Pirates of the Caribbean – Salazars Rache – Das Buch zum Film

 

Vorwort

zur inoffiziellen Übersetzung des Romans Pirates # Caribbean: Dead Men Tell No Tales von Elizabeth Rudnick

Ich habe mich seit dem Frühjahr 2017, noch bevor Pirates of the Caribbean: Salazars Rache (deutscher Verleihtitel) in die Kinos kommen sollte, bei Amazon informiert, ab wann es eine deutsche Version des Romans zu Film geben könnte. Ich durfte zu meinem Verdruss feststellen, dass es zwar Ankündigungen für englische Bücher zum Film gab, aber keinerlei Hinweise darauf, dass auch nur eines davon auf Deutsch erscheinen sollte.

Im Juli 2017 entschied ich mich dafür, den von Elizabeth Rudnick unter dem amerikanischen Titel Pirates of the Caribbean: Dead Men Tell No Tales geschriebenen Roman zum Film zu kaufen und das Buch für mich privat zu übersetzen. Nachdem ich die ersten drei Kapitel übersetzt hatte, habe ich mich noch im Juli 2017 zunächst an den Egmont-Ehapa Verlag gewandt, bei dem die früheren Romane zur ersten Trilogie der Pirates-Filme als Romane von Wolfgang und Rebecca Hohlbein erschienen waren und fragte dort an, ob man Interesse an meiner Übersetzung hätte. Ich bekam von dort die Antwort, man habe keine Buchrechte für diesem Film und könne die Übersetzung deshalb leider nicht verwenden.

Daraufhin habe ich mich an Walt Disney Deutschland gewandt, die mich zur Zentrale in den USA weiterschickten. Auch dort habe ich nach Bedingungen für die Veröffentlichungsrechte einer deutschen Übersetzung gefragt. Ich erhielt Ende August 2017 die Antwort, die Rechte für eine deutsche Übersetzung seien bereits vergeben. Welcher Verlag oder Autor sie hatte, hat man mir allerdings nicht verraten.

Bis heute (Stand 26.06.2019) gibt es zwar eine amerikanische Version (Elizabeth Rudnick) und eine englische, die Drehbuchautor Jeff Nathanson zugeschrieben wird und unter dem Titel Pirates of the Caribbean: Salazars Revenge veröffentlicht wurde – aber nach wie vor keine deutsche Übersetzung, die als Buch oder E-Buch zu kaufen wäre. Ich gehe deshalb davon aus, dass der oder die Rechteinhaber(in) kein wirtschaftliches Interesse an der Wahrnehmung der erteilten Rechte hat, weil sich eine Buchveröffentlichung seiner/ihrer Meinung mehr als ein Jahr nach Veröffentlichung der DVD nicht mehr rechnet und ihm/ihr kein Schaden entsteht, wenn ich meine Übersetzung dieses Buches nunmehr – inoffiziell – hier veröffentliche. Aus diesem Grund verzichte ich auch auf den sonst in solchen Fällen üblichen Disclaimer.

Ich habe den Roman von Elizabeth Rudnick so genau wie es mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln aus Schulenglisch und Internet-Wörterbuch möglich war, halte mich allerdings nicht sklavisch an eine wirklich wörtliche Übersetzung. Ich erlaube mir auch eigene Formulierungen, die mir ggf. passender erscheinen.

Zu den Ergänzungen zählt die Bonusszene, die in keinem der beiden veröffentlichten Romane enthalten ist. Ich kann nur vermuten, dass sie im Drehbuch nicht enthalten war. Aber sie ist im Film und darf nach meiner Überzeugung auch nicht fehlen. Eine weitere Ergänzung sind Kapiteltitel. Im Original sind die Kapitel lediglich nummeriert-

Viel Freude beim Lesen der inoffiziellen Übersetzung von

 

Pirates # Caribbean: Salazars Rache.

 

Gundula Wessel

 

 

Prolog

Der junge Henry Turner lag auf seinem Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, die Augen offen, als er an die Wand vor sich starrte. Schatten, von einer einzelnen Kerze hervorgerufen, flackerten in der Brise, die durch das offene Fenster hereinwehte, tanzten durch den Raum. Der Junge wagte es nicht, mehr Licht zu machen. Er wollte nicht, dass seine Mutter hereinkam, nicht in dieser Nacht aller Nächte. Diese Nacht, dachte er, seine Stirn mit neuer Entschlossenheit kraus gezogen, war die Nacht. Die Nacht, in der er seine Zukunft ändern würde – und die seines Vaters.

Er stand auf und ging zu der hinteren Wand seines Zimmers. Jeder Quadratzoll der hölzernen Oberfläche war mit Papier bedeckt. Es waren Seiten, aus Büchern gerissen, die in obskuren Sprachen geschrieben waren. Karten und Listen wetteiferten um Platz, so übereinander gelegt, dass Ozeane mit Meeren verschmolzen und Flüsse sich auf trockenes Land wanden. Er beugte sich dichter darüber, seine langen Finger glitten über einige Zeichnungen von monströsen Meereskreaturen.

Ein riesiger Kraken, der seine Tentakel um ein sinkendes Schiff geschlungen hatte, war auf einer davon abgebildet.

Eine andere Zeichnung zeigte einen gewaltigen auftauchenden Wal, dessen Augen rot vor Zorn waren.

Meerjungfrauen und Wassermänner schwammen durch blaues Wasser, die Lippen gefletscht, die Raubtierzähne statt menschlicher Gebisse freilegten, während sie unglückselige Seeleute jagten.

Seine Finger blieben auf einer der Zeichnungen liegen. Diese war einzigartig, weil sie keine Kreatur, sondern eher einen Mann zeigte – oder, um genauer zu sein – jemand, der einmal ein Mann gewesen war. Menschliche Augen voller Kummer und Schmerz starrten unter schweren Augenbrauen hervor. Doch wo weiche Wangen oder jedenfalls ein Bart hätte sein sollen, wuchsen Tentakeln. Sie schienen sich sogar in der Zeichnung zu bewegen, schlugen Wellen um das berühmt-berüchtigte Gesicht von Davy Jones, der einst Captain der Flying Dutchman gewesen war. Dazu verdammt, die Seelen ins Jenseits zu bringen und dazu verdammt, nur einmal alle zehn Jahre an Land gehen zu können, war über das Bild in Henrys Zwölfjährigen-Handschrift über das Bild geschrieben.

Er seufzte. Davy Jones war nicht länger Captain der Dutchman. Ein anderer hatte vor mehr als einem Jahrzehnt seinen Platz eingenommen. Sein Vater, Will Turner, stand nun am Steuer des verfluchten Schiffes. Dem Jungen stockte der Atem, als er vor seinem Zimmer ein Geräusch hörte. Unter der Tür sah er, dass die Füße seiner Mutter davor angehalten hatten.

„Henry, schläfst du?“, hörte er ihr sanftes Flüstern. Er antwortete nicht. Er liebte seine Mutter, aber wenn er sie jetzt sah, könnte es ihn dazu bringen, seinen Plan zu überdenken, und er hatte zu lange auf diese Nacht gewartet, um sie zu verderben oder zu verschieben. Schließlich ging Elizabeth Turner weiter, zufrieden, dass ihr Sohn schlief.

Erst, als er hörte, dass die Schlafzimmertür seiner Mutter geöffnet und wieder geschlossen wurde, wagte er, auszuatmen. Seine Aufmerksamkeit kehrte zur Wand zurück, er schenkte zwei der Bilder einen langen Blick, die ihn in seinen Träumen verfolgten und sein Verlangen befeuerten, alles über die See zu lernen.

Eines war der legendäre Dreizack. Der mythische Gott Poseidon hielt ihn in den Händen. Selbst in der einfachen Zeichnung war die Macht dieses Objekts klar erkennbar.

Das andere Bild war eines von seinem Vater. Es war eine einfache Kohlezeichnung, verblichen und gerissen. Er war größer und seine Schultern waren breiter, aber die Augen, die aus dem Bild schauten, waren dieselben wie Henrys, die Wangenknochen ähnelten seinen. Es war das einzige Bild, das er von seinem Vater hatte.

Der Junge griff danach und schnappte sich beide Bilder. Er bückte sich und nahm er einen kleinen Sack, der auf dem Ende seines Bettes gestanden hatte. Er warf ihn über die Schulter, blies die Kerze aus und ging zum offenen Fenster.

Er stockte, sah ein letztes Mal auf das Schlafzimmer seiner Kindheit. Er wusste, dass die Möglichkeit bestand, dass er es nie wiedersah. Ein leichter Schmerz stach in sein Herz, als er realisierte, dass er seine Mutter vielleicht auch nie wiedersah. Doch er schüttelte den Kopf. Es tat ihm nicht gut, so zu denken.

Erneut sah er durch das offene Fenster. In einiger Entfernung sah er die Küstenlinie und die Wellen, die im Mondlicht glitzerten. Er streckte erst einen Fuß und dann den anderen durch das Fenster. Die Zeit für Gedanken, Wünsche und Hoffnung war vorüber. Es war Zeit zum Handeln.

1

Henry pullte sein kleines Boot durch karibische Gewässer. Ein voller Mond hing am wolkenlosen Himmel, und warmer Wind, der einen leichten Hauch von Salz herantrug, wehte über das Wasser. Das Meer schien leer, abgesehen von einer Schule Delfine, die in den sanften Wellen sprangen und spielten.

Seine Schultern krümmten sich, als er sich abmühte, das Boot durch das Wasser zu bewegen. Sein Haar hing ihm im Gesicht, feucht von der Seeluft und der Anstrengung des Ruderns. Trotz der späten Stunde hatte er ein Leuchten in den Augen – und eine Absicht.

Plötzlich, als ob er eine Art Zeichen erkannt hatte, hörte er auf zu pullen. Er saß für einen Moment still, die Wellen schwappten gegen die hölzernen Seiten des Bootes. Stille senkte sich und zum ersten Mal, seit er sich auf diese Mission begeben hatte, spürte der Junge einen leichten Anflug von Zweifeln.

‚Was mache ich hier?‘, dachte er.

Dann schüttelte er den Kopf. Er wusste ganz genau, was er tat. Er hatte es seit Monaten geplant. Eigentlich seit Jahren.

Er wollte seinen Vater sehen.

Aber zunächst musste er ihn finden. Und das zu tun erforderte sehr viel mehr Stärke und Mut, als ein Boot zu stehlen und es mitten in die Karibik zu rudern – selbst, wenn dieses Meer voller Piraten, Haie und schier unvorstellbarer Kreaturen war.

Als er aufstand, holte er tief Luft. Er hatte lange genug gewartet. Er trat an den Bug des Bootes und blieb an einem großen Jutesack stehen. Das dicke, raue Material vermochte nicht, die Umrisse der Steine zu verbergen, die den Sack füllten. Ein Stück Leine war an dem Sack festgebunden.

Das andere Ende war an seinem Bein befestigt.

Bevor er Angst vor der eigenen Courage bekommen konnte, hob er den Sack hoch und warf ihn ungezwungen über Bord. Für einen Moment schien der Sack auf der Oberfläche zu treiben, als ob er nicht versinken wollte. Doch es war kaum mehr als eine Illusion. Der Sack begann, ins Wasser zu sinken, und als er das tat, rauschte die Leine mit wüster Geschwindigkeit hinterher.

Zehn Yards waren noch übrig. Dann sieben. Dann fünfeinhalb.

Als nur noch ein paar Fuß blieben, verschwand die Leine immer schneller. Henry trat an das Ende des Bootes. Seine Augen waren ruhig, seine Hände fest, er holte tief Luft und sprang ins Wasser. Augenblicklich verschwand er unter der dunklen Oberfläche.

Allzu schnell verblasste das Mondlicht über ihm. Dunkelheit verschluckte ihn vollständig. Das Wasser wurde kälter. Als er tiefer und tiefer fiel, begannen seine Lungen zu protestieren, seine Augen quollen in Ermangelung von Sauerstoff hervor. Seine Hände verkrampften sich an seinen Seiten. Er blieb immer noch ruhig. Er kämpfte nicht. Er versuchte nicht, sich an die Oberfläche zurückzuarbeiten.

Und dann – so schnell wie sein Abtauchen begonnen hatte – hörte es auf, als sein Fuß an etwas Hartes stieß.

Wäre er in der Lage gewesen, hätte er einen Triumphschrei ausgestoßen. Doch so, wie es war, konnte er nur lächeln, als er sah, worauf er gelandet war: auf dem hölzernen Deck eines Schiffes – eines Schiffes, das nun rasch auftauchte und ihn mit sich trug.

Einen Moment später tauchte das Schiff mit einem mächtigen Schwall auf, der es über Wasser beförderte. Mit einem donnernden Klatschen krachte der Rumpf auf die Oberfläche. Als es auf der See aufsetzte, floss das Wasser vom Deck und aus den Luken. Im Mondlicht sahen die verschrammten Planken wie die Knochen einer gigantischen Bestie aus. Dicke Algen und Seegras bedeckten die Oberfläche. Zerrissene, löchrige Segel flatterten, bis der Wind hineingriff und sie prall wurden. Der Bug, der die Form eines wilden Raubtiergebisses hatte, zeigte in die Dunkelheit.

Dies war die Flying Dutchman.

Henry lag auf dem Deck, saugte gierig Luft in seine Lungen, bis sie beinahe platzten. Er blieb dort für einen langen Moment. Dann erhob er sich wankend auf die Knie. Er war noch immer auf allen Vieren, ließ keuchend den Kopf hängen, als er Schritte auf dem brüchigen Deck in seine Richtung kommen hörte. Er arbeitete sich auf die Füße und wandte sich dem Geräusch zu, dann sagte er zu dem Mann, der aus dem Schatten kam:

„Vater?“

Will Turner, der verfluchte Captain der Flying Dutchman, stoppte seinen langsamen Gang zu Henry. Sein Gesicht blieb im Schatten verborgen, als er zu seinem Sohn hinuntersah.

„Henry“, sagte er schließlich mit heiserer Stimme, „was hast du getan?“

„Ich hab’ doch gesagt, dass ich dich finde“, antwortete der Junge schlicht. Er machte einen Schritt auf seinen Vater zu, den er unbedingt umarmen wollte, den er bisher nur ein einziges Mal getroffen hatte.

Doch Will wich seiner Umarmung aus, wobei er sorgfältig darauf achtete, das sein Gesicht in der Dunkelheit verborgen blieb. Eine Mischung aus Unglauben, Ärger und Stolz wallte in ihm auf.

„Bleib’ weg von mir!“, bellte er. „Ich bin verflucht! An dieses Schiff gefesselt.“

Sein Tonfall, harsch und kalt, schien durch den kleinen Jungen zu schneiden, und Will spürte prompt eine Welle des Zweifels. Es war nicht Henrys Schuld, dass Will zum Captain eines verfluchten Schiffes und einer ebenso verfluchten Crew geworden war. Und es war auch nicht Henrys Schuld, dass Will seit mehr als einem Jahrzehnt von dessen Mutter getrennt war. Es war eine grausame Wendung des Schicksals gewesen, der ihn an Deck der Flying Dutchman hatte landen lassen. Schicksal, Liebe und ein ordentlicher Schuss Dickköpfigkeit – dieselbe Dickköpfigkeit, die sich in den Augen seines Sohnes spiegelte.

Er machte einen kleinen Schritt nach vorn und zeigte sich dem Jungen.

„Sieh mich an, mein Sohn …“, sagte er mit sanfterer Stimme.

Die Jahre hatten ihren Tribut von William Turner jr. gefordert. Seine einst makellose Haut und seine männlich-schönen Züge waren nun von Muscheln verunziert, die an seinen Wangen und seinem Hals hingen. Sein langes Haar war verfilzt, seine Augen umgeben von der Last des Fluches. Seine Schultern waren stärker gekrümmt als sie einst gewesen waren und die Mundwinkel, die sich so oft in einem sanften, unbeschwerten Lächeln gehoben hatten, hingen herunter. Er war das Sinnbild der Niederlage.

Henry wich nicht zurück.

„Das ist mir egal“, sagte er und versuchte nochmals, die Distanz zu seinem Vater zu überwinden. „Wir sind jetzt zusammen. Ich bleibe bei dir …“

Will schüttelte den Kopf. Die Hoffnung in der Stimme seines Sohnes brach ihm das Herz. Er erinnerte sich, dass er einst dieselbe Sehnsucht gehabt hatte, bei seinem Vater zu sein; damals, als „Stiefelriemen Bill“ Turner ein verfluchtes Mitglied der Crew der Flying Dutchman gewesen war und Will selbst noch ein naiver junger Mann gewesen war, der an die wahre Liebe, an ein glückliches Ende und den Triumph des Guten über das Böse geglaubt hatte.

Doch diese Tage waren längst vorüber. Nun sah er seinen Sohn mit den Augen eines Mannes an, der wirklich und vollkommen zerstört war. Er wollte, dass sein Sohn nichts, aber auch absolut gar nichts mit diesem Leben zu tun haben sollte. Er sollte frei sein. Etwas, das er selbst nicht sein würde – für fast hundert Jahre.

„Die Dutchman ist kein Ort für dich“, sagte er schließlich, um seinen Standpunkt klarzumachen. „Kehr’ heim zu deiner Mutter.“

„Nein!“

Henry wollte nicht nachgeben. Er hatte so lange auf diesen Augenblick gewartet. Er hatte alle Möglichkeiten durchdacht – gute wie schlechte. Bei seinem Vater zu bleiben, bedeutete das Ende seines Lebens, wie er es gekannt hatte. Aber was für ein Leben lebte er jetzt? Ein Leben ohne einen Vater? Davon abgesehen … wenn er einmal einen Weg gefunden hatte, den Fluch zu brechen, konnten sie zu seiner Mutter an Land zurückkehren, als eine wiedervereinigte Familie.

