr geht mit Galhir nach Edoras.“
„Aragorn, ich bin ein Soldat Gondors!“, protestierte Pippin. „Du kannst mich nicht einfach wegschicken!“
Aragorn sah ihn ernst an.
„Gerade, wenn du ein Soldat Gondors bist, wirst du diesem Befehl gehorchen, Peregrin Tuk!“, versetzte der König. „So, wie ich Galhir den Befehl gebe, nach Edoras zu gehen und die Verwundeten und die Frauen zu schützen, so gebe ich auch dir und Bergil diesen Befehl. Eine bessere Leibwache für Arwen wüsste ich nicht, als euch Hobbits und meinen Knappen. Ich bin sicher, auch im Namen König Éomers zu sprechen, wenn ich diesen Befehl auch Merry gebe, denn Éomer würde nicht dulden, dass Arwen nicht ihre kleinen Freunde um sich hat und von ihnen geschützt wird. Frodo und Sam kann ich nur bitten, das für mich zu tun, denn Herr Frodo Beutlin unterliegt nicht meinem Befehl, ebenso nicht der Herr Samweis Gamdschie.“
Pippin senkte den Blick und bekam von Sam einen kräftigen Stoß.
„Frodo und ich machen das für dich sogar freiwillig, Streicher. He, großer Krieger, Frodo und ich brauchen Unterricht, wie man eine Königin richtig bewacht. Und mach’ ja keinen Murks dabei!“
Pippin sah hoch und grinste.
„Merry und ich werden es euch Bauernburschen schon beibringen. Bergil hilft bestimmt noch mit, oder, Bergil?“, wandte Pippin sich an den Knappen.
Aragorn nutzte die lockere Unterhaltung der Hobbits mit Bergil und nahm Arwen auf die Seite.
„Arwen, ich habe eine Bitte an dich.“
„Du weißt, dass ich für dich fast alles tue, auch ohne, dass du einen großen Umweg gehst“, erwiderte sie. Er lächelte sanft.
„Ja, ich weiß. Ich gehe deshalb einen gewissen Umweg, weil du bei der letzten Erwähnung dieses Themas sehr erschrocken reagiert hast“, sagte er.
„Dann geht es um die Orks“, stellte die Königin fest.
„Ja, genau. Arwen … Gandalf … hat … möglicherweise den Weg gefunden, den zu suchen ich ihn gebeten habe. Wenn … wenn das möglich ist, was ich vermute … dann – bitte – ich weiß, dass Firwen unter den Elbenfrauen ist. Ich habe erfahren, dass … dass …
Aragorn verwünschte sich für sein Stottern, aber er hatte Schwierigkeiten seine Frau um diesen Gefallen zu bitten. Arwen lächelte leicht und legte ihm eine Hand auf den Arm.
„Ich weiß, was du meinst. Firwen und Echnorn waren verlobt, und sie liebten sich sehr. Echnorn geht es nicht gut und es wäre dein Wunsch, dass Firwen sich um ihn kümmert, versteh’ ich dich recht?“, fragte sie. Aragorns Lächeln wurde breiter.
„Es ist unmöglich, dir etwas zu verschweigen, Liebste. Du liest in mir wie in einem offenen Buch“, erwiderte er. „Würdest du das möglich machen?“
Arwen sah kurz zu Boden; als sie wieder hochsah, verschönte ein sehr schelmisches Lächeln ihre engelhaften Züge.
„Ja, ich kenne dich gut. Und ich kenne Legolas gut. Mit eben dieser Bitte ist er gerade bei mir gewesen. Ich werde die beiden zusammenbringen, sofern Gandalf Erfolg hatte. Sonst, denke ich, wäre es für beide nicht gut“, versprach sie.
„Hannon le, bereth nîn“, bedankte sich Aragorn und küsste seine Frau. „Namarië, muin nîn.“
„Namarië, Aragorn. Nai tiruvantel ar varyuvantel i Valar tielyanna nu vilya[72]“, erwiderte sie seinen Abschiedsgruß. Aragorn richtete sich im Sattel auf und winkte den Männern, die ihn weiter begleiten sollten.
„Wir wenden uns dem Schneeborn zu und reiten direkt zum Fennfeld!“, rief er.
Galhir, seine Schutzbefohlenen und seine starke Eskorte blieben an dem Lagerplatz zurück, während Aragorn und seine verbliebenen Begleiter in schnellem Galopp den Weg nach Südosten einschlugen. Dwiher und Celdor waren schon außer Sichtweite auf dem Weg nach Edoras. Dann erst gab der Hauptmann der Turmwache ein Zeichen und sein Zug setzte sich in Bewegung.
In Edoras durchmaß Éomer seine königliche Halle, als Gamling die Rückkehr der Königsboten meldete.
„Ihr seid schon wieder hier?“, fragte der König der Mark verblüfft.
„König Elessar hat sich mit seiner Schar von West-Emnet gleich zum Fennfeld gewandt. Faramir, der Statthalter Gondors will die Angreifer dorthin locken. Die, die König Elessar Eurem Schutz anvertrauen will, sind unter Begleitung von Hauptmann Galhir auf dem Weg hierher. König Elessar bittet Euch, ihm mit Euren Eorlingas zu folgen“, richtete Dwiher Aragorns Bitte aus.
„Er kommt nicht her?“, wunderte sich Gandalf.
„Nein“, wandte Celdor sich an den Zauberer. „Die, für die Ihr Hoffnung habt, sind bei Galhir. Er bittet Euch, Euch ihrer anzunehmen und ihnen die Hilfe zu geben, die sie brauchen.“
Kapitel 16
Athiaron
Es war längst dunkel, als Galhir mit seinen Turmwächtern, Königin Arwen, den Frauen der Waldelben, den Hobbits, den Orks und den Gefangenen in Edoras eintraf. Éomer hatte die Quartiere schon vorbereiten lassen. Nur nach gutem Zureden von Gandalf hatte er sich bereit erklärt, die Orks überhaupt nach Edoras hinein zu lassen.
Eschnáchs Stellvertreter Ashurtz war nicht wohl in seiner Haut angesichts der feindseligen Blicke, die sie allenthalben von den Rohirrim sahen. Orks waren seit ihrer Erschaffung durch Morgoth das Synonym für bösartige Wesen. Ashurtz konnte es den Menschen von Rohan nicht verdenken, nach allem, was geschehen war – wenngleich der wirklich ernsthafte Angriff auf Rohan von Uruk-hai und Dunländern geführt worden war. Doch jene Weiterentwicklung der Orks durch Saruman wurde in Rohan immer noch mit den Orks selbst gleichgesetzt und Orks dementsprechend ungern empfangen.
Der weiße Zauberer, der die Orks am Stadttor von Edoras in Empfang nahm, war ein wirklicher Lichtblick in den finsteren Mienen der Menschen, so empfand Ashurtz es. Ein sorgenvoller Blick des Ork ging zu seinem schwer verwundeten Gefährten Eschnách. König Elessar hatte sich so rührend um ihn bemüht, dass Ashurtz schon fast vergessen hatte, wie verhasst Orks bei den Menschen waren. Selbst die Elben König Thranduils, die in der Regel beim Anblick von Orks erst schossen und dann erst nach dem Begehr fragten, hatten sich wenigstens nach Eschnáchs Opfer aus ihrer Reserviertheit gelöst. Thranduil und sein Sohn Legolas waren Eschnách seither fast nicht mehr von der Seite gewichen.
Gandalf führte Ashurtz und die anderen Orks in ein größeres Haus in der Nähe der Goldenen Halle Meduseld. Der Zauberer hieß die beiden rohirrischen Wachen vor der Tür zu bleiben und schloss das große Tor. Die Orks blieben dicht zusammen, ihren verwundeten Anführer hielten sie in der Mitte.
„Orks von Moria!“, rief Gandalf und augenblicklich wurde es still unter den Orks. „Einst wart ihr Elben, bis ihr von Morgoths oder Saurons Häschern gefangen wurdet und unter entsetzlichem Leiden zu dem gemacht wurdet, was ihr jetzt seid. Würdet ihr wieder Elben werden wollen?“
Ashurtz trat einen Schritt vor.
„Ashurtz bin ich seit zweitausend Jahren und ich bin es noch heute. Ich habe entdecken können, dass ich einst Aranthaur, Gilions Sohn, war. Ich war ein Mann des schönen Volkes, ein Elb aus Lórien – und wenn es möglich ist, dann will ich, bei Manwe, wieder ein Elb sein. Niemand unter uns denkt anders!“, erklärte er.
„Seid ihr alle direkt aus Elben zu Orks geworden?“
„Ja“, erwiderte Ashurtz.
Gandalf erhob sich, richtete seinen Zauberstab auf die Orks, holte tief Luft. Ashurtz sah noch das Licht an der Spitze des Zauberstabes aufleuchten, vernahm noch ein Grummeln in einer Sprache, die er nicht verstand und dann wurde ihm schwindlig. Die Welt begann, sich zu drehen, immer schneller, bis er zu Boden fiel und das Bewusstsein verlor. Doch diesmal quälte ihn kein unsagbarer Schmerz wie bei seiner Verwandlung in den Ork, der er jetzt war – er fühlte sich leicht und schwebend, sah den blauen Himmel über sich, dann einen sternenübersäten Nachthimmel und wieder den blauen Himmel des Tages.
Gandalf sah die Orks nach dem Zauberspruch zusammenbrechen. Sie wanden sich wie in unerträglichen Qualen, schrien in allen denkbaren Sprachen – und veränderten sich. Sie wurden gerade und groß, die schwarze Orkhaut verblich zu der hellen Haut der Elben. Selbst die dünnen Haare der Orks veränderten sich zu dichten Haarschöpfen, die in wenigen Minuten wuchsen, wie der Istar zu seiner Verblüffung feststellte. Allerdings blieben die Haare dunkel, was Gandalf zunächst annehmen ließ, dass es sich bei den Verwandelten um Verwandte der Bruchtaler Elben des Hauses von Elrond handelte, die durchweg dunkle Haare hatten. Doch als Ashurtz/Aranthaur wieder zu sich kam und die Augen öffnete, sah Gandalf, dass er braune Augen hatte – Elben hatten sonst alle blaue Augen, selbst die dunkelhaarigen Elben aus Elronds Verwandtschaft.
Die wiedergeborenen Elben erwachten nach und nach. Die Ork-Rüstungen passten nicht mehr und alle warfen sie möglichst schnell ab, nachdem sie entdeckt hatten, dass Gandalf Umhänge hatte bereitlegen lassen.
„Mae govannen ned Rohan, edhil![73]“, begrüßte Gandalf die Wiedergeborenen. Die Neuelben sahen sich ebenso verblüfft wie glücklich an, lachten und weinten vor Freude.
„Hannam le, Mithrandir, Istar glân![74]“, dankte Aranthaur stellvertretend für alle, doch nach und nach kamen alle zu Gandalf und dankten ihm persönlich. Der Zauberer konnte selbst die Freudentränen nur schwer unterdrücken.
„Ich kann zaubern, doch der Dank gebührt Elessar Telcontar. Ohne seinen festen Glauben, dass es möglich ist, Orks wieder zu Elben zurück zu verwandeln, hätte ich wohl nie daran gedacht“, gab er zu. Aranthaur sah den Zauberer eine Weile an.
„Nur du, Mithrandir, kannst zugeben, dass es nicht deine Idee war. Und das ehrt dich in besonderer Weise. Wir werden umgehend nach Minas Tirith aufbrechen und König Elessar gegen seine Feinde beistehen“, sagte er.
„Ich habe gesehen, dass ihr auf Wargen gekommen seid. Könnt ihr die in eurer Elbengestalt weiter reiten? Elben und Warge passen nicht zusammen“, warnte Gandalf. Aranthaur lächelte so überirdisch, wie nur ein Elb lächeln konnte.
„Ja, wir werden sie weiterhin reiten. Wir kennen sie gut, wenngleich sie sich wohl an unsere jetzige Gestalt erst gewöhnen müssen“, erwiderte er. Dann erlosch das schöne Lächeln. „Die Rückverwandlung hat uns die Elbengestalt wiedergegeben, aber unsere Erinnerungen nicht so verwischt, wie es Saurons Marter einst tat. Wir werden mit den furchtbaren Erinnerungen an unser Leben als Orks weiterleben müssen. Als wir Orks waren, war die Erinnerung an unser Elbendasein nur eine schwache Ahnung; wir konnten nicht einmal mehr unsere Sprache sprechen oder verstehen. Die jetzige Rückverwandlung hat wohl nicht alle Spuren des Orkischen in uns vernichtet; schon, wenn ich sehe, dass unsere Augen nicht blau sind, sondern braun. Die meisten von uns waren einmal blond, nur zwei oder drei von uns sind aus Elronds Haus und deshalb von Natur aus dunkelhaarig.“
„Der Zauber allein kann euch nicht vollständig befreien“, erwiderte Gandalf. „So, wie eure ursprüngliche Verhexung euch nicht allein zu Orks gemacht hat. Es bedurfte auch der grauenhaften Qualen, die euch über einen längeren Zeitraum zugefügt wurden, um euch völlig zu Orks zu machen. Umgekehrt bedarf es auch einer längeren, freundlichen Behandlung, auch die letzten Spuren des Orkischen aus euch zu tilgen. Es wird nicht von heute auf morgen gehen, mein Freund“, erklärte der Istar. Aranthaur fand sein schönes Lächeln wieder.
„Es hat aber auch den Vorteil, dass wir das Orkische nach wie vor sprechen und verstehen können. So können wir auch unsere Warge weiter mit orkischen Kommandos lenken. Das wird es ihnen erleichtern, Elben als Reiter zu akzeptieren“, sagte er dann.
Gandalf nickte und sah über die glückliche Elbenschar. Das Gesicht des Verwundeten kam ihm bekannt vor. Im ersten Moment glaubte der Zauberer zu seinem Schrecken, es sei Legolas. Doch dann erinnerte er sich an das Gespräch mit Aragorn und auch daran, dass Thranduil seinen jüngeren Sohn seit einem Kampf mit Saurons Orkscharen vermisst hatte und dass sein Bruder Legolas ihn trotz jahrzehntelanger Suche nie gefunden hatte. Gandalf erinnerte sich an den Elbenprinzen, der in dem für Elben jugendlichen Alter von knapp siebenhundert Jahren verschollen war.
„Echnorn!“, entfuhr es Gandalf leise. Aranthaur seufzte schwer.
„König Elessar hat alles getan, was er tun konnte, nachdem Echnorn sich schützend vor seinen Vater warf und durch den Pfeil schwer verwundet wurde, der König Thranduil treffen sollte. Aber trotz seiner Heilkunst will das Fieber nicht weichen.“
Gandalf ließ sich neben Echnorn nieder und legte ihm die Hand auf die Stirn. Sie war heiß.
„Aranthaur, ich habe unter den Frauen aus dem Düsterwald Firwen gesehen. Weiß sie, dass Echnorn hier ist?“
„Nicht von mir. Ich habe nicht gewagt, sie überhaupt anzusprechen.“
„Folge mit deinen Gefährten Elessar. Ich werde mich darum kümmern, dass Echnorn entsprechende Pflege bekommt und euch dann mit den Zwergen folgen.“
„Hannon le, Mithrandir“, erwiderte Aranthaur und verneigte sich.
Er und seine Gefährten verließen das Haus, das sie von nun an den Ort ihrer Wiedergeburt nannten. Die Rohirrim, die vor dem Haus wachten, mochten ihren Augen nicht trauen, als statt der hässlichen und verhassten Orks Elben herauskamen. König Éomer hatte Tränen in den Augen, als er die Männer des schönen Volkes auf ihren grundhässlichen Wargen die Stadt verlassen sah. Sie gesellten sich zu den Eorlingas unten in den Heerlagern vor den Toren von Edoras.
„Ich hätte wissen müssen, dass Elessar sich nicht mit seinen Feinden einlässt. Es musste etwas an ihnen gewesen sein, das ihn von ihrer Lauterkeit überzeugt hat“, sagte er.
„Willst du wissen, was das war, mein Freund?“, erkundigte sich Gandalf.
„Durchaus.“
„Dann bitte Königin Arwen her und folge mir in das Haus, das du mir für die Wiedergeburt der Elben gegeben hast.“
Wenig später waren Éomer und Arwen mit Gandalf bei dem wieder bewusstlosen Echnorn.
„Ich erinnere mich, dass Legolas und Echnorn viel Ähnlichkeit miteinander hatten, aber dass sie so groß war, wusste ich nicht mehr“, sagte die Königin, als sie dem verwundeten Elben ins Gesicht sah. Die Brüder hätten fast Zwillinge sein können – von Größe, Gestalt und Angesicht, obwohl sie gut zweihundert Jahre Lebensalter trennten. Im Moment bestand der erkennbare Unterschied nur in Echnorns dunklem Haar, den nussbraunen Augen – und den schrecklichen Narben, die als Folge der grauenvollen Marter in Saurons Gewalt zurückgeblieben waren.
„Es wird bei allen zurückverwandelten Elben noch vieler Jahre bedürfen, bis die letzten Spuren ihres Orkdaseins verschwunden sind. Vielleicht werden sie es sogar nie ganz verlieren, so wie sie in einer versteckten Ecke tief in sich trotz der Verwandlung in Orks auch immer Elben geblieben sind“, erklärte Gandalf.
„Woher weißt du das?“, fragte Éomer.
„Es gibt eine Spruchformel, die auf mir nicht bekannten Wegen zu Saruman gekommen ist. Diese Spruchformel diente Morgoth und Sauron dazu, Elben in Orks zu verwandeln. Doch sie allein reichte nicht aus. Beide griffen daher zusätzlich zu grausamem Schmerz, der die gefangenen Elben der Spruchformel erst zugänglich machte … Du kannst dir kaum vorstellen, was diese Elben erdulden mussten, ich will es auch nicht näher beschreiben. Sieh dir nur die Narben an, die Echnorn davon zurückbehalten hat, und du kannst dir eine vage Vorstellung von den Qualen machen, denen er und alle, die zu Orks gemacht wurden, ausgesetzt waren. Saruman fand aber heraus, dass eine Umkehrung dieses Spruchs und eine entsprechend sanfte Behandlung die Verwandlung rückgängig machen konnte. Doch hatte er es mit Orks zu tun, die erst vor kurzem der Verwandlung unterworfen wurden. Er konnte sie vollständig zurückverwandeln. Die jetzt zurückverwandelten Elben waren sehr lange Orks. Echnorn lebte wenigstens zweitausend Jahre in dieser Gestalt.“
„Wie bist du an diese Formel gekommen?“, erkundigte sich der König der Mark interessiert.
„Aragorn hatte mich gebeten, in den Schriftrollen, die er dir zur Verwahrung übergeben hat, nach solchen Erkenntnissen Sarumans zu suchen und ich habe sie gefunden“, erklärte Gandalf.
„Aber wie ist er nur darauf gekommen?“, bohrte Éomer weiter.
„Aragorn und Legolas sind seit langer Zeit gute Freunde – nun, für Menschen jedenfalls sehr lange Zeit. Sie verstehen sich blind und einer kann die Nähe des anderen spüren, selbst wenn er ihn noch nicht sehen kann. Aragorn erzählte mir in Bruchtal von der Begegnung mit den Orks in Moria und von einem seltsamen Gespür. Er hatte nämlich das Gefühl, dass Legolas gleich zweimal da war. Legolas selbst muss auch etwas bemerkt haben. Aber du kennst unseren Elben. Er redet nicht viel. In dem Fall ist er aber in tagelanges völliges Schweigen verfallen. Und das ließ Aragorn erst richtig stutzig werden. Legolas hat ihm dann von seinem verschwundenen Bruder erzählt. Aragorn hat dann nachgedacht und sich gefragt, ob diese Verwandlung nicht rückgängig zu machen sei und hatte mich gebeten, in Sarumans Aufzeichnungen danach zu suchen, weil er die Ahnung hatte, Saruman könnte etwas darüber gewusst haben. Und er hatte durchaus Recht damit.“
„Diese wiedergeborenen Elben werden eine sehr liebevolle Behandlung brauchen, um von der Schwärze des Bösen endgültig zu genesen. Besonders Echnorn, weil er noch als Ork verwundet wurde. Aragorn konnte ihm wohl nicht so helfen, wie er es sich gedacht hatte, weil es sich um Orks handelte“, bemerkte Arwen. „Bisher hat er seine Heilkunst nie an verwundeten Unwesen Saurons erprobt, sondern immer an Angehörigen der Freien Völker Mittelerdes. In den Orks war Saurons Schwärze, die sogar Athelas und Aragorns heilenden Händen widerstanden hat. Die Selbstheilungskräfte des elbischen Bluts werden sich durchsetzen können, sofern das noch im Unwesen entstandene Fieber zu brechen ist. Er braucht dringend einen Verband mit frischem Athelas und vor allem Ruhe und liebevolle Behandlung. Éomer, ich bitte dich, diesem Elb, der mir und meinen Brüdern auch ein guter Freund ist, deine Gastfreundschaft zu gewähren.“
Éomer lächelte die Königin freundlich an.
„Die Zeiten haben sich geändert, schöne Arwen. In der Mark muss man nicht mehr um Freundschaft betteln, wie Aragorn es noch tun musste, als er, Legolas und Gimli mir in meiner Verbitterung nach meiner Verbannung über den Weg liefen und wir sie beinahe aufgespießt hätten. Echnorn wird ein Gemach erhalten, das seiner königlichen Herkunft angemessen ist. Die Räume meines Vetters Théodred stehen seit seinem Tod leer. Wenn Echnorn dort genesen kann, wird dort auch wieder der Geist des Lebens einziehen können.“
Der Morgen graute, als die beiden rohirrischen Wächter Echnorn in den königlichen Palast hinauftrugen. Éomer und Gandalf begleiteten ihn bis dorthin, überzeugten sich, dass Echnorn dort gut untergebracht war, bevor sie sich kurz vor Sonnenaufgang zu dem versammelten Heerbann der Mark begaben. Die Sonne berührte eben die Goldene Halle von Meduseld, als unten in der Ebene die Heerhörner der Eorlingas erschallten und das Heer der Mark sich beeilte, Gondor zu Hilfe zu eilen. Arwen suchte währenddessen die Quartiere der elbischen Frauen auf, um Firwen von der Rückkehr ihres Geliebten zu unterrichten.
[Die folgende Sequenz bis zum Ende des Kapitels spielt unter Elben, die stets Sindarin sprechen. Der gesamte Dialogtext müsste deshalb konsequenterweise in Sindarin sein. So sehr ich diese Sprache liebe: Dies würde den Text doch zu stark mit Sindarin überfrachten. Ich habe mir daher erlaubt, diese Sequenz ins Westron bzw. ins Deutsche zu übertragen … Obendrein ist das Sindarin, so wie Tolkien es uns hinterlassen hat, keine Sprache, die eine wirklich fließende Verständigung ermöglicht. Anm. d. Verf.]
Firwen war eine Elbin aus dem Düsterwald, eine Tochter von Torvregil. Torvregil gehörte seit der Gründung des Waldelbenreiches im Großen Grünwald zu Thranduils Räten, war wie der König der Waldelben selbst vom Volk der Sindar. Firwen und Echnorn kannten sich infolgedessen seit ihrer Kindheit. Als sie älter geworden waren, war aus der Kinderfreundschaft mehr geworden. Dennoch hatte der jüngere Sohn Thranduils lange gezögert, bei ihrem Vater um ihre Hand anzuhalten. Einerseits ließen sich Elben von ihrer Natur her viel Zeit, den einzig wahren Lebenspartner auszuwählen. Schließlich war eine Ehe unter Elben wirklich für alle Zeit der Welt gedacht; da bedurfte es bei der Wahl des richtigen Partners besonderer Sorgfalt. Andererseits schickte es sich auch unter Elben nicht, dass der jüngere Sohn vor dem älteren heiratete. Und genau hier lag das Problem, denn Legolas war noch nicht verheiratet, als Echnorn schon in Firwen verliebt war.
Als Thronfolger musste Legolas in der Wahl seiner künftigen Königin überaus vorsichtig sein, um keine Differenzen unter den Elbenvölkern zu provozieren. Der Großteil des Waldelbenvolks gehörte zu den Nandor, die das Nebelgebirge nie überquert hatten und die deshalb von den in den Westen gegangenen Elbenvölkern zuweilen als etwas minderbemittelt betrachtet wurden. Auch die Sindar wurden von den hochelbischen Völkern Vanyar und Noldor Moriquendi, Dunkelelben, genannt, weil sie im Ersten Zeitalter zwar bis an die Küsten von Beleriand gewandert waren, die Reise nach Valinor aber nicht mitgemacht hatten und das Licht der Zwei Bäume nie gesehen hatten. Moriquendi war eine abwertende Bezeichnung, die die Hochelben durchaus auch beleidigend eingesetzt hatten.
