Der Fürst der Dúnedain

Der Fürst der Dúnedain

 

Man schrieb den 1. März 2951 D.Z. von Mittelerde. Der Winter wollte noch nicht recht weichen; jedenfalls nicht außerhalb der von Elbenmacht gesegneten Flecken Bruchtal und Lórien. Dort kannte man nur Frühling und Herbst, aber weder die Gluthitze eines kontinentalen Sommers noch die bittere Kälte des Winters.

Drei Reiter überquerten an der Furt westlich von Bruchtal den Bruinen, das Lautwasser. Der Fluss trennte die Welt der Menschen von der der Elben. Auf dem elbischen Ufer wagten sie, die Köpfe aus den tiefgezogenen Kapuzen ihrer Umhänge zu stecken. Alle drei waren hochgewachsen, hatten langes, dunkles Haar, das im Wind des Spätwinters wehte. Auf den ersten Blick sahen sie aus wie Brüder. Tatsächlich waren zwei von ihnen auch Brüder, der Dritte jedoch war allenfalls ein sehr entfernter Verwandter, wie sich an den Ohren erkennen ließ. Zwei hatten Ohren, die oben in Spitzen ausliefen. Sie waren Elben. Der Dritte hingegen hatte die runden Ohren eines Menschen, doch sprach er die gleiche Sprache wie die Elben. Sein Name war Estel, was in der Elbensprache Sindarin Hoffnung bedeutete. Estel war in Bruchtal bei seinem Pflegevater Elrond aufgewachsen, und er betrachtete Elronds Söhne Elladan und Elrohir als seine Brüder – wie umgekehrt auch die beiden Elben den Menschen als Bruder betrachteten, wenn auch als wesentlich jüngeren Bruder. Die elbischen Zwillinge waren immerhin zweitausendachthundert Jahre älter als ihr menschlicher Gefährte.

Die Überquerung der Bruinenfurt war nicht unentdeckt geblieben. Bruchtal wurde gut bewacht. Glorfindel, den Elrond mit der Wache an der westlichen Furt betraut hatte, hatte die Ankömmlinge bemerkt und sofort eine Nachricht zu Elrond geschickt, dass seine Söhne und sein Pflegesohn Estel zurück seien. Elrond ließ Gilraen kommen, die Mutter seines Pflegebefohlenen.

„Dein Sohn kehrt zurück, Gilraen“, eröffnete der Elb. „Er wird heute zwanzig Jahre alt. Bei den Dúnedain bedeutet das die Volljährigkeit. Bisher haben wir ihn zu seiner eigenen Sicherheit im Unklaren gelassen, wer er wirklich ist. Es ist an der Zeit, dass dein Sohn erfährt, wer er ist, denke ich.“

„Wenn du ihm sagst, wer er ist und welches Erbe ihn erwartet, wird er gehen, Elrond. Ist er soweit, dass du ihm zutraust, allein um sein Erbe zu kämpfen?“, fragte Gilraen. Elrond lächelte.

„Du bist besorgt um deinen Sohn und ich verstehe das, Gilraen. Viel zu früh hast du deinen Mann, seinen Vater, verloren. Aber dein Sohn ist ein tapferer Krieger geworden. Zudem glaube ich nicht, dass er seinen Anspruch als Fürst der Dúnedain gewaltsam durchsetzen muss.“

„Es ist viel Zeit vergangen, seit ich mit ihm herkam. Der Statthalter bei den Dúnedain könnte sich weigern, ihm den ihm zustehenden Platz einzuräumen“, warnte Gilraen.

„Hmm, ich vergaß, dass ihr Menschen seid, Gilraen“, erwiderte Elrond mit recht spitzem Unterton.

„Deine Meinung von Menschen kenne ich, Meister Elrond. Und du weißt, dass ich sie durchaus teile“, versetzte Gilraen.

Ein Diener trat in die große Halle, in der Elrond für gewöhnlich seine Besucher empfing.

„Deine Söhne sind eingetroffen, Herr“, meldete er.