Unter Deck wurden plötzlich dumpfe Geräusche laut. Henry konnte schwaches Stöhnen, Grunzen und das Geräusch schlurfender Schritte ausmachen. Will seufzte und wandte sich dem Heck seines Schiffes zu.

„Sie wissen, dass du hier bist“, warnte er seinen Sohn vor der verfluchten Crew. Er schnappte ihn am Kragen und schob ihn zur Reling. Darunter dümpelte dessen kleines Boot.

„Geh, bevor es zu spät ist.“

Der Junge rangelte sich frei.

„Ist mir egal!“, widersprach er starrköpfig. „Und wenn du mich über Bord wirfst, komme ich gleich wieder zurück!“

„Siehst du nicht, dass ich verflucht bin?“, erwiderte Will traurig. „Ich bin an dieses Schiff gefesselt!“

„Das ist der Grund, weshalb ich hier bin!“, konterte Henry mit versagender Stimme. „Ich glaube, ich kenne einen Weg, um deinen Fluch zu brechen.“

Als er die Trauer in der Stimme seines Sohnes hörte, spürte Will, dass sein verfluchtes Herz nochmals brach.

„Henry … nein!“

Der Junge ignorierte seinen Vater.

„Ich habe von einem Schatz gelesen – einem Schatz, der alle Macht der Meere enthält. Der Dreizack des Poseidon kann deinen Fluch brechen!“

Er griff in seine Jackentasche und zog die triefend nasse Zeichnung heraus, die er aus seinem Zimmer mitgenommen hatte. Verzweiflung füllte seine Augen und überflutete sein Gesicht.

Will vergaß sich für einen Moment, zog seinen Sohn an sich und umarmte ihn.

„Henry, der Dreizack kann nie gefunden werden. Es ist nicht möglich … Das ist nur eine Geschichte.“

„So wie die Geschichten von dir und Captain Jack Sparrow?“, fragte Henry mit tränenerstickter Stimme. Er erinnerte sich schlagartig an den Steckbrief, der an seiner Schlafzimmerwand hing. Er zeigte einen Piraten, dessen Augen mit Kohle umrahmt waren, mit einem mokanten Ausdruck im Gesicht. Er war jahrelang mit diesem Gesicht in seinen Gedanken eingeschlafen. Er kannte Geschichten über diesen Piraten, wusste um dessen Ruf als einer der größten Piraten, die jemals in der Karibik gesegelt waren.

„Er wird mir helfen, den Dreizack zu finden!“, fügte er stur hinzu.

Will prallte kopfschüttelnd zurück.

„Halte dich fern von Jack!“ sagte er mit ernster Stimme. „Verlasse die See für immer. Hör’ auf dich zu benehmen, wie …“

„Ein Pirat?“, fiel Henry ihm ins Wort. „Ich werde nicht aufhören! Du bist mein Vater! Ich will, dass du nach Hause kommst!“

Der Ältere seufzte. Es klang laut in der Stille, die das verfluchte Schiff plötzlich ergriffen hatte. Die Zeit lief davon – für Vater und Sohn. Die Dutchman würde nicht mehr lange an der Oberfläche bleiben.

„Henry“, sagte Will, der weiterhin versuchte, zu seinem Sohn durchzudringen, „es tut mir Leid. Mein Fluch wird niemals gebrochen werden. Das ist mein Schicksal.“

Er nahm das vierteilige Amulett ab, das er um den Hals trug und legte es sanft in die Hand seines Sohnes.

„Du musst mich gehen lassen, aber ich werde immer in deinem Herzen sein. Ich liebe dich, mein Sohn.“

Mit diesen Abschiedsworten durchtrennte er mit seinem Entermesser die Leine, die den Fuß des Jungen an den Jutesack band. Die Flying Dutchman sank abermals unter die Oberfläche, Henry schwamm zurück nach oben in die Sicherheit seines kleinen Bootes. Als er sich hineingezogen hatte, brannte sich ein einziger Gedanke in sein Gehirn: Captain Jack Sparrow.

Entgegen der Warnung seines Vaters wusste er, dass der Pirat der Schlüssel zur Lösung seines Problems war. Er würde diesen Mann finden, den Dreizack erlangen und dann – endlich – seinen Vater ein für alle Mal retten.

 

Kapitel 1

Neun Jahre später

Neun[1] Jahre waren vergangen, seit Henry Turner seinen Vater zuletzt gesehen hatte. Neun Jahre waren vergangen, seit er geschworen hatte, Jack Sparrow und den Dreizack des Poseidon zu finden. Es waren neun Jahre gewesen, die er endlose Tage lang damit verbracht hatte, sich rund um die Karibik zu arbeiten und endlose Nächte lang zu suchen. Neun Jahre Qual und Frustration.

Und noch immer konnte er nichts vorweisen. Alles, was er hatte, war seine Besessenheit – und ein Job als unerfahrene Landratte auf dem britischen Kriegsschiff HMS Monarch, der – zu diesem Schluss kam er nicht zum ersten Mal, wenn er auf den Dreck zu seinen Füßen sah – vielleicht noch schlimmer war, als alle anderen Unannehmlichkeiten war, denen er in den einundzwanzig Jahren seines Lebens bisher ausgesetzt gewesen war.

„Schneller, ihr elenden Kielschweine!“

Die Stimme von Bootsmann Maddox schoss ihm den Rücken hinunter. Seit Tagen hatten er und die anderen jungen Matrosen in dem heißen, beengten Raum im Unterdeck gearbeitet, hatten die Bilgepumpe bemannt. Es war eine undankbare Aufgabe. Vornübergebeugt, geschwächt von Hitze und Gestank, arbeiteten die Soldaten daran, das Wasser aus dem Schiff zu bekommen. Schwarz vom Dreck, den es aus dem Holz und der See selbst löste, hörte das Wasser nie auf, einzudringen. Es war brutale Arbeit, die nie zu enden schien.

Dennoch war ihm klar, dass seine Möglichkeiten begrenzt waren. In der Karibik war das Hauptziel der britischen Royal Navy das Aufspüren von Piraten. Henrys Hauptziel war, einen einzigen Piraten zu finden – Captain Jack Sparrow, um genau zu sein. Also hatte er sich ausgerechnet, dass der beste und schnellste Weg, sein Ziel zu erreichen, darin bestand, mit der Navy zusammenzuarbeiten, damit sie ihr Ziel erreichte. Unglücklicherweise hatte er in seine Rechnung nicht einbezogen, dass er mit geringer Erfahrung und ohne Referenzen – seinen verfluchten Piratenvater zu erwähnen, hätte ihm gewiss nicht weitergeholfen – ganz unten auf der Karriereleiter der Seefahrt anfangen musste. Genau deshalb fand er sich als Matrosenrekrut angeworben und zu Maddox gesteckt, um dessen pathetischem Gerede von der Kontrolle der See zuzuhören.

Als Maddox seine Befehle bellte, drehte Henry sich um und peilte aus einem kleinen Fenster. Es ließ nur wenig Licht herein, doch es gewährte ihm einen Blick in die Außenwelt. Dadurch konnte er das Opfer der HMS Monarch ausmachen. Ein kleines Schiff war ein paar Kabellängen[2] steuerbord querab. An seinem Mast wehte das unverkennbare Zeichen eines Piratenschiffes – der Jolly Roger. Doch aus seinem Blickwinkel konnte er weder den Namen des Schiffes ausmachen, noch erkennen, wessen Jolly Roger es war. Er schaute rasch über die Schulter. Maddox war abgelenkt.

Er zog ein kleines Fernglas aus einer verborgenen Tasche seiner Hose und richtete es auf das Fenster. Mit geübter Leichtigkeit stellte er die Linse scharf, bis das Piratenschiff sichtbar wurde. Dann nickte er. Er kannte diesen Jolly Roger wie nahezu alle anderen Piratenflaggen, die in der Karibik zu finden waren. Dieser gehörte zur Ruddy Rose, nicht zu Jack Sparrows Schiff.

„Henry, komm zurück!“, rief ein anderer junger Soldat, der seine Abgelenktheit bemerkte. In der Bilge war die Bestrafung eines Einzelnen die Bestrafung aller.

„Du willst doch nicht auch noch von diesem Schiff geschmissen werden“, ergänzte der andere nervös in seiner Besorgnis, dass Maddox seinen Kameraden bei diesem Akt der Insubordination erwischen könnte. Henry ignorierte ihn.

„Es ist eine holländische Bark, möglicherweise von dem Piraten Bonnet gestohlen“, bemerkte er.

„Wann hörst du endlich auf, nach Jack Sparrow zu suchen?“, fragte der andere Soldat. Henrys Besessenheit für diesen Piraten war sprichwörtlich unter den anderen Rekruten. Sie bot reichlich Gelegenheit für rechtzeitigen und gutgemeinten Spott.

Henrys Antwort erstarb auf seinen Lippen, als er durch die Luke erspähte, dass ihr eigenes Schiff, die HMS Monarch, zu drehen begann. Der Rauch, den das Kanonenfeuer verursacht hatte, versperrte ihm zunächst die Sicht. Dann verzog sich der Rauch.

Und Henrys Herz setzte kurz aus.

Geradewegs vor dem Schiff war eine riesige Felsenformation, die wie ein großes Tor mitten im Ozean aufragte. Schwarzes Gestein formte einen gewaltigen Bogen, der so hoch in den Himmel ragte, dass er die Sonne verdeckte. Vor Henrys Augen wechselte das kleine Piratenschiff den Kurs und strebte dem Bogen zu, offensichtlich in der Hoffnung, dahinter Schutz zu finden.

Doch der junge Mann wusste, dass es dort keine Rettung gab. Alles, was jenseits des Bogens war, war Zerstörung. Oder schlimmer. Und er wusste auch, dass die HMS Monarch verpflichtet war, dem Piratenschiff direkt dort hinein zu folgen.

Er zögerte nicht. Er raste zur Treppe. Er musste an Deck gelangen.

Unglücklicherweise dachte Bootsmann Maddox anders.

„Ich habe dich gewarnt, deinen Posten zu verlassen“, sagte er und trat Henry in den Weg. „Soll ich dir die Peitsche zeigen?“

„Sir“, erwiderte Henry und versuchte, den wütenden Bootsmann beiseite zu schieben, „Ich muss den Captain sprechen.“

„Was hast du gesagt?“, fragte Maddox ungläubig. Sein Gesicht lief rot an, als ob er ein wildes Tier war, das die Beute geifernd fixierte.

Henry bemühte sich nicht einmal, zu antworten. Maddox konnte nichts für ihn tun. Der Einzige, der überhaupt die Chance hatte, ihm – und der gesamten Crew – zu helfen, war der Captain. Und je länger er dort stand, desto geringer wurden die Überlebenschancen. Ungeachtet der Konsequenzen schob er den Bootsmann zur Seite und rannte die Treppe hinauf.

Er hörte, dass Maddox hinter ihm seinen Namen brüllte, doch selbst das Gebrüll des Bootsmanns ging im Kanonendonner unter, als Henry das Deck erreichte. In Unkenntnis der drohenden Gefahr feuerte das große Kriegsschiff sämtliche Waffen auf das Piratenschiff ab in der Hoffnung, es zu versenken.

Captain Toms stand auf seinem Posten, bellte mit kalter und geübter Präzision seine Befehle. Als er ihn bemerkte, rannte Henry in seine Richtung. Er schlängelte sich durch die Reihen der Soldaten hindurch, bis er direkt unter dem Steuerrad stand.

„Sie streicht die Flagge zur Kapitulation, Sir“, hörte er den Offizier sagen, der neben Captain Toms stand. Toms nickte knapp, offensichtlich erfreut über die Nachricht.

„Bringt sie zur Strecke! Die Royal Navy akzeptiert keine Kapitulation von Piraten.“

Als der Captain seine Befehle gab, sah Henry, dass er die Felsen bemerkte. Besorgnis huschte für einen kurzen Moment über sein Gesicht. Turner spürte einen Hoffnungsschimmer. Doch so schnell, wie sie gekommen war, verschwand die Besorgnis wieder.

„Folgt ihr!“, befahl der Captain.

Nein! Tut das nicht!“

Die Worte hatten Henrys Mund verlassen, bevor er sich daran hindern konnte. Das Echo hallte über das Deck. Augenblicklich schwiegen die Kanonen, alle Augen richteten sich auf das Steuer – und den Captain.

In dem kurzen Moment der Stille schluckte Henry nervös. Den Captain ohne ausdrückliche Aufforderung anzusprechen war ein strafwürdiges Vergehen. Das hatte er nicht bedacht. Allerdings würde Strafe bedeutungslos sein, wenn sie alle tot waren. Er nutzte seine Chance, ignorierte den kalten, wütenden Blick des Ersten Offiziers Cole, einem der engsten Vertrauten des Captains. Erneut sprach er Captain Toms an:

„Seht auf Eure Karten“, sagte er und wies auf eine Wand, an der eine Sammlung von Karten befestigt war. „Wir sind zwischen drei Landmarken, die in perfekter Symmetrie zum Zentrum stehen.“

Er machte eine Pause in der Hoffnung, dass der Captain begriff.

„Es ist ein Dreieck“, ergänzte er.

Bleib’ unten!“, rief Cole, als Henry einen Schritt näher kam.

Er zog sich zurück, doch er hörte nicht auf.

„Captain, ich glaube, Ihr steuert uns ins Teufelsdreieck“, setzte er nach.

Coles Fäuste öffneten sich – ein wenig. Der Captain sah nicht mehr so missmutig drein. Für einen Moment glaubte Henry, dass er erfolgreich zu ihnen durchgedrungen war.

Und dann begann der Captain zu lachen. Es begann als leises Kichern und wuchs zu schallendem Gelächter.

„Habt Ihr das gehört, Männer?“, sagte er, als er wieder Luft bekam. „Diese Landratte glaubt an das alte Seemannsgarn!“

Henry schüttelte den Kopf. Er mochte eine Landratte sein, aber wusste, wovon er sprach. Er hatte sein ganzes Leben damit verbracht, die Mythen der See zu studieren. Er hatte epische Erzählungen von Meerjungfrauen auf Latein gelesen. Er konnte Geschichten von Männern wiedergeben, die auf See verloren geglaubt waren, nur um aus den Tiefen zurückzukehren. Er kannte alle Mythen und Legenden der See – einschließlich der seines Vaters. Er wusste um so gut wie jeden Fleck auf See, von dem es hieß, er sei verflucht.

„Und ich weiß, dass Schiffe, die in das Dreieck segeln, nicht wieder herauskommen“, sagte er schließlich.

In diesem Moment kam Maddox heraufgestürzt.

„Entschuldigung, Sir“, rief er atemlos. „Dieser hier ist offensichtlich verwirrt. Ein Junge, der Zitronen in der Tasche hat.“

Maddox langte in Henrys Tasche und zog einige Zitronen heraus. Die Mannschaft lachte.

„Zitronen bewahren vor Skorbut“, sagte Henry sachlich.

„Und was lässt dich das glauben?“, frage Cole höhnisch.

„Ich habe keinen Skorbut“, erwiderte Henry, sah sich mit einer hochgezogenen Augenbraue um. „Aber ihr alle habt ihn.“

Diesmal lachte niemand. Nachdem er diesen Punkt gewonnen hatte, fuhr er fort:

„Captain, vertraut meinen Worten. Ändert Euren Kurs.“

Nun war es am Captain, die Stirn zu runzeln.

„Du wagst es, mir Befehle zu geben?“, fragte er.

„Ich lasse nicht zu, dass Ihr uns alle umbringt!“, schrie Henry verzweifelt. Der Captain blieb reglos stehen. Frust wallte in dem jungen Matrosen auf. Er war nicht verrückt. Er wollte nicht aufmüpfig sein. Er wollte alle vor dem sicheren Tod bewahren. Der Captain und die Crew waren die Verrückten, weil sie nicht auf ihn hörten. Jeder Augenblick, der verstrich, brachte sie näher an die Felsen, an das Dreieck, an den Tod. Bevor irgendwer ihn stoppen konnte, trat Henry in Aktion. Er rannte zum Steuerrad.

Ebenso schnell waren die Soldaten hinter ihm her. Doch er wehrte sie ab. Er schlug mit den Fäusten, er trat mit den Füßen. Er duckte sich unter einem Arm weg, sprang einem anderen aus dem Weg. Als er das Steuer erreichte und in die Griffe fasste, hörte er das unverwechselbare Geräusch von gespannten Gewehrhähnen. Er schloss die Augen, hielt die Luft an und erwartete das Unvermeidliche.

„Nicht schießen!“

Henrys Augen sprangen auf. Zu seiner Überraschung hatte der Captain ihn gerettet. Aber als er ihn ansah, trat der Ältere auf ihn zu. Der Captain streckte seine Hand aus, riss ihm erst den einen, dann den anderen Ärmel herunter.

„Das ist Hochverrat“, sagte Toms. „Sperrt ihn ein!“

Zwei Soldaten ergriffen Henry, der den Kopf ob der Niederlage hängen ließ. Doch was machte es noch? Wenn er Recht hatte mit dem, wohin sie steuerten, dann war Verrat seine geringste Sorge.

2

 

Als Henry unter Deck gebracht und in eine Zelle geworfen wurde, nahm die HMS Monarch ihren Kurs wieder auf. Captain Toms stand am Steuer, als sie durch den großen Felsbogen auf die andere Seite segelten. Zu seiner Überraschung war das Piratenschiff, das sie gejagt hatten, nirgendwo zu sehen.