Doch die Sindar ihrerseits legten gegen die Nandor ebenfalls zuweilen ein recht hochmütiges Gebaren an den Tag – abgesehen von jenen, die sich mit den Nandor zum Volk der Waldelben vereinigt hatten. Das Volk der Waldelben bestand aus einer kleinen Oberschicht von Sindar und der breiten Menge von Nandor, doch war diese Verbindung eben freiwillig zu Stande gekommen. Insofern war es für den Sindar-Sohn Legolas ein schwieriger Balanceakt, eine Frau zu erwählen, die sowohl von den Nandor als auch den Sindar in seinem Volk akzeptiert wurde und die er lieben konnte, bis die Welt sich wandelte.
Firwen liebte Echnorn vor seinem Verschwinden ebenso aus vollem Herzen wie Arwen später Aragorn liebte. Als Echnorn als verschollen galt, war Firwen nahe daran gewesen, Mittelerde zu verlassen. In ihrer Verzweiflung war sie schon bis nach Bruchtal gereist, wo sie sich Elrond anvertraute. Elrond seinerseits hatte die Hoffnung, Firwen würde dem älteren der königlichen Prinzen des Düsterwaldes ebenso gefallen wie dem jüngeren und riet ihr, zu bleiben und in den Düsterwald zurückzukehren. Nach Elronds Meinung hätte der Düsterwald kaum eine bessere künftige Königin haben können als Torvregils schöne Tochter.
Firwen war tatsächlich zurückgekehrt, doch liebte sie nach wie vor Echnorn und Legolas wollte seinerseits das tragische Verschwinden seines Bruders nicht ausnutzen und ihm seine künftige Frau wegnehmen, wenngleich er durchaus Gefallen an dessen schöner Verlobter hatte. So hatten sie beide darauf gehofft und gewartet, dass Echnorn eines Tages zurückkehren würde – oder dass es eine sichere Nachricht von seinem Tod geben würde. Seither waren zweitausend Jahre vergangen, Legolas war noch immer unverheiratet und Firwen ebenfalls. Doch für Elben waren zweitausend Jahre in ihrer Unsterblichkeit keine bedeutende Zeitspanne.
Zwar wollte Arwen Firwen schonend auf das vorbereiten, was sie erwartete, doch Torvregils Tochter hatte – ebenso wie Legolas – eine gewisse Ahnung, was und wer sich hinter den Orks von Moria verbarg. Sie hatte nahe genug bei Thranduil gestanden, als der Ork sich schützend vor den Elbenkönig geworfen hatte, um sich Fragen zu stellen, deren Antworten sie ebenso erschreckten, wie sie ihr Hoffnung gaben.
„Firwen, Mithrandir ist es gelungen, die Orks wieder zu dem zu machen, was sie einmal waren …“, setzte die Königin an.
„Sag mir, Arwen von Bruchtal, ist er dabei?“, fragte die Düsterwald-Elbin mit bebender Stimme. Arwen zögerte einen Moment. Sie setzte sich zu Firwen und nahm sie vorsichtig an der Hand.
„Firwen …“
„Geht es ihm gut?“
„Du erinnerst dich an den Ork, der König Thranduil rettete?“, fragte Arwen. Firwen sah zu Boden.
„Ja, ich erinnere mich. Nur wenige würden so mutig ihr eigenes Leben riskieren, aber Echnorn gehört dazu. Bitte, lass’ mich nicht im Ungewissen: Ist er es?“
Für Firwen war die Ungewissheit schlimmer als alles, was Elronds Tochter ihr jetzt noch sagen konnte.
„Ja“, sagte Arwen. „Und er braucht dich jetzt, denn es geht ihm nicht gut.“
„Bitte, bring’ mich zu ihm“, bat Firwen.
Der Raum war nur spärlich durch das Feuer im Kamin beleuchtet, als Arwen und Firwen die Räume des gefallenen Prinzen Théodred betraten, in denen Echnorn untergebracht war. Das flackernde Feuer zeichnete weiche Schatten auf Echnorns Gesicht. Vorsichtig setzte Firwen sich an das Lager und berührte ungläubig, fast wie in Trance, das Gesicht des geliebten Mannes. Tränen traten in ihre hellblauen Augen. Sie weinte vor Freude und Trauer gleichzeitig, sank über ihm zusammen und ließ ihren in zweitausend Jahren aufgestauten Gefühlen freien Lauf. So, wie schreckliche Momente für einen Menschen zu einem Jahr gerinnen können, so können auch für Elben eigentlich unbedeutende zweitausend Jahre zu einer qualvollen Ewigkeit werden, wenn das Unglück nur groß genug ist, das sie trifft. Und für Firwen war es ein unglaublich großes Unglück, das Echnorn so plötzlich und für so lange Zeit verschwand. Ihre heißen Tränen netzten sein Gesicht.
„Firwen …“, flüsterte er. „Firwen, bist du es?“
„Ja“, schluchzte sie, „ja, ich bin hier“,
Sie küsste seine Stirn, seine Wangen, seine Lippen, umarmte ihn und presste ihn an sich.
„Echnorn, Liebling …“
Mit viel Mühe schlug er die Augen auf. Firwen hatte die ihr bekannten blauen Augen erwartet und prallte zunächst zurück, als sie sah, dass die Iris nun braun war. Doch der Blick, der sie traf, war der warme und sanftmütige Blick, den sie kannte und den sie so sehr liebte.
Arwen lächelte sanft und zog sich leise aus dem Gastgemach zurück. Echnorn war in guten Händen. Er und Firwen brauchten jetzt auch Zeit für sich allein; Zeit, sich wieder zu finden und sich neu zu entdecken …
„Firwen, ich hatte schreckliche Angst, dich nie wieder zu sehen; gefangen zu bleiben in dieser furchtbaren Hülle …“, flüsterte Echnorn, von dem unerwarteten Glück so überwältigt, dass es ihn zum Weinen brachte. Mit viel Mühe hob er eine Hand, um ihr Gesicht zu streicheln, sich zu vergewissern, dass ihn nicht seine Fieberträume narrten.
„Echnorn …“
Er schüttelte den Kopf.
„Nein. Echnorn, Thranduils Sohn, ist gestorben – damals, als ihn Orks verwundeten und gefangen nahmen, als Sauron ihn verhexte und selbst zu einem Ork machte. Nein, den Echnorn, den du kanntest, den gibt es nicht mehr.“
„Aber …“
„Ich bin wiedergeboren, liebste Firwen, wenn auch mit grauenhaften Erinnerungen. Echnorn ist tot, und Athiaron [sind.: Der Wiedergeborene, Anm. d Verf.] drückt wohl besser aus, was ich jetzt bin.“
„Athiaron …“, murmelte sie, „ja, das klingt gut. Soll das von jetzt an dein Name sein?“
Er nickte, umfasste vorsichtig ihre Hand und zog sie nahe zu sich. Sie versanken in einem ebenso liebevollen wie leidenschaftlichen Kuss.
Kapitel 17
Überraschungen
Markilan von Harad und Lanadúr von Rhûn führten ihre Truppen vom Morannon her kommend eilig durch die liebliche Hügellandschaft Ithiliens. Dass ihren rund fünfzehntausend Mann starken Streitkräften überhaupt Widerstand entgegengesetzt wurde, hatten beide nicht erwartet und deshalb keine Maßnahmen gegen Angriffe getroffen.
Jetzt marschierten sie den dritten Tag durch Ithilien – und ständig wurden sie beschossen. Doch wo immer ihre Leute nach den Angreifern suchten, fanden sie nichts. Die Angreifer waren regelmäßig wie von Erdboden verschluckt, wenn Suchtrupps die dichte Vegetation durchkämmten. Die ständigen Angriffe lähmten jedoch den Vormarsch der Truppen aus dem Osten. Trotz größter Anstrengungen waren sie bisher nicht einmal bis nach Minas Morgul vorgestoßen.
Borothor hatte in ganz Ithilien gerade zweitausend Männer zur Verfügung. Faramirs Stellvertreter wusste sich rein zahlenmäßig durchaus im Nachteil gegenüber den Ostlingen. Doch Borothor hatte schon zu Zeiten des Ringkriegs an Faramirs Seite gekämpft, wusste seine Männer entsprechend ausgebildet und ausgerüstet. Drei Tage waren vergangen, seit die Ostlinge das Morannon passiert hatten. In diesen drei Tagen war keine Minute vergangen, in der die Ostlinge nicht mit Pfeilen überschüttet worden waren. Borothor und seine Männer hatten sich in die Waldläufer von einst verwandelt und taten ihr Bestes, um die Truppen aus Harad und Rhûn gründlich zu dezimieren und vor allem zu verunsichern.
Borothor und Gildor, Legolas’ Stellvertreter, trafen sich an diesem Tag in dem geheimen Stützpunkt am Henneth Annûn, nachdem sie erfahren hatten, dass dort ein Bote des Statthalters eingetroffen war.
„Mae govannen, Gildor, arandur edhil[75]“, begrüßte Borothor den Elbenkommandeur.
„Mae govannen, Borothor, thirion en arandur o Gondor[76]“, erwiderte der Elb.
„Aphado nin, mellon[77]“, winkte der Mensch dem Elben und führte Gildor zu einem Beratungsraum, in dem der Bote bereits wartete. Der Mann in der Rüstung der Turmwache erhob sich und verbeugte sich vor den örtlichen Kommandanten.
„Du bringst Nachricht von Statthalter Faramir?“
„Herr Faramir bittet Euch, die Truppen der Ostlinge in die Niemandslande von Nord-Ithilien und weiter auf das Fennfeld zu locken. Sie sollten, wenn möglich, den Anduin nicht überschreiten. König Elessar nähert sich mit den Eorlingas und Elbenkriegern von Ost-Emnet. Wenn es gelingt, sie dort einzuklemmen, bleibt Gondor unbehelligt“, trug der Bote vor. Borothor sah Gildor an.
„Was hältst du davon?“, fragte er.
„Der Übergang über den Anduin unterhalb des Rauros-Falls ist nur schmal, jedenfalls, was festen Boden betrifft. Südlich davon sind die Mündungen der Entwasser. Es besteht die Gefahr, dass die Pferde sich in den nassen Wiesen festrennen“, warnte Gildor. Borothor rieb sich nachdenklich den Bart und sah auf die Karte.
„Der Übergang ist dort über sieben Meilen breit. Das sollte ausreichen, soviel festen Boden zu finden, dass die Pferde nicht im Sumpf stecken bleiben. Außerdem haben die Haradrim mit ihren Mûmakil die gleichen Schwierigkeiten. Das wesentliche Problem besteht darin, dass die Spitzen der Haradrim schon fast die Straße nach Osgiliath erreicht haben“, sagte er. „Wir müssten sie zurückholen.“
Gildors Blick fiel auf Minas Morgul.
„Könnte es sein, dass sie in Minas Morgul Rast machen wollen, bevor sie Minas Tirith über die dortige Straße angreifen? Das bietet sich an“, mutmaßte er.
„Minas Morgul? Das bringt mich auf eine Idee … Die werden sich wundern! Komm, Gildor!“
Borothor und Gildor machten sich eilig auf einem versteckten Pfad auf den Weg in Richtung Minas Morgul.
Vor dem Tor von Minas Morgul atmete ein sichtlich erleichterter König Lanadúr auf.
„Den Valar sei Dank, wir haben es bis hierher geschafft!“, entfuhr es ihm. „Elfrikal, nimm dir ein Pferd und reite in die Stadt. Dort lebt ein Troll. Lass’ ihn wissen, wer wir sind und bitte ihn um seine Gastfreundschaft“, befahl er seinem persönlichen Boten. Der Bote verneigte sich, bestätigte den Auftrag und ritt eilig davon.
Nur wenig später hatte er die Mitte der Stadt Minas Morgul erreicht. Den Boten schauderte es. Er hatte ein oder zwei Jahre vor dem Ringkrieg eine Botschaft seines Herrn in die Stadt der Nazgûl gebracht und hatte sie gänzlich anders in Erinnerung. In Minas Morgul war kein Gebäude unbeschädigt, der alte Turm – einst der Turm des Mondes, der Minas Ithil seinen Namen gegeben hatte – war an der Spitze bereits abgebrochen. Den Boten packte ein unerklärlicher Husten, Atemnot befiel ihn. Mit einiger Mühe rief er nach dem Troll, der hier leben sollte – in Ermangelung der Kenntnis der Schwarzen Sprache tat er es in der Gemeinsprache.
„Herr Troll! Zeigt Euch!“
Das schwere Stampfen, das nur ein paar Augenblicke nach seinem Ruf durch die schadhaften Straßen dröhnte, ließ dem Boten das Herz geradewegs in die Hose rutschen. Der Troll – groß wie ein Ent, grünhäutig und schuppig wie ein Drache, mit Augen, die vom Verhältnis zu seinem Kopf etwa Schweinsaugen waren – blieb etwa vier Klafter von ihm entfernt stehen und sah ihn mit schiefgelegtem Kopf an.
„Was bist du denn für einer?“, fragte der Troll. Der Bote schluckte hart.
„Elfrikal bin ich. Ich bin ein Bote des Königs von Rhûn“, keuchte er. Der Troll kam langsam näher.
„So, so, ein Bote des Königs von Rhûn. Und was hat mir der Bote zu sagen?“
„Mei… mein Herr bittet dich um deine Gastfreundschaft hier in… in Mi… Minas Mo… Morgul“, stotterte Elfrikal.
„Und was will dein Herr hier?“
„Er will mit seinen Kriegern hier rasten, bevor sie nach Minas Tirith weiterziehen.“
„Nach Minas Tirith! Und was will er dort?“, bohrte der Troll weiter. Der Bote gewann wieder Sicherheit.
„Was kann der König von Rhûn mit fast achttausend Kriegern dort schon wollen? Minas Tirith erobern natürlich.“
„Und er meint, dass ich ihm erlaube, zu diesem Zweck ausgerechnet hier Rast zu machen?“, erkundigte sich der Troll, kniff das linke Auge zu und beugte sich tief zu dem Boten hinunter.
„Nun, du bist ein Diener Saurons gewesen, wie wir Rhûnrim es auch waren, Herr Troll!“, erklärte der Bote.
Doch was dann geschah, hätte Elfrikal sich wahrlich nicht träumen lassen: Der Troll schnappte ihn am Gewand und hob ihn einfach aus dem Sattel.
„Wie bitte?“, fragte er. „So wahr ich Gulda heiße: Wer König Elessar an den Kragen will, der muss erst mal an mir vorbei, jedenfalls aus dieser Richtung, Freundchen! Bevor ich deinem sauberen König erlaube, hier Rast zu machen, um dann meinen König anzugreifen, bricht der Schicksalsberg wieder aus!“, schnaubte der Troll und setzte den Boten so hart in den Sattel zurück, dass der sich etwas Gewisses schmerzhaft einklemmte und laut aufschrie.
„Brüll’ nicht so, sonst lernst du mich richtig kennen! Scher’ dich weg! Samt deinem komischen König! Sag’ ihm, dass Gulda, der Troll, hier für König Elessar arbeitet und dass Leute, die ihm übel wollen, sich gern ein paar Ohrfeigen von mir abholen können! Soweit kommt’s noch!“, fauchte Gulda zornig.
„Aber …“
„Bist du noch nicht weg, du Wurm?“, donnerte der Troll. Eilig wendete der Bote und gab seinem Ross die Sporen, um schleunigst aus der Reichweite des Trolls zu kommen. Das dröhnende Lachen des Trolls hallte hinter ihm her.
Der König von Rhûn hörte ungläubig den Bericht seines Boten.
„Das kann nicht sein!“, keuchte Lanadúr. „Trolle haben doch auf der Seite Saurons gekämpft!“
Der Bote warf sich zu Boden.
„Es ist so, Herr“, beharrte er.
„Nein, das muss ein Irrtum sein! Wir marschieren sofort nach Minas Morgul weiter!“, befahl Lanadúr. Die gut achttausend Männer des Königs von Rhûn, die an der Spitze der angreifenden Truppen marschierten, kamen dem Befehl auch sofort nach und eilten nach Minas Morgul, um sich das Quartier notfalls mit Gewalt zu holen.
Gildor und Borothor hatten in einem Gewaltritt innerhalb eines guten Tages eine Stelle nördlich der Morgul-Straße zwischen Osgiliath und Minas Morgul erreicht, von der aus sie einen guten Überblick über die Straße selbst und auch Minas Morgul hatten. Aus der Stadt flogen Trümmerteile, die in das Heer der Ostlinge krachten und große Lücken hineinrissen. Borothor lachte schadenfroh.
„Hahaha, das hat der alte Knabe wohl nicht erwartet!“
Gildor sah ihn fragend an.
„Was meinst du, mellon nîn?“
„Die Ostlinge lernen gerade Gulda, den Troll, kennen!“, lachte Borothor.
„Gulda? Ist das etwa … etwa der Troll, der vor bald dreißig Jahren eine elbische Reisegesellschaft am Caradhras-Pass gerettet hat?“, fragte der Elb nach. Borothor nickte.
„Genau der! Der gute Lanadúr konnte ja nicht ahnen, dass es tatsächlich einen Troll gibt, der sich schon frühzeitig von Sauron losgesagt hat und König Elessar treu ergeben ist.“
„Ich habe davon nur wenig erfahren, weil ich damals noch in Eriador lebte. Kannst du mir mehr darüber sagen?“, bat Gildor.
„Gulda ist schon sehr alt. Er fiel irgendwann in die Hände von Morgoths Häschern und wurde unterjocht. Aber er hat sich damit nie abgefunden und hat rebelliert. Er hat sogar schon in Thangorodrim geschmachtet, hat versucht, Beren und Finrod Felagund zu helfen, was leider nicht so ging, wie er es sich gedacht hatte. Irgendwie ist er entkommen und hat viele Jahrhunderte in einer Höhle in der Nähe von Bruchtal gelebt, bis er eines Tages auf Aragorn traf, dem es gelang, ihn vom Fluch der Nacht zu befreien. Seither ist Gulda ein treuer Freund Aragorns. Elronds Ruf zum Rat vor dem Ringkrieg hat ihn nur zu spät erreicht, sonst wäre die Fahrt der Ringgemeinschaft vielleicht anders verlaufen. Gulda kam zu seinem Leidwesen sogar für die Schlacht um Minas Tirith zu spät. Dafür hat er sich dann angeboten, Minas Morgul abzureißen.“
Gildor nickte. Er wusste, dass die Stadt von Elben, Menschen oder Hobbits nur unter Inkaufnahme groben Unwohlseins zu betreten war. Zu sehr steckte noch die Schwärze Saurons in den Mauern und Straßen. Deshalb hatte Aragorn verfügt, dass Minas Morgul abgetragen werden sollte. Doch schon sehr bald hatte sich herausgestellt, dass dies nicht von Wesen getan werden konnte, die gegen den Schwarzen Anhauch empfindlich waren. Bis zu einem gewissen Grade traf dies auch auf Elben zu. So hatte Aragorn Gulda um Hilfe gebeten, der nach seiner Befreiung aus der Macht des Bösen gegen den Schwarzen Anhauch immun war. Seit zwei Jahren war Gulda damit beschäftigt, die Gebäude abzureißen, doch Minas Morgul war groß. Selbst für einen ausgewachsenen Troll war es eine schwere Arbeit, und er kam nur langsam voran.
Borothor wies auf die Straße unter ihnen.
„Wir müssen die Straße hier und am Henneth Annûn sofort blockieren, damit sie umkehren müssen und Ithilien nur über das Fennfeld verlassen können, wenn sie nach Minas Tirith weiter wollen.“
Gildor reckte sich und fasste einen Ast, der nur für einen behänden Elben erreichbar war und kletterte mit der den Elben eigenen Geschicklichkeit schnell in den Wipfel des Baumes, unter dem ihre Pferde standen. Mithilfe eines Spiegels signalisierte der Elbenkommandeur die Anweisung nach Henneth Annûn. Von dort wurde der Befehl auf dem gleichen Weg bestätigt. Schnell eilten die Waldläufer Borothors und die Elbenkrieger Gildors an die gefährdeten Stellen, um die Durchgangsstraßen zu blockieren. Fast gleichzeitig griffen die Männer der beiden Kommandeure, die auf Angriffe aus dem Hinterhalt spezialisiert waren, die eingedrungenen Truppen so heftig mit Pfeilen an, dass die Ostlinge und Haradrim sich gen Norden zurückzuziehen begannen.
Fern von Ithilien, in Edoras, hatte sich Haduran soweit erholt, dass er einen Ausbruchsversuch riskieren wollte. Man hatte ihn in einem Haus untergebracht, das recht nahe an der hölzernen Stadtmauer war. Der haradische Prinz hatte durch das offene Fenster gehört, dass zu einer gewissen Abendzeit ein berittener Posten die Umfassung abritt. Die beiden Posten, die an dem Haus Wache hielten, hatten noch nichts davon bemerkt, dass es dem Gefangenen schon erheblich besser ging. Die Behandlung mit Athelas und durch Aragorns heilende Hände hatte ein rasches Schließen der Wunde bewirkt, die noch drei Tage zuvor lebensbedrohlich gewesen war.
Einer der beiden Wächter brachte dem verwundeten Gefangenen am Abend sein Essen, das Haduran mit einer Verbeugung entgegennahm – um dann mit dem Kopf voran den Posten einfach umzurennen. Mit einem schnellen Griff drehte der Harader einen Stuhl um und schlug den Eorling damit nieder. Der vor der Tür befindliche Posten war so überrascht, dass er nicht einmal sein eigenes Schwert rechtzeitig ziehen konnte und schwer vom Stuhl getroffen zusammensackte, als Haduran ihm das Möbelstück über den Helm schlug. Mit einem beherzten Sprung erreichte Haduran die hölzerne Palisade, zog sich hoch, überwand sie und ließ sich auf der anderen Seite in die Dunkelheit fallen. Er kam auf dem Gras auf, das seinen Sturz abfederte. Die Nacht war klar, kalt und mondlos. Nur ungezählte Sterne schienen auf die grasbewachsene Ebene um Edoras. Haduran drückte sich in eine kleine Unebenheit der Palisade und wartete auf den abendlichen Postenreiter. Der grüne Umhang des Postens vor der Tür tarnte ihn zusätzlich und wärmte ihn. Er musste nicht lange warten. Der ahnungslose Reiter beobachtete zwar die Ebene, nicht aber die Mauer – und das war sein Verhängnis. Haduran sprang aus seiner Deckung, hebelte den Mann aus dem Sattel und verpasste ihm einen sauberen Kinnhaken, der den Reiter für eine Weile in das Reich der Träume entführte, hielt sich am Geschirr des durchgehenden Pferdes fest und zog sich in den Sattel. Der rohirrische Wallach spürte einen erfahrenen Reiter und gehorchte dem Ausreißer. Mit schnellem Galopp verließ Haduran Edoras und jagte quer über die nächtliche Ebene Rohans in Richtung Osten.
Der sanfte Sternenschein beleuchtete durch ein Fenster im königlichen Palast Athiarons Lager. Auch dem Elben ging es erheblich besser, nachdem die elbischen Selbstheilungskräfte nach der Rückverwandlung ihre Wirkung entfalten konnten. Seine Wunde war fast völlig verheilt, das Fieber schon am Tag nach seiner Ankunft in Edoras nicht mehr vorhanden. Dicht an ihn geschmiegt ruhte Firwen in seinen Armen. Ihre Liebe hatte zusätzlich ein kleines Wunder bewirkt. Jetzt streichelte sie sanft eine der zahlreichen Narben, die seinen Körper für immer entstellen würden. Sie würde sich daran gewöhnen müssen, sagte sie sich. Sie wollte alles tun, um die grauenhaften Erinnerungen für ihn erträglich zu machen, wenn sie schon nicht zu beseitigen waren. Athiaron seufzte leise.
„Es ist schön, was du tust“, flüsterte er und küsste sanft ihr weiches Haar. Firwen musste nicht aufsehen, um zu wissen, welch wundervolles Lächeln sein Gesicht verschönte. Sie hatte ihn in den letzten drei Tagen oft lächeln sehen.
„Das soll es auch sein. Ich möchte, dass du glücklich bist.“
Seine warmen Lippen liebkosten sachte ihre Ohrspitze.
„Das bin ich, seit Earendils Stern uns hier gefunden hat. Ich liebe dich“, sagte er leise. Ihre schmale Hand wanderte zu dem Verband, der seinen schlanken Leib umschloss, kraulte ihn zärtlich an dieser empfindsamen Stelle und flüsterte ihm leise einen Wunsch zu. Er nickte schweigend und zog sie ganz nah an sich, bis sie eins waren und sich voller Zärtlichkeit und Glück liebten.
Als die Sonne die Liebenden am folgenden Morgen weckte, war es im Palast schon recht laut. Athiaron stand auf, wusch sich und kleidete sich mit den Sachen an, die Legolas aus seinem eigenen Bestand für seinen Bruder mitgegeben hatte.