„Lass sie eintreten!“, befahl der Elbenfürst. Der Diener machte Platz und die drei Männer traten ein. Elrond sah schon an den frohen Mienen, dass ihre Reise erfolgreich gewesen war. Er umarmte seine leiblichen Söhne, was Estel die Gelegenheit gab, seiner Mutter den ersten Gruß zu entbieten. So bemerkte er nicht, dass Elladan und Elrohir Elrond davon berichteten, dass er einen ausgewachsenen Höhlentroll allein erschlagen hatte, der Elladan angegriffen hatte. Auch mit einem Bidenhander, einem zweihändigen Schwert, wie Estel eines führte, war es eine Meisterleistung, einen Troll zu erschlagen. Trolle waren mit einer Größe von gut vierzehn Fuß mehr als doppelt so groß wie Menschen oder Elben und ebenso mehr als doppelt so breit. Sie waren Muskelberge, die einen Elben oder einen Menschen leicht mit einer Hand hochheben konnten. Nur ein mit ungeheurer Kraft geführter Hieb konnte einen Troll überhaupt verwunden. Wer mit dem Bogen gegen einen Troll kämpfte, tat gut daran, dies aus respektvoller Entfernung zu tun und möglichst das Auge zu treffen.

Elrond nickte beifällig und sah seinen Pflegesohn mit Wohlgefallen an. Estel war mit etwa sechs Fuß Größe nur wenig kleiner als die elbischen Zwillinge, sein dunkles Haar fiel in weichen Wellen bis knapp auf die breiten Schultern. Aus dem scharfgeschnittenen Gesicht leuchteten blaue Augen, die einen grauen Schimmer hatten. Wer Estels Hände ansah, hätte in ihm eher einen Schreiber oder Künstler vermutet, nicht aber einen gewandten Schwertkämpfer. Auch sein schlanker Wuchs täuschte über die Kraft hinweg, die ihn zu einem gefürchteten Gegner machte.

Elrond gab sich einen Ruck und riss sich aus der Betrachtung des jungen Menschen. Wenn dieser Sieg über einen Troll nicht die Gelegenheit war, dem jungen Mann zu sagen, wer und was er war, gab es keine bessere. Er trat zu ihm hin und legte ihm die Hand auf die Schulter. Estel fuhr erschrocken herum.

„Aragorn …“, setzte Elrond an.

„Vergebt, dass ich Euch nicht zuerst begrüßte, Meister Elrond.“

„Es ist nichts zu verzeihen, Aragorn, mein Sohn.“

Der junge Mann runzelte verwundert die Stirn.

„Mein Name ist Estel, Vater Elrond“, berichtigte er vorsichtig. Elronds Lächeln wurde breiter.

„Ja, gewiss, mein Sohn – bei den Elben ist das dein Name. Aber du bist ein Mensch, Gilraens Sohn. Und du bist Arathorns Sohn. Der Sohn des Fürsten der Dúnedain. Dein Vater hat dir die Stammesfürstenwürde der Dúnedain als Erbe hinterlassen.“

„Arathorn? Aus dem Geschlecht Isildurs?“, fragte Aragorn verblüfft nach. Elrond nickte und kehrte zu seinem Hochsitz zurück.

„Richtig. Du, Aragorn, bist durch deinen Vater Arathorn Isildurs Erbe. Du bist der letzte der Númenórer; der Mann, der den Thron der Hochkönige von Arnor und Gondor beanspruchen kann. Isildur wieder ist Nachkomme Tar-Minyaturs, der unter dem Namen Elros geboren wurde und mein Bruder war. Seit Tar-Minyatur sind etwa sechzig Generationen vergangen, aber über diese sechzig Generationen bist du mein Neffe. Diese Verwandtschaft wird auch ausgedrückt durch den Ring meines Urgroßvaters Barahir, der Teil des Erbes meines Bruders war. Ich übergebe ihn dir mit den Bruchstücken des Schwertes Narsil, mit dem Isildur einst Sauron die Hand abtrennte und ihm so seine Gestalt nahm. Das Zepter von Annúminas behalte ich einstweilen noch zurück, denn das musst du dir erst verdienen. Aber es wird dein sein oder niemand wird es in den Händen halten, Aragorn.“

Noch verwirrt nahm Aragorn den kostbaren Ring von Elrond entgegen. Er war aus massivem Silber gefertigt und bestand aus zwei ineinander verschlungenen Schlangen, deren Köpfe neben einem ovalen, in Fassetten geschliffenen Smaragd über ausgebreiteten Flügeln lagen. Schlangen und Smaragd symbolisierten die Fähigkeit der Númenórer zu heilen. Der Smaragd war sowohl ein Schlangenauge als auch ein von den Schlangenschwänzen umschlossenes grünes Blatt; ein Blatt der Athelas-Pflanze, des Königskrauts, das gegen viele Krankheiten wirksam war. Aragorn probierte den Ring, der schließlich auf seinem linken Zeigefinger passte.