„Wo ist sie geblieben?“, fragte der Captain.

Wie zur Antwort erstarb der Wind plötzlich. Die Segel fielen schlaff herunter, und die See wurde auf unheimliche Weise ruhig. Eine schaurige Stille senkte sich auf das Schiff. Die Sonne schien zu verblassen und trieb die HMS Monarch in tiefen Schatten.

„Sir!“, durchdrang die Stimme des Ersten Offiziers Cole mit furchtsamem Klang die Stille. „Da ist etwas im Wasser!“

Der Captain drehte langsam den Kopf und sah über die Reling. Tatsächlich konnte er etwas ausmachen, was in dem düsteren Gewässer trieb. Als das Objekt näher kam, sah er, was es war – der Jolly Roger des Piratenschiffs. Ein eisiger Schauer lief ihm den Rücken hinab. Und dann wurde der Schauer zum Beben, als er ein anderes Schiff aus der Finsternis näher kommen sah.

Das Schiff schien mehr ein Schiffswrack als ein funktionsfähiges Wasserfahrzeug zu sein. Seine Bordwände waren weggerissen, der Rumpf offen, dass das Innere sichtbar war, als wäre es ein ausgenommener Fisch. Die Galionsfigur, die an Bug steckte, war so verrottet und heruntergekommen, dass sie kaum als die Frau zu erkennen war, die sie ursprünglich gewesen war. Es segelte auf die HMS Monarch zu, kam allmählich in Sicht und verblasste wieder, von der Dunkelheit verschlungen.

„Feuer!“

Captain Toms’ Stimme prallte an den Felsen ab und hallte über die stille See. Augenblicklich war die Luft erfüllt vom Donnern der Kanonen und vom Knallen der Gewehre, als Dutzende von Waffen auf das sich nähernde Schiff abgefeuert wurden. Doch das Schiff näherte sich weiterhin, anscheinend völlig unberührt.

Und dann verschwand das Schiff im Qualm.

„Feuert noch einmal!“, befahl der Erste Offizier.

Die Männer bewegten sich nicht, als sie den leeren Fleck sahen, wo noch einen Moment zuvor das Schiff gewesen war.

„Sir“, sagte Maddox nervös, „da draußen ist nichts.“

Und dann kamen vom anderen Ende des Schiffes die unverwechselbaren Geräusche von Schritten.

Die HMS Monarch war geentert worden.

[1] Im amerikanischen Original ist von sieben Jahren die Rede. Sowohl die englische Originalfassung als auch die deutsche Kinoversion des Films Pirates of the Caribbean – Salazars Rache geben jedoch neun Jahre als Zeitdifferenz zwischen Prolog und Haupthandlung an. Diese Differenz übernehme ich. (Anm. d. Ü.)

[2] Kabellänge: 1/10 Seemeile = 185 m

 

 

Kapitel 2

 Salazar

In seiner Zelle hörte Henry den Beginn der Schreie. Da war ein alter Pirat in seiner Nachbarzelle, der bei diesen Geräuschen aufsprang. Henry zog sich nach hinten zurück, bis sein Rücken an die Rückwand stieß und rutschte an der Wand herunter. Er sah durch die Gitterstäbe zur Treppe, konnte anhand der Schattenreflexe erkennen, was oben geschah. Er spürte stechende Furcht. Während er in der Brig des Schiffs in der Falle saß, erwachten an Deck Albträume zum Leben.

Zuerst waren es Geräusche von Schritten. Soldaten zogen sich rückwärts an Wände oder an die Rücken ihrer Kameraden zurück, suchten nach einer Möglichkeit, sich selbst zu schützen. Doch gegen diesen Feind gab es keinen Schutz. Dieser Feind, das fand die Crew der HMS Monarch sehr schnell heraus, war buchstäblich unbesiegbar. Und obwohl Captain Toms sich selbst als Mann von Vernunft und Logik betrachtete, wurde er Zeuge von etwas, das beidem trotzte – weil es so aussah, als würden sie von Gespenstern angegriffen.

Captain Toms nahm wahr, dass ein Paar grauer, rissiger Hände durch die Planken seines Schiffes hindurch materialisierten und einen Soldaten bei den Armen packten. Der Mann gab einen schrillen Schrei von sich, der abrupt unterbrochen wurde, als sein Leben von einem schnellen Säbelhieb beendet wurde. Mehr Hände folgten. Sie kamen von überall – von oben, unten, von jeder Seite. Männer wurden wie Stoffpuppen hochgehoben und über das Deck geworfen. Andere wurden mit Gewalt heruntergezogen, ihre Körper auf das Holz des Decks geschleudert. Gewehre und Entermesser fielen, als die Soldaten versuchten, ihren Angreifern zu entkommen.

Durch das Chaos sah Captain Toms, dass einer seiner Männer die Laterne, die er in der Hand gehalten hatte, in einen Stapel gefalteter Segel fallen ließ. Sie fingen Feuer, das Licht ließ schwarze Schatten erkennen, die über das Deck fluteten. Innerhalb von Augenblicken erfüllte Qualm die Luft und verhüllte alles.

Und dann bemerkte Toms einen Mann, der auf ihn zukam. Er gab eine imposante Figur ab, als er unversehrt durch die Flammen ging, ohne zu zögern oder Anzeichen von Beunruhigung mit schweren Stiefeln über die Körper gefallener Soldaten stieg. Als der Mann – falls er so etwas war – näher kam, sah Toms, dass er in einer Hand einen riesigen Degen trug. Der wenigstens fünf Fuß lange Degen fing das Licht der Flammen ein und beleuchtete die Kleidung des Mannes, so dass sie rot zu glühen schien. Der britische Captain hatte gerade genug Zeit, um dies als heruntergekommene spanische Marineuniform zu identifizieren, bevor er sich beim Kragen gepackt und von den Füßen gezogen in der Luft wiederfand. Er starrte in das Gesicht des Mannes, der ihn festhielt. Angst erfasste ihn.

„Was seid Ihr?“, brachte er noch heraus.

Es war eine gute Frage, denn es war kein gewöhnlicher Mann, der ihn ergriffen hatte. Das Gesicht, das nur wenige Zoll von seinem eigenen entfernt war, gehörte in eine Horrorgeschichte. Es war totenbleich mit tiefen, schwarzen Rissen. Das dunkle Haar des Mannes schien ihn zu umschweben und legte ein großes Loch an einer Seite des Kopfes frei. Seine ebenholzschwarzen Augen, die sich in Captain Toms’ bohrten, waren leblos.

„Der Tod“, antwortete das Gespenst.

Bevor Toms weitere Fragen stellen konnte, rammte ihm Capitán Armando Salazar, der verfluchte spanische Captain, der im Teufelsdreieck spukte, den langen Degen in den Leib. Toms’ lebloser Körper fiel auf das Deck. Sämtliche Angehörigen der britischen Navy – jedenfalls die auf dem Oberdeck – waren getötet worden.

Capitán Salazar drehte sich um und sah seine Männer an. Sie hatten eine mehr körperliche Gestalt angenommen und standen vor ihrem Capitán. Grauenerregende Gesichter erwiderten erwartungsvoll dessen Blick. Einer war schrecklicher als der andere anzusehen. Sie alle sahen aus, als wären sie explodiert und ungeschickt wieder zusammengesetzt worden, als ob sie aus den Tiefen der Hölle gekommen wären. Grausige Wunden bedeckten ihre Körper. Einige hatten nicht einmal alle Gliedmaßen. Als Salazar ihnen Hab-Acht-Stellung befahl, stand die Geisterarmee stramm und nahm die Hüte ab, was weitere Verletzungen offenbarte. So, wie sie da standen, schienen sie eine solide Gestalt zu haben, doch es lag etwas unbestreitbar Totes über ihnen – eine kalte, grimmige Aura. Dies war eine verfluchte Crew, angeführt von einem fluchbeladenen, monströsen Mann.

„In einer Linie angetreten!“, befahl Capitán Salazar und schritt die Front seiner Männer inspizierend ab. Es war eine undankbare Aufgabe. Ganz gleich, was die geisterhaften Soldaten unternahmen, sich auf Vordermann zu bringen, um die hohen Ansprüche ihres Capitáns zu erfüllen: Sie sahen immer unordentlich aus – verrottet und zerrissen wie ihre Uniformen waren. Es trieb Salazar in den Wahnsinn. Sein Leben hatte aus Gerechtigkeit und Ordnung bestanden. Und jetzt war er an Bord eines Schiffes gefangen, auf dem Ordnung nicht erreichbar war. Gerechtigkeit war allerdings etwas, was er haben konnte …

Während er den Kragen eines Soldaten richtete, dem der halbe Hals fehlte, wandte er sich an seine Mannschaft:

„Nach königlicher Vorschrift haben wir eine angemessene und gerechte Strafe erteilt. Dieses Schiff hat es gewagt, unser Tor zu passieren – und nun wird es auf dem Grund des Meeres ruhen.“

Er schaute zu dem felsigen Eingang zum Dreieck. Ein Anflug von Verzweiflung huschte über sein bleiches Gesicht. Seit Jahren waren sie in ihrem treibenden Gefängnis eingesperrt, gefangen zwischen Leben und Tod, warteten sie auf eine Gelegenheit zur Flucht, die nicht kam. Doch Salazar wollte die Hoffnung nicht aufgeben.

„Ich versichere Euch:“, ergänzte er, „Eure Loyalität wird mit Blut belohnt werden. Wir werden unsere Rache bekommen!“

Als seine Crew hohle Rufe ausstieß, fuhr er fort, das Schiff nach weiteren Überlebenden abzusuchen. Zu seiner Freude fand er keine auf dem Oberdeck. Seine Leute hatten ordentlich gearbeitet. Unter Dutzenden von abgeschlachteten Soldaten sammelte sich Blut. Beim Blick über die Reling sah Salazar ein paar weitere leblos in den kalten Wellen treibende Körper. Abgesehen von den Schritten der geisterhaften Mannschaft hatte sich Schweigen über die hölzernen Böden gelegt, die nun mit Blut getränkt waren.

Und dann hörte Salazar einen Schrei.

Der Kopf des Capitáns zuckte herum. Der Schrei war von unten gekommen. Mit gemessenen Schritten machte er sich über die Körper der Toten hinweg auf den Weg zu der hölzernen Treppe, die nach unten zu den Zellen der HMS Monarch führte. Seine Mannschaft folgte ihm, nahm aber einen weniger konventionellen Weg. Einige erlaubten ihren nicht gegenständlichen Körpern, durch die hölzernen Planken zu rutschen, während andere über das Wasser trieben und die Zellen vom Rumpf her enterten. Ein weiterer Schrei zerriss die Luft.

Salazar folgte den Schreien, dann hielt er vor zwei Zellen an. In einer stand ein älterer Pirat, den Mund offen vor kläglichem Schrecken, als die geisterhafte Crew um ihn herum materialisierte. Der Capitán rammte ihm seinen langen Degen in den Leib, brachte ihn für immer zum Schweigen. Dann drehte er sich um und sah in die andere Zelle.

Henry Turner erwiderte seinen Blick.

Salazar trat geradewegs durch die eisernen Stäbe, die ihn von Turner trennten, stapfte zu dem jungen Mann hin. Er hob eine Augenbraue, wartete auf den unvermeidlichen Schrei, der seiner Erscheinung für gewöhnlich folgte. Es kam keiner. Stattdessen schaute sein Gegenüber ihn mit einer seltsamen Ruhe an, als ob er ihn erwartet hatte.

In gewisser Weise hatte Henry Salazar erwartet. Vielleicht nicht speziell ihn, aber etwas in seiner Art; etwas, das für Worte zu schrecklich war. Während er das Chaos über sich gehört hatte, war er geistig verschiedene Geschichten durchgegangen, die er über das Dreieck gehört hatte – Geschichten von jemand, der El Matador del Mar genannt wurde, der Schlächter des Meeres. Und er war zu dem Schluss gekommen, dass das, was immer die Mannschaft der HMS Monarch angegriffen hatte, nicht von dieser Welt war.

Er hatte Recht gehabt.

Deshalb konnte er vor Salazar stehen ohne zu schreien. Dennoch konnte er nicht anders, als rückwärts zu gehen, als der Anführer der Gespenster ihm näher kam. Und als der große Mann seinen langen Degen hob, zuckte Henry zusammen. Doch zu seiner Überraschung spießte der Capitán ihn nicht umgehend auf. Stattdessen stach er nach unten. Die Spitze durchbohrte ein Stück Papier, das auf dem Boden lag.

Als Salazar es aufhob, sah Henry, dass es der alte Steckbrief für Captain Jack Sparrow war. Es war ihm aus der Tasche gefallen, als Maddox und dessen Posten ihn in die Zelle geworfen hatten. Salazar sah, dass in den Augen des Jungen Erkenntnis aufblitzte, und seine Nasenflügel bebten.

„Kennst du diesen Piraten?“, fragte er mit Zorn in der Stimme.

„Nur dem Namen nach“, erwiderte Henry.

Salazars Augen verengten sich.

„Suchst du nach ihm?“, fragte er.

„Ja“, antwortete Henry.

Salazar hob den Steckbrief, schwenkte ihn in Richtung seiner Männer.

„Das ist unser Glückstag, weil der Schlüssel zu unserer Freiheit Jack Sparrow ist!“, schrie er. „Und der Kompass, den er besitzt.“

Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit erneut Henry zu. Der junge Mann wich zurück.

„Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte er mit eisiger Stimme. „Ich lasse immer einen Mann am Leben, damit er die Geschichte erzählen kann. Nun finde Sparrow für mich – und überbringe ihm eine Nachricht von Capitán Salazar. Sag’ ihm, ich werde das Tageslicht wiedersehen. Und an dem Tag wird ihn der Tod holen!“

Seine Crew jubelte.

„Ich würde ihm das ja selbst sagen“, beendete Salazar, sein Gesicht wenige Zoll von Henrys entfernt, „aber … tote Männer erzählen keine Geschichten.“

Mit einem grausamen Lachen schlug Salazar das Heft seines Degens auf den Kopf des Jungen, und Henry wurde es dunkel vor Augen.

 

Kapitel 3

Hexenjagd und Bankraub

 

Es war ein weiterer wunderschöner Tag auf der Karibikinsel Saint Martin. Herren in leichten Anzügen, Damen, die sich mit Schirmen vor der Sonne schützten, flanierten auf der mit Kopfsteinen gepflasterten Hauptstraße, schauten hier und da in die Schaufenster pastellfarbener Geschäfte. Die Luft war erfüllt vom Duft nach Zucker und Gewürzen. Der Himmel war kristallblau, und im Hafen schwammen Schiffe auf sanften Wellen, ihre Segel hoben sich strahlend vom türkisfarbenen Wasser ab. Und, wie üblich für einen Inselhafen, war da ein befriedigendes Summen von Aktivität.

„Haltet die Hexe!“

Ein lauter Schrei überraschte diverse spazierende junge Paare. Sie drehten sich um, konnten gerade noch aus dem Weg gehen, um nicht von einer jungen Frau umgerannt zu werden, die ein zerrissenes Kleid trug. Von ihren Handgelenken hingen metallene Ketten. Hinter ihr waren zwei britische Soldaten, die sie jagten und ihr ziemlich nahe waren.

Carina Smyth hörte das Wort Hexe und ihre Schritte stockten. Sie hasste das Wort. Sie hasste es, dass sie es war, die mit diesem Wort belegt wurde. Sie hasste es, weil sie wegen dieses Wortes wie eine gewöhnliche Kriminelle durch die Straßen von Saint Martin gejagt wurde. Es ärgerte sie jenseits aller Vorstellung. Ein Teil von ihr wollte anhalten, sich umdrehen und den beiden ignoranten Soldaten ihre Meinung sagen.

Stattdessen rannte sie weiter.

Als sie eine große Menschenmenge sah, die sich auf dem Marktplatz von Saint Martin versammelt hatte, rannte sie dorthin in der Hoffnung, unter den Zuschauern verschwinden zu können. Sie murmelte Entschuldigungen, als sie sich den Weg durch die Leute bahnte, schaute nach hinten, um zu sehen, ob die Soldaten sie immer noch verfolgten. Zu ihrer Enttäuschung taten sie es. Doch sie verloren Boden. Ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

Und dann trat ihr ein Soldat in den Weg. Jung und unerfahren versuchte er, Carina den Ausgang zu versperren. Es funktionierte nicht. Sie wirbelte um ihn herum und duckte sich unter eine Kutsche. Augenblicke später war sie in der Menge verschwunden.

Als er sich umdrehte, fand er sich Angesicht zu Angesicht gegenüber von Lieutenant John Scarfield. Er schluckte. Der Lieutenant war für sein hitziges Temperament bekannt. Er war groß und kräftig, überragte den Soldaten; seine Augen bohrten sich in ihn, fragten, ohne ein Wort zu sagen.

„Entschuldigung, Sir“, sagte der Soldat mit deutlich hörbarer Furcht in seiner Stimme. „Die Hexe ist uns entkommen.“

Blitzschnell schoss Scarfields Hand heraus und schnappte den Soldaten an der Kehle. Seine langen Finger quetschten zu.

„Ihr sagt mir, dass vier meiner Männer ein Mädchen verloren haben?“

Er drückte noch härter.