„Was ist?“, fragte er, als er aus der Tür trat und die erschrockenen und verwirrten Gesichter der Rohirrim sah. „Guten Morgen“, setzte er noch verspätet hinzu.
„Danke, Herr Elb. Ein guter Morgen ist es wirklich nicht“, versetzte Gamling.
„Was ist geschehen, dass Ihr diesen Morgen nicht gut nennt?“, erkundigte sich Athiaron.
„Der haradische Prinz ist heute Nacht geflohen. Er hat drei meiner Männer niedergeschlagen und ein Pferd gestohlen“, erklärte Gamling mit hörbarem Schnaufen.
„Wer verfolgt ihn?“
„Verfolgen? Wir wissen ja nicht mal, wohin er geritten ist!“, versetzte Gamling. Athiaron lächelte. Menschen und Spuren lesen, das schien in der Tat nicht zusammenzupassen. Diese Fähigkeit, die er einst von Legolas gelernt hatte, hatte er auch als Ork behalten, und sie war ihm stets nützlich gewesen.
„Eure Pferde sind schnell. Er wird versuchen, zu seinem Volk zurückzukehren. Gebt mir eines von Euren schnellen Pferden und zwei oder drei Männer und ich verfolge ihn“, bot Athiaron an.
„Ihr seid verwundet“, gab der Statthalter von Rohan zu bedenken. „Fühlt Ihr Euch schon so kräftig, dass Ihr das riskieren wollt, Herr Elb?
„Nennt mich einfach Athiaron“, sagte Thranduils jüngerer Sohn. „Bei Elben heilen Wunden sehr viel schneller als bei Menschen. Das liegt in unserer Natur. Ich fühle mich durchaus wieder so gut, dass ich einen Kampf mit dem Ausreißer riskieren kann. Außerdem erinnere ich mich, dass Haduran selbst verwundet ist. Ich glaube, ich gehe kein zu großes Risiko ein.“
Gamling sah ihn zweifelnd an.
„Nun, Ihr werdet wissen, was Ihr tut, Herr Athiaron“, sagte er schließlich. „Könnt Ihr einen Mearas reiten?“
„Man sagt, sie duldeten nur die Könige der Mark oder ihre Kinder auf ihrem Rücken. Das bin ich ganz sicher nicht“, erwiderte der Elb lächelnd.
„Ich gebe Euch ein Pferd, das schnell ist“, versprach der Stellvertreter des Königs der Mark.
Athiaron drehte sich um und sah in Firwens Augen, die schieres Entsetzen zeigten.
„Nein“, sagte sie, „nein, tu es nicht, Athiaron!“
Es klang so flehend, dass Athiaron sie zunächst beruhigen musste, wie ihm schnell klar wurde.
„Komm“, sagte er leise und schloss die Tür wieder. Er zog sie nahe an sich und umarmte sie.
„Firwen, ich habe nicht vor, mich unnötig in Gefahr zu bringen; bitte glaub’ mir das.“
Sie erwiderte seine Umarmung, lehnte sich an ihn und ließ ihren bitteren Tränen freien Lauf. Sein liebevolles Streicheln beruhigte die schöne Elbin nur langsam.
„Warum willst du den Harader dann unbedingt verfolgen? Können das nicht die Rohirrim tun?“, schluchzte sie.
„Sie werden ihn nicht finden, befürchte ich. Sie scheinen keine guten Spurenleser zu sein. Haduran hat sicher nicht mehr und nicht weniger vor, als König Elessar daran zu hindern, Markilan aus Ithilien zu vertreiben.“
Firwen sah mit verweinten Augen zu ihm auf.
„Er ist allein. Was kann er schon ausrichten?“
„Die Haradrim sind nicht nur in der Masse fähig, eine Schlacht zu schlagen. Einige von ihnen sind sehr geschickte Einzelkämpfer, die sich gut zu tarnen verstehen. Soweit ich mich erinnere, gehören die Prinzen von Harad zu diesen Leuten. Ich stehe in Elessars Schuld, denn ohne sein Vertrauen wäre ich noch immer ein Ork und ohne seine Bemühungen, mich am Leben zu erhalten, wäre ich wohl tot“, erwiderte Athiaron. „Ich komme wieder, das verspreche ich dir“, setzte er hinzu. Firwen sah ihn lange an. In seinen braunen Augen glitzerten sowohl Tatendrang als auch tiefe Liebe. Er ließ ihr Zeit und schließlich nickte sie.
Kapitel 18
Der Weg zum Fennfeld
Aragorn, seine verbliebenen Turmwächter, die Elben aus Bruchtal, Lórien und dem Düsterwald lagerten am westlichen Ufer des Anduin am Fuß der westlichen Emyn Muil. In der Ferne hörten sie das Rauschen des kaum eine Meile entfernten Rauros-Falls. Drei Tage waren vergangen, seit sie sich von den Frauen, Hobbits, Verwundeten und Gefangenen und deren Eskorte vor Edoras getrennt hatten.
Die Nacht war früh hereingebrochen, weil es bedeckt und leicht neblig war. Kein Stern erhellte die Dunkelheit und von Norden her, von den Nordmarken und den Emyn Muil, pfiff ein eisiger Wind, der selbst die gegen Temperaturschwankungen weniger empfindlichen Elben die Mäntel enger um sich ziehen ließ. Der nahende Winter machte sich bemerkbar, und die Männer rückten an den Feuern dicht zusammen. Legolas und sein Vater Thranduil saßen mit Aragorn, Elladan und Elrohir an einem Feuer in der Mitte des großen Lagers. Dem König und dem Thronfolger des Waldelbenreiches war die Sorge um Sohn und Bruder so deutlich anzusehen, als sei sie ihnen mit Tengwar auf die Stirn geschrieben.
Aus dem Augenwinkel sah Aragorn, dass es in seiner Satteltasche wieder bläulich leuchtete. Er griff hinter sich, öffnete die Tasche und nahm den aktiven Palantír heraus. Faramir sah ihn direkt an.
„Ich grüße dich, Faramir.“
„Ich grüße dich, Aragorn. Ich bin mit Fußtruppen aus Minas Tirith auf dem Weg nach Norden. Wir lagern jetzt einige Meilen nördlich von Cair Andros. Eben gerade ist ein Bote vom Henneth Annûn hergekommen. Es ist gelungen, die Haradrim und Rhûnrim zur Umkehr zu zwingen. Sie marschieren nach Norden. Waldläufer, Elben und wir halten sie in Schach und versuchen, sie zum Fennfeld zu locken“, erklärte der Statthalter.
„Gut. Habt ihr Verluste?“, fragte Aragorn. Es klang besorgt. Faramir lächelte.
„Du kennst meine Ithilier und die Waldelben von Legolas. Sie können sich fast unsichtbar machen. Nein, die Haradrim haben bisher keinen von uns ausfindig machen können.“
„Schön. Wo sind die Haradrim jetzt?“
„Wenn die Nachricht stimmt, sind sie etwa zehn Meilen nördlich der Wegscheide der Südstraße und der Morgulstraße“, erwiderte Faramir.
„Das ist weit im Süden, Aragorn“, bemerkte Legolas. Aragorn nickte.
„Allerdings. Bis zum Fennfeld haben sie noch über hundertzwanzig Meilen vor sich. Wenn sie normal marschieren, sind sie frühestens in vier oder fünf Tagen am nordwestlichen Rand der ithilischen Hügel“, sagte Aragorn. „Und wenn sie weiter nach Norden gehen, könnte es sein, dass sie wieder durch das Morannon schlüpfen. Nach Mordor möchte ich ihnen nicht gern folgen. Faramir, könnt ihr die Straße zum Morannon sperren?“
„Wir werden es versuchen. Ich schicke den Boten gleich morgen früh zum Henneth Annûn, damit Borothor und Gildor unterrichtet werden.“
„Tu das. Wir werden hier auf Éomer und die Rohirrim warten und mit ihnen in die feste Ebene zwischen dem Fennfeld und den Totensümpfen weiterziehen.“
„Mögen die Valar euch beschützen!“, wünschte Faramir.
„Euch auch, denn ihr seid in deutlicher Unterzahl, mein Freund“, erwiderte Aragorn. „Wir sehen uns am Fennfeld.“
Faramir nickte und der Palantír verlosch. Aragorn verpackte den Sichtstein wieder sorgfältig.
„Wann brechen wir auf?“, fragte Legolas.
„Wir warten auf Éomer und werden mit ihm beraten“, entschied Aragorn. „Ohne Éomer und die Rohirrim sind wir den Haradrim völlig unterlegen“, setzte er hinzu. Der König sah auf, als er einen der Turmwächter kommen sah.
„Es kommt jemand, mein Gebieter“, sagte der Gondorer.
„Wer ist es?“, erkundigte sich der König.
„Es sind viele Pferde“, bemerkte Legolas, bevor der Wächter antworten konnte. „Es klingt nach den Hufen der Rohirrim“, setzte der Elb hinzu. Aragorn und seine Gefährten sprangen vom Feuer auf und gingen den Reitern entgegen, die aus dem Dunkel nahten.
„Seht, dort vorn sind Feuer, Herr!“, meldete Sigaril, der zu Éomers Aufgebot gehörte und nahe beim König der Mark ritt.
„Aranthaur, kannst du erkennen, ob es Haradrim oder Elben sind?“, rief Éomer dem in seiner Nähe reitenden Neuelben zu. Aranthaur streckte sich im Sattel seines Wargs und spähte voraus.
„Es sind Elben und Menschen, Herr Éomer. Es sind König Elessar und seine Begleiter!“
Éomer richtete sich ebenfalls im Sattel auf.
„Forth, Eorlingas!“, rief er. „Wir haben sie gefunden!“
Ein vielstimmiger Freudenruf schallte über die weite Ebene. Die Rohirrim gaben ihren Pferden die Sporen und überwanden schnell die letzte Distanz zu den Feuern, an denen Aragorn und seine Begleiter auf sie warteten.
Éomer sprang vom Pferd, als er Aragorn auf sich zukommen sah. Die Freunde umarmten sich herzlich.
„Willkommen, Éomer!“, begrüßte Aragorn den Reiterkönig.
„Danke für dein Willkommen, mein Freund“, erwiderte Éomer und machte eine ausladende Handbewegung nach hinten. „Du siehst, ich bin nicht allein gekommen: Über zehntausend Eorlingas sind mir gefolgt – und etwa zwanzig Männer auf sehr seltsamen Reittieren, die du wohl kennen wirst. Aranthaur, komm her!“
Der Elb trieb seinen Warg nach vorn und stieg dann ab. Der Warg fletschte zwar grimmig die Zähne, als er Aragorn und seine elbischen Begleiter sah, doch ein beruhigendes Klopfen seines Reiters ließ das Untier friedlich bleiben.
„Mae govannen, aran gondor. Im Aranthaur, Gilionion, edhel a io anann orch[78]“, stellte sich der Elb mit den dunklen Augen mit einer Verbeugung vor. Aragorn stutzte, sah Aranthaur einen Moment an.
„Elbereth Gilthoniel! Mae govannen na guil, Aranthaur, mellon nîn![79]“, rief Aragorn erfreut aus und umarmte den Elben, der die Umarmung ebenso erfreut erwiderte.
„Legolas! Thranduil! Tolo a ceno![80]“, rief Aragorn dann seinen Freund und dessen Vater, die schnell herbeikamen, ebenso ungläubig schauten und die wiedergeborenen Elben voller Freude umarmten und willkommen hießen.
„Man matha Echnorn? [81]“, erkundigte sich Legolas. Aranthaur lächelte.
„Er lebt und er ist glücklich, wieder bei Firwen zu sein. Es geht ihm sehr viel besser“, erwiderte er.
„Hannon le“, dankte Legolas und umarmte erst Aranthaur, dann Aragorn.
„Ohne dein Vertrauen wären sie nie wieder Elben geworden“, sagte er. Aragorn lächelte.
„Mein Vertrauen in allen Ehren, aber ohne Gandalfs Macht hätte das allein nichts genützt“, entgegnete er. „Kommt, wir wollen hier am Ufer lagern und beraten, wann wir weiterziehen“, lud er dann ein.
Éomer und seine Männer saßen ab, versorgten ihre Pferde, entzündeten sich ebenfalls Feuer. Während die Rohirrim und die wiedergeborenen Elben ihr Nachtmahl zubereiteten, nahmen Éomer und Aranthaur am Feuer des Königs Platz. Elladan reichte ihnen Lembas und etwas von dem gebratenen Fleisch, dass angenehm duftend an dem offenen Feuer warm gehalten wurde. Aragorn schenkte ihnen frisches Wasser ein.
„Danke. Wir sind heute sehr schnell geritten. Wir hatten schon Befürchtungen, euch nicht mehr einzuholen“, sagte Éomer, als er Aragorn nickend das Trinkhorn abnahm.
„Die Haradrim sind noch weit im Süden, wie wir gerade erfahren haben. Sie können in frühestens vier Tagen dort sein, wo wir sie gern haben wollen“, erwiderte Aragorn. „Ihr seid weit und scharf geritten. Was haltet ihr von einem Tag Rast?“, schlug er vor. Éomer sah den König von Gondor verblüfft an.
„Hast du fliegende Boten, wenn du erfahren hast, dass der Feind noch so weit entfernt ist?“, fragte er.
„Nein, aber einen Palantír.“
„Einen Pa… Du kannst mit so einem Ding umgehen?“, keuchte Éomer.
„Es kostet Mühe und Kraft, einen Sichtstein zu benutzen, aber er ist ein unglaublich wertvoller Bote“, erklärte Aragorn. Éomer kratzte sich nervös am Bart.
„Man sagt, es sei gefährlich, einen Palantír zu benutzen“, warnte er schließlich.
„Ja, das war es auch – jedenfalls, so lange Sauron und Saruman einen hatten und damit üble Visionen auslösen konnten. Jetzt sind zwei davon in meinem Besitz und den dritten, den werde ich Markilan wieder abnehmen.“
„Wie kommt der König von Harad an einen Palantír? Ich denke, außer denen von Minas Tirith, dem Orthanc und dem von Barad-dûr gab es keine mehr in Mittelerde, nachdem der von Elostirion mit Círdans Schiffen nach Valinor zurückkehrte?“, wunderte sich König Thranduil.
„Mehr sind es auch nicht. Aber der Palantír von Barad-dûr, der einst nach Minas Ithil gehörte, ist nicht zerstört, wie zunächst angenommen wurde. Er muss wohl in Mordor in eine Felsspalte geraten sein, wo ein Harader ihn fand und ihn zu König Markilan brachte“, erwiderte Aragorn.
„Sei gewarnt, mellon!“, keuchte der König der Waldelben. „Es ist gefährlich, denn Markilan könnte mithören, was du planst!“
„Hat er auch versucht, offenbar sogar mit Erfolg. Sonst hätte er kaum gewusst, dass ich Minas Tirith verlassen habe, was ihn wohl dazu veranlasst hat, einen Feldzug gegen Gondor zu planen. Aber …“
Aragorn stockte. Beinahe hätte er preisgegeben, dass Gandalf entgegen allen Weisungen der Valar seine Zaubermacht gegen einen Menschen gerichtet hatte. Er suchte nach einer Umschreibung, die die Wahrheit enthielt, ohne sie zu enthüllen.
„Nun, es ist gelungen, ihn von der Nutzung des Steins abzubringen“, sagte er schließlich.
„Bist du sicher?“, hakte Thranduil nach.
„Ja.“
Thranduil, Elladan und Elrohir sahen den König von Gondor eine Weile an. Sie kannten es nicht, dass er keine volle Erklärung gab. Dass er wusste, dass Markilan den Stein nicht mehr benutzen würde, war in Aragorns Augen mehr als deutlich erkennbar.
„Du verbirgst etwas und ich weiß nicht warum, mellon!“, versetzte Thranduil.
„Sagen wir, ich bin der Mitwisser einer kleinen Verschwörung gegen König Markilan. Gandalf hat dafür Sorge getragen, dass Markilan den Stein nicht mehr anfasst“, erwiderte Aragorn. „Vergebt, mellyn nîn, aber es wäre besser, wenn ich nicht noch deutlicher werden müsste.“
Thranduil war offenkundig mit Aragorns Auskunft noch nicht zufrieden, doch er stockte, als er Legolas’ Hand auf dem Arm spürte.
„Havo dad, ada[82]“, sagte der Prinz der Waldelben leise. „Wir wissen alle, dass Gandalf sich nicht immer an … an die Regeln hält. Aber er hat es nie zum Schaden der Freien Völker Mittelerdes getan“, setzte er hinzu. Thranduil schnappte kurz nach Luft und wollte seinen Sohn zurechtweisen, doch er sah in den Augen der übrigen Anwesenden am Feuer, dass sie Legolas’ Bitte zustimmten.
„Mae“, schnaufte der König der Waldelben. Aragorn nickte seinem Freund kaum merklich zu. Legolas hatte ihn vor einer mindestens für Gandalf peinlichen Enthüllung gerettet.
Noch bevor die Sonne am folgenden Morgen aufging, brachen Aragorn und Legolas zu einem Besuch von Parth Galen auf und erstiegen die alte Nordtreppe westlich des Rauros-Falls zum nahen Nen Hithoel noch bevor Earendils Stern verblasst war. Der auffrischende Wind hatte im Laufe der Nacht Wolken und Dunst vertrieben; ein klarer, aber kalter Morgen brach an. Als sie den Nen Hithoel erreichten, streifte die aufgehende Sonne eben den alten Turm oben auf dem Amon Hen oberhalb der Wiese, die den Namen Parth Galen trug.
Gleich nach dem Ringkrieg hatte Aragorn für den hier gefallenen Boromir einen Gedenkstein setzen lassen. Es war ein großer Findling aus grauem Granit, dessen Front glatt und plan geschliffen war. In die glänzende Fläche waren in Tengwar Name und Herkunft Boromirs sowie seine Lebensdaten eingemeißelt und mit Blattgold ausgelegt. In gleicher Art rühmte eine weitere Inschrift in Tengwar seine tapfere Tat und sein Opfer. Der Gedenkstein befand sich zu Füßen einer riesigen Buche, genau an der Stelle, an der Boromir sein Leben ausgehaucht hatte. Durch die dicke Schicht von Buchenlaub leuchteten in einem etwa zwölf Zoll breiten Kreis um den Findling weiße Blüten mit sechs zarten, lanzettförmigen Blättern auf einem dichten, grünen Blätterpelz, obwohl es fast Winter war.
„Simbelmynë!“, sagte Legolas verblüfft, als er den Blütenkreis sah. „Ich dachte, es wächst nur in Rohan!“
Aragorn lächelte leicht.
„Das tut es eigentlich auch. Es war Faramirs Idee, den Gedenkstein für Boromir so zu schmücken, wenn es schon kein richtiges Grab für ihn gibt. Er hat die Gräber der Könige von Rohan gesehen, die alle mit Simbelmynë überwachsen sind. Die Menschen von Gondor empfinden es als Makel, wenn es für einen Verstorbenen kein Grab gibt, das sie besuchen können. Nicht umsonst gibt es in Minas Tirith die Stille Straße mit den Häusern der Könige und der Statthalter. Also hat er seinen Schwager gebeten, ihm einige Pflanzen zu überlassen, um damit wenigstens den Stein zu Ehren seines Bruders zu schmücken“, erwiderte er.
„Aragorn, wärst du König geworden, wenn Boromir hier nicht gefallen wäre?“, erkundigte sich Legolas. Aragorn zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht, mellon nîn. Wenige Augenblicke, bevor Boromir starb, erkannte er meinen Anspruch an, den ich gar nicht wollte. Vielleicht hat mich erst das Versprechen, das ich ihm unmittelbar vor seinem Tod gab, dazu gebracht, mich zu diesem Anspruch und zu meiner Herkunft zu bekennen.“
„Wärst du nicht König, wäre Mittelerde im Chaos versunken“, gab der Elb zu bedenken. Aragorn schüttelte den Kopf.
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wäre Boromir nicht gefallen, wäre ich wahrscheinlich mit ihm nach Minas Tirith gegangen – schon um zu verhindern, dass er sich des Rings bemächtigt. Ob es etwas an dem geändert hätte, was später geschah, weiß ich nicht – abgesehen von Denethors Tod. Wäre Boromir hier nicht gestorben, hätte der Statthalter sich wohl nicht aus Gram das Leben genommen.“
„Es hätte etwas geändert, mellon!“, beharrte Legolas. „Du hast die Völker Mittelerdes geeint. Denethor oder auch Boromir hätten das in ihrem falschen Stolz nicht getan. Sie hätten versucht zu herrschen, wie Menschen es für gewöhnlich tun. Du bist jetzt fünf Jahre König, aber du zeigst keine Herrschsucht.“
Aragorns Blick zeigte seinem elbischen Freund wieder die Unsicherheit, die den König immer noch zuweilen befiel. Er mochte es nicht, für seine Taten – oder auch sein Unterlassen – gerühmt zu werden.
„Wer weiß, was ich noch alles falsch machen werde?“, seufzte Aragorn. „So wie ich mich gestern Abend beinahe verplappert hätte. Hättest du nicht eingegriffen, hätte ich Gandalf unmöglich gemacht, sofern ich den Mund wieder aufgemacht hätte. Nein, nein! Elrond hatte so Recht: Menschen machen Fehler, und sie sind schwach – und ich bin ein Mensch, Legolas.“
Legolas lächelte auf seine unnachahmliche Art, die ebenso überirdisch wie sympathisch war.
„Ich habe einmal an dir gezweifelt – und das war genau im falschen Moment. Auch ein Elb macht Fehler, wie du siehst. Wir kennen uns lange, mellon. Lange und gut. Du glaubst zwar immer, Fehler zu machen, aber ich habe noch nie bemerkt, dass dir wirklich welche unterlaufen.“
„Hannon le für deine Großzügigkeit in dieser Hinsicht. Ich selber sehe mich da anders. Und danke dafür, dass du mich und Gandalf gestern vor einer Peinlichkeit bewahrt hast.“
Legolas’ Lächeln wurde noch breiter.
„Ú-moe hanned, Aragorn[83].“
Die Sonne stieg höher und die beiden Freunde kehrten um und stiegen den schmalen Weg zur Treppe hinunter. Dort, wo die alte Nordtreppe begann, öffnete sich der Bergwald und bot einen unglaublichen Fernblick, der durch den kalten, klaren Tag noch begünstigt wurde. Zu Füßen der Emyn Muil lag der östlichste Zipfel von Ost-Emnet, südlich des Entwasser-Deltas dehnten sich auf gut fünfzig Meilen die Ebenen Anóriens bis an die Ered Nimrais aus. Sogar die Straße zwischen Edoras und Minas Tirith war von dem Bergabsatz aus in der klaren Morgenluft zu erkennen. Links von ihnen breitete sich das Fennfeld bis zu den Niemandslanden aus, die die nördliche Grenze Ithiliens bildeten. Noch weiter links, ganz im Osten, glitzerten die Moortümpel der Totensümpfe. Jenseits der grünen Hügel der Niemandslande erhoben sich schroff die steilen Felsen des Ephel Dúath, der in der Ferne als bläuliches, auf den Spitzen schneebedecktes Band gerade noch zu erkennen war. Zwischen dem Fennfeld und dem Delta der Entwasser zeigte sich das breite, silberbläuliche Band des Anduin, das nach Süden zog, hinter der südlichsten Mündung der Entwasser einen leichten Knick nach links machte, um dann in der dunstigen Ferne zu verblassen, wo sich Erde und Himmel trafen.
Legolas wies weit nach Westen zur Straße, die von Edoras nach Minas Tirith führte.
„Ceno, Aragorn! Deine Freunde sind mit dir. Nie wieder wird ein freies Volk ein anderes im Stich lassen. Dort auf der Straße unterhalb der Ered Nimrais zieht ein Zwergenheer nach Minas Tirith“, sagte er. Aragorn glaubte seinem elbischen Freund aufs Wort, was er sagte. Legolas hatte kein Problem damit, bei dieser kristallklaren Luft über hundert Meilen weit genau zu sehen, was vorging, sofern er nur hoch genug stand, um die über die Krümmung der Welt hinweg zu schauen. Der Blick des Elben ging nach Süden.
„Dort, nördlich von Cair Andros marschieren Faramir und deine Krieger zum Fennfeld“, sagte er dann und wies in die entsprechende Richtung.
„Kannst du auch die Haradrim erkennen?“, fragte Aragorn. Der Elb sah suchend zum Ephel Dúath, schüttelte dann aber den Kopf.
„Nein, sie müssen noch auf der Südstraße sein. Die Hügel überragen die Südstraße, so dass ich nicht sehen kann, ob sich dort jemand bewegt.“
„Dann sind sie noch so weit entfernt, dass sich der Rasttag gelohnt hat, mellon. Komm, gehen wir zurück zu unseren Freunden“, erwiderte Aragorn und winkte Legolas.