„Ich danke dir, Elrond“, sagte Aragorn. „Ich hoffe, dass ich mich dieses Erbes würdig erweise.“

Der Elb seufzte.

„Das hoffe ich auch, mein Sohn. Und ich hoffe, dass du nicht den gleichen Fehlern unterliegst, wie deine Vorfahren sie gemacht haben“, erwiderte er.

„Was meinst du?“

„Isildur hatte die wohl einmalige Chance, Mittelerde vom Übel Sauron ein für allemal zu befreien. Er hat sie leider nicht genutzt und so leidet Mittelerde noch immer unter dem Bösen. Und es wird wieder stärker.“

„Und was hat er getan?“

„Du solltest lieber fragen, was er nicht getan hat, Bruder“, bemerkte Elladan.

„Und? Was hat er nicht getan?“ fragte Aragorn abermals.

„Isildur schnitt Sauron den Einen Ring vom Finger, zerstörte damit dessen menschen- oder elbenähnliche Erscheinungsform. Aber statt den Ring zu vernichten, behielt er ihn, wurde vom Ring verraten und der Ring ging verloren. Bis heute weiß niemand, wo der Ring ist. Sauron erholt sich von der fürchterlichen Niederlage, die Elben und Menschen ihm in der Schlacht am Schicksalsberg, dem Orodruin, bereiteten. Und er beginnt, nach dem Ring zu suchen. Wenn er ihn finden sollte, wird das Mittelerdes Untergang sein“, erklärte Elrond kühl. „Die Habgier hat deinen Ahn vernichtet und seine Habgier droht, Mittelerde zu vernichten“, setzte er mit gewisser Schärfe hinzu.

„Und wenn der Ring zwischenzeitlich vernichtet wurde?“, erkundigte sich Aragorn.

„Der Ring wurde von Sauron in den Feuern des Schicksalsberges geschmiedet. Er enthält Saurons ganze Bösartigkeit, seine ganze Lebenskraft. Nur in den Feuern der Sammath Naur, wo er entstanden ist, kann dieser Ring vernichtet werden. Ein Problem besteht darin, dass niemand weiß, wo sich der Ring befindet. Das zweite Problem wird sein, ihn in den Feuerschlund zu werfen – schließlich liegt der Schicksalsberg in Mordor, in Saurons eigenem Herrschaftsbereich. Und da kommt man nicht einfach hinein, mein Sohn“, erwiderte Elrond.

„Sollte der Ring eines Tages auftauchen, bin ich bereit zu versuchen, den Fehler meines Ahns gutzumachen“, entgegnete Aragorn mit einem gewissen Stolz.

„Ein lobenswerter Vorsatz, mein Junge. Ich kannte Elendil und Isildur. Beide waren starke Charaktere – aber nicht stark genug, um der Verführung durch den Ring zu widerstehen. Du bist ein Mensch, Aragorn. Du bist deren Erbe. Und ich muss befürchten, dass es dir bei allem guten Willen nicht besser gehen wird als Isildur.“

Trotz Elronds pessimistischer Einschätzung seiner Standhaftigkeit hinsichtlich des Einen Ringes war die Eröffnung seiner Herkunft für Aragorn wie ein reinigendes Bad. Er fühlte sich frisch und froh, hätte die ganze Welt umarmen mögen. Einige Stunden nach seiner Ankunft ging er durch den Birkenhain in Elronds Garten und sang leise ein Lied vor sich hin – ein Lied, das von seinem Vorfahren Beren und der ersten Begegnung mit dessen späterer Gemahlin Lúthien handelte. Lúthien war eine dunkelhaarige Schönheit gewesen, die in diesem Lied beschrieben wurde. Und während er vor sich hin sang, sah er plötzlich eben diese Schönheit nur wenige Klafter von sich entfernt durch den Birkenhain spazieren … Um sicher zu gehen, dass seine Lebensfreude ihm nicht einen Streich spielte oder er gar Halluzinationen hatte, sprach er sie an:

„Tinúviel, Tinúviel!“

Die dunkelhaarige Schöne blieb stehen und sah ihn verwundert an. Tinúviel hatte Beren seinerzeit Lúthien genannt, weil sie wie eine Nachtigall gesungen hatte, als er ihr begegnet war. In der von den Elben gesprochenen Sprache Sindarin war Tinúviel eine poetische Bezeichnung für diesen Vogel.

„Warum nennst du mich so?“, fragte sie mit sanfter Stimme.

„Weil du der, von der ich eben gesungen habe, schier aufs Haar zu gleichen scheinst“, erwiderte Aragorn mit einem leichten Lächeln.

„Wer bist du?“

„Ich wurde bisher Estel genannt, aber ich bin Aragorn, Arathorns Sohn“, stellte er sich vor, nicht ohne Stolz auf seine Herkunft.

„Arathorns Sohn? Nun, dann sind wir verwandt, denn ich bin Elronds Tochter, und mein Name ist Arwen.“

„Elronds Tochter? Du meine Güte! Hat dein Vater dich bisher in der Schatzkammer eingesperrt? Ich lebe seit zwanzig Jahren in diesem Hause, aber ich habe dich noch nie gesehen.“

Arwen lächelte ihn freundlich an.

„Ich habe einige Zeit bei der Familie meine Mutter in Lórien gelebt und bin jetzt erst wieder heimgekommen.“

„Einige Zeit scheint mir doch etwas untertrieben, schöne Arwen. Wenn ich dich in der ganzen Zeit, die ich hier lebe, nie gesehen habe, warst du mindestens diese Zeit fort.“

„Ja, stimmt. Es sind mehr als zwanzig Jahre, dass ich zuletzt in Bruchtal war“, bestätigte sie.

Arwen sah keinen Tag älter aus als er selbst, aber Aragorn wurde plötzlich klar, dass Arwen mehr als vierhundertvierzig Jahre alt sein musste, denn Celebrían, Elronds Frau, war vor so langer Zeit über das Meer nach Valinor in die Lande der Unsterblichen über das Meer gefahren. Aragorn kam sich auf einmal wieder klein und unbedeutend vor. Doch Arwens Lächeln ließ den melancholischen Anflug wieder verschwinden. Aragorn sah in ihre sanften, dunkelblauen Augen und bemerkte zu seinem eigenen Schrecken, dass er sich verliebt hatte …

Wenn er noch gehofft hatte, dass dieses Gefühl wieder vergehen würde, sofern er wieder von der Wolke seiner Hochgefühle herunter gekommen war, sah er sich getäuscht. Arwens sanfter Blick hatte sich mit der Präzision eines von Elben abgeschossenen Pfeils in sein Herz gebohrt und steckte fest – unverrückbar, aber ohne Schmerz. Oft lag er des Nachts wach und träumte von ihr mit offenen Augen. Seiner Mutter fiel auf, dass er stiller wurde und sie ahnte, dass ihr Sohn sein Herz verloren hatte.

„Aragorn, mein Sohn, es ist etwas mit dir geschehen – und das hat nur bedingt etwas mit deiner Herkunft zu tun“, bemerkte Gilraen. Wie viele aus dem Volk der Dúnedain war sie bis zu einem gewissen Grad mit hellseherischen Fähigkeiten begabt.

„Vielleicht hat es mit der Tatsache zu tun, dass ich ein sterblicher Mensch bin, Mutter“, seufzte er. Dann erzählte er Gilraen von der Begegnung mit Arwen.

„Arwen Undómiel? Oh, mein Sohn, das ist ein hochgestecktes Ziel. Elben sind schöne Wesen, aber Arwen ist in der Tat wohl die Schönste aller Elben. Und ob Elrond sie gerade einem Menschen zur Frau geben wird …? Es wird nicht ohne seinen guten Willen gehen, mein Sohn“, warnte Gilraen.