„Vielleicht ist das der Grund, weshalb mir eine eigene Flotte verweigert wurde, weshalb ich hier festsitze, statt in Westafrika Schlachten zu schlagen!“

Scarfield warf den Soldaten zu Boden und fuhr mit seiner Schimpftrade fort:

„Die Navy hat mich hergeschickt, um Hexen zu töten. Jetzt findet mir das böse Weib – oder Ihr hängt an ihrer Stelle!“

Der Soldat hastete davon, drei andere Soldaten folgten ihm dichtauf. Scarfield seufzte, als er sie laufen sah. Kein guter Start für diesen Tag. Er konnte nur hoffen, dass der Rest besser wurde. Seine Reputation stand auf dem Spiel.

3

 

Die Reputation des Bürgermeisters Dix stand ebenfalls auf dem Spiel. Er stand vor der neuerbauten Royal Bank, sah über die versammelte Menge. Dies war sein Moment. Mit der Einweihung der neuen Bank würde er seine Stellung als wichtige Persönlichkeit erhärten.

Jahre hatte er auf diesem Felsen mitten im Meer verschwendet, hatte seine Talente als Politiker vergeudet. Er herrschte über Seeleute, Trunkenbolde und eine Handvoll Leute, die als Elite zu bezeichnen waren. Er hatte mit der ständigen Bedrohung durch Piraten fertigzuwerden und – neuerdings – mit einem Ausbruch angeblicher Hexensichtungen. Er war dessen überdrüssig und glaubte sich selbst unbeachtet. Aber das würde sich ändern. Eine sichere Bank zu haben, die Verbindungen zum Kontinent hatte, bedeutete, dass mehr bedeutende Leute von Saint Martin angezogen werden würden. Der Bürgermeister würde die Insel vom Gesindel säubern können und zu einem Ziel der Wohlhabenden machen.

Er sah über seine Schulter und hatte die Royal Bank im Auge. Es war eine einfache, kastenartige Konstruktion aus Holz. Dix wusste, das Äußere war … nun ja … uninspiriert. Doch was wirklich zählte, war das Innere.

Er drehte sich zurück, hob die Hände, um die Menge zum Schweigen zu bringen.

„Heute“, begann er, „weihen wir die Royal Bank von Saint Martin ein – die sicherste Bank in der Karibik!“

Hinter ihm öffneten zwei königliche Gardisten die Türen der Bank, um den schimmernden neuen Tresor der Öffentlichkeit zu präsentieren. Oh und Ah kam aus der Menge derer, die die Hälse reckten, um dies zu sehen.

„Unser neuer Tresor ist fünf Zoll stark, ist mannshoch und wiegt eine britische Tonne. Ladies und Gentlemen, mit dieser Bank tritt die Stadt Saint Martin in die moderne Welt ein, denn weder ein einzelner Mann noch eine ganze Armee wird in der Lage sein, ihr Gold zu rauben.“

Er machte eine Pause, um die Aufregung steigen zu lassen. Dann nickte er einem dünnen Mann zu, der in der Bank stand. Der Direktor der Bank nickte zurück.

„Öffnet den Tresor!“, rief Bürgermeister Dix, als die Menge jubelte.

Der Direktor drückte den Griff herunter und schwenkte die schwere Tür auf.

Augenblicklich war die Menge mucksmäuschenstill. Durch die Stille vernahm der Bürgermeister das unverwechselbare Geräusch eines Schnarchers.

Langsam drehte er sich um. Seine Augen verengten sich, seine Wangen wurden grau; denn dort lag auf dem obersten Fach des Tresors – offensichtlich selig schlafend, als könne nichts auf der Welt ihn stören – Captain Jack Sparrow. Der berüchtigte Pirat sah übel aus. Seine Kleidung war noch schmutziger als üblich. Seine Stiefel waren von Schlamm verkrustet, und sein Überrock hatte diverse Löcher an diversen Stellen. Etwas von der dunklen Kohle, die er als Sonnenschutz um die Augen aufgetragen hatte, war die Wangen heruntergeflossen. In seine Dreadlocks war sein übliches Sortiment von Plunder in unterschiedlicher Länge eingeflochten.

Äußerlich betrachtet schien den Mann das Glück verlassen zu haben. In diesem Moment allerdings lag er unter einer Decke aus Goldmünzen, von seinen Fingerspitzen baumelte eine große Flasche Rum. Für einen Piraten wie Jack war dies ein gutes Leben.

„Pirat!“, schrie eine Frau.

Der Schrei rüttelte Jack auf, er erwachte und schreckte hoch.

„Pirat!“, rief er zurück. Er rollte von dem Fach herunter und landete mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Boden. Dann setzte er sich auf. Verwirrung huschte über sein Gesicht, als er sich der versammelten Menge und den Gardisten gegenüber sah, die von der Tür der Bank auf ihn zielten.

„Dies mag eine seltsame Frage sein“, sagte er mit leicht undeutlicher Artikulation, „aber kann mir jemand sagen, weshalb ich hier bin?“

Wie zur Antwort spannten die Soldaten die Hähne ihrer Gewehre.

„Wartet, wartet, wartet“, sagte Jack, um sicher zu gehen, „ich hab’s gleich. Gebt mir einen Moment, um den Kopf klar zu bekommen.“

Er hob die Flasche nahm einen tiefen Zug.

Die Soldaten krümmten die Zeigefinger am Abzug …

„Nicht schießen!“, schrie ein Soldat und schreckte die Menge auf. „Da ist eine Frau mit ihm im Tresor!“

Tatsächlich setzte sich eine Frau neben Jack in dem Tresor auf. Ebenso wie der Pirat schien sie über ihren Aufenthaltsort verwirrt. Ihr Haar war zerzaust, ihr Makeup im ganzen Gesicht verwischt.

„Er kann sich nicht hinter dem Flittchen verstecken!“, schrie der Bürgermeister mit aufkommender Ungeduld. Dann sah er nochmals hin. Das Flittchen war überhaupt kein Flittchen. Sie war seine Frau!

Frances?“, fragte er. Seine Verblüffung schlug in heißen Zorn um.

Jack allerdings war gänzlich unwissend und unberührt von der Identität seiner Tresorgesellschaft. Er war sehr viel mehr daran interessiert, sich zu erinnern, was zum Teufel er in einem Tresor in einer Bank auf der Insel Saint Martin tat. Als er sich nach Hinweisen umsah, die seine Anwesenheit hier begründeten, landete sein Blick auf dicken Tauen zu seinen Füßen. Sie schienen über den Tresor, von da auf den Boden der Bank und dann durch Löcher zu verlaufen, die in die Rückwand gebohrt worden waren. Die Taue waren an drei Pferdegespannen befestigt, die startklar hinter der Bank standen.

Neben ihnen war eine nervös und geschäftig wirkende, kunterbunt zusammengewürfelte, räudige Piratencrew – einschließlich Jacks altem Freund und Erstem Maat Joshamee Gibbs.

„Richtig“, sagte Jack. „Jetzt weiß ich’s wieder. Ich raube die Bank aus.“

Er machte eine Pause.

„Aber da war noch was … Nicht sagen, ich hab’s gleich …“

Er hob einen Finger an die Lippen und versuchte, sich zu erinnern.

„Erschießt ihn!“

Augenblicklich eröffneten die Gardisten das Feuer. Als die Kugeln flogen, tauchte Jack nach unten ab. Um ihn herum splitterte Holz, als die neue Bank von Kugeln durchsiebt wurde. Hinter der Bank wieherten die Pferde nervös und begannen in ihren Geschirren zu tänzeln. Ein paar stiegen hoch, kauten auf ihren Gebissen und versuchten, von dem Gebäude und dem Lärm fortzukommen.

In der Bank spannten sich die an den Pferden befestigten Taue. Im nächsten Moment begann der Tresor über den Boden zu rutschen. Mit einem dumpfen Schlag krachte er gegen die Rückwand.

Jack Sparrow spähte durch eines der Löcher und sah, dass die Pferde sich gegen die Geschirre stemmten. Die Piraten hatten alle Hände voll zu tun, die großen Tiere unter Kontrolle zu behalten, doch sie waren gewohnt, mit Segeln und Masten umzugehen, nicht mit Pferden. Sie wussten nicht, was sie tun sollten.

Und dann feuerten die Gardisten nochmals. Gleichzeitig strebten die Pferde mit aller Macht vorwärts, um dem schrecklichen Geräusch zu entkommen. Jack spürte, dass das sich ganze Gebäude zu bewegen begann. Die Pferde rissen es komplett von seinen Fundamenten.

Mit perplexem Ausdruck im Gesicht stand Jack dort, wo eben noch die Bank gewesen war. Das ganze Gebäude – nicht nur der Tresor – war ihm unter den Füßen weggezogen worden. Er schluckte nervös. Das war nicht gut. Dann sah er auf. Die Gardisten zielten mit ihren Gewehren direkt auf ihn. Das war auch nicht gut.

„Das war nicht Teil des Plans!“, rief er, offensichtlich an den Bürgermeister und die Gardisten gewandt.

‚Obwohl es hilfreich wäre, wenn ich mich überhaupt in irgendeiner Weise an den Plan erinnern könnte‘, fügte er in Gedanken hinzu. Er wollte gerade den Mund öffnen, um sich aus dem Schlamassel herauszureden – eine Fähigkeit, auf die er wirklich stolz war – als er einen scharfen Zug an seinem Bein spürte. Er sah nach unten und bemerkte etwas, was er zunächst übersehen hatte: ein weiteres Tau war an seinem Fußknöchel befestigt. Und es zog sich zu!

‚Nun‘, dachte er, als sich das Tau zuzog und er zu Boden fiel, ‚ich denke, es ist Zeit für einen neuen Plan.‘

Im nächsten Moment fand Jack Sparrow sich hinter der nun mobilen Bank – in einer wahrlich unwürdigen Manier, wenn er es so bedachte – durch die Straßen von Saint geschleift. Goldmünzen wurden holterdiepolter aus dem offenen Tresor und dem Loch im Gebäude geschleudert. Verzweifelt versuchte Jack, so viele wie möglich zu schnappen. Doch es war eine schwierige Angelegenheit, weil er zur selben Zeit versuchte, sich an dem schleudernden Tau festzuhalten.

Hinter ihm schossen die Gardisten weiterhin auf die flüchtende Bank und den Piraten. Mit jeder Gewehrsalve rannten die Pferde schneller, hatten Schaum vor dem Maul und bebende Flanken. Sie nahmen eine scharfe Kurve, wobei Jack an seinem langen Tau in die entgegengesetzte Richtung geworfen wurde. Er stieß einen Schrei aus. Er war dabei, in ein Haus geschleudert zu werden! Hilflos dem ausgeliefert fand er sich durch ein Fenster geschmissen und landete mitten im gemeinsamen Essen einer Familie. Als ob es für einen Piraten nichts Ungewöhnliches war, zur Essenszeit durchs Fenster hereinzufliegen, verbeugte er sich zum Gruß und schnappte sich ein Brötchen. Einen Moment später schoss er auf der anderen Seite des Hauses wieder hinaus, gerade rechtzeitig, um die Bank hinter sich vorbeirauschen zu sehen. Er rannte hinterher, ruderte mit den Armen, riss die Knie hoch in der Hoffnung, dass das an seinen Knöchel gebundene Tau ihn nicht wieder von den Füßen reißen würde.

Als er der Bank eine andere Straße hinunter folgte, bemerkte er zu seiner Überraschung, dass sein kleiner Ausflug ihn irgendwie sowohl hinter die Soldaten als auch die Bank gebracht hatte. Einige sahen über die Schulter und bemerkten erst mit Verzögerung, dass der Pirat hinter ihnen war. Sie stoppten rasch und richteten ihre Gewehre auf ihn.

Jack schluckte. Das war nicht gut. Das war überhaupt nicht gut. Er brauchte einen Fluchtweg – und zwar schnell.

 

Kapitel 4

Wissenschaft und Aberglaube

Swift & Sons Kartenhaus war einer der ältesten Land- und Seekartenläden auf Saint Martin. Seeleute aus der ganzen Karibik kamen in diesen Laden, wenn sie verlässliche See- und Sternkarten suchten. Dieser gute Ruf war die Quelle des enormen Stolzes des Eigentümers Mr. Swift, der einen Großteil seiner Zeit und seines Kapitals dafür aufwendete, um sicherzustellen, dass nur das Beste vom Besten über seinen Ladentisch verkauft wurde. Und er stellte ebenso sicher, dass nie – niemals – eine Frau seinen Laden betrat. Es war schließlich eine wohlbekannte Tatsache, dass Frauen und das Meer nicht zusammenpassten.

Als er seinen Laden betrat und Carina Smyth vor dem großen Teleskop stehen sah, das aus dem Fenster auf den Himmel gerichtet war, reagierte er deshalb ganz und gar nicht so, wie es in der unerwarteten Gegenwart eine schönen jungen Frau zu erwarten gewesen wäre.

„Keine Frau hat jemals mein Teleskop angefasst!“, fuhr er sie indigniert an.

Carina drehte sich um und zog eine Augenbraue hoch. Es war nicht das erste Mal, dass ihrer Weiblichkeit mit Verachtung begegnet wurde. Sie zuckte mit den Schultern.

„Sir“, sagte sie und ignorierte den anklagenden Blick, „Euer Fernrohr war falsch ausgerichtet. Ich habe es um zwei Grad nach Norden korrigiert. Eure Karten werden nun nicht länger unpräzise sein. Allerdings werdet Ihr damit von vorn anfangen müssen.“

Sie streckte ihren langen, grazilen Zeigefinger aus.

Swift folgte ihrem Finger zu der Wand, auf  die er zeigte. Sie war mit Karten bedeckt – Karten, die zu zeichnen er sein ganzes Leben benötigt hatte. Karten, die er seit Jahren als die definitiven Seekarten verkaufte. Und dieses dumme Mädchen erzählte ihm, dass sie falsch waren? Er drehte sich um, um ihr die Meinung zu sagen, als ihm auffiel, dass eine metallene Kette von ihrem Handgelenk herunterhing.

„Ihr seid eine Hexe!“, flüsterte er harsch.

„Sir, ich bin keine Hexe“, erwiderte Carina. „Ich habe mich einfach beworben, um an der Universität Astronomie zu studieren …“

„Ihr habt … was?“, fragte er.

„Bin ich eine Hexe, weil ich zweihundert Sterne katalogisiert habe?“

Natürlich war sie das, wie Mr. Swift erneut herausschrie:

„Hexe!“

Carina seufzte. Es war hoffnungslos, mit einem Mann vernünftig reden zu wollen. Es war wohl besser, stattdessen an seinen Geldbeutel zu appellieren.

„Es wird ein Blutmond kommen“, sagte sie. „Ich brauche lediglich ein Chronometer. Ich zahle Euch das Doppelte, weil Ihr an eine Frau verkauft.“

Sie ging zu einem Regal und nahm das Instrument in die Hand. Das kleine Teil – das zur Zeitmessung unabhängig von Temperatur und Bewegung diente – sah wie ein Kompass aus. Sie wog es in der Hand und präsentierte ihm dann einige Münzen.

Doch statt ihr Geld zu nehmen, zog er zu ihrer Überraschung eine kleine Pistole.

„Hilfe!“, rief er. „In meinem Laden ist eine Hexe!“

Carina öffnete den Mund, um ihm erneut klarzumachen, dass sie keine Hexe war.

Doch bevor sie etwas sagen konnte, rauschte ein Mann in den Laden – vielmehr tänzelte er in den Laden. Er hatte braunes Haar, das voller Knoten und – sie blinzelte, um ganz sicher zu sein – irgendwelchem Plunder war. Seine mit schweren Lidern versehenen Augen waren mit Kohle umrandet, und an seinen Händen, die er vor sich her wedelte, blitzten Gold- und Silberringe.

‚Was in aller Welt …‘, fragte sie sich im Stillen, als Mr. Swift erneut einen Schrei ausstieß:

„Und ein Pirat!“, beantwortete er ihre ungestellte Frage. „Da sind eine Hexe und ein Pirat in meinem Laden!“

„Ha, dann ist heute Euer Glückstag!“, sagte der Pirat enthusiastisch. „Hat einer von Euch vieren vielleicht meine Bank gesehen?“

Im nächsten Moment krachte ein anderes Gebäude durch Swift & Sons, riss das Geschäft entzwei.

„Gefunden!“, schrie der Pirat, schnappte Carina und zog sie aus der Gefahrenzone.

Unglücklicherweise zog er sie auf die Straße – und direkt in das Blickfeld der Gardisten und von Lieutenant Scarfields Männern, die bis dahin geglaubt hatten, Carina verloren zu haben. Kaum waren sie ihrer Beute ansichtig geworden, als die vereinten Kräfte mit der Jagd auf sie begannen. Während sie nicht sicher war, ob sie dem Piraten trauen konnte – nach allem, was sie von der Welt wusste, war den meisten Piraten nicht zu trauen – wollte sie nicht darauf vertrauen, dass Scarfields Leute sie gehen lassen würden.

Sie rannten die Straße hinunter, bogen um jede sich bietende Ecke. Als er einen Laden mit kopflosen Schaufensterpuppen erspähte, griff er nach Carinas Hand und lotste sie hinter sie. Er hielt an und posierte selbst so, als wäre er eine Schaufensterpuppe. Carina tat es ihm nach.

„Bist du Teil des Plans?“, fragte er aus dem Mundwinkel, als die Soldaten auftauchten und nach ihnen zu suchen begannen.

Carina zog die Stirn kraus.

„Ich will keine Schwierigkeiten“, antwortete sie.

„Was für eine schreckliche Lebenseinstellung“, erwiderte der Pirat. Beide schwiegen auf einmal, als einer der Soldaten sie passierte. Kaum war er außer Hörweite, als Carina von der Schaufensterpuppe wegging. Der Pirat, obwohl nachlässig gekleidet und insgesamt nachlässig, schien sich gut auszukennen. Und so einen brauchte sie.