Kapitel 19
Verfolgung durch Rohan
Am Morgen, als Aragorn mit den Rohirrim und den Elben den Anduin überschritt, war Hadurans abendliche Flucht entdeckt worden. Der junge Harader war die ganze Nacht hindurch geritten, bis er den Wald am Schneeborn erreicht hatte. Dort hatte er sich ungesehen bis zum Mittag verbergen können und war dann weitergeritten.
Nur zwei Stunden, bevor Haduran den Wald am Schneeborn wieder verließ, brachen sechzig Meilen weiter westlich drei Reiter auf, um Haduran wieder einzufangen: der kaum genesene Athiaron, Bergil, Aragorns Knappe, sowie Herlif, Sigarils Sohn. Sigaril hatte seinen Sohn zur Heerschau nach Edoras mitgenommen, hatte ihn aber noch nicht mit in den Kampf nehmen wollen. Bergil hatte in der Goldenen Halle Meduseld von Hadurans Flucht erfahren und hatte sich Herrn Gamling als Verfolger angeboten, ohne seine Königin vorher um Erlaubnis zu bitten. Gamling, dem bekannt war, dass Bergil als einer der Leibwächter von Königin Arwen in Edoras bleiben sollte, wollte ihn zunächst nicht gehen lassen, doch Bergil suchte sich Fürsprecher: Merry und Pippin aus dem Auenland. Die beiden Hobbits ließen sogar das erste Frühstück stehen, um ihrem Freund Bergil behilflich zu sein. Beide ließen sich bei Königin Arwen melden, die sie auch zu so früher Stunde empfing.
„Ihr wolltet noch vor dem Frühstück mit mir sprechen, hat Herr Gamling mir gesagt. Dann muss es sehr wichtig sein. Was wünscht ihr?“, erkundigte sich Arwen, als die beiden Halblinge zu ihr kamen.
„Es geht darum, dass dein Mann, unser Freund Aragorn, in großer Gefahr ist, wenn der entflohene Haduran rechtzeitig zu seinem Vater zurückkehrt“, erklärte Pippin.
„Du möchtest, dass ich dir die Erlaubnis geben ihn zu verfolgen, obwohl Aragorn dir befohlen hat hier zu bleiben. Verstehe ich dich recht?“, fragte die Königin.
„Nein, nicht ich oder wir beide, meine Königin. Bergil möchte es tun – mit Athiaron und Herlif, Sigarils Sohn. Bitte, gib ihm die Erlaubnis“, erwiderte Pippin.
„Ich halte das nicht für besonders klug, Peregrin Tuk“, entgegnete Arwen. „Bergil ist Aragorns Knappe. Er ist noch sehr jung“, warnte sie. Der Hobbit lächelte.
„Nun, er ist nach den Gesetzen der Menschen noch nicht jährig, wie ich weiß. Aber das war ich auch nicht, als ich vor fünf Jahren für Gondor in den Krieg zog. Doch auch jemand, der klein ist oder noch sehr jung, kann große Taten vollbringen. Manchmal hilft nur eine grobe Erfahrung, um vernünftig zu werden. Lass’ ihn seine Erfahrung machen, bitte“, bat er.
„Ich habe gehört, euch hätte man von einer Begleitung Frodos nur abhalten können, wenn man euch im Sack verschnürt ins Auenland zurück geschickt hätte. Stimmt das?“, erkundigte sich die Königin. Die beiden Hobbits lächelten leicht verlegen.
„Ja, genau. Und wir fürchten, dass es Bergil ebenso ernst ist, deinen Mann vor Haduran zu retten. Vielleicht würde er einfach ausreißen, wenn du ihm die Erlaubnis verweigerst“, warnte Merry.
Arwen dachte einen Moment nach. Bergil war in Edoras nicht glücklich. Der Junge wusste nur zu gut, dass Aragorn ihn zu seiner eigenen Sicherheit von dem fernhalten wollte, was ihn brennend interessierte. Sie erinnerte sich, dass ihre Brüder ihr erzählt hatten, dass Aragorn schon sehr früh seine ersten Kämpfe bestanden hatte – so früh, dass er mit zwanzig Jahren bereits mehr als nur gut mit dem Schwert war und allein in die Wildnis hatte ziehen können. Als Dúnadan hatte Aragorn ein für Menschen sehr langes Leben zu erwarten, wenn er nicht im Kampf fiel. Auf Bergil traf das nicht unbedingt zu. Er würde vielleicht siebzig Jahre alt werden.
Verglichen mit der Lebenserwartung eines normalen Menschen war Aragorn also überaus früh in seinem Leben selbstständig geworden. Bergil hatte viel von Aragorn gelernt. Nicht nur, dass er ein für sein Alter bemerkenswert guter Schwertkämpfer war; Aragorn hatte ihm auch beigebracht, in der Wildnis zu überleben. Seit etwa einem Jahr unterrichtete er den Jungen auch im Spurenlesen, weil Bergil für die Natur und die darin lebenden Tiere großes Interesse zeigte. Wenn es außer Aragorn selbst jemanden unter den Männern Gondors gab, der sich in der Wildnis zurechtfand und ein guter Kämpfer war, dann war es sicher Bergil, mochte er auch noch sehr jung sein.
„Ich vertraue Bergil“, sagte Arwen schließlich. „Holt ihn her“, wies sie dann die Hobbits an.
Merry und Pippin strahlten über das ganze Gesicht und holten Bergil herein, der draußen vor der Tür der Königin gewartet hatte.
„Merry und Pippin haben mir gesagt, es sei deine Absicht, Haduran zu verfolgen. Was hast du dazu zu sagen, Bergil?“, fragte Arwen mit gut gespielter Strenge. Er wurde rot bis unter die Haarwurzeln.
‚Wenn du dich jetzt nicht dazu durchringst, entschlossen zu sein, wird es dir nie gelingen!‘, mahnte er sich in Gedanken.
„Herrin, Euer Gemahl ist in Gefahr, wenn Haduran nicht wieder festgesetzt wird. Bitte, lasst mich ihn verfolgen“, sagte er mit aller Entschlossenheit, die seine Jugend ihm möglich machte, wenngleich seine Stimme vor Aufregung doch etwas schrill klang.
„Und du glaubst, dass du Haduran, einen erfahrenen Kämpfer, finden und besiegen kannst?“, fragte die Königin weiter.
„Außer mir wollen noch Athiaron und Herlif die Verfolgung aufnehmen, Herrin“, gab er vorsichtig zu bedenken.
„Und wer sind die beiden anderen? Kenne ich sie?“
„Herlif ist der Sohn von Sigaril. Sein Vater hat ihn nach Edoras mitgebracht. Er ist ein guter Reiter, wie jeder Eorling. Und er ist mein Freund. Athiaron … ich glaube, den kennt Ihr noch unter seinem alten Namen Echnorn. Er ist der Bruder von Prinz Legolas, Herrin, einer der zurückverwandelten Orks.“
„Echnorn ist schwer verwundet, Bergil!“, entfuhr es Arwen erschrocken. „Ist er denn schon so weit genesen?“
„Als ich ihn eben im Stall gesehen habe, hätte ich nicht vermutet, dass es ihm nicht gut genug geht, hohe Frau“, erwiderte Bergil. „Ich habe mich selbst gewundert, aber er sagte mir etwas von den Heilkräften seines Volkes.“
Arwen lächelte. Was die Selbstheilungskräfte der Elben betraf, hatte sie sie richtig eingeschätzt.
„Ich sehe, du meinst zu wissen, was du tun willst und mit wem“, sagte sie. „Nun, du hast das tapfere Herz deines Vaters, Bergil. Dann reite und versuche, deinem König zu helfen, so gut du es vermagst.“
Der junge Knappe fiel in eine hastige Kniebeuge.
„Danke, Herrin!“, keuchte er und verschwand eilig aus dem Raum, bevor seine Königin es sich noch anders überlegen konnte.
Bergil hetzte zu den Stallungen, besorgt nach dem Sonnenstand sehend. Es war schon spät. In gut zwei Stunden war es schon Mittag, und sie waren noch immer nicht unterwegs. Athiaron und Herlif warteten bereits mit fertig gesattelten Pferden auf ihn.
„Tut mir Leid, aber meine Königin hätte mich beinahe nicht gehen lassen!“, hechelte er, als er sich in den Sattel schwang. Athiaron lächelte breit. Er hatte nur hoffen können, dass sich überhaupt noch jemand mit ihm zusammen auf den Weg machen wollte. Ganz allein den flüchtigen Haduran zu verfolgen, war doch ein sehr großes Risiko, wie er sich zögernd eingestanden hatte, als er den Sattel fast nicht auf den Rücken des Pferdes bekommen hatte. Nur mithilfe von Herlif hatte er es geschafft. Er war doch noch mehr geschwächt, als er geglaubt hatte.
„Ú-moe edaved, mellon“, sagte er und ritt an. Die beiden Jungen folgten dem Elben.
Kaum hatten sie das Stadttor von Edoras hinter sich gelassen, als Athiaron den grauen Wallach zu scharfem Galopp antrieb. Die beiden Menschen taten es ihm gleich, und drei rohirrische Pferde setzten ihre ganze Schnelligkeit ein, um ihre Reiter zu deren Ziel zu tragen. Alle drei wussten, dass Haduran nur nach Osten geflohen sein konnte; dorthin, wo die Krieger seines Volkes durch ein für sie feindliches Land zogen. So nahmen sie den Weg, der am Schneeborn entlang nach Osten führte. Auf einem sandigen Streifen am Ufer zeichnete sich scharf und klar die Spur eines einzelnen galoppierenden Pferdes ab. Athiaron verlangsamte sein Pferd kurz und stellte fest, dass das Pferd mit dem rechten Hinterhuf im Galopp eine Drehung nach außen machte. Es war die gleiche Spur, die er auch unterhalb der Palisade von Edoras gefunden hatte, dort, wo der Postenreiter im Morgengrauen bewusstlos entdeckt worden war. Diese Spur passte also zu dem Pferd, das Haduran dem Posten für seine Flucht abgenommen hatte.
„Das ist Hadurans Pferd!“, rief er seinen Begleitern zu. Sie nickten und trieben ihre Pferde wieder zum schnellen Galopp an.
Die Spur neben dem Fluss führte geradewegs auf den in der Ferne schon erkennbaren Wald zu, der etwa zwanzig Meilen vor der Mündung des Schneeborn in die Entwasser den schmalen Fluss zu beiden Seiten umfing. Als die Dunkelheit hereinbrach, erreichten sie den Wald. Schnell wurde es dunkler, und selbst Athiarons scharfe Elbenaugen konnten keine Spur mehr sehen. Er hielt sein Pferd an, die beiden Menschen taten es ebenfalls.
„Könnt ihr beiden Spuren lesen?“, fragte er dann. Bergil nickte zögernd, Herlif schüttelte den Kopf.
„Ja, etwas“, erwiderte der junge Gondorer. „Allerdings jetzt nicht mehr. Für mich ist es schon zu dunkel“, bekannte er dann. Athiaron sprang vom Pferd.
„Ich sehe sie auch nicht mehr. Dann sollten wir hier lagern und die Spur suchen, sobald es hell genug dafür ist“, schlug er vor. Die beiden Jungen saßen gleichfalls ab.
„Ob wir hier im Wald bleiben sollten?“, fragte Herlif. „Mein Vater hat mich immer davor gewarnt, in den Wald zu gehen, der nördlich von unserem Hof ist.“
„Jeder Wald ist anders“, erwiderte Athiaron. „Manche können wirklich gefährlich sein, wenn die Bäume nur alt und zornig genug sind und es keine Ents oder zu wenig Elben gibt, um sie zu zähmen. Wo ist euer Hof?“
„Ach, ungefähr zehn Meilen östlich des Isen, nicht weit vom Nebelgebirge“, antwortete Herlif.
„Dann ist der Wald nördlich von euch der Fangorn“, bemerkte der Elb.
„Ja, richtig.“
„Hmm, der Fangorn ist wirklich alt und hat zornige Bäume.“
„Warst du einmal dort?“
„Es ist schon sehr lange her, vor mehr als zweitausend Jahren“, sagte Athiaron leise.
„Und seither nicht mehr?“, wunderte sich Herlif. „Was hast du seitdem gemacht?“
Bevor Athiaron antworten konnte, bremste Bergil seinen rohirrischen Freund.
„Ich glaube, es ist besser, wenn Athiaron dir das erzählt, wenn wir wieder zurück in Edoras oder in Minas Tirith sind“, sagte der junge Gondorer. „Was meinst du, Athiaron, würden diese Bäume böse werden, wenn wir hier aus trockenem Holz Feuer machen?“, wandte er sich an den Elben. Athiaron sah sich um. Die Bäume machten einen freundlichen Eindruck auf ihn. Er konnte hören, wie sie leise tuschelten, aber es war keine Wut in ihren leisen Worten.
„Nein, solange wir nichts von ihnen selbst abreißen oder an ihren Wurzeln Feuer machen, werden sie uns nichts tun.“
Sie sammelten herabgefallene, trockene Äste und machten in respektvollem Abstand zu den Bäumen ein kleines Feuer, das sie mit Steinen umlegt hatten, damit die Flammen nicht auf den laubbedeckten Boden übergriffen.
Früh am nächsten Morgen weckte Athiaron seine beiden jungen Begleiter.
„Kommt, es wird Zeit, dass wir die Suche fortsetzen“, sagte er, als Bergil und Herlif verschlafen hochkamen. Nur langsam wühlten sie sich aus den Decken und streckten sich.
„Wir müssen die Pferde noch tränken und ihnen was zu fressen geben“, brummte der junge Eorling. Athiaron klopfte ihm leicht auf die Schulter.
„Das habe ich schon erledigt, als ihr zwei noch geschnarcht habt, als wolltet ihr den Wald hier komplett absägen. Sie sind satt und warten nur noch auf euch zwei“, grinste der Elb. „Kommt jetzt! Haduran hat großen Vorsprung – und wir müssen seine Fährte erst wieder finden!“
Mit elegantem Schwung sprang Athiaron auf den Rücken seines Pferdes, während die beiden Jungen noch halb schlafend in die Sättel stiegen.
Das stärker werdende Tageslicht zeigte Athiaron die im gefallenen Laub nur schwer wahrnehmbare Spur von Hadurans Pferd. Nur die Tatsache, dass das Pferd des Flüchtlings mit dem rechten Hinterhuf drehte, zeichnete überhaupt eine Spur. Es würde schwer werden, den Harader einzuholen und wieder gefangen zu nehmen.
„Was meinst du, Bergil? Die Spur führt fast gerade am Fluss entlang, oder?“, fragte Athiaron. Bergil lächelte den Elben freundlich an.
„Fragst du, um mich zu prüfen, ob ich nicht geschwindelt habe?“
„Nein, um mich vergewissern, dass ich als Elb noch kann, was ich als Ork nicht ganz vergessen hatte“, erwiderte er. Bergil sah sich vorsichtig zu Herlif um, der ob dieser Aussage große Augen machte.
„Du … du …“, stotterte der junge Eorling.
„Ja, ich war zweitausend Jahre ein Ork. Aber Meister Mithrandir konnte mich und meine Freunde wieder zu Elben machen“, erwiderte Athiaron. Herlif hielt sein Pferd an.
„Orks haben unsere Pferde gestohlen! Ich reite nicht mit einem Ork!“, rief er.
„Herlif, Athiaron ist kein Ork mehr!“, erinnerte Bergil. „Er ist ein Freund von König Elessar – und der Bruder von Prinz Legolas. Die kennst du doch beide, oder?“
„Ja, aber … aber … wieso? Wieso warst du ein Ork?“
„Herlif, ich erzähle es dir, wenn wir heute Abend unser Lager aufschlagen. Aber jetzt lass’ uns reiten, sonst ist Haduran weg und eure Könige und mein Vater Thranduil in großer Gefahr!“, drängte Athiaron. Herlif kämpfte mit sich, das war ihm anzusehen. Schließlich rang er die Zweifel nieder und folgte Bergil und dem ihm nun unheimlich erscheinenden Elben mit den dunklen Haaren und braunen Augen.
Etwa vier Stunden später hatten sie der Spur folgend den östlichen Waldrand erreicht. Athiaron wies auf die im schlammigen Flussbett noch gut erkennbare, aber im kurzen Gras auf dem östlichen Ufer der Entwasser kaum noch sichtbare Spur, die sich nach Osten fortsetzte.
„Das muss er sein! Aber er hat noch immer viel Vorsprung. So, wie die Spur hier im Uferschlamm aussieht, ist er schon gestern Mittag hier weiter geritten. Los, beeilen wir uns!“
Sie gaben ihren Pferden die Sporen und jagten in schnellem Galopp quer über die weite Ebene von Ost-Emnet.
Rohirrische Pferde waren schnell, sehr schnell und auch sehr ausdauernd. Auch Haduran nutzte Schnelligkeit und Ausdauer des Pferdes, das er dem unglücklichen Posten abgenommen hatte. Er gönnte sich und dem Pferd keine Pause, jagte bis zur Dunkelheit immer geradeaus, fast direkt nach Osten. Ab und zu sah er sich um, konnte aber hinter sich nichts sehen. Dennoch hatte er das Gefühl, dass er längst verfolgt wurde. Die weite Ebene bot keinerlei Möglichkeiten, sich zu verstecken. Ihm blieb nur der Weg in die Emyn Muil oder in das Fennfeld selbst, in dem er hoffen konnte, in der hohen Vegetation zu verschwinden. So unterließ er es auch, Feuer zu machen, das mögliche Verfolger über Dutzende von Meilen auf ihn aufmerksam machen würde.
Als die Dunkelheit sich auf das Land senkte, fand Bergil eine größere Fläche, auf der das kurze Gras völlig niedergedrückt war. Er hielt sein Pferd zurück und rief seine Freunde.
„Was meint ihr? Da könnte ein Mensch und dort ein Pferd gelegen haben, oder?“, meinte er und wies auf die Flächen. Athiaron hielt an und stieg ab. Vorsichtig strich er mit den Fingern über das niedergewalzte Gras.
„Ja, du hast Recht, Bergil. Er hat nur noch einen knappen Tag Vorsprung. Wir holen auf. Aber trotzdem müssen wir jetzt warten, bis es wieder hell wird. In der Dunkelheit könnten wir ihn verpassen oder übersehen, dass er vielleicht in die Emyn Muil geflohen ist, um uns aus dem Weg zu gehen.“
„Wär’ das denn so wahrscheinlich, wenn er zu seinem Volk will?“, fragte Herlif. Athiaron sah sich suchend um.
„Ich denke schon. Würde ich ausreißen, würde ich versuchen, jede Deckung zu nutzen, die sich bietet. Nur ganz wenige können einer Spur in diesem federnden Gras folgen. Da bietet es sich an, mögliche Verfolger abzuhängen, indem man sich in den unübersichtlichen Bergen versteckt. Wir müssen also morgen früh sehen, ob er das getan hat, oder ob er geradeaus über den Anduin geritten ist.“
Sie schlugen ihr Lager auf, was hieß, dass sie den Pferden die Sättel und die Gebisse abnahmen, vom Zaumzeug aber nur die Zügel aufknüpften, damit die Pferde beim Grasen nicht zu weit davonliefen. Die Sättel benutzten sie als Kopfkissen und deckten sich mit den Satteldecken zu. Ein Feuer machten sie nicht, um Haduran nicht auch noch zu warnen. Während sie sich mit Trockenfleisch, Schüttelbrot (die längst nicht so sättigende, rohirrische Variante des Reisebrots) und Wasser aus den Feldflaschen stärkten, bat Herlif Athiaron, ihm von seinen Verwandlungen zu erzählen.
„Wie es dazu kam?“, fragte Athiaron. „Ich hatte es selbst fast vergessen, aber nach und nach ist mir alles wieder eingefallen. Es war im Jahr 1060 des Dritten Zeitalters. Ich war siebenhundertfünfundzwanzig Jahre alt, als mein Vater, König Thranduil, mich beauftragte, mit einer größeren Anzahl seiner Krieger den Elbenpfad durch unseren Wald zu schützen. Einige Jahre zuvor war es dort, im Großen Grünwald, so düster und gefährlich geworden, dass der Wald nun Düsterwald genannt wurde. Noch wussten wir nicht, dass es Sauron war, der sich nach gut tausend Jahren von seiner Niederlage in der Schlacht auf der Dagorlad soweit erholt hatte, dass er sich wieder regen konnte und langsam seine Macht zurückgewann. Wir hatten den ganzen Weg bis zur Alten Furt kontrolliert, als wir von einer großen Übermacht von Orks angegriffen wurden. Auf jeden von uns Elben kamen wohl zehn von ihnen, wenn nicht noch mehr. Wir waren hoffnungslos unterlegen, viele von uns kamen im Kampf um, alle anderen und ich selbst waren schließlich kampfunfähig verwundet, und wir wurden von den Orks gefangen genommen.
Sie schleppten uns in eine Festung weit im Süden des Düsterwaldes, nach Dol Guldur, die Sauron erst wenige Jahre zuvor erbaut hatte und für die er noch viele Sklaven brauchte; denn Orks waren nichts anderes als seine Sklaven. In den tiefsten Verliesen dieser Festung verhexte Sauron uns mit seinen finsteren Zaubersprüchen. Aber die allein machten keinen Elben zum Ork“, erklärte der Elb. Seine Stimme wurde sehr leise und drohte fast zu brechen, als er sagte:
„Mit unaussprechlichen Qualen und fast noch unaussprechlicherer Nahrung half er nach. Nach Jahrzehnten mit täglicher Verhexung und grauenhaften Schmerzen war ich dann ein Ork. Ich vergaß, wer und was ich war, vergaß meine Sprache und fürchtete das Licht. Mit Mühe und noch mehr Schmerzen erlernte ich die Schwarze Sprache und begann zu hassen, was ich einmal geliebt hatte – frische Luft, Sonne, grüne Bäume, klares Wasser, blauen Himmel, das Licht der Sterne und des Mondes. Ich hasste Elben, Zwerge und Menschen, die Tiere des Waldes und des Feldes. Ich gehörte dann zu denen, die Sauron aussandte, um den Zwergen Moria zu entreißen.
Nicht die Zwerge haben den Balrog geweckt, nein, wir Orks waren es. Dafür haben wir eine Mithrilader völlig ausgebeutet, bis wir den Balrog frei hatten. Der Dank unseres Meisters war, dass die meisten von denen, die den Balrog befreit hatten, gleich an ihn verfüttert wurden. Ich konnte mich mit einigen anderen knapp verstecken und wir tauchten erst wieder in der Orksippe auf, als der Balrog genug von uns gefressen hatte.
Als Balin, der Vater des jetzigen Herrn von Khazad-dûm, es wieder in Besitz nehmen wollte, gehörte ich zu denen, die mit aller Macht gegen die Zwerge kämpften und sie schließlich erschlugen. Schon fast zweihundert Jahre früher hatten wir einen Versuch der Zwerge abgewehrt, die Minen wieder in Besitz zu nehmen.
Als wir nach einer neuen Mithrilader suchten, stießen wir auf ein völlig schwarzes, glänzendes Gestein. Inzwischen weiß ich, dass es das Gestein ist, aus dem Palantíri gemacht werden können. In einem Stück dieses Gesteins sah ich mich eines Tages im Spiegel, aber es war nicht wie im Wasser – ich sah einen Elben, wenn ich in diesen Spiegel schaute. Und so ging es noch vielen anderen aus meiner Orksippe. Wir merkten, dass etwas mit uns nicht stimmte und dass wir vielleicht etwas anderes waren als Orks. Jeder Blick in diesen seltsamen Spiegel brachte uns dieser Erkenntnis näher, mit jedem Blick hinein verloren wir mehr von unserem Hass auf Elben, Menschen und Zwerge, und mehr und mehr sehnten wir uns nach Sonne und Sternenlicht. Schließlich fanden wir die Endlose Treppe, aber der Balrog fand uns auch. Er hetzte uns die Treppe hinauf und fraß, wen er erwischen konnte. Wir waren etwa fünfundzwanzig, die sich in einer Seitenhöhle der Endlosen Treppe verstecken konnten und so dem Balrog entkamen, der die übrigen von uns weiterhetzte und verschlang und die letzten drei ins Licht jagte, wo sie im Sonnenlicht zugrunde gingen.
Wir haben sie gefunden, als der Balrog wieder in die Tiefen verschwand und wir die Gelegenheit hatten, nach unseren Gefährten zu suchen. Als wir nach oben kamen, war es bereits dunkel und das rettete uns. Aber damit wussten wir, dass wir Moria nicht verlassen konnten, weil wir an das Dunkel gefesselt waren. Uns blieb also nichts anders übrig, als wieder in die Tiefe zu gehen und dort zu bleiben.