„Ich weiß. Deshalb wollte ich versuchen, sie zu vergessen – aber es gelingt mir nicht. Ich liebe sie, seit ich sie gesehen habe.“

„Und erwidert sie deine Liebe?“

Das war der Punkt, über den der junge Dúnadan sich noch nicht ganz klar war. Da er selbst einer weiteren Begegnung zunächst ausgewichen war, hatte er mit Arwen noch nicht wieder gesprochen.

Doch einige Tage später versammelten sich sämtliche Bewohner Bruchtals zu einem Fest in der großen Halle, die zu Elronds großem Hause gehörte. Arwen suchte von sich aus Aragorns Nähe.

„Könnte es sein, dass du mir in den letzten Tagen aus dem Weg gegangen bist, Aragorn?“, fragte sie leise. Es war ohne jeden Vorwurf. Aragorn sah sie an. Sanfte, dunkelblaue Augen sahen ihn voller Wärme an. Er nickte.

„Ja. Ich hatte Angst, mich in dich zu verlieben, schöne Arwen. Aber es ist geschehen“, erwiderte er. So sanft ihre Augen waren, ihr Blick forderte doch die Wahrheit.

„Dann will ich dir gestehen, dass es mir ebenso geht“, sagte sie. Jetzt leuchtete tiefe Sehnsucht aus den Tiefen ihrer schönen Augen.

„Arwen, ich bin ein sterblicher Mensch und …“

„Ich weiß. Ich weiß, dass ich meine Unsterblichkeit aufgeben muss, wenn ich den Bund mit dir eingehen will. Aber ich bin dazu bereit.“

„Das kannst du nicht tun!“, widersprach er. „Die Unsterblichkeit ist ein so großes Geschenk Ilúvatars an euch Elben; das solltest du nicht leichtfertig hergeben.“

„Wer sagt, dass ich das tue?“, lächelte sie. „Aragorn, ich bin zweitausendfünfhundert Jahre alt. Ich habe ein sehr langes Leben gehabt, aber mir ist kein Elb begegnet, mit dem ich die Jahre bis zum Ende der Welt teilen möchte. Lieber ein einziges Leben mit dir als alle Zeitalter der Welt ohne dich.“

„Wenn das dein Wunsch ist, Frau Undómiel, dann solltest du es dir wirklich gut überlegen und mich lieber erst kennen lernen bevor du einen großen und nicht korrigierbaren Fehler machst“, warnte Aragorn mit einer Ernsthaftigkeit, die Arwen von ihm nicht erwartet hatte.

Elrond entging nicht, dass seine Tochter und sein Pflegesohn ein ernsthaftes Gespräch miteinander führten – und die Sehnsucht, die aus Augen beider leuchtete, entging dem weisen Elben ebenfalls nicht.

Am Tag darauf ließ er Aragorn zu sich kommen.

„Aragorn, dir steht der Sinn nach Arwen“, sagte Elrond. Es war eine schlichte Feststellung. Aragorn sah ihn verwirrt an.

„Hat meine Mutter mit dir gesprochen? Oder Arwen?“, fragte er.

„Nein, mein Sohn, deine Augen haben dich verraten. Und ich sage dir: Arwen steht zu hoch über dir, als dass du sie begehren solltest“, erwiderte Elrond.

„Nun, du nennst mich verwandt. Ich bin dein Pflegesohn, ich bin ein Elbenfreund, ich habe eher Sindarin als die Gemeinsprache Mittelerdes gesprochen. Warum sollte ich nicht um Arwen werben?“, fragte Aragorn.

„Du bist ein Mensch, mein Sohn; Arwen ist eine Peredhel, eine Halbelbin. Du bist sterblich, sie ist unsterblich – es sei denn, sie wählt das sterbliche Leben. Willst du ihr das wirklich antun? Bleibt sie unsterblich, wird sie eines Tages mit mir zu den Grauen Anfurten reisen und wir werden gemeinsam nach Valinor segeln, wo sie in den Landen der Unsterblichen ein Leben in Freude genießen darf“, erklärte der Elbenfürst.