„Ich muss hier wegkommen“, sagte sie. „Könnt Ihr mir helfen?“

„Der Mann nannte dich eine Hexe“, erwiderte der Pirat. „Und Hexen bringen Unglück auf See.“

„Wir sind nicht auf See!“, versetzte Carina.

Der Mann nickte.

„Guter Einwand“, bemerkte er. „Aber ich bin ein Pirat.“

„Aber ich bin ganz sicher keine Hexe.“

„Einer von uns ist ziemlich verwirrt“, sagte der Pirat.

Carina konnte nicht anders, als ihm zuzustimmen. Der Mann war ganz klar nicht bei Trost. Bevor sie das ausdrücken konnte, kamen königliche Gardisten um die Ecke. Einen Moment später folgten Scarfields Leute.

„Jack Sparrow!“, schrie einer der Gardisten.

„Carina Smyth!“, schrie einer von Scarfields Männern.

„Halt!“, brüllten wie aus einem Munde.

Carina drehte sich zu dem Piraten, von dem sie nun wusste, dass er Jack Sparrow hieß. Er wandte sich ihr zu. Und dann drehten sie gemeinsam um und rannten einige wacklige Treppen hinauf. Als sie oben waren, stellten sie fest, dass sie die Stadt Saint Martin übersehen konnten. Unter ihnen umkreisten die Soldaten das Gebäude wie Haie, die Robben jagen.

„Wir sitzen in der Falle!“, schrie Carina. „Was sollen wir tun?“

Jack sah zu den Soldaten hinunter. Dann sah er Carina an. Hinter den dunklen Linien verengten sich seine Augen bedenklich. Er nickte, als ob er eine Entscheidung getroffen hatte.

„Schrei, so laut du kannst!“, sagte er und schubste sie, als ob sie nichts zu bedeuten hatte, vom Dach.

Und Carina schrie – den ganzen Weg hinunter, bis sie mit einem wenig damenhaften Grunzen auf einem Heuwagen landete, der gerade vorbeikam. Die Soldaten hörten sie schreien und rannten nun dem Wagen nach. Auf dem Dach konnte Carina Jack gerade noch ausmachen – nun allein und in Sicherheit – der ihr selbstgefällig zulächelte.

„Dreckiger Pirat!“, fauchte sie. Aber sie musste zugeben, dass – ob dreckig oder nicht – Jack Sparrow clever zu sein schien.

1

 

Jack war clever. Oder wenigstens dachte er das. Doch als er vor dem Tresor stand und auf die letzte verbliebene Goldmünze starrte, war er unglücklicherweise nicht so sicher, dass seine Crew dies ebenfalls von ihm glaubte. Er drehte sich zu seinen Männern um. Sie hatten sich, wie geplant, auf der Dying Gull versammelt, Jacks marodem Schiff. Nun ja, die Bezeichnung Schiff war großzügig. Die Dying Gull, die bei Ebbe in der Werft gestrandet war, erinnerte mit ihrem brüchigen Holz, der einsamen Kanone und kaum genug Raum für die Crew mehr an einen alten Seelenverkäufer als an ein richtiges Schiff. Jener Crew, die im Moment von ihrem Captain herzlich wenig beeindruckt schien.

„Hab’ ich doch gesagt: Eine Bank auszurauben ist ganz einfach“, sagte Jack unbeschwert. Er machte eine Geste zum Tresor. Alles in allem hatten sie eine Bank ausgeraubt. Sie hatten nur nichts von dem Gold bekommen …

„Nun stellt Euch auf und leistet mir Tribut, Männer!“

Marty, einer der ursprünglichen und loyalsten Crewmitglieder, sah ihn ungläubig an.

„Wir sollen dich bezahlen?“

Jack nickte.

„Wir wollen unseren Schatz, Captain!“, sagte Marty und ignorierte Jacks ausgestreckte Hand. „Den Schatz, den Ihr uns seit Jahren versprochen habt.“

Die Männer nickten zustimmend und murrten. Seit Jahren folgten sie Jack in blinder Loyalität. Sie waren ihm gefolgt, als er gegen die Royal Navy gesegelt war. Sie hatten keine Fragen gestellt, als sich auf die Suche nach einem Schiff gemacht hatte, das von verfluchten Skelett-Piraten unter Führung des gefährlichen Barbossa gesegelt war. Seine Crew war ihm gefolgt, als Jack von Kannibalen gefangen genommen worden war und sie hatten gewartet, bis er aus den Tiefen von Davy Jones’ Locker zurückgekehrt war. Sie hatten nicht einmal diskutiert, als Jack sich später mit Barbossa angefreundet hatte. Und sie hatten nie Jacks gefährliche Reise zur Quelle der ewigen Jugend infrage gestellt, die keineswegs dazu geführt hatte, dass irgendwer ewig jung bleiben würde.

Aber dies – das war der Tropfen, der da Fass zum Überlaufen brachte. Sie hatten genug. Sie waren es leid, zum Narren gemacht zu werden – für Pennies, wenn sie Glück hatten.

„Wir folgen nicht länger einem Captain, der nicht einmal ein Schiff hat“, stellte Bollard fest und sprach damit für alle.

Jack hob eine Hand an seine Brust, als wäre sie durch Bollards Worte durchstoßen.

„Ich habe ein Schiff, Gentlemen“, sagte er. „Die Black Pearl war stets an meiner Seite.“

Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, öffnete er seinen Mantel. Darin festgezurrt war eine Flasche. Und in der Flasche war – wahrhaftig – die Black Pearl. Doch es war nicht jene Black Pearl, die Piraten wie Offiziere der Royal Navy das Fürchten gelehrt hatte. Es war nicht mehr das Schiff, das einst das schnellste auf allen sieben Weltmeeren gewesen war. Es war die verfluchte Black Pearl, jetzt eine Miniaturversion der originalen Größe.

Die Crew starrte ihn an.

„Der Pirat Barbossa beherrscht nun die Meere“, konstatierte Pike. „Er hat zehn Schiffe voller Kanonen!“

„Gehen wir“, sagte Marty und wandte sich um. Der Rest der Crew folgte ihm.

Jack zog eine Grimasse. Wie konnten sie ihre Eroberungen vergessen haben? Sie hatten den Schatz von Mazedonien gemeinsam gefunden. Und das Gold von Midas. Gut, es hatte sich gezeigt, dass es nicht mehr als eine Truhe aus verrottetem Holz respektive ein Haufen Kuhmist war, aber das war nicht der Punkt. Der Punkt war, dass sie es zusammen getan hatten.

„Sieh es ein, Jack“, sagte Gibbs leise, Jacks Erster Maat und jener Mann, von dem er geglaubt hatte, er werde immer zurückkehren. „Das Unglück folgt dir Tag und Nacht.“

„Unglück“, wiederholte Jack. „Lächerlich.“

„Wir wissen, dass du dich vor deiner eigenen Klinge fürchtest“, fuhr ein anderer Pirat fort. „Dass du glaubst, sie sei verflucht – und würde dir die Kehle aufschlitzen!“

Wie ein Mann sahen sie auf das Entermesser ihres Captains. Es lag weit weg von ihm auf dem Deck.

Jack schüttelte den Kopf.

„Furcht? Wurde je ein absurderes Wort ausgesprochen?“

„Dann nimm dein Schwert und halte es in der Hand.“

Jack sah auf das Entermesser. Dann zu seinen Männern. Dann zurück zum Entermesser. Er streckte die Hand aus, um es aufzunehmen und zögerte. Dann eilte er hinüber, nahm es mit einer geschwinden Bewegung auf und warf es über Bord.

„Problem gelöst“, sagte er.

Doch das Problem war nicht gelöst – nicht im Geringsten. Bevor er weiteren Protest anmelden konnte, wandte die Crew sich ab und verließ einer nach dem anderen die Dying Gull . Die letzten beiden waren Scrum und Gibbs, die ihn verließen.

„Sir“, setzte Gibbs stockend an. „Ich fürchte, wir haben das Ende des Horizonts erreicht.“

Jack ging zur Reling, zog behutsam die Black Pearl aus seinem Überrock. Er starrte auf sein geliebtes Schiff, hatte ein ungutes Gefühl im Magen. Was hatte er falsch gemacht? Wie hatte es soweit kommen können? Er langte in seine Rocktasche und holte seinen Kompass heraus. Er zeigte auf das, was er sich am meisten wünschte. Im Moment zeigte er auf die offene See.

„Sie liegen falsch, Gibbs“, sagte Jack seufzend. „Ich bin immer noch Captain Jack Sparrow.“

Gibbs machte eine Pause, sah den Aufruhr im Blick des Mannes. Er wollte ihm zustimmen, aber er konnte nicht – nicht mehr. Er klopfte Jack auf die Schulter und verließ mit Scrum das Deck. Jack blieb hinter ihnen allein zurück. Im Lauf der Jahre hatte er so viele Leute ausgetrickst, hatte so oft gefährliche Situationen überstanden. Aber vielleicht hatte ihn das Glück wirklich verlassen. Weil er keine Idee hatte, wie er dieses Mal aus dem Schlamassel herauskommen sollte.

Kapitel 5

Freiheit

2 „Du bist das Stadtgespräch – der einzige Überlebende der Monarch.“

Henry Turner schlug die Augen auf, fand sich in einem Bett wieder und sah direkt in das Gesicht von Lieutenant Scarfield. Zwei britische Soldaten flankierten ihn. Hinter ihnen konnte Henry Ärzte und Krankenschwestern herumlaufen sehen, die sich um Soldaten kümmerten, die in das Militärhospital von Saint Martin gebracht worden waren. Er schloss die Augen wieder, als ihn eine neue Schmerzwelle überflutete.

Er brauchte keine Erinnerung daran, wie er hierhergekommen war. Er erinnerte sich an jedes Detail mit erschreckender Klarheit: Die HMS Monarch war von Capitán Salazar und seiner geisterhaften Crew gekapert worden; Soldaten waren mit praktisch unsichtbaren Waffen abgemurkst worden; der Capitán hatte ihn nur zu dem Zweck laufen lassen, um Jack Sparrow eine Nachricht zu überbringen; und an die langen Tage, die er nach Saint Martin auf nichts weiter als einem Stück Treibholz gepaddelt war, erinnerte er sich ebenfalls lebhaft. Als er endlich das Ufer erreicht hatte, hatte er vor Hunger, Durst und einer tüchtigen Portion Angst deliriert. Danach waren die Dinge etwas verschwommen, doch er erinnerte sich, dass er jedem, der ihm zugehört hatte, versucht hatte, von den Geisterpiraten zu erzählen – und davon, dass der Dreizack Poseidons sie alle retten könnte.

Sein Vater! Der Gedanke an den Dreizack brachte schlagartig seine eigentliche Absicht zurück. Er versuchte, sich aufzusetzen nur um festzustellen, dass er dazu nicht in der Lage war; seine Hände waren an das Bett gefesselt.

„Sir“, flehte er, „macht mich von diesen Ketten los! Ich muss Captain Jack Sparrow finden.“

Scarfield schien unbewegt.

„Es ist meine Aufgabe, diese Insel und diese Gewässer zu schützen. Deine Ärmel sind heruntergerissen; das Zeichen für Hochverrat.“

„Wir wurden von den Toten angegriffen, Sir“, erwiderte Henry. „Ich habe versucht, sie zu warnen.“

Seiner Ansicht nach rechtfertigte dies nicht das Etikett Verräter.

Scarfield teilte diese Meinung nicht.

„Du bist vor dem Kampf davongelaufen; du bist ein Feigling. Als solcher wirst du sterben.“

Mit diesen bedrohlichen Worten, die in der Luft hängen blieben, wandte er sich um und ging fort. Die beiden Soldaten folgten ihm und ließen Henry allein.

Henry sank auf das Bett zurück und schloss die Augen. Das war nicht gut. Er war in einem Militärhospital, umgeben von Soldaten, die wahrscheinlich alle angewiesen waren, ihn mit Argusaugen zu bewachen. Wie sollte er irgendwen von seiner Geschichte oder seiner Unschuld überzeugen, wenn er hier gefangen war?

„Ich glaube nicht, dass du ein Feigling bist.“

Henry öffnete ein Auge und sah, dass sich ihm eine Nonne näherte. Sie reichte ihm ein Glas Wasser. Langsam nahm er einen kleinen Schluck. Obwohl er es begrüßte, dass die Nonne ihm vertraute, war er nicht in der Stimmung dazu.

„Bitte, Schwester, lasst mich allein.“

Zu Henrys Verblüffung rückte die Nonne näher zu ihm, anstatt sich abzuwenden und zu gehen.

„Ich habe mein Leben riskiert um hierherzukommen – um festzustellen, ob du dasselbe glaubst wie ich: dass der Dreizack gefunden werden kann.“

Henrys Augen schossen auf. Er sah die Nonne näher an. Erst jetzt bemerkte er, dass ein zerrissenes, schmutziges Kleid aus dem Habit herausschaute. Und unter ihrer Haube sah er wilde Haarsträhnen, die nach Freiheit strebten. Das Mädchen war schön, jung und ganz sicher keine Ordensschwester. Dass sie tatsächlich keine Nonne war, wurde ihm klar, als er eine metallene Handschelle an ihrem Handgelenk erspähte.

„Bist du eine Hexe?“, fragte er.

„Ich bin ebenso wenig eine Hexe wie ich eine Nonne bin“, versetzte Carina Smyth und zerrte an ihrem Habit. „Sag mir, weshalb du den Dreizack suchst.“

Henry sah sich um, um sicherzugehen, dass niemand lauschte. Er senkte seine Stimme.

„Der Dreizack bricht jeden Fluch des Meeres“, erklärte er. „Mein Vater wird von einem solchen Fluch gefangen gehalten …“

„Dir ist klar, dass Flüche keiner wissenschaftlichen Prüfung standhalten?“, schnitt sie ihm das Wort ab.

Henry zuckte mit den Schultern.

„Gespenster auch nicht“, gab er zu bedenken. ‚Aber ich habe sie gesehen‘, fügte er im Stillen hinzu.

„Also bist du verrückt?“, hakte Carina nach. Dann seufzte sie:

„Ich hätte niemals herkommen sollen.“

„Wieso bist du dann gekommen?“, fragte Henry.

Carina wollte gehen, doch dann überlegte sie es sich. Sie hatte einen Grund, herzukommen. Es schien falsch zu sein, nun einfach zu gehen.

„Ich muss von dieser Insel weg“, sagte sie, „um die Karte zu finden, …“

„… die kein Mann lesen kann?“, vollendete Henry. Seine Aufregung wuchs. Woher wusste dieses Mädchen etwas über die Karte, die Poseidon persönlich hinterlassen haben sollte?

Sie schien sich dieselbe Frage über ihn zu stellen.

„Du hast die alten Texte gelesen?“

Henry nickte.

„In jeder erdenklichen Sprache“, erwiderte er ohne jeglichen Anflug von Arroganz. „Und kein Mann hat diese Karte je gesehen.“

„Glücklicherweise bin ich eine Frau“, entgegnete sie. Sie griff in ihren Habit und zog ein Buch heraus. Es war abgenutzt und verschlissen vom Alter, die Seiten brüchig und der Einband eingerissen. Im Zentrum des Deckels schwebte über einem Meer von Sternen ein großer Rubin. Henry griff nach dem Buch, aber Carina zog es weg.

„Dies ist das Tagebuch von Galileo Galilei. Sein ganzes Leben hat er mit der Suche nach der Karte verbracht.“

Henrys Augen weiteten sich vor Staunen Er wusste, wer Galileo Galilei war – ein Astronom und Wissenschaftler, der das Fernrohr erfunden hatte, um damit in die Sterne zu sehen.

Doch offensichtlich war das nicht der Grund, weshalb er es erfunden hatte. Jedenfalls nicht nach Carinas Ansicht. Er hatte es erfunden, um die Karte zu suchen, wie sie erklärte.

„Du meinst, die Karte, die kein Mann lesen kann, ist in den Sternen versteckt?“, fragte Henry, damit in seinen Kopf ging, was das Mädchen sagte.

Sie nickte.

„Bald wird es einen Blutmond geben. Nur dann kann die Karte gelesen werden – und der Dreizack gefunden werden.“

Henry starrte das Mädchen sprachlos an.

„Wer bist du?“, fragte er schließlich.

Carina Smyth!“

Scarfields Stimme hallte durch den Raum. Henry sah den Lieutenant auf sie zukommen – mit mehr Männern in seinem Schlepptau, die Hände an den Säbeln. Über Henry zog Carina in aller Heimlichkeit eine metallene Ahle aus der Tasche ihres Habits.

„Wenn du deinen Vater retten willst“, flüsterte sie Henry zu, „musst du mich retten. Finde ein Schiff für uns – und der Dreizack wird uns gehören.“

„Sieh mich an, Hexe!“, befahl Scarfield und kam näher.

Carina rannte auf der Stelle fort. Hinter ihr stieß Scarfield einen Fluch aus. Er gab seinen Männern ein Zeichen, und sie verfolgten sie.

Henry zögerte nicht. Als Carina die Männer mit der Jagd durch den Raum beschäftigte, befreite er sich von den Handschellen. Er ließ sie zu Boden fallen und sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Er erspähte Carina, die vor einem der großen Fenster stand. Sie war von Scarfield und seinen Männern umzingelt. Henry und das Mädchen wechselten Blicke. Bevor ihn jemand aufhalten konnte, schlüpfte er aus einem anderen Fenster. Hinter sich hörte er die Alarmrufe der Soldaten. Doch es war zu spät. Sobald er wieder mit Carina zusammen war, war er der Rettung seines Vaters einen Schritt näher. Es schien, als hätte sich sein Glück zum Besseren gewendet.