Dass sich etwas in uns verändert hatte, dass wir nicht mehr alles ohne Widerspruch taten, merkten wir, als die Gemeinschaft des Ringes nach Moria kam und wir uns nicht vorstellen konnten, sie ebenso zu jagen wie die Zwerge, die vorher dort waren. Ich sah Legolas. Er kam mir bekannt vor, auch wenn ich in dem Moment nicht wusste, dass ich meinen Bruder sah. Bis sie in die alte Wachstube kamen und einer von ihnen etwas in den Brunnen warf, gelang es uns, die anderen von ihrem Weg fernzuhalten. Wir haben gegen unsere eigenen Sippen gekämpft, um sie unbeschadet aus Moria herauszubringen. Unglücklicherweise standen sie an der alten Brücke von Khazad-dûm zwischen uns und den anderen Orks, die nicht in den Steinspiegel gesehen hatten. Fünf von uns haben Aragorns und Legolas’ Bogenkunst nicht überlebt, weil die sich von uns angegriffen fühlten. Beinahe hätte ich meinen eigenen Bruder getroffen, als ich auf einen Ork schoss, der auf der anderen Seite der Brücke war. Seinem Pfeil bin ich nur im Reflex entgangen. Aber von da an wollten wir nicht mehr Orks sein. Doch wie wir davon frei werden konnten, das wussten wir nicht.
Immerhin gelang es uns, mit den Zwergen von Balin dem Jüngeren, der Khazad-dûm nach dem Ringkrieg wieder in Besitz nahm, Frieden zu schließen und sie davon zu überzeugen, dass wir nicht – mehr – die Bestien waren, als die sie uns ansahen. Zu unserem großen Glück hatte dann Aragorn den festen Glauben, dass die Verwandlung rückgängig zu machen wäre. Und durch sein Vertrauen und Mithrandirs Zauberkunst bin ich nun wieder ein Elb, spreche wieder meine Sprache und habe meinen Bruder und meinen Vater wieder gefunden.“
Herlif sah im ungewissen Licht der Sterne, dass in Athiarons Augen Tränen glitzerten. Der junge Eorling war völlig sprachlos über das, was der Elb erzählt hatte. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich so weit gesammelt hatte, dass er dem Elben sagen konnte, dass ihm sein Misstrauen Leid täte.
„Das muss dir nicht Leid tun, Herlif“, erwiderte Athiaron mit einem freundlichen Lächeln. „Wäre ich an deiner Stelle, wäre es mir nicht anders gegangen.“
Der Elb sah nach dem Stand der Sterne.
„Es ist spät. Wir sollten morgen bei Tagesanbruch fertig sein, damit wir im ersten Licht die Spuren Hadurans wieder finden“, sagte er. Die beiden Jungen nickten zustimmend, und bald waren sie eingeschlafen.
In den zweitausend Jahren seines Orkdaseins hatte auch Athiaron sich angewöhnt, zu schlafen. Elben schliefen eigentlich nicht, sondern entspannten sich, indem sie die Schönheit der Sterne betrachteten. Doch in den dunklen Tiefen von Moria gab es keine Sterne, sondern nur absolute Finsternis, wenn das letzte Licht von Feuern und Fackeln erloschen war. So hatten die zu Orks verwandelten Elben gelernt, die Augen zu schließen und wirklich zu schlafen. Aber nach wie vor brauchte Athiaron nur wenig Schlaf. Lange, nachdem die beiden jungen Menschen schon eingeschlafen waren und auch die Pferde sich zur Ruhe gelegt hatten, war der neugeborene Elb noch wach, was aber außer an seinen aufwühlenden Erinnerungen auch daran lag, dass seine kaum verheilte Wunde wieder schmerzte. Er begann sich zu fragen, ob es wirklich klug gewesen war, in diesem nicht ganz genesenen Zustand eine Verfolgungsjagd quer durch Rohan aufzunehmen. Irgendwann war er doch eingeschlafen, denn er erwachte erst, als über dem östlichen Horizont schon ein heller Streifen zu erkennen war, der einen ebenso klaren Tag wie den vorherigen ankündigte.
‚Wenn wir Haduran heute nicht einholen, entkommt er ins Fennfeld oder in die Emyn Muil‘, dachte der Elb bei sich. Der Himmel wurde heller und die Umrisse der Emyn Muil zeichneten sich scharf und klar gegen den nordöstlichen Himmel ab. Es wurde Zeit zum Aufbruch.
Kapitel 20
Kampf am Fennfeld
Im Morgengrauen des Tages, an dem Athiaron, Bergil und Herlif aufbrachen, um Haduran einzuholen, machte sich eine große Streitmacht aus Elben, Rohirrim und einigen Gondorern auf den Weg nach Osten, um das Fennfeld zu umgehen. Der Übergang über den Anduin südlich des Rauros-Falls war zwar gut sieben Meilen breit, rechnete man bis zur nördlichsten Mündung der Entwasser, doch Aragorn wollte vermeiden, in das Fennfeld selbst zu geraten. Es war ein sumpfiges, nasses Gelände; zwar war es kein Moor mit zahlreichen, abgrundtiefen Löchern und Teichen wie die Totensümpfe weiter nördlich, aber für Pferde kaum passierbar – besonders von einem großen berittenen Heer, das aus gut zehntausend mehr oder weniger schwer gepanzerten Reitern und deren Pferden bestand. Der feste Grund am Nordrand des Feuchtgebietes war ungefähr fünf Meilen breit und bot genug Platz für den ganzen Heerwurm von Rohirrim, Elben und Gondorern.
Von den knapp hundertfünfzig Meilen entfernten Türmen an den Seiten des Morannon und dem nordwestlichen Knick des Ephel Dúath war vom Anduin fast genau in östlicher Richtung sogar vom Boden aus schon der oberste Teil zu sehen. Die Straße, die unmittelbar am Westrand des Ephel Dúath verlief und von der Ecke aus fast genau nach Süden abbog, war allenfalls zu ahnen. Der große Heerbann schlug ein mittleres Tempo von etwa fünf Meilen pro Stunde an.
Ohne dass es zu Zwischenfällen kam, erreichte Aragorns Aufgebot die nördlichste Ecke des Fennfeldes eine knappe halbe Stunde vor Sonnenuntergang. Dort, wo sie von den ithilischen Hügeln her noch nicht gesehen werden konnten, schlugen sie ihr Nachtlager auf.
„Was meinst du? Ob es Faramirs Waldläufern gelungen ist, die Haradrim in Richtung Norden etwas anzutreiben?“, erkundigte sich Éomer, als sie ihre Pferde versorgten. Nahe bei den Pferden der beiden Könige befanden sich auch die Warge der ehemaligen Orks, die von Aranthaur ihre Leckerbissen bekamen. Éomer warf ein ums andere Mal einen besorgten Blick zu den Untieren. Obwohl sich die gut gezähmten Warge bisher nicht gegen die Pferde gewandt hatten, traute der König der Mark diesen Tieren noch immer nicht ganz.
„Das hoffe ich“, seufzte Aragorn. „Und ich hoffe, dass sie uns nicht zu früh bemerken, denn in den Hügeln Ithiliens können die Haradrim verschwinden wie ein Volk Kaninchen im Hügelbau – abgesehen von den Mûmakil, die sie bei sich haben.“
Aranthaurs Warg fletschte die Zähne, als er das Wort Mûmakil hörte.
„Mag dein Warg keine Mûmakil, Aranthaur?“, fragte Aragorn. Der Elb lächelte.
„Nazg ist mal ein Mûmak auf den Fuß getreten. Das hat er nicht vergessen, und seither hasst er diese riesigen Trampeltiere“, erklärte Aranthaur und tätschelte den Hals seines Wargs. „Nicht wahr, Nazg?“, setzte er hinzu. Ein kehliges Grunzen mit hechelnder Zunge bestätigte seine Erklärung.
„Erlaubt mir einen Vorschlag, Herr“, wandte Aranthaur sich dann wieder an Aragorn.
„Und was willst du vorschlagen?“
„Unsere Warge sind sehr schnell, schneller noch als Pferde, und sie sind kleiner. Sie haben auch große Pranken und sinken selbst in sumpfigem Gelände nur wenig ein. Lasst uns durch das Fennfeld reiten und kundschaften. Wenn wir die Haradrim finden, könnten wir ihnen vielleicht mit den Wargen den Weg abschneiden, damit sie nicht in den Hügeln verschwinden – nötigenfalls mit Feuer. Vor Wargen haben sie Angst, das wissen wir“, sagte Aranthaur. Éomer sah den König von Gondor an und schüttelte nur den Kopf, doch Aragorn nickte.
„Sind eure Warge stark genug, Mûmakil umzuwerfen?“, fragte er.
„Sie können sie schwer verletzen. Die Gebisse sind scharf und stark genug, um Eisen zu zerbeißen“, erwiderte der Elb.
„Gut, Aranthaur. Tu, wie du gesagt hast. Wenn ihr auf die Haradrim stoßt, haltet sie in Schach, damit sie nicht in die Wälder entwischen. Wenn ihr könnt – aber nur, wenn ihr euch nicht unnötig in Gefahr begebt – nehmt euch die Mûmakil vor. Bringt sie zu Fall, wenn es möglich ist“, wies Aragorn ihn an.
„Estelio in edhil, aran nîn![84]“, erwiderte Aranthaur. „Wenn Ihr mir noch einen Vorschlag erlaubt …?“, setzte er dann an. Aragorn nickte.
„Wenn ich richtig schätze, sind die Haradrim noch nicht durch die Niemandslande gezogen, selbst wenn Eure Soldaten ihnen Beine gemacht haben, weil der größte Teil von ihnen zu Fuß geht. Zieht Ihr morgen in diesem Tempo weiter, durchquert Ihr die Ebene zwischen dem Fennfeld und den Totensümpfen zu früh, und die Haradrim würden Euch entdecken. Wartet noch den morgigen Tag ab. Meine Wargreiter und ich sind dann an der richtigen Stelle. Wir geben Euch im Morgengrauen ein Rauchzeichen, wenn wir die Haradrim sehen. Wenn Ihr dann aufbrecht, trefft Ihr die Haradrim etwa auf halbem Wege. Wir schneiden ihnen den Rückweg ab, falls die ithilischen Krieger das nicht schon tun. Dort können sie nur noch in das Fennfeld oder in die Totensümpfe entkommen – und das wird ihnen nicht bekommen“, erklärte Aranthaur seinen Plan. Dann stutzte er. Aragorn war nicht dafür bekannt, seinen Feinden eine Falle zu stellen – und nichts anderes war Aranthaurs Empfehlung, wie ihm zu seinem Schrecken einfiel.
„Ich hoffe, meine Empfehlung ist Euch nicht zu wenig ehrenhaft … weil … Ihr geltet als sehr ehrenhafter Kämpfer, König Elessar“, setzte er vorsichtig hinzu. Aragorn lächelte.
„Guter Vorschlag, mellon nîn“, erwiderte er. Mit noch breiterem Grinsen setzte er hinzu: „Ein bisschen Schwärze in den Gedanken kann einem Strategen nie wirklich schaden, Aranthaur. Ich glaube nicht, dass Markilan oder Lanadúr es riskieren würden, eine zahlenmäßig unterlegene Streitmacht in aller Offenheit aufzustellen und dem stärkeren Gegner auch noch die genaue Schwachstelle in ihrer Aufstellung per Boten mitzuteilen. Nichts anderes wäre es, würden wir sie mitten in der Ebene erwarten.“
Der nächste Morgen graute, und die wargberittenen Elben verschwanden in der sumpfigen Vegetation des Fennfeldes und waren schnell außer Sicht.
„Vertraust du ihnen wirklich?“, fragte Éomer skeptisch.
„Sie haben ihre Vertrauenswürdigkeit schon in ihrer Orkgestalt bewiesen, mein Freund. Ohne das mutige Opfer seines Sohnes Echnorn wäre Thranduil tot und Legolas jetzt König der Waldelben. Die Orks haben sich ohne zu zögern zu den Elben gesellt und mit ihnen Seite an Seite gekämpft, als wir in der Nacht von Haduran und seinen Haradrim überfallen wurden“, erwiderte Aragorn. „Ich weiß, dass du keine Orks magst“, setzte er hinzu, als er Éomers resigniertes Schulterzucken bemerkte. „Mir ist es nicht anders gegangen, bevor ich diese Orks in Moria traf. Ich möchte lieber nicht wissen, wie viele Elben ich schon erschlagen habe, die wie diese hier in Gefangenschaft gerieten und zu Orks gemacht wurden.“
Éomer seufzte.
„Ja, du hast Recht. Aber sie haben uns auch wenig Grund gegeben, sie zu lieben, oder?“, entgegnete er.
„Das bestreite ich nicht“, erwiderte Aragorn. „Dennoch bereue ich, in früheren Zeiten zugeschlagen zu haben, ohne lange zu fragen. Es hat mir zweifellos oft das Leben gerettet. Aber wenn ich vielleicht Gefangene gemacht hätte? Wer weiß, ob ich nicht schon sehr viel früher auf diese Idee gekommen wäre. Vielleicht könnten viele Elben noch leben, wenn ich etwas mehr Fingerspitzengefühl gehabt hätte.“
„Oder du wärst längst tot und Mittelerde im Chaos versunken, weil die Herren Orks nun wirklich keine Fragen gestellt haben“, versetzte Éomer. „Nein, hör auf, dir ewig und für alles Vorwürfe zu machen, Aragorn! Mag sein, dass die Dúnedain mit einer gewissen Hellsicht begabt sind, aber du bist doch nicht allwissend. Niemand kann von dir verlangen, dass du dich für deinen berechtigten Überlebenswillen auch noch schuldig fühlst. Was wäre Mittelerde ohne dich?“
„Hör auf, sonst packt mich doch noch der Stolz meiner Vorfahren!“, bremste Aragorn. „Das geht sicher schief.“
Das Aufgebot von Elben, Rohirrim und Gondorern nutzte den Tag, um die Ausrüstung noch einmal gründlich zu untersuchen und, wo nötig, instand zu setzen, Waffen zu schärfen. Die Heerführer setzten sich zusammen und entwarfen einen Schlachtplan, der auch dann Erfolg versprechend schien, wenn die Wargreiter ihr Ziel nicht erreichten, die Mûmakil außer Gefecht zu setzen und Faramirs Fußtruppen nicht rechtzeitig erschienen. Doch ein Sieg über die zahlenmäßig etwa um die Hälfte größeren Heere der Haradrim und Rhûnrim war dann auch eine Sache des Glücks, wie sich alle Heerführer eingestanden.
Der nächste Morgen kam. Legolas, der die letzte Wache hatte, sah im ersten Licht des neuen Tages weit im Süden eine dünne Rauchfahne aufsteigen. Es hätte ein gewöhnliches Lagerfeuer aus feuchtem Holz sein können, wären nicht in bestimmten Abständen kleine Rauchbälle aufgestiegen. Legolas erkannte sie als sehr alte elbische Zeichen, was ihm zeigte, dass Aranthaur und seine Freunde ihren Platz erreicht hatten – und dass sie diese alten Kriegszeichen über zwei Jahrtausende bewahrt hatten.
„Aragorn, nad no ennas!“, weckte Legolas Aragorn.
„Man cenich?“, fragte er und rieb sich, noch verschlafen, die Augen.
„I thîw edhellen en auth![85]“, antwortete Legolas.
„Kannst du noch etwas von den Wargreitern sehen?“
„Nein, aber sie müssen fast an der Grenze zu den Hügeln der Niemandslande sein. Dort haben sie die Haradrim umgangen, wie die Zeichen sagen, die ich sah.“
Aranthaur ließ seine Wargreiter langsam vorrücken. Vorsichtig pirschten sie durch das mannshohe Gras des feuchten Fennfeldes, dicht an die Rücken ihrer Warge gedrückt.
„Wir sind hinter ihnen“, sagte Aranthaur leise. Eben gerade zog der letzte Mûmak der Nachhut an den gut versteckten Wargreitern vorbei. Der Anführer der wargberittenen Elben stieg von seinem Reittier und robbte bis an die Grenze des mannshohen Grases, das den Rand des Fennfeldes markierte und tastete auf die mit wesentlich kürzerem Gras bewachsene Fläche hinaus.
„Es ist ganz trocken. Der Wind weht genau auf die Haradrim zu. Das Fennfeld ist zu nass, um in Gefahr zu sein. Machen wir ihnen Feuer!“, sagte er.
Doch bevor er und seine Gefährten die Brandpfeile bereit hatten, flogen welche aus dem lieblichen Hügelland, das die Haradrim verlassen hatten. Sie bohrten sich eine halbe Meile hinter den Haradrim in den winterlich staubtrockenen Grasboden und setzten ihn augenblicklich auf einer Breite von wenigstens zehn Meilen in Brand. Der leicht böige Südostwind trieb die Flammen in Richtung der Haradrim. Am Waldrand des Hügellandes zeigten sich – für die im Gras des Fennfeldes versteckten Elben sichtbar – Waldläufer und ithilische Waldelben, bewaffnet mit weittragenden elbischen Langbögen, die Pfeile über Distanzen von über hundert Klafter mit tödlicher Durchschlagskraft schießen konnten.
Der Erste, der die Gefahr wahrnahm, war Lanadúrs Bote Elfrikal. Er saß hoch oben auf dem letzten Mûmak und beobachtete die Umgebung.
„Feuer hinter uns!“, schrie er. Die Männer, die seinen Warnruf hörten, sahen sich verstört um.
„Verdammte Waldläufer!“, fluchte einer der Hauptleute. Der stärker werdende Brandgeruch machte Pferde und Mûmakil nervös, ihre Treiber konnten sie kaum noch halten. Einer der Hauptleute in der Nachhut befahl seinen Männern, das auf sie zurollende Feuer auszuschlagen, doch die Flammen waren zu heiß und zu hoch. Die Nachhut geriet in Panik und strebte schneller nach vorn, als es gut war. Der hintere Teil des haradisch-rhûnischen Heeres geriet in Unordnung, die Unruhe setzte sich nach vorn fort.
Weit entfernt im Nordwesten sah Legolas den aufsteigenden Rauch.
„Hinter den Haradrim ist Feuer auf großer Breite ausgebrochen. Der Wind steht für sie ungünstig und treibt es auf sie zu“, sagte er.
„Éomer, schick’ deine Bogenschützen auf die rechte Seite! Legolas, die elbischen Bogenschützen nach links an die Flanke!“, rief Aragorn und zog sein Schwert. Andúril leuchtete im Licht des winterlichen Mittags auf.
„Vorwärts! Herio!“, kommandierte der König dann und trieb Brego zu einem scharfen Galopp an.
Aranthaur und seine Leute merkten, dass sich das hohe Gras stärker bewegte, als der Wind es zuließ. Fast im Reflex zogen sie Pfeile aus den Köchern, bereit, die von Süden herannahenden Unbekannten sofort zu töten, als der vorderste in ihr Sichtfeld kam – ein Soldat mit einem braunen Lederpanzer, auf der Brust den silbernen Baum Gondors, geschmückt von sieben silbernen Sternen. Der Mann im braunen Lederpanzer blieb stehen und sah die Elben auf den Wargen verblüfft an.
„Wer seid ihr?“, fragte er scharf. Aranthaur erkannte das Zeichen Gondors und senkte den Bogen.
„Wir sind Elben im Dienste des Königs Elessar. Und wer seid ihr?“, fragte er. Der Anführer der Gondorer nahm den Helm ab.
„Ich bin Faramir, Fürst von Ithilien, Statthalter von Gondor. Und ich komme mit den Soldaten des Königs von Gondor.“
Aranthaur lächelte.
„Dann seid Ihr hier richtig, Herr Faramir. Kommt und seht“, lud er ein. Faramir folgte dem Winken des Elben bis an den Rand des hohen Grases und sah die in Richtung Nordwesten marschierende Armee der Haradrim und Rhûnrim.
„Das Feuer treibt sie nach vorn. Von Nordwesten her nähert sich Elessar mit zehntausend Rohirrim, Elben und seinen Turmwächtern“, erklärte Aranthaur.
„Was hattet ihr jetzt gerade vor?“, erkundigte sich der Statthalter.
„Ihnen auch von der Seite hier Feuer zu machen und sie nach Norden zu jagen. Der Wind dreht leicht und ist für uns dann günstig.“
„Gut“, stimmte Faramir zu. „Wir gehen durch das Fennfeld weiter nach Nordwesten! Vorwärts! Bleibt innerhalb des hohen Grases!“, wie er seine Männer an. „Mögen die Valar euch schützen“, wünschte er dem Anführer der Elben.
„Euch ebenso“, erwiderte Aranthaur. Die Gondorer zogen sich ins hohe Gras zurück und wandten sich nach Nordwesten. Der Wind drehte leicht und kam nun fast direkt von Süden her. Der Elb nickte nur, dann schossen er und seine Männer gleichfalls Brandpfeile ab, die ein Feuer auslösten, das die Haradrim nun auch von der Flanke her bedrohte.
Die haradischen Soldaten, die vor dem Feuer hinter der Nachhut nach links ausweichen wollten, sahen zu ihrem blanken Entsetzen, dass sich von dort ebenfalls eine Feuerwalze näherte. Der hintere Teil des Invasorenheeres brach völlig zusammen, die Männer flohen planlos nach Norden – direkt auf die Totensümpfe zu.
Aranthaur und seine Wargreiter überholten die panisch fliehenden Harader auf dem bereits niedergebrannten Steppenland. Die Warge fürchteten die heiße, verkohlte Erde nicht und auch ihren Reitern waren solche Umgebungen nicht unheimlich genug, um sie zu umgehen. Aus dem vollen Galopp ihrer Reittiere beschossen sie die Feinde mit einem Pfeilhagel, dass diese reihenweise fielen.
Die vordersten Spitzen der haradischen Vorhut sahen direkt in nordwestlicher Richtung eine große Staubwolke. Der Hauptmann der Vorhut wurde bleich.
„Elessar!“, keuchte er in der Erkenntnis, dass sich in dieser Staubwolke nur der König von Gondor und seine Soldaten befinden konnten.
„Mûmakil nach vorn! Macht sie nieder!“, befahl er, als er sich halbwegs gefangen hatte. Die Treiber der fünf vorn im Heerzug befindlichen Mûmakil trieben ihre gewaltigen Olifanten zum Angriffstrab an.
Aragorn sah die in schnellem Angriffstrab herannahenden Mûmakil. Auf sein Signal teilte sich die ihm folgende rohirrische Reiterei wie ein Vorhang, die Mûmakil rannten ins Leere. Doch einmal ins Laufen gebracht, hielt Mûmakil so schnell nichts auf – auch ihre Treiber nicht. Die angestachelten Mûmakil rasten weiter, als sei ein Balrog hinter ihnen her. Der Boden wurde unebener mit der Folge, dass die mit hoch liegendem Schwerpunkt auf dem Rücken befestigten Türme immer bedrohlicher schwankten und die Männer darauf abstürzten.
Mit wildem Kampfgeschrei preschten die rohirrischen Reiter durch die Reihen der haradischen Fußsoldaten, die sich gegen die Wucht des Angriffs ebenso wenig decken konnten wie vor Jahren die Uruk-hai bei Helms Klamm und die Orks auf dem Pelennor. Nun geriet auch der vordere Teil seiner Armee ins Wanken und wandte sich zur Flucht. König Markilan wollte seine Männer von einer Flucht abhalten und ihnen ein gutes Beispiel an Tapferkeit bieten, als er sich Aragorn in den Weg stellte.
„Halt, Elessar! Bis hierher und nicht weiter!“, brüllte der Harader. Den wuchtigen Hieb seines Schwertes konnte Aragorn nur knapp mit Andúril abfangen. Das Schwert glitt an der Klinge ab und Aragorn beglückwünschte sich zu Boromirs Armschiene, die stark genug war, eine Verletzung zu verhindern.
„Du kommst mir gerade recht!“, schnaubte Aragorn. Er packte Andúril beidhändig, lenkte Brego nur mit den Schenkeln und nahm ein Gefecht mit Markilan auf, das die um sie herum befindlichen Krieger so in den Bann zog, dass sie schlicht vergaßen zu kämpfen. Um die beiden Könige bildete sich ein freier Kreis, in dem sie Platz genug für einen Zweikampf hatten.
Markilan sah mit hämischem Grinsen, dass Aragorn unter seinem ledernen Waldläuferrock nur ein leichtes Kettenhemd trug, keineswegs die schier undurchdringliche Panzerrüstung, die er vor dem Morannon getragen hatte. Doch das hämische Grinsen gefror dem Harader, als er Aragorns heftige Angriffe nur äußerst mühsam parieren konnte. Dennoch gab Markilan nicht auf. Zäh widerstand er den harten Hieben dessen, den er als Emporkömmling betrachtete.