„Aber ein Leben ohne Liebe, Elrond. Willst du ihr das antun? Arwen hat in zweitausendfünfhundert Jahren niemand unter den Elben gefunden, mit dem sie ihr Leben teilen möchte. Jetzt empfindet sie Liebe und sie möchte ihr Leben mit mir teilen – wie ich es auch will. Ich gestehe, dass ich sie selbst auf den Verlust der Unsterblichkeit hingewiesen habe. Sie bleibt dennoch dabei, dass sie den Bund mit mir eingehen will und auf ihre Unsterblichkeit verzichten will. Diese Entscheidung ist weitreichend – für Arwen noch mehr als für mich. Darum habe ich sie gebeten, sich gut zu überlegen, was sie tun will. Und deshalb werde ich Imladris* auch demnächst verlassen.“

„Dann, mein Sohn, lass‘ uns sehen, was die Jahre bringen werden …“, erwiderte Elrond.

Als Aragorn dann etwa eine Woche später tatsächlich Bruchtal verließ, um das Erbe seines Vaters anzutreten, sich von Mutter und geliebter Frau verabschiedete, mochte Elrond wohl gehofft haben, dass es mit dieser Episode sein Bewenden haben würde, doch er hatte sich schwer getäuscht.

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Ich habe mich oft gefragt, ob Aragorn Imladris wirklich nur verließ, weil er sein Erbe als Arathorns Sohn, des fünfzehnten Stammesfürsten der Dúnedain antreten wollte. König Elessar hat mir dann gesagt, dass er ohnehin nicht länger in Bruchtal geblieben wäre, weil er es nur schlecht lange an einem Fleck aushielt – unabhängig von der Tatsache, dass Elrond es wohl mindestens anfangs nicht gern sah, dass seine Tochter einen sterblichen Menschen liebte. Diese Eigenschaft hat ihn auch zu seinen weiten Reisen durch ganz Mittelerde getrieben. Und er sagte mir, dass er oft nach Bruchtal zurückkehrte – mindestens, wenn er sich einige Zeit ausruhen wollte oder wenn er Hilfe brauchte.

 

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Von Bruchtal bis in den Norden, in die Gegend um Annúminas, war es von Bruchtal weit. Gut zwanzig Tagesmärsche warteten auf einen Wanderer, der in dieser Richtung unterwegs war – wenn ihn keine anderen Widrigkeiten hinderten. Aragorn war durch seine weiten Unternehmungen mit Elronds Söhnen das Überleben in der Wildnis gewöhnt. Er trug ein zweihändiges Schwert bei sich, eine elbische Arbeit von höchster Qualität, er hatte einen Elbenbogen bei sich, einen Köcher voller weißgefiederter Pfeile, wie sie gewöhnlich von Elben benutzt wurden, ein kürzeres Messer, mit dem er sich Wurzeln ausgraben oder den Weg freischneiden konnte, einige Trockenvorräte wie Lembas, ein Reisebrot aus Lórien, das lange frisch blieb und auch in kleinen Mengen genügend Energie für einen langen Tagesmarsch gab, sowie eine zusammengerollte Decke, in der sich der Rest der wenigen Habseligkeiten befand, die er aus Bruchtal mitgenommen hatte

Drei Wochen nach seinem Aufbruch von Bruchtal erreichte Aragorn die Trümmer von Annúminas. Seit der Zerstörung der Stadt durch den Hexenkönig vor vielen Jahrhunderten und die Verlegung der Residenz in das zwischenzeitlich ebenfalls zerstörte Fornost war der Flecken praktisch unbewohnt. Der Abendrotsee strahlte einen unerwarteten Frieden aus, als die Sonne hinter den Bergen blutrot versank und dem Namen des Sees alle Ehre machte. Aragorn verbrachte einige Tage am Abendrotsee und schwor sich, die Residenz wieder aufzubauen, falls er jemals das Erbe seiner Väter antreten konnte – und würde. Schon der Gedanke, Hochkönig von Arnor und Gondor zu sein, trieb dem jungen Dúnadan Schauer der Furcht über den Rücken. Wer war er denn, dass er die Krone beanspruchen konnte? Sicher, er war Isildurs Nachfahre. Aber war er besser geeignet, die schwere Bürde der Regierung eines so großen Reiches zu übernehmen als der bitter gescheiterte Isildur? Aragorn quälten zunehmend Zweifel an seinem Erbe, jedenfalls an der Gesamtmasse, wenn er an Gondor dachte. Er wusste einfach zu wenig von dem, was ihn erwartete.