3

 

Jack Sparrows Glück hatte sich allerdings nicht verbessert. Nachdem seine Crew ihn verlassen hatte, hatte er beweisen wollen – wenigstens für selbst – dass er nicht vom Pech verfolgt war. Doch er war kläglich gescheitert. Zunächst hatte er am Stadtrand versucht, eine Kutsche zu rauben, doch sie war einfach an ihm vorbeigefahren. Dann hatte es zu regnen begonnen. Und als er endlich wieder zurück in der Stadt war, war er in eine Kneipe gegangen, um seinen Durst zu löschen. Der Wirt hatte ihn aufgefordert, ihm erst sein Silber zu zeigen, doch er hatte keins. Das einzige Stück, das er noch in der Tasche hatte, war sein Kompass.

„Also, willst du was trinken oder nicht?“, fragte der Wirt und sah Jack an.

Jack sah auf den Kompass in seiner Hand, hin- und hergerissen zwischen Durst und kostbarem Besitz. Bevor er eine Entscheidung treffen konnte, kam ein Fischer herein und schmiss seinen Fang direkt neben Jack auf die Theke. Aus dem Netz schaute Jacks Entermesser heraus.

„Siehst du das?“, sagte der Fischer, der keine Ahnung hatte, was sein Fang für den Piraten neben sich bedeutete. „Der Fisch hier hat sich mit diesem Entermesser aufgespießt. Ich werde das der Navy verkaufen. Hab’ ich nicht ein Glück?“

Mit einem Aufschrei langte Jack herüber und schnappte sich das Entermesser. Er schleuderte es über die Theke. Es flog in einen Steckbrief an der hinteren Wand, wo es mit einem hörbaren boing stecken blieb – mit der Spitze genau zwischen den Augen eines gewissen Captain Jack Sparrow. Mit einem Seufzen warf Jack den Kompass auf die Theke.

„Die Flasche“, sagte er.

Der Wirt gab ihm die braune Flasche, der Kompass begann zu vibrieren. Leicht zunächst, dann wurden die Vibrationen stärker und stärker. Die Männer, die in der Kneipe saßen, sahen verwirrt auf, während Jack mit sichtbarer Furcht in den Augen zurücksprang. Flaschen und Gläser fielen zu Boden und zerbarsten, als sich das leichte Erdbeben fortsetzte.

Jack hatte einen Fehler gemacht – einen großen. Nervös langte er nach dem Kompass, um ihn zurückzunehmen – in der Hoffnung einen Fehler zu korrigieren –, doch schnappte der Barkeeper ihn sich. Augenblicklich hörte das Beben auf. Der Mann zuckte mit den Schultern und warf den Kompass über seine Schulter. Er landete mitten in einem Haufen Schmuck und anderem Zeugs, das aus dem gleichen Grund wie der Kompass dort war – als Bezahlung.

Jack seufzte und hob die Flasche an seine Lippen.

„Piratenleben“, sagte er leise. ‚Das war es jedenfalls‘, fügte er schweigend hinzu, bevor er einen langen, tiefen Schluck nahm.

1

 

Unter einem dunklen Himmel segelte die Silent Mary durch das Teufelsdreieck. An Deck arbeitete die geisterhafte Mannschaft, schrubbte Planken, die niemals sauber werden würden, besserten Segel aus, die sich nicht ausbessern ließen. Sie würden nie aufhören, es zu versuchen. Es waren schließlich die Befehle des Capitáns.

Oben im Steuerhaus sah Capitán Salazar mit hartem Blick über die ruhige See. Sein Leben lang hatte er auf die See geschaut. Dieselben skelettierten Möwen schwebten über dem Schiff. Dieselben toten Männer bildeten seine Crew. Dasselbe Gefühl von Betrogensein erfüllte sein nicht schlagendes Herz. Der Fluch, dem er unterlag, war endlos und entsetzlich. An seinen Seiten ballte er die Fäuste, statt Blut durchströmte ihn Wut.

Und dann sah er etwas. Das Steuerrad drehte sich leicht. Salazar verengte die Augen und trat näher. Das Steuer bewegte sich erneut. Von allein begann es, das Schiff in eine neue Richtung zu steuern. Die Crew bemerkte den Kurswechsel ebenfalls und sah den Capitán vom Steuer entfernt stehen. Neugierig raten sie vor.

„Capitán“, setzte Salazars Teniente[3], ein Gespenst namens Lesaro an, „was ist geschehen?“

Der Capitán antwortete zunächst nicht. Stattdessen sah er hinaus zum Horizont. In diesem Moment zerbrach die höchste Spitze des Teufelsdreiecks und enthüllte die dahinter scheinende Sonne. Dann brach der ganze Bogen zusammen, Felsen kollerten in die See. Es gab nur einen Grund für diesen Szenenwechsel. Konnte Jack Sparrow so närrisch sein? Als dieser Gedanke durch seinen Kopf schoss, drehte das Schiff noch etwas weiter, der Bug zeigte nun zur Kimm. Ein leichtes Lächeln huschte über Salazars Gesicht. Offensichtlich war der Pirat so närrisch.

„Jack Sparrow hat den Schlüssel weggegeben!“, rief er über seine Schulter.

Er konnte das Gemurmel seiner Männer hinter sich hören. Einige waren verwirrt, andere aufgeregt, obwohl sie nicht genau wussten, was dies bedeutete. Ein Gespenst namens Santos trat zu ihm und wies über die Reling.

„Capitán, was ist das?“, fragte er verstört.

Salazars Lächeln wurde breiter.

„Tageslicht“, sagte er. „Nach all diesen Jahren wurde es Zeit!“

Das Sonnenlicht wurde stärker und stärker, bis es mit einem Blitz ein Loch in das zu schneiden schien, was bisher eine unsichtbare Grenze gewesen war.

Capitán Salazar verschwendete keine Zeit.

„Hart Steuerbord!“, kommandierte er. „Wir segeln bis zum Ende und kreuzen mit dem Licht!“

„Aye, Capitán“, antwortete Teniente Lesaro. Er drehte sich um und gab den Befehl:

„Alle Mann an Deck und mehr Segel setzen!“

Die Männer rannten auf ihre Posten, um das Schiff vorzubereiten, Capitán Salazar sah stur geradeaus. Das Tageslicht kam näher und näher. Das Teufelsdreieck gab es nicht mehr. Das Schiff nahm Geschwindigkeit auf, als der Wind in die Segel griff und dann brach es durch das Loch ins Sonnenlicht in die See jenseits davon.

Einen Moment war Stille, als die geisterhafte Crew der Silent Mary staunend auf die sie umgebende See sah. Der dunkle Himmel des Dreiecks war einem strahlend blauen gewichen. Die raue See hatte sich beruhigt.

„Wir sind frei!“

Teniente Lesaros Schrei hallte über das Wasser, die Crew jubelte. Am Steuer stehend nickte Capitán Salazar. Es war wahr. Sie waren frei – endlich.

„Meine lieben toten Männer“, sagte er und wandte sich der Mannschaft mit einem triumphierenden Lächeln zu. „Die See ist unser! Zeit, einen Piraten zu jagen!“

Als sein grausames Lachen von den Wellen widerhallte, setzte die Silent Mary einen neuen Kurs. Salazar ging auf die Jagd nach Jack Sparrow, und er würde nicht aufhören, Piraten zu jagen, bis er ihn gefunden hatte – und ihn bezahlen lassen würde für jeden einzelnen Augenblick, den Salazar in dieser nassen Hölle gefangen gewesen war. Er starrte in die Ferne und erspähte den verräterischen Jolly Roger eines Piratenschiffes. Es sah so aus, als könne die Jagd auf der Stelle beginnen. Das Piratenleben war vorüber.

[3] Teniente: spanisch für Leutnant. Im englischen Original steht hier der Dienstgrad Lieutenant. Auch hier übernehme ich den spanischen Dienstgrad. (Anm. d. Ü.)

 

Kapitel 6

Besuch

Auf der Insel Saint Martin war es Nacht geworden. Die Bürger, die keine Ahnung von der neuen Gefahr hatten, die auf See lauerte, gingen zu Bett, machten es sich in ihrer Unwissenheit gemütlich. Am Himmel hing ein großer Vollmond. Aber es war kein gewöhnlicher Vollmond. Er schien strahlend rot am dunklen Himmel – ein Blutmond.

In ihrer Zelle machte Carina im Licht des Unheil verkündenden Mondes an der Wand Berechnungen. Ihr lief die Zeit davon. Sie brauchte nicht mal eine Uhr, um das zu wissen. Sie spürte es in den Knochen. Die Chance, den Dreizack zu finden und die wahre Bedeutung von Galileos Tagebuch aufzudecken, glitt ihr aus den Fingern. Eine Welle Verzweiflung überflutete sie, doch so rasch sie gekommen war, schüttelte sie sie wieder ab. Sie hatte in der Vergangenheit gegen noch geringere Chancen bestanden. Sie konnte es erneut schaffen. Sie musste nur schärfer nachdenken. Sie hielt das Buch ins Mondlicht, drehte es in diese und in jene Richtung.

„Nur weil du etwas nicht siehst, bedeutet es nicht, dass es nicht da ist …“

Ihre Stimme wurde immer leiser, als sie auf den brillantroten Rubin auf dem Deckel des Tagebuchs sah.

Das Mondlicht schimmerte verführerisch, und Carina konnte einfach nicht anders, als den Rubin abzuziehen. Sie hatte es schon oft getan, doch noch nie in einer Gefängniszelle und noch nie unter dem Licht eines Blutmonds – oder, wissenschaftlich ausgedrückt, einer Mondfinsternis. Zu ihrer Überraschung wurden Wörter sichtbar, als das Licht durch den Rubin auf den Deckel schien; Wörter, die bisher unsichtbar gewesen waren, erschienen auf dem Deckel des Buches.

„Um die Macht der See zu entfesseln, muss alles entzweit werden“, las sie.

Dann registrierte sie, dass der Rubin noch etwas anderes in dem Bild der Wellen beschienen hatte – eine kleine Insel.

2

 

Zwei Soldaten marschierten durch die Gefängnishalle. Sie stoppten vor Lieutenant Scarfield, der an der Front Wache stand. Scarfield und seine Männer hatten an diesem Tag zwei wichtige Gefangene ins Gefängnis gebracht: Carina und – wie das Glück so spielte – Jack Sparrow. Letzterer hatte sich in der Taverne so betrunken, dass er unfähig gewesen war, sich gegen die Soldaten zu wehren, die über ihn gestolpert waren. Der Lieutenant weigerte sich jetzt, das Gefängnis zu verlassen, auch wenn es schwer bewacht war und es unter seiner Würde war, selbst Wache zu stehen. Die Hexe und der Pirat waren seinem Griff zu oft an diesem Tag entwischt, um es erneut darauf ankommen zu lassen. Und er war immer noch wütend darüber, dass es dem Verräter Henry Turner gelungen war, zu entkommen.

„Sir“, sprach einer der Soldaten den Lieutenant an, „wir haben Nachrichten, dass Schiffe auf See brennen. Ein unbekannter Feind ist in dies Gewässer eingedrungen.“

„Piraten?“, fragte Scarfield.

Die Soldaten schüttelten die Köpfe.

„Etwas anderes“, antwortete einer.

Während das Trio die Situation diskutierte, marschierte eine einzelne Wache im roten Rock rasch durch die Halle des dunklen Gefängnisses. Den Hut hatte der Wächter tief ins Gesicht gezogen, er verbarg seine Züge. Vor den dunkelsten und schmutzigsten Zellen blieb er stehen.

„Ich muss mit Euch reden“, flüsterte er. Als er sich vorbeugte, beleuchtete das Mondlicht sein Gesicht und enthüllte, dass er Henry Turner war. Er wartete mit angehaltenem Atem auf eine Antwort aus der Zelle. Plötzlich legte sich ein Arm um Henrys Hals und zog in dicht an die Gitterstäbe.

„Gib mir deinen Säbel!“

Henry schüttelte den Kopf.

„Ich habe keinen.“

„Welcher Soldat hat keinen Säbel?“, fragte der Zelleninsasse verblüfft.

„Ich werde wegen Hochverrats gesucht.“

Pause

„Also kein besonders guter Soldat“, bemerkte der Pirat.

Henry zuckte mit den Schultern. Dagegen konnte er nichts sagen. Obwohl, wenn er die Zeit oder die Neigung dazu gehabt hätte, hätte er erklären können, dass er, auch wenn er vielleicht kein guter Soldat war, immerhin nicht eingesperrt war.

„Ich suche nach dem Piraten Jack Sparrow“, sagte er stattdessen in der Hoffnung, seine Worte würden der unkomfortablen Situation, in der er sich befand, ein Ende setzen.

Es schien zu wirken. Der Arm lockerte sich um seinen Hals. Henry zog sich rasch zurück.

„Dann ist heute dein Glückstag! Denn wie es der Zufall will, bin ich Captain Jack Sparrow!“, erklärte der Mann in der Zelle.

Henry schnaufte. Als er wieder Luft bekam hatte er endlich Gelegenheit, den Piraten zu sehen, über den er schon so viel gehört hatte – und schnappte erneut nach Luft.

„Nein! Das kann nicht sein!“, protestierte er. „Das, wonach ich seit Jahren suche, ist das hier? Der große Jack Sparrow ist kein Trunkenbold in einer Zelle!“

Sein Verstand weigerte sich, zu glauben, was seine Ohren hörten und seine Augen sahen.

„Wo ist dein Schiff?“, fragte er, „Deine Crew? Deine … Hose?“

Tatsächlich war Jack ohne Hose. Er zuckte mit den Schultern.

„Einen großen Piraten kümmern solche Kleinigkeiten nicht.“

Henry war entsetzt.

„Weißt du, wie lange ich auf diesen Moment gewartet habe?“, fragte er. „Ich habe alles riskiert, um herzukommen. Bist du sicher, dass du der Jack Sparrow bist?“

„Wir wissen beide, wer ich bin. Bleibt die Frage:“

Der Pirat kam einen Schritt näher an die Gitterstäbe und sah Henry aus kohleumrandeten Augen scharf an.

„Wer bist du?“

Henry zögerte.

„Mein Name ist Henry Turner“, sagte er schließlich. „Der Sohn von Will Turner und Elizabeth Swann.“

Jacks Mundwinkel sanken herunter. Er zog sich zurück, langte dann durch die Gitter. Drehte Henrys Kopf in die eine und die andere Richtung, studierte ihn.

„Äääh“, sagte er schließlich, als er die Ähnlichkeit erkannte. „Du bist also die teuflische Brut der beiden.“

Henry nickte und befreite sein Gesicht aus den langen, beringten Händen des Piraten.

„Hat Mami sich mal nach mir erkundigt?“

„Nein, nie“, erwiderte Henry, von Jacks Frage überrascht.

„Murmelt sie im Schlaf meinen Namen?“, hakte Jack nach.

Henry schüttelte den Kopf.

„Sie hat nie von dir gesprochen.“

Jacks seufzte und machte – mehr oder weniger – weiter.

„Bist du sicher, dass wir von denselben Leuten reden? Er war ein verwunschener Eunuch, sie hat goldenes Haar, ist stur und hat den Hals eine Giraffe, zwei wundervolle …“

„Ja, das ist sie!“, unterbrach Henry ihn mit erhobener Stimme. Er zuckte zusammen. Hatte dieser Pirat eigentlich gar keinen Sinn für Anstand? Es war Henrys Mutter über die er sprach! Er senkte seine Stimme und fuhr fort:

„ Hör mir zu, Jack, denn im Moment bist du alles, was ich habe. Ich habe einen Weg gefunden, meinen Vater zu retten. Der Dreizack des Poseidon kann seinen Fluch brechen und ihn von der Dutchman befreien.“

„Der Schatz, der mit der Karte, die kein Mann lesen kann, gefunden werden kann?“, fragte Jack nach einer Pause. „Nie davon gehört.“

Henry verzog das Gesicht. Natürlich hatte der Pirat davon gehört, anderenfalls hätte kaum genau gewusst, wie der Schatz zu finden war. Ein Teil von Henry wollte weggehen und den scharfzüngigen Piraten in seiner Zelle verrotten lassen. Doch auch wenn ihm das in gewissem Sinne Befriedigung gebracht hätte, wusste er, dass er das nicht konnte.

„Hier im Gefängnis sitzt ein Mädchen, das die Karte hat“, ergänzte er. „Sieh aus dem Fenster, Jack – der Mond ist zu Blut geworden. Der Dreizack kann gefunden werden …“

Er stoppte, als er Schnarchgeräusche aus der Zelle hörte. Jack tat so, als wäre er eingeschlafen.

Langsam drehte er sich vom Fenster zurück.

„Sorry, hast du noch was gesagt? Ich glaub’ ich bin eingenickt.“

Er sah zu, wie Henrys Gesicht fiel, bevor er dem Jungen den Rücken zuwandte, um ihm klarzumachen, dass die Unterhaltung beendet war.

Niedergeschlagen machte Henry auf dem Absatz kehrt, um zu gehen. Doch er hielt an. Er hatte noch eine Karte, die er ausspielen konnte.

„Da ist noch was“, sagte er, ohne sich umzudrehen. „Eine Nachricht für dich von jemandem, den du kennst. Ein Captain namens … Salazar.“

Der Trick wirkte. Jack Gesicht wurde bleich, er musste sich anstrengen, um seine Hände vor dem Zittern zu bewahren.