Bei dem wilden Schlagwechsel gelang es Markilan, Brego mit dem Sporn zu treffen, der erschrocken hochstieg. Aragorn hielt sich nur mit Mühe im Sattel und konnte den folgenden Schlag Markilans nicht ganz abwehren. Ein heftiger Schmerz durchfuhr den König, als Markilans scharfe Klinge ihn an der rechten Hüfte traf. Mehr im Reflex als bewusst zog er das erhobene Schwert durch. Die Klinge traf Markilan genau in der Spalte zwischen Helm und Brustpanzer. Der Kopf des haradischen Königs wurde vom Rumpf getrennt und Markilan sank enthauptet aus dem Sattel. Ein vielstimmiger Schrei entrang sich den Kehlen der Haradrim, die ihren König fallen sahen. Voller Wut griffen sie die Gondorer um Aragorn an, doch als diese ebenfalls entschlossen zurückschlugen und Aragorn mit hocherhobenem Schwert den nächsten Gefolgsmann Markilans angriff, wandten sie sich zur Flucht.
Athiaron, Bergil, Beregonds Sohn, und Herlif, Sigarils Sohn, jagten in rasendem Galopp über die grasigen Ebenen Rohans in Richtung Osten. In dem federnden, kurzen Gras war die Spur des Pferdes, das Haduran dem Posten abgenommen hatte, selbst für Athiarons scharfe Elbenaugen nur schwer erkennbar. Gedanklich leistete der Elb bereits Abbitte für seine Geringschätzung der Spurenlesekunst der Rohirrim. Wenn selbst er als erfahrener Spurenleser solche Schwierigkeiten hatte, eine frische, kaum fünf Stunden alte Spur zu finden, konnte er den Rohirrim daraus keinen Vorwurf machen. Doch inzwischen brauchte er die Spur nicht mehr, denn er konnte Haduran jetzt schon auf der weiten Ebene erkennen. Sie holten stetig auf.
Die Sonne versank im Westen, als die drei Verfolger in spritzender Gischt durch den Anduin jagten und Haduran in die dichte Vegetation des Fennfeldes folgten. Noch eine Viertelstunde später hatten sie ihn gestellt. Doch so heftig sie den haradischen Prinzen auch attackierten, Haduran wusste sich zu wehren und sich immer wieder abzusetzen. Bergils Pferd stürzte nach einem Stolpern in eines der Sumpflöcher, Herlif erging es nicht besser.
Athiaron preschte mit erhobenem Schwert durch das mannshohe Gras und holte den Harader immer wieder ein, focht eine Weile mit ihm, bis Haduran sich wieder absetzen konnte. Der Harader leistete nur hinhaltenden Widerstand, den aber geradezu meisterhaft. Das Gras wurde etwas niedriger. Athiaron ließ sein Pferd etwas langsamer werden, visierte Hadurans Sattelgurt an und schleuderte sein Schwert mit solcher Wucht und Präzision, dass das Schwert den Sattelgurt sauber durchtrennte und Haduran samt Sattel vom Pferd flog.
Doch der Harader rappelte sich rasch wieder auf und verschwand nun zu Fuß im wieder mannshohen Gras und wurde von der Dunkelheit verschluckt, bevor Athiaron sein Schwert wieder gefunden hatte.
Die wilde Flucht der Haradrim nach Norden fand erst ein Ende, als Valadin, der älteste Sohn Markilans, die Spitze des Heeres erreicht hatte und seine Soldaten wieder sammeln konnte. Valadin und König Lanadúr von Rhûn brachten Feuer und ständigen Angriffen der Waldläufer, Elben, Rohirrim und der Gondorer zum Trotz noch einmal einen massiven Angriff zu Stande, bei dem Valadin auf einen zornigen Aragorn traf. Mit aller Erbitterung und Wut fochten der Thronfolger von Harad und der König von Gondor einen heftigen Kampf, bis Andúril den Panzer des Königssohnes aufriss und die scharfe Klinge dem Harader bis zur Hälfte in den Leib drang. Mit einem letzten lauten Aufschrei fiel auch Valadin tot zu Boden.
Lanadúr, der ganz in der Nähe des haradischen Prinzen einen heftigen Kampf mit Éomer austrug, ließ sein Schwert fallen und ergab sich. Auf seine Anweisung bliesen die Hornisten der Rhûnrim ein Signal zur Kapitulation. Nach und nach erlosch der heftige Kampf. Auf der ganzen Breite zwischen dem Fennfeld und den Totensümpfen war gekämpft worden wie zuletzt während der Schlacht auf der Dagorlad nur wenige Meilen nördlich in den jetzigen Totensümpfen.
Kapitel 21
Freude und Trauer
Als die Nacht hereinbrach, lagen die Waffen der Haradrim und Rhûnrim auf einem riesigen Haufen. Die geschlagenen Eindringlinge saßen verstört und verängstigt da und wagten nicht, den Blick zu erheben.
Nicht weit von ihnen entstand Bewegung am Rand des Fennfeldes. Haduran hatte das Feuchtgebiet durchquert und stand starr vor Schreck vor dem Schlachtfeld, das immer noch von Toten und Verwundeten übersät war. Im Schein von Fackeln suchten Gondorer und Rohirrim die Walstatt ab und trugen die Verwundeten zu einem Sammelplatz, wo sie versorgt wurden, so gut es ging. Haduran sank erschüttert auf die Knie. Das gewaltige Heer seines Vaters und des Königs von Rhûn geschlagen! Seine Flucht war vergeblich gewesen! Als er schnelle Huftritte hinter sich hörte, schloss der haradische Prinz mit dem Leben ab. Jetzt hatten sie ihn, da gab es keinen Zweifel mehr!
Athiarons Pferd durchbrach die letzten Rohrhalme, dann sprang es auf die freie Fläche hinaus. Der Elb hatte das Schwert erhoben, doch als er sah, dass Haduran zusammengesunken drei oder vier Klafter vom Rand des Fennfeldes auf dem abgebrannten Gras kniete, ließ er es sinken und hielt sein Pferd an.
„Es ist vorbei, Haduran!“, sagte er. „Gibst du endlich auf?“
Haduran drehte sich um. Im allerletzten Licht des Tages sah Athiaron die Verzweiflung und die Erschöpfung in dem Gesicht des Menschen, den er und seine beiden Freunde soweit gejagt hatten.
„Mach’ ein Ende!“, bat der Harader. Athiaron schob das Schwert in die Scheide und stieg vom Pferd.
„Ich sehe, du bist waffenlos. Dich zu töten wäre ein Verbrechen“, sagte er. „Gib dich gefangen und ich will versuchen, dir zu helfen.“
„Wie willst du mir helfen, Elb? Ich will nicht in einem Kerker verschmachten!“
Zwei weitere Pferde brachen aus dem Ried hervor.
„Holla, was ist das?“, entfuhr es Bergil. Er und Herlif rissen die Schwerter aus den Scheiden.
„Dartho![86]“, mahnte Athiaron. „Lasst die Klingen stecken. Er hat sich ergeben. Ihn zu töten wäre nicht Recht.“
Die beiden Jungen stutzten, dann schoben sie die Schwerter wieder zurück.
Einige Rohirrim, die in der Nähe waren, bemerkten die vier Männer am Rand des Schlachtfeldes.
„Wer seid ihr?“, fragte einer.
„Athiaron, Thranduils Sohn, bin ich. Und das ist Haduran, Markilans Sohn, der sich uns ergeben hat. Wo sind mein Vater, König Éomer und König Elessar?“
„Gar nicht weit von hier. Haleth, bring die Leute zu König Elessar!“, wies der Eorling einen jungen Mann neben sich an. Haleth winkte ihnen und sie folgten dem jungen Eorling, der sie zu einem großen Zelt brachte.
„Herr, hier ist Besuch für Euch“, kündigte Haleth an, als er in das Zelt hineinschaute. Außer Aragorn befanden sich noch Éomer und Legolas in dem Zelt. Aragorn sah auf und erkannte den jungen Mann, der ihm als Halbwüchsiger in der Hornburg begegnet war.
„Lass’ sie ein, Hámas Sohn“, erwiderte er mit einem müden Lächeln. Haleth winkte und die Besucher traten ein. Aragorn vergaß seine Müdigkeit, als er seinen Knappen, Sigarils Sohn, Haduran und einen Elben sah, der seinem Freund Legolas wie aus dem Gesicht geschnitten war.
„Was ist das denn? Hatte ich dir nicht befohlen, die Königin zu schützen, Bergil?“, entfuhr es Aragorn.
„Das ist meine Schuld, König Elessar. Ich konnte Haduran, der geflohen war, nicht allein verfolgen“, erklärte der Elb. Aragorn und Legolas sahen sich an, dann den dunkelhaarigen Elben mit den nussbraunen Augen und dem leichten Bartwuchs um Kinn und Oberlippe.
„Echnorn?“, fragte Legolas etwas unsicher. Athiaron lächelte.
„Law! Im Athiaron, muindor nîn[87].“
„Muin… mae govannen na guil, muindor nîn![88]“, jubelte Legolas und umarmte unter Freudentränen seinen Bruder. „Mae govannen!“
Aragorn ließ die Brüder sich begrüßen, winkte Éomer, die beiden allein zu lassen und trat mit den beiden Jungen, Haduran und dem König der Mark aus dem Zelt.
„Stimmt das, ihr Lausebengel?“, fragte er gespielt streng.
„Dreiviertel, Herr“, gab Bergil zu. „Aber ich bin mit Erlaubnis der Königin mit Athiaron und Herlif mit geritten.“
„Deinen Vater muss ich wohl nicht erst fragen oder?“, wandte Aragorn sich an Herlif.
„Nein, Herr. Ich habe nicht auf Erlaubnis gewartet.“
Aragorn nickte und sah Haduran an. Der haradische Prinz streckte ihm die Hände entgegen.
„Ich ergebe mich, Elessar, König der westlichen Reiche.“
„Ich akzeptiere Eure Kapitulation, Prinz Haduran. Wollt Ihr mir Euer Wort geben, dass von Harad kein Krieg mehr gegen uns – und damit meine ich auch die Mark und die Elbenreiche – geführt wird?“
Haduran sah ihn verblüfft an.
„Ich weiß nicht wie mein Vater dazu steht, König Elessar. Was sagt er?“
„Prinz Haduran, Euer Vater und Euer Bruder … sie … sie sind gefallen“, erwiderte Aragorn leise und mit deutlichem Bedauern in der Stimme. Haduran erbleichte.
„Wer …?“
„Ich“, entgegnete Aragorn und sah Haduran offen und gerade in die Augen. „Sie sind im Kampf gefallen, und ich hoffe, Ihr glaubt mir das.“
Haduran sank von Trauer überwältigt in die Knie.
„Nein! Nein! Sagt, dass das nicht wahr ist!“, schluchzte er.
„Ich wünschte, ich könnte Euch das sagen. Aber … da… sie beide … im Kampf gegen mich selbst fielen, kann ich Euch nur sagen, dass sie tot sind. Ihr seid nunmehr der Thronfolger und neue König von Harad. König Lanadúr wird es Euch bestätigen.“
Haduran schüttelte sich in einem Weinkrampf, der erst ein wenig nachließ, als er eine Hand sanft auf seiner Schulter spürte. Unsicher sah er auf und bemerkte im flackernden Schein einiger Fackeln das Mitgefühl und die geteilte Trauer in Aragorns Augen. Noch nie, das hätte Haduran beschworen, hatte er so viel Wärme und Verständnis in den Augen eines anderen Menschen gesehen.
„Eure Trauer verstehe ich, Haduran, doch Euer Volk wir Euch jetzt brauchen. Ihr solltet bald heimkehren“, hörte er Aragorn sagen. Haduran sah den König von Gondor verblüfft an.
„Heißt das, Ihr wollt … uns … gehen lassen?“, fragte er verwirrt. Aragorn bot ihm die rechte Hand, die Haduran nur zögernd ergriff, von der er sich aber aufhelfen ließ.
„Ich hätte nichts davon, Euch nach Minas Tirith mitzunehmen. Zu Hause werdet Ihr wohl nötiger gebraucht“, erklärte Aragorn.
„Was erwartet Ihr von mir dafür? Dass Euch Harad Tribut zahlt?“
„Haduran, ich habe Eurem Vater nach dem Krieg gegen Sauron Frieden und Freundschaft geboten. Er hat es abgelehnt. Ich biete es Euch erneut an. Gondor ist groß genug; ich brauche keine weiteren Ländereien unter meiner Herrschaft. Ich möchte nur Frieden, denn Mittelerde hat in den letzten zweitausend Jahren genug bluten müssen. Das Einzige, was ich dafür verlange, ist eine kleine Sicherheit, nun zwei, um genau zu sein.“
„Und … was erwartet Ihr?“
„Erstens möchte ich den Palantír haben, dessen Euer Vater sich bemächtigt hat und zweitens …“
„Geiseln!“, mutmaßte Haduran. „Nur zu! Ich werde mich für mein Volk opfern!“
Aragorn hob beschwichtigend die Hände.
„Elbereth Gilthoniel! Nein!“, rief er. „Nein, Haduran, ich nehme keine Geiseln!“, wehrte er ab.
„Was dann?“
„Ich möchte nicht mehr und nicht weniger als eine Art breitere Grenze“, erwiderte Aragorn. Haduran runzelte die Stirn.
„Erklärt mir das bitte näher, Elessar“, bat er. Aragorn winkte ihm und der Harader folgte dem König von Gondor in sein Zelt. Aragorn zeigte ihm eine große, handgefertigte Karte, die Gondor, Harondor, Mordor, Harad und Khand zeigte.
„Hier, das ist der Harnen, der Grenzfluss zwischen Harondor und Harad. Harondor gehört zu Gondor, wie Ihr wisst. Ich möchte, dass zwanzig Meilen auf beiden Seiten des Harnen nicht der Schatten eines Soldaten ist – weder auf der Seite Gondors noch auf der Harads. Und in Mordor haben weder meine noch Eure Soldaten etwas zu suchen. Der bewohnbare Teil Mordors gehört den früheren Sklaven Saurons, damit sie wenigstens etwas entschädigt werden für das, was Sauron ihnen angetan hat.“
„Ist das alles?“, fragte Haduran verstört.
„Das ist alles“, bekräftigte Aragorn.
„Und was ist mit Rhûn?“
„Das ist nicht Eure Sache, aber von Rhûn erwarte ich etwas Ähnliches. Ich möchte einfach nur eine Sicherheit, dass Ihr und Lanadúr mir nicht gleich wieder die Tür eintretet, wenn ich mein nördliches Reich besuche.“
„Wenn Süd-Gondor oder Harondor von uns nicht betreten werden darf, schneidet Ihr uns den Weg zum Meer ab. Ihr wisst, dass Harad ein armes Gebiet ist!“, versetzte Haduran. Aragorn nickte.
„Ich weiß, dass bei Euch nicht viel wächst und dass Ihr keine eigenen Küsten habt. Doch das muss kein Grund für Feindschaft sein. Gondor hat viele Häfen, nicht nur Umbar und Dol Amroth. Wenn Ihr bereit seid, mit Gondor in Frieden zu leben, wüsste ich nicht, welche Hindernisse es geben sollte, dass haradische Fischer von gondorischen Häfen ausfahren sollten. Ich garantiere Euch die freie Nutzung der Straßen zur Küste“, erklärte Aragorn. Haduran rieb sich nachdenklich die Stirn. Er konnte den Haken nicht entdecken, war aber der festen Überzeugung, dass es einen geben musste.
„Euer Angebot scheint verlockend, König Elessar. Dennoch bitte ich Euch, darüber nachdenken zu dürfen.“
„Tut es“, erwiderte Aragorn lächelnd. „Esst etwas und schlaft darüber. Ausgeruht und gesättigt redet es sich besser.“
Haduran verneigte sich und verließ das Zelt des Königs von Gondor wie in Trance.
Aragorn sah ihm einen Moment nach, dann drehte er sich zu Thranduils Söhnen um. Die strahlenden Gesichter der Brüder entschädigten Aragorn für viele Mühen, auch für die leichte Verwundung, die Markilan ihm unmittelbar vor seinem Tod noch beigebracht hatte.
„Seid ihr zwei eigentlich Zwillinge wie Elladan und Elrohir?“, fragte Aragorn und trat zu ihnen. „Ihr seht euch unglaublich ähnlich.“
„Findest du?“, fragte Legolas mit einem schiefen Lächeln. „So schwarz wie er bin ich nun wirklich nicht!“
Ein Schatten huschte über Athiarons schönes Lächeln.
„Diese Schwärze solltest du dir lieber nicht wünschen, Bruder“, sagte er mit belegter Stimme.
„Entschuldige, Athiaron, so habe ich das nicht gemeint“, erwiderte Legolas, dem bewusst wurde, dass das dunkle Haar und die dunklen Augen seines Bruders die noch immer bestehende Folge seiner Verwandlung in einen Ork war. „Ich bin so froh, dass du wieder bei uns bist. Vor einigen Tagen warst du mehr tot als lebendig. Welches Wunder hat dich geheilt?“
„Zwei, nein, drei Wunder. Erstens König Elessars heilende Hände. Ohne Euch hätte ich nicht mehr gelebt. Ich danke Euch, mein König“, erwiderte Athiaron und ging von Aragorn in die Knie, doch der König hinderte ihn.
„Nein, vor mir wird nicht im Staub gekniet, Athiaron. Das verlange ich nicht mal von den Menschen meines Volkes, schon gar nicht von Freunden. Dein Bruder Legolas ist ein guter Freund von mir. Ich biete dir meine Freundschaft. Und meine Freunde nennen mich Aragorn“, entgegnete er und umarmte den Elben herzlich. Athiaron erwiderte die Umarmung voller Freude.
„Ich danke dir, dass du an mich, meine Gefährten und die Möglichkeit zur Veränderung geglaubt hast, Aragorn. Danke.“
„Und was war es außer Aragorns heilenden Händen, das dir geholfen hat?“, fragte Legolas weiter.
„Nun, Wunder Nummer zwei war der Umstand, dass Gandalf den richtigen Spruch kannte, um uns zurückzuverwandeln und Nummer drei, dass Firwen in Edoras war und mich nicht vergessen hatte. Ihre Liebe war für mich Leben.“
„Die Liebe von Elben ist haltbar“, sagte Aragorn mit einem ebenso freundlichen wie sehnsüchtigen Lächeln. „Ich weiß, wovon ich rede, auch wenn die Liebe zwischen Arwen und mir gemessen an der Zeit, die du und Firwen getrennt waren, noch nicht alt ist“, setzte er hinzu.
Am folgenden Morgen trafen sich die Heerführer von Elben und Menschen in Aragorns Zelt.
„Meine Freunde, ich danke euch, dass ihr bereit wart, mit mir zu kommen und mir zu helfen, eine Bedrohung von Gondor abzuwehren. Sobald mit den Eindringlingen Frieden geschlossen ist, wollen wir heimkehren. Bald ist Jul und ich lade euch zum Julfest nach Minas Tirith ein.“
„Wolltest du nicht nach Annúminas, mellon?“, fragte Legolas mit sanft-spöttischem Lächeln. Aragorn seufzte und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Ich muss wohl einsehen, dass ein König keinen Urlaub hat. Ich werde mir überlegen, ob ich in Annúminas nicht einen Statthalter einsetze, damit ich mein Reich nicht jedes Mal in Gefahr bringe, wenn ich im Norden meinen königlichen Pflichten nachkommen will“, erwiderte er.
„Das kommt ganz darauf an, was du jetzt mit den Haradrim und Rhûnrim machst“, warf Éomer ein. „Was hast du mit ihnen vor?“
„Ich möchte endlich dauerhaften Frieden haben. Über diesen Frieden will ich mit Lanadúr und Haduran heute verhandeln.“
„Glaubst du, dass sie Zusagen halten werden?“, erkundigte sich Elrohir.
„Es gibt keinen Frieden ohne Vertrauen, Bruder. Und es gibt kein Vertrauen ohne Sicherheit. Haduran habe ich gestern Abend einen Vorschlag gemacht, über den er nachdenken wollte. Mit Lanadúr habe ich noch nicht gesprochen. Wenn sie beide Vernunft zeigen, werde ich ihnen Frieden und Freundschaft bieten.“
„Vater hat gesagt, Menschen seien schwach und fehlerhaft“, warnte Elladan. „Ich weiß, dass es Ausnahmen gibt, wie dich, den Elbenfreund Faramir oder Éomer, den König der Mark, aber es ist nicht die Regel, Aragorn.“
„Niemand ist davor sicher, Fehler zu machen. Ich so wenig wie jeder hier. Wer ehrlich zu sich selbst ist, weiß, dass er in der Vergangenheit Fehler gemacht hat und auch in Zukunft Fehler nicht wirklich ausschließen kann“, sagte Aragorn. „Niemand muss deshalb beleidigt sein, denn wir sind nicht Ilúvatar selbst. Nicht einmal die Valar sind davor gefeit, jeglichen Fehler zu vermeiden. Vielleicht ist es ein Fehler, Haradrim und Rhûnrim Glauben schenken zu wollen, wenn sie versprechen, in Zukunft Frieden zu halten. Nach dem Ringkrieg haben Markilan und Lanadúr es noch rundheraus abgelehnt, zu versprechen, künftig die Grenze Gondors in Ruhe zu lassen. Insofern hätte ich mit einem Angriff rechnen müssen. Doch sollte ich ihnen dieses Versprechen abringen können, will ich ihnen glauben. Jeder verdient auch die Chance, sich zu bessern“, entgegnete Aragorn.
„Was wirst du tun, wenn sie sich an ein solches Versprechen nicht halten?“, fragte Thranduil.
„Es ist ein Risiko, das ist mir klar. Sollte sich erweisen, dass sie ihr Versprechen nicht halten, wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als es mit Gewalt einzufordern. Doch ich hoffe, dass diese Niederlage beide endlich zur Vernunft gebracht hat.“
„Dann solltest du mit ihnen reden. Ich hole Lanadúr und Haduran“, sagte Legolas. Aragorn nickte und Legolas verließ eilig das Zelt des Königs. Athiaron sprang auf und folgte seinem Bruder.
„Überlass’ Haduran mir, Bruder“, sagte der Jüngere, als er Legolas vor dem Zelt erreichte. Legolas sah Athiaron einen Moment an, dann nickte er.
„Ihr tragt eine prächtige Rüstung. Seid Ihr der König von Rhûn?“, hörte Lanadúr eine Frage und sah vorsichtig auf. Vor ihm stand ein hochgewachsener Elb.
„Der bin ich. Und wer seid Ihr?“
„Legolas vom Düsterwald, Thranduils Sohn“, gab der Elb Auskunft. „König Elessar möchte mit Euch reden. Folgt mir bitte.“
Lanadúr erhob sich müde und ließ sich von Legolas zu Aragorn begleiten. Vor dem Zelt des Königs wartete bereits Athiaron mit Haduran. Auf ein Kopfnicken von Legolas betraten der Ostling und der Harader das Zelt. Legolas winkte seinem Bruder.
„Kennst du Haduran?“, fragte er, als sie sich ein kleines Stück entfernt hatten und allein waren. Athiaron lächelte.
„Mae“, sagte er. „Es ist eine ganze Weile her, da war ich in Mordor. Sauron hatte Lanadúr und Markilan wegen des geplanten Krieges gegen Gondor dorthin bestellt. Markilan kam mit seinen Söhnen. Haduran hat sich die ganze Verhandlung mit recht saurer Miene angehört. Ich habe es ihm angesehen, dass er kein Freund Saurons war.“
„Würdest du glauben, dass er ein Versprechen hält?“
„Er ist ein tapferer Krieger und würde für das Wohl seines Volkes alles tun. Auf dem Weg hierher habe ich mit ihm über Aragorn und seinen Vorschlag mit ihm gesprochen. Er will ihn annehmen, sagt er. Ich habe gespürt, dass er es ehrlich meint.“
Legolas nickte.
„Bei Lanadúr habe ich Ablehnung gespürt. Er hat es wohl nicht ausgesprochen, aber ich habe ein wirklich ungutes Gefühl bei dem König von Rhûn. Ich fürchte, er wird ein Versprechen zwar geben, aber es nicht halten“, mutmaßte Legolas. Die Brüder sahen sich an und fanden in den Augen des anderen das unausgesprochene Versprechen, gemeinsam über ihren Freund Aragorn zu wachen. So, wie sie sich vor zweitausend Jahren ohne Worte verstanden hatten, taten sie es auch jetzt.
Im Zelt war die Versammlung klein. Nur König Elessar, der Prinzregent Haduran und König Lanadúr saßen um einen kleinen Tisch. Bergil sorgte für die Bewirtung der drei Männer.
„Nun, Haduran, habt Ihr über meinen Vorschlag nachgedacht?“, fragte Aragorn nach der formellen Begrüßung.
„Ja. Ich habe lange nach dem Haken gesucht, König Elessar – und ich finde ihn nicht. Ich akzeptiere diese Bedingung, wenn unsere Fischer Eure Häfen nutzen können und Ihr die Benutzung der Straßen zwischen Harad und den Häfen für uns garantiert“, erwiderte Haduran.