‚Ich muss Mittelerde kennen lernen. Nur dann habe ich eine Chance, zu wissen, ob ich es wert bin, dessen Hoher König zu sein’, dachte er und baute sich sein Nachtlager, wie er es von vielen Reisen und Jagdausflügen mit Elladan und Elrohir gewohnt war.

Bald hatte es sich unter den Dúnedain des Nordens herumgesprochen, dass ein neuer Dúnadan aufgetaucht war, den bisher noch niemand gekannt hatte. Neugierig geworden, versammelten sich die Dúnedain am Abendrotsee, um den Neuen kennen zu lernen.

„Ich bin Aranarth der Jüngere, ich stamme aus Isildurs Haus. Wer bist du?“, fragte Aragorn schließlich einer der Dúnedain.

„Ich bin Aragorn, Arathorns Sohn“, erwiderte der ihnen Unbekannte.

„So bist du der rechtmäßige Fürst unseres Stammes“, erwiderte Aranarth. „Sei willkommen in dem, was einmal die Hauptstadt Arnors war. Wirst du sie wieder aufbauen?“

Es war die Frage, die jedem Fürsten der Dúnedain gestellt wurde. Aragorn zögerte einen Moment. Er wollte keine Zusagen machen, die er nicht halten konnte.

„Es ist mein Ziel, mein Freund. Doch im Moment weiß ich nicht, ob dieses Ziel erreichbar ist“, erwiderte er zurückhaltend, vielleicht ahnend, dass es noch lange nicht erreichbar sein würde.

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„Sagt, mein König, wie lange habt Ihr gezweifelt, Annúminas wieder zu seiner jetzigen Schönheit zu verhelfen?“, fragte ich Elessar einmal, als er wieder einige Monate in Annúminas verbrachte und sich die Abenddämmerung eines schönen Frühlingstages auf den Abendrotsee senkte. Elessar sah Königin Arwen an, die neben ihm auf der Terrasse seines Hauses saß und seine Hand hielt, ganz so, wie frisch Verliebte es tun – nur mit dem Unterschied, dass meine Königin und mein König zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als hundert Jahre verheiratet waren! Er schmunzelte, was seinen kurzgeschorenen Bart sich sträuben ließ.

„Wenn ich ehrlich bin: Bis zum Ende des Ringkriegs, Maggaraf“, sagte er dann.

„Warum so lange?“, hakte ich in meiner ewigen Neugierde nach.

„Als ich Bruchtal verließ, hätte ich dem König von Rohan und dem Statthalter von Gondor mehr als goldene Berge bieten müssen, um meinen Anspruch anzuerkennen – von sonstigen Wildlingen, Unwesen und so weiter ganz abgesehen.“

Arwen lächelte sanft.

„Du solltest dazu sagen, dass du außer Elben und Zwergen und Dúnedain des Nordens auch niemandem gesagt hast, wer du bist, Aragorn“, bemerkte sie. Mein Blick muss sehr fragend gewesen sein, denn Elessar nickte mir zu.

„Du fragst dich warum, nicht wahr?“ erkundigte sich der König. Ich nickte nur.

„Maggaraf, ich hatte eine unglaubliche Angst vor der Bürde der Krone – und davor, Fehler zu machen, die Mittelerde vielleicht vernichtet hätten“, erwiderte Elessar mit geradezu entwaffnender Ehrlichkeit.

Wenn ich heute, nach so vielen Jahren, die ich meinem König als Schreiber gedient habe, auf die bereits vergangenen hundert Jahre der Regierungszeit des großen Elessar Telcontar zurückblicke, frage ich mich immer wieder, wie ein so gerechter, gütiger und kluger König vor seiner Krönung solche Zweifel an sich selbst haben konnte … Ich werde es wohl nie begreifen. 

Ende

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