„Ich kannte mal einen Spanier namens … irgendwas auf Spanisch“, sagte er und versuchte, seine Stimme heiter klingen zu lassen.

El Matador del Mar“, sagte Henry, genervt von Jacks Unfähigkeit, ernst zu sein. „Der Schlächter der See.“

Jack Sparrow schüttelte den Kopf. Er wusste, das war unmöglich. Salazar war tot. Auf den Meeresgrund gesunken. Es gab keinen plausible oder denkbare Möglichkeit, dass er hinter ihm her sein konnte. Anscheinend war es jedoch durchaus plausibel.

„Er kommt dich holen, Jack. Er will Rache, wie die Geschichte des toten Mannes sagt.“

„Ich glaub’ dir kein Wort!“, sagte Jack, wobei sein Tonfall beide nicht überzeugte. Er lehnte sich etwas näher zu Henry.

„Was hat er gesagt?“

„Er sagte, dein Kompass sei der Schlüssel zu seiner Freiheit“, erwiderte Henry.

Jack langte nach seinem Kompass, nur um sich zu erinnern, dass er nicht vorhanden war. Er war – nach Jacks Kenntnisstand – immer noch in der Kneipe auf einem Haufen Gold und Plunder.

Ohne zu ahnen, dass Jack seinen kostbarsten Besitz nicht mehr bei sich hatte, fuhr Henry mit seltsam prophetischen Worten fort:

„Eine Armee von Toten ist auf dem Weg zu dir. Der Dreizack ist deine einzige Hoffnung. Also … sind wir uns einig?“

Er streckte seine Hand aus und wartete.

Jack sah den jungen Mann an, der ihn hoffnungsvoll anschaute. Er sah so viel von Will in den Augen des Jungen. Die Hoffnung, das Vertrauen, die Tatkraft. Er hatte diese Eigenschaften von Will Turner stets als ärgerlich empfunden. Er empfand sie ebenso ärgerlich in Wills Sohn.

Dennoch hatte der Junge Recht. Jack hatte seinen Kompass verloren. Die Black Pearl war ein nutzloses Spielzeug. Seine Aussichten waren – nun ja – düster. Schließlich nickte er leicht.

„Hast du Silber?“, fragte er und ergriff Henrys Hand. „Weil wir eine Crew brauchen werden.“

Er sah an sich herunter.

„Und Hosen.“

 

 

Kapitel 7

Shansa

Das Leben an Bord der Queen Anne’s Revenge war gut. Während Jacks Glück sich entschieden hatte, sich zum schlechteren zu wenden, hatte sich Barbossas Glück zum besseren gewandt – zum viel besseren. Seit er sich von Jack und dessen Tricks getrennt hatte, hatte Barbossa die Welt der Piraten erobert. Er hatte nicht länger nur ein Schiff; er hatte eine Flotte. Er hatte nicht länger nur eine Crew; er hatte Mannschaften. Sein Name wurde in den Häfen der gesamten Karibik furchtsam geflüstert, und wenn sein Jolly Roger auf See gesichtet wurde, wussten sowohl Piraten als auch Soldaten, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sie gekapert wurden.

Barbossa hatte gerade eine erfolgreiche Runde von Beutezügen und Plünderungen beendet und die Queen Anne’s Revenge wieder in den Hafen gebracht. Das Schiff hatte inzwischen weniger Ähnlichkeit mit einem Wasserfahrzeug als mit der Einrichtung eines Antiquitätenladens oder eines Museums. Zahllose Statuen, Ballen von Seide, Dutzende Teppiche und mit purem Gold verziertes Mobiliar stapelten sich in heillosem Durcheinander auf dem hölzernen Boden. Seine Männer hatten schon den größten Teil des Tages damit verbracht, ihre Beute zu verprassen und waren zum Schiff zurückgekehrt, um ihr Freudenfest fortzusetzen. An Deck kämpften zwei der Männer um goldene Kandelaber, während ein anderer Pirat sein Bier aus einer unbezahlbaren chinesischen Vase schlürfte.

In seiner Kapitänskajüte stand Hector Barbossa inmitten seines eigenen Schatzes. Auch wenn er gegenüber seiner Crew großzügig war, behielt er das Beste stets für sich. Regale und Boden waren mit Gold und Juwelen überschüttet. Ein großes, kostbares Gemälde lag quer über einer Chaise, während in einer Ecke weitere Kunstwerke achtlos übereinander gestapelt waren.

Barbossa selbst glänzte ebenfalls deutlich mehr als früher. Sein Bart, ehemals zottelig und verfilzt, war ordentlich gekämmt und mit teurem Öl gewichst. Er trug eine Perücke mit üppigen, braunen Locken. Seine Kleidung war aus den feinsten Stoffen, die gestohlenes Geld zu kaufen vermochte. Sein Holzbein hatte er durch eines aus purem Gold ersetzt. Jeder Zoll ein König, saß er in seinem geschmückten Sessel, naschte kandierte Orangen und lauschte den süßen Tönen eines Streicherquartetts.

Plötzlich sprang die Tür zu seiner Kajüte auf und Murtogg und Mullroy rauschten herein. Die beiden früheren Marines, die die Royal Navy verlassen und sich Barbossa angeschlossen hatten, waren – wie üblich – das Ebenbild der Inkompetenz. Sie fummelten ungeschickt aneinander herum, während sie ihren Captain anzusprechen versuchten.

„Sir“, begann Mullroy und gab Murtogg einen Stoß mit dem Ellenbogen, „wir wissen, dass Ihr gesagt habt, wir dürften Euch nicht stören …“

„Oder ohne guten Grund kommen …“, fügte Murtogg hinzu.

„Oder zu sprechen ohne uns vorher zu fragen, ob unsere Ideen wirklich absolut notwendig …“, sagte Mullroy und zögerte, als Barbossa den Kopf von seinem Hauptbuch hob, das er vor sich hatte. Er warf den neueren Piraten einen strengen Blick zu. Mullroy schluckte. Vielleicht war dies eine der Gelegenheiten, über die er etwas schärfer hätte nachdenken sollen …

Barbossa schien dem zuzustimmen.

„Sprecht!“, befahl er und richtete seine Pistole auf sie. „Schnell!“

Nervös traten die Männer einen Schritt zurück. Dann informierten sie Barbossa in aller Eile, dass drei seiner Schiffe angegriffen worden waren.

„All Euer Silber liegt auf dem Grund des Meeres“, erklärte Mullroy. „Ein Captain namens Salazar ließ von jedem Schiff einen Mann am Leben, um die Geschichte zu erzählen. Schon bald wird er Eure ganze Flotte versenkt haben.“

Als die beiden Männer weiterschwafelten, verengten sich Barbossas Augen. Salazar war also zurück von den Toten. Der Umstand überraschte ihn nicht. Er hatte selbst einen Fluch überstanden und hatte erfahren, dass die See ihre Wege hatte, das zurückzubringen, was verloren geglaubt war. Und dass Salazar Piraten jagte, war für ihn ebenfalls keine Überraschung. In seinem früheren Leben war Salazar in seinem Hass auf Piraten unbarmherzig gewesen. Danach war er es gewesen, Barbossa, der Furcht in die Herzen all jener gesät hatte, die unter dem Jolly Roger jeder Größenordnung segelten. Nichts von diesen Nachrichten überraschte ihn. Aber sie ärgerten ihn – und beunruhigten ihn. Denn wenn Salazar tatsächlich auf Rache aus war, bedeutete das, dass Barbossas Glückssträhne am Ende war. Und er war absolut nicht darauf vorbereitet, dass dies geschah.

Er sah aus dem großen Heckfenster der Kajüte. Er würde Hilfe brauchen. Und nicht irgendeine Art von Hilfe. Um die Verfluchten zu bekämpfen, musste er jemanden finden, der in den dunklen Künsten bewandert war – in der Schwarzen Magie. Glücklicherweise kannte er jemanden mit diesem besonderen Talent.

3

 

Barbossa peilte durch die Gitterstäbe der Zelle, vor der er stand. Von drinnen konnte er jemanden mit leiernder Stimme singen hören.

Er atmete tief durch. Er zog es vor, diese Gitter zwischen sich und der hier von königlichen Gardisten gefangen gehaltenen Seehexe zu haben. Allerdings konnte er sein Geschäft nicht fortführen, wenn sie auf der einen und er auf der anderen Seite war. Und ihm war klar, dass es unklug war, vor der Zelle einer berüchtigten Seehexe wie Shansa mit Ankündigung zu erscheinen – und dass es geradezu närrisch war, ohne jede Voranmeldung dort anzukommen. Barbossa hoffte nur, dass die Hexe vielleicht die Fähigkeit hatte, sein Eintreffen zu spüren. Und dass – falls er schreien sollte – eine Wache dies hören und ihm zu Hilfe eilen würde.

Er drückte die Zellentür auf und trat ein. Der Singsang kam von einer Frau, die an einem dampfenden Topf stand. Während er sie noch ansah, krabbelte eine Ratte ihren Arm hinauf, ging um die Schultern der Frau und ließ sich schließlich gemütlich auf einer nieder.

„Ich habe Euch erwartet, Captain. Vielleicht möchtet Ihr einen Tee?“

Die Frau drehte sich langsam um. Barbossa sah, dass Shansa, von hinten vom Feuer angestrahlt, nichts von ihrer einzigartigen Schönheit eingebüßt hatte, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie war bemerkenswert mit ihren durchdringenden Augen, den scharfgezeichneten Wangenknochen und den verschlungenen Tätowierungen, die sich über den ganzen kahlen Kopf, beide Arme und Beine zogen. Lange, kraftvolle Finger streichelten sanft die Ratte auf ihrer Schulter, und selbst aus der Entfernung hätte Barbossa schwören können, dass sie vor Magie glühte.

Er schüttelte den Kopf, sah einige weitere Ratten aus dem Topf kriechen, auf den sie eben bezüglich des „Tees“ hinwies – was nach einer dicken, leuchtendgrünen Substanz aussah.

„Nicht für mich“, sagte er und setzte hastig ein: „Danke“, hinzu, als er bemerkte, dass sich ihre Augen verengten. Hinter ihr im Schatten konnte Barbossa die skelettierten Überreste eines Menschen ausmachen. Es würde ihm nicht gut bekommen, ihrem Einfluss zu lange ausgesetzt zu sein. Er brauchte einen Grund für seinen Besuch.

„Wir beide haben vor langer Zeit eine Abmachung getroffen“, setzte er an, „Ich habe Euch vor dem Galgen bewahrt …“

„Und ich habe im Gegenzug Eure Feinde verflucht“, vollendete die Seehexe. „Doch nun kommt Ihr voller Angst zu mir, weil die Toten nun über die Meere herrschen.“

Er nickte. Das wusste er schon.

„Was wollen die Toten von mir?“, fragte er, um zu erfahren, was er nicht wusste.

Shansa drehte sich zu ihrem Kessel um und sah hinein.

„Nicht Ihr seid es, Captain“, sagte sie schließlich korrigierend, als sie etwas in dem Kessel sah, das ihr Besucher nicht sehen konnte.

„Sie suchen nach Eurem Rivalen“

„Jack?“, hakte er nach. Shansa nickte. Barbossa konnte ein Stöhnen knapp unterdrücken. Er hätte es wissen müssen. Natürlich war Jack darin verwickelt. Irgendwie verstrickte sich der abgefeimte Pirat immer wieder in irgendeiner Art magischen Missgeschicks. Das Unglück folgte ihm wie ein Hund dem Knochen.

Immer noch in den Kessel sehend, fuhr sie fort:

„Jack ist auf der Suche nach dem Dreizack – mit jungem Blut und altem Hut.“

„Der Dreizack kann nicht gefunden werden!“, rief er. Seine Lautstärke ließ die Ratte auf ihrer Schulter zusammenzucken. Er ignorierte das missbilligende Zischen des Nagers machte er weiter. Jack interessierte ihn nicht. Dieses mythische Teil, von dem er wusste, dass es eben ein Mythos war, interessierte ihn nicht.

Shansa ging zum Kessel. Barbossa kam näher. Durch den Dampf sah er, wie ein Szenario erschien: Ein großes, dunkles Schiff mit zerrissenen Segeln und verrotteten Planken war auf der Jagd nach einem hilflosen Piratenschiff. Die Silent Mary fiel über das andere Schiff her. Binnen Augenblicken schwärmte die tote Crew über das andere Schiff aus wie Ameisen über ein Picknick. Er konnte sie nicht hören, doch er vermochte sich die schrillen Schreie vorstellen, als die Lebenden von den Toten überwältigt wurden. Er zog sich zurück, sein Gesicht aschfahl hinter dem Bart.

„Die Toten erobern die See“, sagte Shansa leise. „Doch sie können nicht an Land gehen. Ihr solltet Euch auf dem Land zur Ruhe setzen“, empfahl sie.

„Ihr meint Gras?“, fragte Barbossa, das Wort geradezu ausspeiend. „Ihr wollt, dass ich einen Bauernhof aufmache …, Kühe melke …, Käse mache, während alles, was mein ist, zerstört wird? Während mein Schatz versenkt wird“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Stellt Euch die Frage, Captain: Ist ein Schatz wert, dafür zu sterben?“

Er zögerte nicht.

„Aye“, antwortete er mit einem entschlossenen Nicken. „Ich bin ein Pirat. Das werde ich immer bleiben. Wie kann ich retten, was mein ist?“

Sie griff in ihre Tasche und zog etwas heraus. Sie behielt es einen Moment in der Hand, als ob sie überlegte, ob sie ihm das Stück zeigen sollte oder nicht. Schließlich öffnete sie ihre Finger. Seine Augen weiteten sich vor Staunen. Shansa hielt Jacks geliebten Kompass in ihrer Hand. Sie ließ ihn fallen, ließ ihn am Bändsel baumeln.

„Jack hatte einen Kompass, der auf die Dinge zeigt, die man am meisten wünscht. Doch betrügt den Kompass – und er entfesselt Eure größte Furcht.“

„Und die größte Furcht eines jeden Piraten ist Salazar!“, rief Barbossa aus. Er langte zu und schloss seine Finger um den Kompass.

„Wie seid Ihr daran gekommen?“

„Ich habe meine Wege“, erwiderte die Meereshexe geheimnisvoll. „Führt sie zu Jack, bevor er den Dreizack findet und Euer ganzer Schatz wird zu Euch zurückkehren.“

Barbossa nahm den Kompass aus ihrer Hand und gab ihr im Tausch einen schwarzen Beutel. Sie schüttete die Goldmünzen, die darin waren, in ihre Hand und nickte. Ihr Handel war perfekt.

Doch er hatte noch einen weiteren Handel zu machen. Einen Handel mit den Toten.

Kapitel 8

Volksbelustigung

 

 

1 „Die Sonne ist aufgegangen! Zeit zu sterben, Pirat!“

Die Tür von Jacks Zelle wurde aufgestoßen. Zwei Soldaten traten zu ihm, nahmen ihn an den Armen und schleppten ihn in die Halle. Jack hing schlaff zwischen ihnen, war erstaunlich ruhig für die Tatsache, dass er nach Aussage eines der Soldaten in Kürze sterben sollte.

Als sie dem Ausgang des Gefängnisses näher kamen, hörte Jack jemanden singen. Die Melodie klang vertraut.

„Dad?“, fragte Jack hoffnungsvoll. Das letzte Mal, als er Teague gesehen hatte, hatte er ihn davor gewarnt, die Quelle der ewigen Jugend zu suchen. Als Hüter des Piratenkodexes, ein Titel, den der üblicherweise wenig ernste Pirat sehr ernst nahm, wusste Teague mehr als jeder andere über die Einzelheiten des Meeres. Es wäre ein glücklicher Zufall gewesen, wenn Jack in diesem äußerst unglücklichen Moment über ihn gestolpert wäre. Doch als Jack an der Zelle vorbeikam, aus der der Gesang kam, sah er, dass es nicht sein Vater war.

„Onkel Jack!“, rief er, als er den Sänger erkannte.

„Jack, mein Junge!“, antwortete der Mann in der Zelle freudig. Er trat vor. Im schummrigen Licht der Zelle sah Jack seinen Onkel. Das Haar des Mannes war ebenso zu Dreadlocks verfilzt wie Jacks eigenes, seine Augen waren die gleichen braunen Augen, obwohl sie vom Alter getrübt waren und die Haut drumherum faltig war.

„Wie geht’s dir?“, fragte der ältere Pirat seinen Neffen.

„Ich kann mich wirklich nicht beschweren“, erwiderte Jack, als ob sie sich in einer Kneipe unterhielten und nicht in einem Gefängnis. „Und du?“

„Mir ging’s nie besser“, antwortete Onkel Jack. „Ich warte schon den ganzen Morgen auf eine Auspeitschung.“

Er machte eine Pause, lehnte sich vor und flüsterte:

„Schrecklicher Service hier.“

„Schande über sie“, erwiderte Jack.

Onkel Jack zögerte, sah sich um und machte eine Geste zu Jack, dass er näher kommen sollte. Jack reckte sich, soweit es unter dem Griff der Wachen möglich war.

„Die Ozeane haben sich in Blut verwandelt. Ist besser, an Land zu bleiben, wo es sicher ist.“

Jack verzog das Gesicht.

„Ich soll an Land hingerichtet werden … “

„Guter Einwand“, räumte Onkel Jack ein. Dann zuckte er mit den Schultern.

„Hab’ ich dir schon den von dem Skelett erzählt?“

Jack seufzte. Sein Onkel hatte ihm den Witz erzählt – zu oft. Er war nicht mal witzig.