„Gut, dann sind wir uns einig. König Lanadúr, nach dem Ringkrieg habe ich Euch Frieden und Freundschaft geboten. Ihr habt es mir mit Krieg gedankt. Eure Armee ist zerschlagen, viele gute Männer sind auf beiden Seiten gefallen. Was muss geschehen, damit Gondor vor Euch Ruhe hat?“
„Nichts. Auch ich will Frieden.“
„Gut. Ich stelle nur die Bedingung, dass auf einer Breite von zwanzig Meilen östlich und westlich der Grenze keine Soldaten sind und dass Ihr Euch verpflichtet, nie wieder gegen Gondor oder eines der anderen Reiche westlich Eurer Grenze die Waffen zu erheben. Wenn Ihr damit einverstanden seid, könnt Ihr mitsamt Euren Leuten nach Rhûn zurückkehren“, erwiderte Aragorn. Lanadúr nickte.
„Ich bin einverstanden“, sagte er. Aragorn winkte seinem Knappen.
„Bergil, hol’ den Schreiber!“, wies er den Jungen an. Bergil verbeugte sich, verschwand und kehrte kurz darauf mit dem Schreiber zurück, der die von Aragorn vorbereiteten Erklärungen in Kanzleischrift verfasst hatte und sie nun den Herren der Ostlinge und der Haradrim vorlegte. Beide lasen sich den Text durch und unterschrieben dann. Haduran übergab Aragorn noch den Palantír, wie er zugesagt hatte. Lanadúr sah das mit Schrecken.
„Ihr wollt … nein, das könnt Ihr nicht tun!“, widersprach er.
„Warum sollte ich das nicht tun können, Lanadúr?“
„Weil Euer Vater mir den Palantír zugesagt hat.“
„Erstens weiß ich davon nichts und zweitens war ein Palantír niemals zuvor Eigentum der Könige des Ostens. Mit welchem Recht erhebt Ihr darauf Anspruch?“, fragte Haduran.
„Als Erbe Saurons.“
„Auch Sauron gehörte dieser Palantír nie wirklich. Er hat ihn gewaltsam an sich gebracht. Rechtmäßig gehört er nach Minas Morgul, das früher Minas Ithil war. Damit ist er Eigentum von König Elessar“, versetzte Haduran. „Und dem gebe ich sein Eigentum zurück, damit endlich Frieden ist.“
Lanadúr nickte ergeben. Aragorn nahm es zur Kenntnis und entließ die beiden Ostlinge
Kaum hatten Haduran und Lanadúr das Zelt des Königs verlassen, traten die beiden Elben ein. Aragorn und Legolas kannten sich lange genug, dass Aragorn seinem elbischen Freund die Zweifel mehr als nur deutlich ansah.
„Man mathach?[89]“ fragte er.
„Das glaubst du doch hoffentlich nicht?“, erkundigte sich Legolas. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
„Was, mellon nîn?“
„Dass die zwei Frieden halten?“, präzisierte der Elb.
„Doch, das glaube ich“, erwiderte Aragorn. Legolas sah seinen menschlichen Freund eine Weile prüfend an.
„Aragon, ich weiß, dass du stets von dir annimmst, Fehler zu machen…“
„… und du versuchst stets, es mir auszureden, ich weiß“, unterbrach Aragorn Legolas – ganz gegen seine Gewohnheit. Die der Unterbrechung folgende Handbewegung des Elben war nur leicht, doch sie duldete keinen Widerspruch.
„In diesem Fall, mellon nîn, bist du auf dem Weg, einen Fehler zu machen“, warnte Legolas. „Ich traue den Ostlingen nicht einmal soweit ich sie sehe, geschweige denn außerhalb meiner Sichtweite, auch wenn das recht große Entfernungen sind.“
Legolas prahlte nicht mit seinen Fähigkeiten, gewiss nicht. Elben waren zum Aufschneiden wirklich nicht geschaffen, darüber war Aragorn sich im Klaren. Doch auch Thranduils älterer Sohn hatte Situationen schon falsch eingeschätzt. Auch Elben machten zuweilen Fehler … Aragorn lächelte freundlich.
„Legolas, mellon nîn, ich weiß deine Weisheit und Erfahrung zu schätzen, auch deine Fähigkeit, Falschheit zu spüren. Doch ich möchte Haradrim und Rhûnrim die Chance geben, ihre Vertrauenswürdigkeit zu beweisen. Menschen machen Fehler, ich weiß; und ich bin der Letzte, der sich selbst als fehlerfrei betrachten würde. Es ist ein Risiko, das habe ich gesagt. Aber ich möchte – und muss – Vertrauen schenken, wenn ich es von anderen erwarte“, sagte er. Die Freunde sahen sich lange an. Ihr gegenseitiges Verständnis war groß genug, dass sie sich auch ohne Worte verstanden. Athiaron blieb einstweilen nur ein fragender Blick. Für Athiaron war Aragorn ein Mensch, den er sympathisch fand, dem er viel verdankte – aber seine Gedanken verstand er noch nicht; nicht so wie sein Bruder Legolas, der Aragorn seit Jahrzehnten kannte. Von dem wortlosen Begreifen dieser beiden Freunde war er noch weit entfernt.
„Gib Acht!“, warnte Legolas nochmals, doch er spürte, dass Aragorn seine Warnung nicht annahm – zum allerersten Mal, seit sie sich kannten.
„Ich weiß, was du sagen willst. Es ist eine schwierige Entscheidung, Legolas – und ich habe mich entschieden, ihnen glauben zu wollen“, erwiderte Aragorn. Der blonde Elb seufzte.
„Ich spüre eine Gefahr. Davor kann ich dich nur warnen. Doch du musst selbst wissen, wie du mit der Warnung umgehst“, sagte er schließlich.
Kapitel 22
Geschenke
Sehr früh am folgenden Morgen brachen alle, die an der Schlacht auf dem Fennfeld beteiligt gewesen waren und sie überlebt hatten, ihre Lager ab. Die Toten waren ordentlich bestattet worden, die Verwundeten behandelt, soweit das mit den eher beschränkten Mitteln auf dem Schlachtfeld möglich war. Die Hälfte der Waffen durften die besiegten Ostlinge mitnehmen, ebenso die Hälfte ihrer Feldzeichen. Die andere Hälfte war die Beute der Verbündeten Elessars. Die Ostlinge unter König Lanadúr beeilten sich, aus der Reichweite der Soldaten Gondors und seiner treuen Verbündeten zu kommen, die Haradrim hatten es nicht ganz so eilig. Haduran selbst zögerte lange mit dem Aufbruch. Er rang noch mit sich, ob er das, was er vorhatte, wirklich tun sollte.
Schließlich gab er sich einen Stoß, nahm das Schwert seines Vaters, das Aragorn ihm zurückgegeben hatte und suchte nach Athiaron. Elessar war großmütig mit ihm verfahren, aber der Elb, der ihn so lange so hartnäckig verfolgt hatte, hatte nach Hadurans Ansicht noch edler gehandelt, als er ihn mitten in der Schlacht geschont hatte. Wäre er selbst an Athiarons Stelle gewesen, er hätte nicht nur den Sattelgurt durchtrennt, er hätte das Schwert gezielt auf den Fliehenden geworfen, dessen war Haduran sich sicher. Er wollte den Edelmut des Elben nicht unvergolten lassen.
‚Vielleicht lässt sich eine kleine Brücke nach Westen bauen‘, dachte der haradische Prinz bei sich.
Letztlich waren auch die Menschen von Harad Nachkommen jener ersten Menschen, die mit den Elben noch gut Freund gewesen waren. In den vergangenen fünftausend Jahren hatten zwar nur noch die Häuser der Getreuen die Verbindung zu den Elben gehalten, aber vielleicht ergab sich ja noch eine neue Möglichkeit, die auch dem Volk von Harad von Nutzen war …
Nach längerer Suche hatte der Prinz aus Harad Thranduils jüngeren Sohn gefunden, der dabei war, sein Pferd zu satteln. Elben ritten in der Regel zwar ohne Sattel, Athiaron hatte es sich allerdings gänzlich abgewöhnt und zog normales Sattelzeug dem blanken Pferderücken vor. Hadurans leicht verlegenes Räuspern ließ den Elbenprinzen aufmerksam werden. Athiaron lächelte. Es war dieses unwiderstehlich freundliche Lächeln, das den Söhnen Thranduils zu Eigen war. Haduran konnte nicht anders, als es zu erwidern.
„Guten Morgen, Haduran. Ich dachte, du wärst mit deinen Männern schon auf dem Weg nach Süden“, sagte der Elb.
„Ich … ich habe hier etwas für dich. Es soll dich daran erinnern, dass Harad künftig nicht mehr der Feind der Völker des Westens sein will.“
Athiaron sah den jungen Harader verwirrt an.
„Haduran, du überschätzt meine Bedeutung, wenn du mich an diesen Umstand erinnern willst. Ich bin weder der König Gondors noch der König eines der Elbenreiche“, wehrte er ab. Haduran schüttelte den Kopf.
„Nun, du bist ein Prinz des Düsterwaldes, wie ich erfahren habe. Du hast einen älteren Bruder, der den Thron eines Tages erben wird, aber deshalb bist du doch nicht unbedeutend. Immerhin könnte dir das gleiche passieren wie mir. Bis vor zwei Tagen war auch ich ein Prinz, der noch einen älteren Bruder als Thronfolger vor sich hatte. Nimm an, dein Bruder würde vor dir sterben, dann wärst du der Erbe.“
„Mein Bruder könnte nur vor mir sterben, wenn er einen gewaltsamen Tod erleidet. Elben können nicht an Altersschwäche sterben“, erklärte er.
„Diese Welt bleibt ein gefährlicher Ort, Athiaron, auch wenn Elben nicht an Krankheiten oder Altersschwäche sterben können. Vielleicht kommen Zeiten, in denen die Völker des Westens untergehen – nicht weil Harad sie angegriffen hat, sondern weil es Unglücksfälle gibt, die allenfalls die Valar verhindern könnten. Sollte Harad dann noch stehen, mag dir oder deinen Nachkommen, deinen Freunden und Verwandten dies als Zeichen der Freundschaft dienen“, erwiderte Haduran und überreichte Athiaron das geschwungene Schwert seines Vaters. „Es ist eine sehr alte Arbeit, die, wie ich gehört habe, möglicherweise elbischen Ursprungs sein könnte. Mein Vater hat das immer bestritten, weil er die Elben nicht mochte. Doch so elegante Waffen kommen nur aus den Händen der Elben, meine ich.“
Athiaron nahm das Schwert an und zog es ein Stück aus der Scheide. Der Hartholzgriff mit der Goldeinlage hatte viel Ähnlichkeit mit einem Schwert, das er einmal selbst getragen hatte – bis zu jenem unglückseligen Tag, an dem er verwundet von Orks gefangen genommen worden war … Die Inschrift auf der Klinge ließ Athiaron die Augen schließen.
„Law! Ú-goelion!“, entfuhr es ihm.
„Was hast du gesagt?“, fragte Haduran nach, der Sindarin nicht verstand.
„Nein! Das glaube ich nicht!“, wiederholte Athiaron, nun in der Gemeinsprache.
„Was glaubst du nicht?“, erkundigte sich der Harader.
„Haduran, weißt du, wie dieses Schwert in deine Familie gekommen ist?“
„Nein. Ich weiß nur, dass schon mein Großvater dieses Schwert trug. Von ihm habe ich einmal gehört, es sei ein sehr altes Erbstück, das seit vielen Generationen vom Vater auf den Sohn vererbt werde. Seltsamerweise konnte aber niemals jemand die Schrift lesen, die sich auf der Klinge befindet.“
Athiaron fand sein Lächeln wieder.
„Das wundert mich nicht. Es ist feanorische Schrift, die nur von wenigen Menschen außer den Dúnedain gelesen werden kann. Sie lautet: echnorn, ion anneth e-thranduil, ernil e-dawarwaith. Das heißt in der Gemeinsprache: Echnorn, der jüngere Sohn des Thranduil, Prinz der Waldelben. Haduran, dieses Schwert war mein Schwert, bis ich in Gefangenschaft geriet und es mir abgenommen wurde.“
„Echnorn? Aber dein Name ist doch Athiaron“, wunderte sich Haduran.
„Echnorn war siebenhundertfünfundzwanzig Jahre mein Name. Etwa zweitausend Jahre wurde ich Eschnách genannt und jetzt nenne ich mich Athiaron, denn ich wurde wieder geboren.“
„Eschnách, das klingt orkisch.“
„Stimmt. Ich war zweitausend Jahre lang ein Ork. Doch so, wie ich durch böse Hexerei zum Ork wurde, konnten ich und einige andere durch freundlichen Zauber zurückverwandelt werden. Ich bin wiedergeboren, und mir ist nichts lieber als das, glaub’ mir.“
„Dann warst du ein Sklave Saurons, wie die Menschen von Harad es auch waren. Nur wenige von uns haben sich dem freiwillig ergeben, wenngleich ich zu meiner Schande gestehen muss, dass ich zu den Wenigen gehörte“, erwiderte Haduran beschämt. Athiarons freundliches Lächeln und sein aufmunterndes Schulterklopfen ließen den Harader aufsehen.
„Du hast einen entscheidenden Schritt getan, mein Freund, wenn du dich von dieser bösen Vergangenheit bewusst lossagst und die Freundschaft der Völker des Westens suchst. Du hast mir etwas zurückgegeben, das ich sehr lange vermisst habe. Ich danke dir dafür. Doch darf man ein Schwert nicht ohne Gegenleistung annehmen, selbst, wenn es nur zurückgegeben wird“, sagte Athiaron und nahm das Schwert von der Seite, das er trug, seit er Balins Gefolgsmann gewesen war und gab es Haduran.
„Dies ist ein Schwert der Zwerge“, sagte er. „Möge es dir gute Dienste leisten und dir eine Erinnerung an mich sein. Solltest du in Schwierigkeiten geraten, sende mir das Band, das daran hängt, und ich werde versuchen, dir zu helfen.“
Haduran nahm das Zwergenschwert mit leuchtenden Augen entgegen.
„Wie sagt man in deiner Sprache: Ich danke dir?“, erkundigte sich der Harader.
„Hannon le.“
„Hannon le, Athiaron.“
Der Elb und der Mensch verbeugten sich höflich voreinander.
„Nai varyuvantel i Valar“, sagte Athiaron. Der fragende Blick Hadurans ließ ihn den altelbischen Segenswunsch übersetzen:
„Mögen die Valar dich schützen.“
„Mögen sie auch dich schützen, Athiaron.“
Haduran stieg auf sein Pferd und ritt davon.
„Hirnich mellon, munidor niben[90].“, hörte Athiaron Legolas sagen. Er drehte sich um und sah seinen Bruder, der auf seinem rohirrischen Schimmel Arod saß und die Zügel von Athiarons grauem Wallach hielt.
„Mae, muindor daer[91]“, lächelte Athiaron und schwang sich in den Sattel.
„Tolo, Aragorn dartha ammen[92]“, forderte Legolas den Jüngeren auf und trieb Arod an.
Aragorn und seine Verbündeten schlugen den Weg zurück nach Edoras ein, um die Frauen und deren Eskorte dort abzuholen, um dann nach Minas Tirith weiterzuziehen. Nur die Waldläufer und einige zurückverwandelte Elben mit Verwandten unter Legolas’ Waldelben blieben in Ithilien. Der Fürst der Waldelben Ithiliens selbst hatte zunächst noch andere Pläne und überließ sein Waldreich noch seinem Stellvertreter Gildor.
Dank der schnellen Pferde von Rohan erreichten die siegreichen Verbündeten Edoras in dreieinhalb Tagen. Weil ein großer Teil der Reiter noch Fußsoldaten Gondors aufnahm, kamen sie zwar nicht ganz so schnell voran, wie sie es ohne zusätzliche Last hätten sein können, aber doch ohne zu große Verzögerungen.
Die Begrüßung in Edoras durch die zurückgebliebenen Frauen, die inzwischen weitgehend genesenen Verwundeten und die Hobbits fiel entsprechend fröhlich aus. In Edoras trafen sie auch wieder auf die Zwerge und Gandalf, der in Balins Palantír gesehen hatte, dass er mit den Zwergen das Fennfeld nicht mehr rechtzeitig erreichen würde, die Hilfe der Zwerge auch nicht mehr erforderlich war und der deshalb mit ihnen nach Edoras zurückgekehrt war.
Aragorn und Arwen fielen einander in die Arme, küssten sich so intensiv, dass es jeden, der sie dabei beobachtete, an den Tag der Krönung Aragorns erinnerte. Damals, nachdem Sauron endgültig niedergeworfen und vernichtet worden war, Frodo und Sam nach ihrer Rettung durch die Adler von der letzten Felseninsel aus dem kochenden Lavasumpf des Schicksalsberges genesen waren, hatte es ein großes Fest hoch droben in der Veste von Minas Tirith gegeben, an dessen Anfang Aragorns Krönung zum Hochkönig des Wiedervereinigten Reiches durch Gandalf gestanden hatte. Nach seinem Krönungseid und dem Dank an seine Freunde und Gefährten – allen voran Prinz Legolas, den er an diesem Tag wohl zum ersten Mal mit jenem Stirnreif gesehen hatte, der ihn als Thronfolger Düsterwalds auswies – hatte Aragorn dann den Bund mit Arwen geschlossen. Nach dem feierlichen Schluss des Bundes hatte Aragorn sie wortlos in die Arme genommen, sie überglücklich an sich gedrückt und lange und ausgiebig geküsst, sie gar im Kreis herumgewirbelt vor lauter Freude, dass sie nun bei ihm war – und sie sich nicht wieder trennen mussten. Wer immer diese freudige und zärtliche Bestätigung des Bundes miterlebt hatte, hatte sehen können, dass er zwei Liebende vor sich hatte, deren Liebe halten würde, bis der Tod sie voneinander schied. Und wer immer es jetzt sah, der konnte sicher sein, dass sich daran nichts, aber auch überhaupt gar nichts, geändert hatte.
Ein ähnliches Wiedersehen feierten Athiaron und Firwen, die ebenfalls nicht mehr voneinander lassen mochten. Athiaron ergriff die passende Gelegenheit, um ihre Hand anzuhalten, da Torvregil bereits neben ihm stand.
„Torvregil, saelor en aran e-dawarwaith, aníron hell lîn na chervess anim. Aníron sol na ech i’lân[93]“, sagte er mit einem glücklichen Blick auf Torvregils schöne Tochter, deren Augen ebenso vor Glück strahlten. Torvregil sah die beiden Liebenden an.
„Mae, Athiaron Thranduilion, ernil e-dawarwaith. Mae govannen na nost nîn – ionn nîn[94]“ erwiderte Torvregil, der mit Athiarons Ansinnen nur zu einverstanden war. Einen leibhaftigen Prinzen zum Schwiegersohn zu haben, war eine große Ehre, auch unter Elben. Thranduil und Legolas, die Athiaron auf dem Weg in seine Pläne eingeweiht hatte, waren mit ihm gekommen und begrüßten Firwen als Schwester und Tochter in der Familie. Legolas wollte seinem jüngeren Bruder noch ein besonderes Geschenk zur Hochzeit machen, doch dieses Geschenk bedurfte noch einer Diskussion mit seinem Vater …
Thranduil betrachtete das schöne Paar mit großer Freude, als am Tag darauf die Hochzeit mit einem großen Fest im Haus der Wiedergeburt in Edoras gefeiert wurde. Legolas saß neben seinem Vater; der Fürstenreif der Waldelben Ithiliens zierte seinen goldblonden Schopf.
„Ada?“, sprach er ihn an. Thranduil sah seinen älteren Sohn an und spürte etwas von Legolas’ Vorhaben.
„Ionn?“
Legolas lächelte.
„Vater, was würdest du sagen, wenn Athiaron dir eines Tages auf den Thron folgen würde?“, fragte er ohne Umwege. Thranduil schnappte nach Luft.
„Er… er ist der Jüngere!“, gab Thranduil zu bedenken.
„Iston[95]“, entgegnete Legolas mit seinem völlig entwaffnenden Lächeln, um das sogar sein Vater ihn beneidete. „Sicher ist er der Jüngere. Ist er deshalb der Schlechtere?“, fragte er.
„Nein, aber das Recht liegt bei dir, ionn nîn.“
„Vater, ich möchte auf mein Thronfolgerecht zu Athiarons Gunsten verzichten.“
Thranduil sah seinen älteren Sohn prüfend an. Legolas hatte es schon immer in die Welt hinaus gezogen, während Echnorn eher derjenige war, der im Düsterwald bleiben wollte. Nach Echnorns Verschwinden war es Legolas nicht leicht gefallen, den Düsterwald seltener zu verlassen – er hatte praktisch jede Gelegenheit genutzt, die sich bot, um frische Luft um die Nase zu bekommen. Und nachdem er Aragorn begegnet war und mit ihm Freundschaft geschlossen hatte, war kein Elbenzug gen Westen ohne Begleitung durch Legolas geblieben. Es würde für ihn eine schwere Last sein, wenn er eines Tages dem von ihm so geliebten Ithilien den Rücken kehren müsste, um das Volk der Waldelben im Düsterwald zu regieren, das war seinem Vater durchaus bewusst.
Bis zu Athiarons Rückkehr hatte es für Legolas keine Möglichkeit gegeben, auf den Thron zu verzichten, ohne Thranduils Haus endgültig vom Königtum der nördlichen Elben auszuschließen. Jetzt war mit Athiaron ein weiterer möglicher Thronerbe vorhanden, der Thranduils Haus weiter führen konnte, wenn Legolas den Süden vorzog. Thranduils Gesicht zeigte ein väterlich-verständnisvolles Lächeln.
„Mae, ionn nîn“, sagte er. „Und wann willst du offiziell darauf verzichten?“
„Nun, ich denke, es wäre ein schönes Hochzeitsgeschenk für meinen Bruder, findest du nicht?“, erwiderte Legolas. Thranduil nickte.
„Du verstehst es, kostbare Geschenke zum richtigen Zeitpunkt zu machen, mein Sohn. Eigentlich erwartet man so etwas nur von einem König. Ja, du wärst ein würdiger Nachfolger auf dem Thron Düsterwalds und ich bin sicher, das Volk würde dir nicht nur Ehrfurcht erweisen, wie es bei mir der Fall ist. Sie würden dich lieben, mein Sohn. Das heißt – sie tun es. Sie lieben ihren Prinzen, und das von ganzem Herzen, wie ich weiß. Glaub’ mir, ich höre zuweilen Stoßseufzer, die darauf hinweisen, dass ein großer Teil des Volkes dich lieber heute als morgen auf meinem Thron sehen würde. Nicht, dass sie mich nicht ehren wollen oder mir misstrauen, aber du bist ihnen einfach sehr viel näher. Ich habe deine Volksnähe nicht immer wohlwollend betrachtet, das weißt du. Inzwischen sehe ich das etwas anders.“
Legolas’ Lächeln wurde noch breiter.
„Athiaron ist mir in dieser Hinsicht sehr ähnlich, Vater. Außerdem könnte ich mir vorstellen, dass er sich in der nächsten Zeit sehr für das interessieren wird, was seit seiner Gefangennahme bei uns im Düsterwald geschehen ist. Ich glaube, er wird von uns beiden der bessere Nachfolger für dich sein.“
Thranduil zeigte ein vielsagendes, hintergründiges Lächeln. Seine Söhne! Legolas hatte Echnorn immer verteidigt und in Schutz genommen, hatte ihm geholfen, wo immer es möglich war. Umso schlimmer hatte es den Älteren getroffen, dass er ihn nicht vor Gefangenschaft und Folter hatte bewahren können. Aber an Legolas’ Haltung gegenüber seinem jüngeren Bruder hatten zweitausend Jahre Trennung nichts ändern können. Die Brüder nahmen ihre Verbindung an der gleichen Stelle wieder auf, an der sie gerissen war – fast so, als sei nichts geschehen.
Legolas erhob sich, seine schlanke, hochgewachsene Gestalt in eine kostbare, eng anliegende Robe aus silberdurchwirktem, feinem Stoff gekleidet, über die sein langes, goldblondes Haar fiel. Es war einer der Momente, in denen keinerlei Zweifel daran aufkommen konnten, dass Legolas kein ganz gewöhnlicher Elb war, sondern ein königlicher Prinz. Alle Augen richteten sich auf die königliche Erscheinung des Prinzen.
„Athiaron, mein Bruder; Firwen, meine Schwester; meine Freunde“, begann er. „Athiaron und Firwen sind seit heute ein Paar und sie werden es nach den Bräuchen unseres Volkes bleiben, bis die Welt sich wandelt. Ich bin von uns beiden der Ältere, das Recht der Thronfolge gebührt durch die frühere Geburt mir; so will es das Gesetz unseres Volkes. Doch ich möchte auf dieses Recht verzichten und es an meinen Bruder Athiaron abtreten. Du, Athiaron, wirst unserem Vater Thranduil auf den Thron des Düsterwaldes folgen, wenn er nach Valinor reist oder – was die Valar verhüten mögen – sein Leben hier verliert. Mein Thronfolgerecht ist mein Hochzeitsgeschenk an dich, mein geliebter, kleiner Bruder“, verkündete Legolas, trat zu Athiaron und umarmte ihn.
Athiaron erwiderte die brüderliche Umarmung mit Tränen in den Augen – Tränen der Freude, weil Legolas ihm etwas freiwillig, ja ohne ein einziges Wort der Bitte gab, was er sich vor seiner Gefangenschaft gewünscht hatte. Athiaron war der jüngere Prinz und hatte nie damit rechnen können, den Thron zu erben. Doch er hatte gesehen, dass dieses Erbe seinem Bruder eine Last war – eine Last, die er ihm gern abgenommen hätte. Für Legolas bedeutete sein Erbe eine starke Beschränkung seines Freiheitsstrebens, für Athiaron war es ein Geschenk, wie es größer nicht hätte ausfallen können. Einerseits, weil für Athiaron die Krone im Gegensatz zu Legolas keine Last bedeutete, sondern es ihm eine Ehre gewesen wäre, dem Vater auf den Thron zu folgen; andererseits, weil er den Großen Grünwald über alles liebte (ausgenommen Firwen, die liebte er noch mehr) und sich nichts Schöneres vorstellen könnte, als Herrscher dieses wunderschönen Waldes zu sein. Athiaron kannte diesen Wald als einen dunklen, geheimnisvollen, manchmal auch gefährlichen Wald, doch das reizte ihn nur. Zwar liebte er wie alle Elben den hellen Sonnenschein, frische Luft, Sterne und Mond, doch diesen Wald, finster, stickig und voller seltsamer Geschöpfe, den liebte er noch mehr. Es war seine Heimat, die er seit zweitausend Jahren schmerzlich vermisste. Und jetzt schenkte Legolas ihm diesen Wald. Ein größeres Geschenk hätte Legolas dem geliebten, jüngeren Bruder nicht machen können.
„Ich danke dir, Legolas. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll …“, erwiderte der Jüngere.
„Vielleicht freust du dich einfach, hm?“, grinste Gimli, der neben Legolas’ Platz saß. „Herzlichen Glückwunsch, Herr Kronprinz der Waldelben“, setzte der Zwerg hinzu.
Die Hochzeit in Edoras war zwei Tage vorüber, als Aragorn und Arwen mit ihren Turmwächtern auf der großen Weststraße nach Minas Tirith ritten. Begleitet wurden sie von Éomer und einer Éored der Rohirrim, Gandalf, Balin, Gimli und den Zwergen, den Hobbits und der Elbengesellschaft von Waldelben, Elben aus Bruchtal und Lórien und den zurückverwandelten Elben, die nicht in Ithilien geblieben waren. Wegen ihrer braunen Augen hatte sich in diesen letzten zwei Tagen der Name Braunelben für die ehemaligen Orks gebildet und galt als eine von allen akzeptierte Bezeichnung für sie. Den Fußsoldaten aus Gondor und den Zwergen hatten die Rohirrim Pferde und Ponys ausgeliehen, die Éomers Éored auf dem Heimweg als Herde zurücktreiben würde. Obwohl die Ponys der Hobbits und der Zwerge mit dem raumgreifenden Galopp der rohirrischen und elbischen Pferde nur schwer mitkamen, hielten sie sich wacker und so erreichten die Reisenden ohne Zwischenfälle sieben Tage später Minas Tirith.
Aragorn seufzte. Ende August war er aufgebrochen, um nach Annúminas zu reisen – um Pause zu machen von dem nur zu häufig aufreibenden Regierungsgeschäft, um in Arnor nach dem Rechten zu sehen und sich darum zu kümmern, welche Sorgen sein Volk dort hatte. Jetzt war es Mitte Dezember oder Ringare, der Tag Mettare, der letzte Tag des Jahres nach der Sonnenzeit, stand vor der Tür und er hatte von dem, was er vorgehabt hatte, nicht viel erledigt. Zwar endete das Jahr in Gondor nun erst am 24. März und begann mit dem 25. März, dem Tag, an dem Sauron endgültig vernichtet worden war, doch hatte sich das Fest zur Wintersonnenwende immer noch als hohes Fest erhalten und galt in allen anderen Landen immer noch als letzter Tag des Jahres.
‚Sei nicht so undankbar!‘, mahnte ihn eine innere Stimme. ‚Die Woche von der Abreise bis nach Edoras war reine Erholung, in Edoras hast du dich wohl gefühlt, wenn auch mit gewaltigem Zwicken in der Schulter, weil du es nicht lassen konntest, dich mit diesen Brüdern anzulegen; und über die Reise nach Bruchtal und den Aufenthalt dort kannst du dich wirklich nicht beschweren!‘
‚Nein, kann ich nicht‘, durchzuckte es den König. ‚Aber ist es denn so verwerflich, sich von einem Urlaub mehr zu erhoffen, als insgesamt drei Wochen ungestörte Reise, auf der ich einmal nicht an Gefahren und Sorgen denken musste und eine Woche Ruhe in Bruchtal? Die Erholung ist schon längst wieder vergangen.‘
Die Vorbereitungen für das Fest zur Wintersonnenwende nahmen den König und die Königin in den darauf folgenden Tagen so in Anspruch, dass Aragorn keine Zeit mehr hatte, sich über den seiner Ansicht nach vertanen Urlaub zu ärgern. Das Fest zur Wintersonnenwende war dann aber ein fröhliches Ereignis, bei dem ebenso fröhlich getafelt und gezecht wurde, dass selbst die Hobbits so satt waren, dass sie papp nicht mehr dazu sagen konnten – und bei einem Völkchen, das sechs reichliche Mahlzeiten am Tage zu sich nahm, wollte das etwas heißen.
Am 2. Jul, am Tag Yestare, dem ersten Tag des neuen Sonnenjahres, hatte Aragorn seine Freunde in der königlichen Halle versammelt. Es war eine wirklich große Runde, in die Aragorn sah: Gandalf, Elladan, Elrohir, Thranduil und Legolas kannte er seit Jahrzehnten; Gimli, Éomer, Éowyn, Faramir, Frodo, Sam, Merry und Pippin seit einigen Jahren; Athiaron und Balin den Jüngeren erst seit wenigen Wochen – aber alle standen Aragorn nahe wie Bruder oder Schwester.
Die kleine Verschwörung, die er schon vor einiger Zeit mit Balin dem Jüngeren angezettelt hatte, wollte Aragorn an diesem Tag zur Vollendung bringen. Er hatte für alle Anwesenden Geschenke bereitlegen lassen, aber vor Gandalf, Thranduil, Legolas, Elladan, Elrohir, Gimli, Éomer, Faramir und Frodo standen noch weitere Pakete. Aragorn bemerkte die fragenden Blicke der Betreffenden und erhob sich.
„Freunde und Freundin, meine Brüder aus Bruchtal“, setzte der König an, „Ihr wisst, dass ich nicht unbedingt dazu neige, die Bedeutung meiner Person oder auch meines Amtes in den Mittelpunkt zu rücken. Ich habe das bereits am Tag meiner Krönung gesagt und ich wiederhole das gern: Das, was seit der Auffindung des Einen Rings durch Gandalf in Hobbingen geschehen ist – sei es in Bree, in Bruchtal, Moria, Edoras, Helms Klamm, Minas Tirith oder vor dem Morannon geschehen, sei es in Rhovanion oder auf dem Fennfeld geschehen – das alles ist nicht das Werk eines Einzelnen, sondern konnte nur durch unsere gute und feste Gemeinschaft geschehen. Wir alle und unsere Völker haben gegen das personifizierte Böse – Sauron – gekämpft, haben unser Leben riskiert; Gandalf hat es sogar zeitweise verloren, doch kehrte er erneuert zu uns zurück. Dennoch wäre die Hoffnung am Ende beinahe verloren gewesen, hätte der Eine Ring nicht doch noch dank Frodo und Sam vernichtet werden können und Mittelerde damit endlich von Sauron befreit werden können. Wir haben gemeinsam daran gearbeitet, Mittelerde wieder aufzubauen und diese Arbeit ist längst noch nicht getan. Wir haben noch viel vor uns, damit Mittelerde wieder so schön wird, wie es war, bevor Sauron sich von der Niederlage auf der Dagorlad erholte“, sagte Aragorn. Seine Freunde sahen ihn gespannt an, denn es war offensichtlich, dass Aragorn etwas vorhatte, so gut kannten ihn inzwischen auch Balin der Jüngere und Athiaron.
„Dank Gandalfs Macht können nun sogar die Orks wieder Hoffnung schöpfen, denn es ist offensichtlich, dass die grauenhafte Verwandlung rückgängig gemacht werden kann – nun jedenfalls bei denen, die ursprünglich wirklich Elben waren. Ich sage gern, dass ich etwas vermissen würde, wäre Athiaron jetzt nicht hier. Bei meiner Krönung habe ich gesagt, dass wir gemeinsam ans Werk gehen wollen. Ein gemeinsames Werk setzt voraus, dass es eine gute und rasche Verständigung unter uns gibt. Bisher gab es dafür reitende Boten oder Brieftauben, für ganz eilige Fälle die Feuersignale auf den Bergen in den Ered Nimrais. Mittelerde ist groß. Von hier bis nach Bruchtal sind es unter normalen Umständen schon vier Wochen, von Entfernungen bis in den Düsterwald oder gar nach Annúminas ganz zu schweigen. Wenn wir als Freunde zusammen für Mittelerde arbeiten wollen, sind das einfach zu lange Wege“, fuhr der König fort. „Ihr wisst, die Noldor schufen einst in Aman aus einem ganz besonderen Gestein die Palantíri, von denen sie einige den Edain zum Geschenk machten. Die Seekönige der Edain, Elendil und seine Söhne, brachten sie auf ihren Schiffen nach Mittelerde, als Númenor nach dem Ungehorsam anderer Númenórer unterging. Sieben waren es ursprünglich. Einer, der von Elostírion, schaute von den Turmbergen zu den Unsterblichen Landen, einer befand sich in der Sternenkuppel von Osgiliath, einer in Minas Ithil, einer in Minas Anor, einer im Orthanc, einer in Annúminas und einer auf dem Amon Sûl. Mithilfe dieser Sichtsteine verständigten sich die Könige der Menschen über große Entfernungen hinweg, denn außer dem von Elostírion befanden sich alle Palantíri im Besitz von Menschen. Dass das gut funktioniert hat, habe ich gerade ausprobieren können, weil ich einen Palantír mitgenommen habe und Faramir den anderen hier behielt. Ohne die beiden Palantíri hätte ich wohl nicht rechtzeitig erfahren, was sich in Mordor tat. Von diesen sieben Palantíri gibt es heute noch drei in Mittelerde, nämlich die von Minas Tirith, von Minas Ithil und den vom Orthanc. Der Palantír von Osgiliath, einst der oberste Palantír, der alle anderen erreichen konnte, versank im Sippenstreit im Anduin und ward seither nicht mehr gesehen; der von Annúminas und der vom Amon Sûl gingen mit König Arvedui unter, der von Elostírion fuhr mit Elrond und Galadriel zurück nach Aman“, erzählte Aragorn die Geschichte der Palantíri, die nicht allen seiner Freunde vollständig bekannt war. „Dank der kleineren Schüler Aules ist es nun möglich, diese längst verlorene Möglichkeit der Verständigung über große Entfernungen zu erneuern. Als wir in Moria, in Khazad-dûm, waren, zeigte Athiaron Balin ein seltsames Gestein – und es stellte sich heraus, dass dies jenes Gestein ist, aus dem die Noldor die Palantíri schufen. Und es stellte sich heraus, dass Dwigli, ein Zwerg von Khazad-dûm, daraus einen Palantír schleifen konnte. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hat er nun die gleichen Eigenschaften wie die verbliebenen Palantíri“, erklärte der König. Seine Freunde sahen ihn fragend an.
„Ihr fragt euch, warum ich euch das alles erzähle? Nun, Mittelerde besteht, bei den Valar, nicht nur aus Menschen. Es hat Zeiten gegeben, in denen die Freien Völker Mittelerdes nebeneinander her gelebt haben, sich aber um die Belange der übrigen Völker nicht weiter geschert haben. Seit die Gemeinschaft des Ringes von Bruchtal aufbrach, um den Einen Ring zu vernichten, hat sich in dieser Hinsicht vieles geändert. So, wie einst nur die Völker der Menschen zusammenhielten, bevor die Uneinigkeit ausbrach, so sollten nun die Völker Mittelerdes insgesamt zusammenhalten. Denn nur, wenn wir Freunde sind und bleiben, wird Mittelerde frei und friedlich bleiben. Freundschaft erhält sich durch Mitteilung, durch Nähe. Wir können nicht immer an einem Ort zusammen sein, um zu reden oder auch zu feiern, so wie jetzt. In einigen Tagen oder auch Wochen werden die meisten von uns wieder weit voneinander entfernt sein. Thranduil und Athiaron werden in den Düsterwald zurückkehren, Elladan nach Lórien, Elrohir nach Bruchtal, Éomer nach Edoras, Balin nach Khazad-dûm, Gimli nach Aglarond, wenn er nicht noch mit Legolas, Éowyn und Faramir einen Umweg über Ithilien macht, Frodo, Sam, Merry und Pippin werden wieder ins Auenland ziehen“, erklärte Aragorn. „Und wohin Gandalf dann gehen wird, wissen außer ihm selbst die Valar allein“, setzte er grinsend hinzu. Eine Lachsalve dröhnte durch die Halle, weil jeder wusste, wie ungern Gandalf an einem Fleck blieb. Aragorn wartete, bis die allgemeine Heiterkeit sich wieder beruhigt hatte.
„Liebe Freunde, ich möchte euch etwas mitgeben, das unsere Verbindung auch über weite Entfernungen halten helfen wird. Als wir uns in Edoras getroffen haben, habe ich Balin gebeten, weitere Palantíri herstellen zu lassen. Dwigli und seine Helfer waren überaus fleißig, wie Balin mir gesagt hat. Er und seine Helfer haben für jedes Reich der Freien Völker Mittelerdes einen Palantír hergestellt. Meine Freunde, die ihr die großen Pakete vor euch habt, öffnet sie“, forderte Aragorn dann auf.
Die Betreffenden öffneten die dicken Packen, und vor jedem lag ein Palantír. Frodo und Éomer sahen eher besorgt auf den massiven Sichtstein, der schwarz und doch irgendwie durchsichtig vor ihnen lag. Pippin, zwar chronisch neugierig, aber mit üblen Erfahrungen in Sachen Sichtstein behaftet, bekam einen eher betroffenen Gesichtsausdruck.
„Ich will nicht verschweigen, dass es nicht einfach ist, mit einem Palantír umzugehen. Es braucht Übung und Willen, den Sichtstein so zu lenken, dass man das sehen kann, was man sehen möchte“, fuhr der König fort. „Aber im Prinzip kann es fast jeder lernen. Es ist heute auch nicht mehr gefährlich, lieber Pippin, so ein Ding anzufassen; nicht so, wie es dir ergangen ist, als du deine Neugier nicht im Zaum halten konntest und Sauron nur mit knapper Not geistig entkommen bist. Diese Palantíri, die hier liegen, sind die einzigen, die existieren – mit Ausnahme meines eigenen Steins, der in meinem Arbeitszimmer liegt. Und sie befinden sich ausschließlich in den Händen von Freunden. Dennoch bitte ich alle, die von heute an einen Palantír haben, diesen sorgsam zu hüten. Noch gibt es Feinde, die in einem solchen Stein einen Nutzen finden könnten und ihn zu unserem Schaden verwenden könnten. Sie werden weniger, und ich habe die gute Hoffnung, dass unsere bisher noch verbliebenen stärksten Feinde, die Haradrim und die Rhûnrim, den geschlossenen Friedensvertrag halten werden. Dennoch sollte die Existenz der Palantíri unter uns bleiben“, schloss Aragorn und erhob seinen Becher.
„Freunde, trinken wir auf eine gute, friedliche und vor allem gemeinsame Zukunft Mittelerdes!“, brachte er dann einen Trinkspruch aus, der von zustimmenden Rufen der Freunde begleitet wurde.
Und in Mittelerde brach die Zeit einer neuen Verständigung an …
Ende
Persönliches Nachwort
Ihr fragt euch jetzt alle, ob denn der Friedensvertrag von Haradrim und Rhûnrim eingehalten wird…
Ich plane eine Fortsetzung, in der diese Frage eine zentrale Rolle spielen wird.
Hoffnung … gibt es immer!
Aragorns Krönungseid
Et Earello Endorenna utúlien.
Sinome maruvan ar Hildinyar tenn’ Ambar-metta!
Aus Großen Meer bin ich nach Mittelerde gekommen.
Hier will ich bleiben, und nach mir meine Erben, bis an der Ende Welt!
Fußnoten
[1] Sind.: mein Liebling
[2]Sind.: Ich liebe dich und ich begehre dich, meine Königin
[3] Sind.: Ich liebe dich, mein König
[4] Dunl.: Schimpfbezeichnung für die Rohirrim
[5] Sind.: Ich danke dir, mein Liebling
[6] Sind.: Wie du wünschst
[7] Sind.: Willkommen, Thalion, Tóronns Sohn. Ich bin Aragorn, Arathorns Sohn, König von Gondor. Ich wünsche Elladan zu sehen, den König von Lórien, meinen Bruder und Freund.
[8] Sind.: Willkommen, Aragorn! Wo ist Arwen, die Schwester des Elladan?
[9] Sind.: Ich bin hier, Thalion.
[10] Sind.: Oh, du sagst die Wahrheit [wörtl.: du sprichst richtig]! Willkommen, Freunde! Ich bringe euch nach Caras [mutiert zu Garas, da na die weiche Mutation auslöst!] Galadhon. Folgt mir!
[11] Sind.: Willkommen, meine Schwester und mein Bruder!
[12] Sind.: Wenn du nichts mehr trauen kannst, vertraue auf dies, vertraue auf uns
[13] Sind.: Ja, meine Königin. Gute Nacht [wörtl.: Gesegnete Nachtzeit]. Schlafe gut.
[14] Sind.: Finde er Frieden nach dem Tod
[15] Sind.: Es ist nichts zu verzeihen, mein Liebling
[16] Sind.: Was hast du?
[17] Sind.: [Seit] neun Tage[n] schweigst du. Warum?
[18] Sind.: Ich hatte einmal einen Bruder. Er wurde bei einem Kampf gegen Orks verwundet oder ist gefallen. Aber ich konnte ihn nicht finden!
[19] Sind.: Glaubst du, Eschnách ist dein Bruder?
[20] Sind.: Ich weiß [es] nicht
[21] Sind.: Ich verstehe, mein Freund. Vertraue dem Schicksal!
[22] Sind..: Nach zweitausend Jahren? Nein!
[23] Sind.: Hoffe, mein Freund! Und sei wachsam!
[24] Sind.: Legolas – was hat er?
[25] Sind.: Er hat seinen Bruder verloren [wörtl.: Sein Bruder hat ihn verlassen]
[26] Sind.: Ich danke dir, mein Bruder.
[27] Sind.: Ich wünsche euch eine schöne Zeit in Imladris [Bruchtal]
[28] Sind.: Papa
[29] Sind.: Glaube ich nicht!
[30] Sind.: Oh ja, mein Liebling!
[31] Sind.: Der Mond, die Sonne der Liebe.
[32] Sind.: Und des Trinkens
[33] Sind.: Ich bin der König von Gondor. Der König kann seinen Statthalter und sein Volk nicht in der Gefahr zurücklassen. Es ist nötig, [dass] ich zurück nach Minas [mutiert zu Vinas] Tirith gehe. Das ist mein Weg
[34] Sind.: Und wann denkst du an dich?
[35] Sind.: Ich erinnere mich, du hast mir bei unserem letzten Treffen auf dieser Brücke gesagt, in der Vergangenheit hatte ich keine Sorgen.
[36] Sind: Das ist unser Weg!
[37] Sind.: Ich liebe dich, meine Königin. Komm, wir gehen nach Hause [wörtl.: zu unserem Haus]
[38] Sind.: Ich liebe dich, mein König. Ich komme mit dir.
[39] Sind.: Schütze unsere weiße Stadt gegen die Haradrim, mein Statthalter!
[40] Sind.: Ja, mein König. Wann werdet Ihr kommen
[41] Sind./Qu.: [In] vier Wochen [wörtl. Vier Sechs-Tage.]
[42] Sind.: Komm jetzt ins Bett, mein Liebling.
[43] Sind.: Komm! Vorwärts!
[44] Sind.: Ich danke dir, mein König.
[45] Sind.: Dort [draußen/drinnen] ist etwas
[46] Sind.: Ich erinnere mich…
[47] Sind.: Lauf schnell, Arod! Lauf schnell, mein Freund!
[48] Sind.: Sei gegrüßt, Vater! Was führt euch hier[her]?
[49] Sind.: Sei gegrüßt, mein Sohn! Wir wollen dich sehen [dich besuchen]!
[50] Sind.: Ich danke euch! Willkommen in Lórien. Kommt ihr mit uns?
[51] Sind.: Wer sind die Reiter dort?)
[52] Sind.: Meine Freunde: Aragorn, Arathorns Sohn, der König von Gondor; Arwen und Elrohir, die Kinder des Elrond und Elben von Bruchtal; Gimli Glóinssohn, vier Hobbits und Menschen von Gondor.
[53] Sind.: Orks!
[54] Sind.: Nein! Warte! Das sind keine gewöhnlichen Orks!
[55] Sind.: Sie gaben [leisteten] Elessar und den Zwergen den Treueschwur – und den Elben!
[56] Sind.: Orks gaben den Treueschwur? Nein!
[57] Sind.: Ja, mein Vater
[58] Sind.: Sei gegrüßt, Thranduil, Orophers Sohn, König der Waldelben
[59] Sind.: Sei gegrüßt, Elessar Telcontar, König von Gondor
[60] Sind.: Seid gegrüßt, Freunde. Mein König wünscht, Euch zu sehen. Folgt mir .
[61] Sind.: Was sahst du
[62] Sind.: Da draußen ist etwas, Aragorn.
[63] Sind.: Was siehst du?
[64] Sind.: Es ist nichts zu verzeihen, Vater
[65] Sind.: Wie du wünschst
[66] Sind.: Statthalter, Haradrim und Rhûnrim! Die Gefahr kommt von Osten!
[67] Sind.: Mir ist heiß
[68] Sind.: Du [bist] schwer verwundet
[69] Sind.: Ich weiß. Legolas, wo ist Firwen?
[70] Sind.: Lieg still, Echnorn. Wir werden Firwen suchen
[71] Sind.: Jetzt weiß ich: Er [ist] mein Bruder. Echnorn liebte Firwen und sie liebte ihn
[72] Qu.: Lebewohl, Aragorn. Mögen die Valar euch beschützen auf eurem Weg unter dem Himmel
[73] Sind.: Willkommen in Rohan, Elben!
[74] Sind.: Wir danken dir, Mithrandir, weißer Zauberer !
[75] Sind.: Willkommen, Gildor, Statthalter der Elben
[76] Sind.: Willkommen, Borothor, Hauptmann des Statthalters von Gondor
[77] Sind.: Folge mir, Freund
[78] Sind.: Sei gegrüßt, König von Gondor. Ich bin Aranthaur, Gilions Sohn, Elb und früher Ork
[79] Sind.: Willkommen im Leben, Aranthaur, mein Freund!
[80] Sind.: Kommt und seht!
[81] Sind.: Wie geht es Echnorn? [wörtl.: Wie fühlt Echnorn?]
[82] Sind.: Setz’ dich, Papa. [Im Sinne von: Lass’ es gut sein]
[83] Sind.: [Es ist] nichts zu danken, Aragorn
[84] Sind.: Vertraue den Elben, mein König!
[85] Sind.: Die elbischen Zeichen des Krieges!
[86] Sind.: Wartet!
[87] Sind.: Nein! Ich bin Athiaron, mein Bruder.
[88] Sind.: Bru… Willkommen im Leben, mein Bruder!
[89] Sind: Was hast du? [wörtl.: Was fühlst du?]
[90] Sind.: Du fandest einen Freund, kleiner Bruder
[91] Sind.: Ja, großer Bruder
[92] Sind.: Komm, Aragorn wartet auf uns
[93] Sind.: Torvregil, Ratgeber des Königs der Waldelben, ich begehre deine Tochter zu meiner Frau [wörtl.: zur Frau für mich]. Ich möchte mit ihr den Bund schließen)
[94] Sind.: Ja, Athiaron, Thranduils Sohn, Prinz der Waldelben. Willkommen in meiner Familie – mein Sohn.
[95] Sind.: Ich weiß.
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