„Gut, es war schön, dich mal wieder zu sehen.“

Er machte eine Pause, suchte angestrengt nach den passenden Worten, die man einem Verwandten in einer Gefängniszelle sagen konnte.

„Jedenfalls hoffe ich, dass du eine wundervolle Hinrichtung hast.“

„Du ebenfalls“, erwiderte Onkel Jack. „Falls sie dich ausweiden, frag’ nach Victor. Der hat die sanftesten Hände.“

Die britischen Soldaten gaben Jacks Armen einen Ruck. Während er sich über nichts mehr gefreut hätte, als bleiben und weiter mit seinem Onkel schwatzen zu können – und damit das Unvermeidliche vermieden hätte – schien es, als sahen die Soldaten das anders. Sie schleiften ihn durch die Halle, aus dem Gefängnis und auf den Marktplatz von Saint Martin.

Eine ziemlich große Menge hatte sich zur Unterhaltung versammelt. Männer, Frauen und Kinder füllten den Platz zum Bersten. Sie riefen und verhöhnten die Gefangenen, die den Tod erwarteten. Jack sah sich um und erspähte das Mädchen aus dem Kartenladen in einem Käfig zusammen mit anderen Hexen. Er nickte ihr kurz zu.

„Wie möchtest du sterben, Pirat?“, fragte ein Soldat, der ein Brett mit Papier und eine Schreibfeder in den Händen hielt.

Jack sah hoch. Wie er sterben wollte? Was für eine eigenartige Frage. Darüber hatte er noch nie so recht nachgedacht. Es gab so viele Möglichkeiten …

„Hängen, Erschießungskommando oder – neu auf dem Markt – die Guillotine?“, fragte der Posten nachdrücklich.

Jack zögerte.

„Guillotine“, sagte er schließlich. „Klingt französisch. Ich liebe die Franzosen. Die haben die Mayonnaise erfunden. Was kann von da Schlimmes kommen?“

Der Posten drehte Jack um, so dass er der Guillotine gegenüberstand. Er schluckte. Offenbar gab es Dinge aus Frankreich, die ihm nicht zusagten.

Der neumodische Apparat vor ihm war etwas aus seinen schlimmsten Albträumen. Eine riesige Klinge hing hinaufgeschoben zwischen zwei hölzernen Pfählen. Darunter war ein hölzerner Block, aus dem eine Einbuchtung in der Größe eine menschlichen Halses geschnitten war. Er änderte seine Meinung. Das Erschießungskommando wäre ganz nett. Insbesondere, wenn man ihm die Augen verband …

„Bringt den Korb!“, rief einer der Soldaten, während er und seine Kameraden den Piraten an einem kippbaren Brett festschnallten, mit dem er unter der Guillotine fixiert wurde.

Es war zu spät. Noch während der Delinquent protestierte, wurde er auf den Block herunter geschoben. Sein Kopf hing über dem Korb, während seine Hände festgeschnallt waren.

„Ich hab’ da ‘ne Idee“, sagte Jack, seine Worte etwas dumpf wegen der Position seine Kopfes auf dem Hinrichtungsblock.

„Wieso nicht ‘ne schöne altmodische Steinigung? Ist doch auch unterhaltsamer für den Mob.“

Etwas entfernt von dort, wo Captain Sparrow seinem Schicksal entgegensah, erwartete Carina Smyth ihres ebenfalls. Man hatte sie zum Galgen geführt, Ihr war eine Schlinge um den Hals gelegt worden. Sie stand auf der hohen hölzernen Plattform und schaute in die Menge.

„Werte Herren“, sagte sie, um wenigstens die Leute von Saint Martin zur Vernunft zu bringen. „Ich bin keine Hexe. Aber ich vergebe Euch Eure Beschränktheit und Eure kläglichen Gehirne. Kurz, die meisten von Euch haben nicht mehr Geist als Ziegen …“

„Ist es nicht üblich, einem zum Tode Verurteilten eine letzte Mahlzeit zu gewähren?“

Jacks Ruf unterbrach Carina mitten in ihrem Protest.

Sie blitzte quer über den Platz den Piraten an:

„Ich war gerade dabei meinen Standpunkt klarzumachen. Wenn Ihr Euch etwas gedulden würdet …“

Sie war mit Jack Sparrow noch nicht lange bekannt, aber lange genug, dass sie wusste, dass es ihm stets nur um sich ging – eine Eigenschaft, die er mit jedem vergehenden Augenblick bewies.

„Mir soll der Kopf abgehackt werden – daher die Dringlichkeit“, rief er.

„Und mir soll das Genick gebrochen werden“, stellte sie klar.

„Manchmal bricht das Genick nicht“, versetzte er. „Ich hab’ schon Männer gesehen, die stundenlang hängen sehen, die langsam erstickten. Der Punkt ist, es ist absolut möglich, dass du noch Stunden hast, um letzte Worte zu flüstern, während mein Kopf demnächst in diesem Korb liegen wird und auf meinen leblosen Körper starrt – und zwar mit Kohldampf!“

„Tötet den dreckigen Piraten! Ich kann warten“, verkündete sie trocken.

Von seinem Platz auf dem Block hob Jack die Hände und versuchte, den Kopf zu schütteln.

„Davon will ich nichts hören“, sagte er, Galanterie vortäuschend. Dann lächelte er süffisant. „Hexen zuerst.“

Carina stieß einen Schrei der Frustration heraus.

„Ich bin keine Hexe! Habt Ihr mir nicht zugehört?“

„Schwierig zuzuhören, wenn man den Grips einer Ziege hat!“, schoss Jack zurück.

Genug!“

Scarfields Stimme hallte über den Platz und brachte beide zum Schweigen.

„Tötet sie beide!“, befahl er.

Jack schaute soweit hoch, wie es ihm möglich war und sah den Henker vortreten. Er trug die schwarze Maske, die sein Beruf erforderte. Der Pirat registrierte, dass die in schwarzen Handschuhen steckenden Hände nach dem Hebel langten, um die Klinge auszulösen. Jack schloss die Augen und wartete auf das Geräusch der fallenden Klinge.

Doch es blieb aus. Stattdessen war da ein wusch und ein Schrei. Jack öffnete ein Auge und sah den jungen Henry Turner mitten auf dem Platz stehen. Er war hoffnungslos von Soldaten umzingelt, hatte aber die Fäuste immer noch erhoben. Ein Seil – das Henry vermutlich benutzt hatte, um damit herunterzuschwingen – hing von seinem Handgelenk. Offensichtliche hatte der Junge einen Rettungsversuch unternommen – und war gescheitert.

„Holt noch eine Schlinge!“, befahl Scarfield von der Tribüne. „Er wird mit den anderen sterben!“

Er drehte sich zu Henry um und knurrte:

„Dachtest du, du könntest uns besiegen, Junge?“

Henry schüttelte  den Kopf.

„Nein, Sir“, erwiderte er mit einem über sein Gesicht huschenden Lächeln. „Ich bin nur die Ablenkung.“

Er drehte sich um und rief über die Schulter:

Feuer!“

Augenblicklich erschütterte eine Explosion den Platz. Steine und Trümmer flogen durch die Luft, Chaos brach aus, als die Leute zu schreien und zu rennen begannen. Die Guillotine kippte um, wirbelte immer wieder wie um eine Welle herum, bevor sie schließlich kopfüber liegen blieb und Jack hilflos von dem neumodischen Apparat baumelte.

Scarfields Gesicht wurde rot, als er sah, dass Jacks alte Crew eine Kanone weiter auf den Platz schob. Er drehte sich um und sah, dass Henry sich von den Soldaten befreit hatte, die ihn festgehalten hatten. Scarfield war ausgetrickst worden – von einem, der fast noch ein Knabe war! Er wandte sich zu seinen Männern um und befahl ihnen, anzugreifen. Doch es hatte keinen Zweck. Die Piraten schwärmten vor seinen Augen weiter über den Platz.

Die Kanone feuerte erneut, scheuchte eine Gruppe Pferde auf. Sie jagten vorwärts, direkt auf die Guillotine zu. Jack strengte sich an, ihnen aus dem Weg zu kommen, aber er fand keinen Ausweg. Erneut schloss er die Augen und wartete auf den unausweichlichen Tod, diesmal durch die Hände – eher Hufe – von Pferden. Und wieder geschah nichts. Stattdessen knallten die Pferde in die Seite der Guillotine, ließen sie zur anderen Seite krachen. Mit einem Ächzen brach das Holz, gab Jack frei. Er setzte sich auf und rieb seine Handgelenke. Das war knapp gewesen.

In dem Moment fiel die Klinge – und landete direkt zwischen seinen Beinen. Ups! Das war noch knapper gewesen.

Er kam auf die Füße, klopfte sich den Staub vom Mantel und wischte seine gerade zurückerworbene Hose ab.

„Gibbs!“, sagte er, als er seinen Ersten Maat bemerkte. „Ich wusste, du würdest wieder angekrochen kommen!“

Der bärtige Mann zuckte mit den Schultern.

„Der Turner-Junge gab uns zehn Silberstücke, um deinen Hals zu retten“, erklärte er.

Jack zuckte seinerseits. Na schön. Er drehte sich um, sah über den Platz. Seine Freiheit, obwohl höchst wichtig, war nur ein Teil des Plans. Er hasste es, das zuzugeben, und er hätte es nicht – jedenfalls nicht laut – gesagt, dass er nicht derjenige war, der nötig war um den Dreizack zu finden. Sie brauchten Henrys Hexe.

Das einzige Problem war, dass sie immer noch am Galgen festhing.

Als die Soldaten sich einen Weg durch die wogende Menge um sie kämpften, stand Carina hilflos da. Sie sah Henry mitten in einer Gruppe von Soldaten, der sich mit Händen und Füßen in ihre Richtung arbeitete, als ein ungepflegter Pirat mit Glasauge die Galgenplattform enterte, den Soldaten bekämpfte, der dort war und ihn schließlich hinunterbeförderte.

„Danke“, sagte Carina überrascht.

„M’lady“

Der Pirat breitete die Arme aus und verbeugte sich. Unglücklicherweise stieß er dabei mit der Hand an den Hebel der Falltür und Carinas Herz – und ihr Körper – rauschten hinunter. Der Boden unter ihren Füßen hatte sich geöffnet und der Strick um ihren Hals wurde enger und enger.

Der Schrei blieb ihr im Hals stecken, als ihr Sturz plötzlich gebremst wurde. Sie sah hinunter und bemerkte, dass Henry unter der Plattform stand und sie aufgefangen hatte. Seine Arme waren um sie gelegt, sein Gesicht in ihrem Leib vergraben. Sie konnte spüren, dass er darum kämpfte, sie nicht noch weiter fallen zu lassen.

„Von diesem Moment an“, sagte er, seine Worte durch ihre Kleidung gedämpft, „sind wir Verbündete.“

„Wenn man bedenkt, wo du deine linke Hand hast, sind wir mehr als das“, giftete sie und versuchte ihren Körper ruhig zu halten.

„Wir finden den Dreizack gemeinsam“, sagte Henry ohne auf Carinas unpassenden Spott einzugehen. „Habe ich dein Wort?“

Sie nickte. Dann, als ihr seine ziemlich skandalöse Position auffiel, fügte sie hinzu:

„Du hast alles von mir, aber ganz sicher nicht mein Wort. Und jetzt hol’ mich runter!“

„Ich hab’ im Moment kein Schwert“, sagte er nach einer Pause.

Carinas Augenbrauen schossen nach oben. Er hatte kein Schwert? Was für ein Soldat kam zu einer Rettung mit nichts als seinen Fäusten? Sie baumelte am Ende eines Henker-stricks und ein junger Mann, den sie kaum kannte, hielt sie in überaus intimen Zonen, während Piraten und Soldaten um sie herum miteinander kämpften. Schlimmer konnte es kaum noch werden.

„Nun seht euch das an!“, ertönte die Stimme von Lieutenant Scarfield.

Carina zog eine Grimasse. Offensichtlich konnte es noch schlimmer werden. Sie sah sich um und bemerkte den Lieutenant, der auf Henry unter ihr zumarschierte.

„Wenn ich den Feigling töte, hängt die Hexe“, bemerkte er. „Zwei auf einen Schlag.“

„Lass mich nicht hängen“, flehte Carina Henry an.

Er schluckte.

„Wird schwierig, wenn er mich umbringt.“

Mit Carina in seinen Armen war Henry wehrlos. Sein Leib war komplett ungeschützt. Es würde nichts weiter brauchen als einen gutplatzierten Stich, um sein und Carinas Leben zu beenden. Er versuchte, sich einen Plan zu überlegen, als Scarfields Säbel zurückgezogen wurde. Das Gesicht des Mannes war von mörderischer Freude erfüllt – und dann fiel Scarfield zu Boden und blieb mit verdrehten Augen liegen. Hinter seinem niedergestreckten Körper stand Jack Sparrow. In seiner Hand hielt er das stumpfe Ende der Fallbeilklinge.

„Gentlemen“, sagte er über die Schulter zu seiner versammelten Crew, „diese beiden Gefangenen werden uns zum Dreizack führen.“

„Gefangene?“, stieß Henry hervor, als er von einem der Piraten grob ergriffen wurde. „Ich habe deine Männer dazu gebracht, dich zu befreien! Ich habe sie mit meinem eigenen Silber bezahlt. Wir hatten einen Handel!“

„Eine kleine Änderung“, erwiderte Jack achselzuckend, drehte sich um und machte sich daran, den Platz zu verlassen. Henry war wie sein Vater – naiv und einfältig. Aber auch wenn er beides war, so war er auch der Schlüssel, um Salazar zu entkommen und den Dreizack zu finden. Ob es ihm gefiel oder nicht: Jack nahm ihn – samt seiner Hexenfreundin – mit auf sein Abenteuer.

 

Kapitel 9

Geschäfte

Die Meere waren wütend. Schwere Wellen schlugen gegen die Planken der Queen Anne’s Revenge, als sie unter einem dunkelgrauen Himmel dahinsegelte. Am Horizont hatten sich massive Sturmwolken formiert, die alles in Dunkelheit gehüllt hatten.

Alles einschließlich der Silent Mary.

Capitán Salazars Geisterschiff segelte durch die stürmische See, unberührt von den schweren Wellen. Der Sturm schien dem Schiff zu folgen, als stünde er irgendwie unter dessen Kontrolle.

An Bord der Queen Anne’s Revenge stand Hector Barbossa am Steuer, seine Augen – ebenso voller Wolken wie das Meer – bestimmt und kalt, fixierten das Schiff voraus. Er wusste, dass seine Crew dachte, er hätte den Verstand verloren. Niemand segelte in Richtung der Silent Mary. Es war das sichere Todesurteil, das zu tun, doch er hatte klare Befehle gegeben. Sie würden nicht stoppen, bis sie nahezu den Bug des anderen Schiffes erreicht hatten.

Die Entfernung zwischen den Schiffen wurde immer geringer. Einander gegenüber trafen sich die Blicke der Captains, beide erkühnten sich, vom anderen zu erwarten, dass er kleinbei gab. Keiner von beiden tat es. Als die Queen Anne’s Revenge näher an die Silent Mary  kam, schien sich das Geisterschiff aus den Fluten zu erheben. Sein skelettartiger Rumpf schien sich wie der Rachen einer gigantischen Bestie zu öffnen, die hölzernen Spanten wie Zähne, begierig darauf, die Queen Anne’s Revenge in zwei Teile zu zerbeißen.

Barbossa ging ruhig zur Reling seines Schiffes.

„Capitán Salazar!“, rief er über das Wasser. „Ich habe gehört, Ihr seid auf der Suche nach Jack Sparrow!“

Das Schiff stoppte, nur wenige Zoll von der Queen Anne’s Revenge entfernt. Es war ein langer, spannender Moment, den die Crew der Revenge wartete. Und dann sprangen Capitán Salazar und seine geisterhafte Crew auf das Piratenschiff, zogen die Waffen, als sie still auf dem Deck landeten. Capitán Salazar kam vor der Front seiner Männer auf und stapfte zu Hector, der nicht umhin konnte, auf das Loch in Salazars Schädel zu starren.

„Es ist unhöflich, jemanden anzustarren“, sagte er grüßend. „Habt Ihr noch nie eine tödliche Wunde gesehen?“

Hector wandte seinen Blick von dem Loch ab.

„Mein Name ist Captain Barbossa“, setzte er an. „Und ich stehe vor Euch mit aufrichtigen Absichten.“

Salazar zog seinen Degen und ging um den anderen Captain herum.

„Aufrichtige Absichten?“, wiederholte er. Er wandte sich seinen Männern zu. „Habt ihr das gehört, Männer?“

Die Gespenster lachten, was den lebendigen Piraten einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. Er sah zu Barbossa zurück und fuhr fort:

„Ich zeige Euch, was aufrichtige Absichten sind. Jedes Mal, wenn mein Degen auf das Deck schlägt, stirbt einer von Euren Männern. Deshalb empfehle ich Euch, schnell zu sprechen.“

Um seine Behauptung zu beweisen, stieß er seinen Degen auf das Holz. Bevor das Geräusch des Aufschlags verhallt war, kam ein Schrei von weiter hinten auf dem Deck.

„Sagt mir, wo Jack ist – ich warte.“

Er tippte bedrohlich mit der Degenspitze auf das Deck.

„Er sucht nach dem Dreizack …“, stieß Barbossa hastig hervor.

„Das Meer gehört den Toten“, erwiderte Salazar.

Der Pirat neigte den Kopf, um dem anderen Captain zuzustimmen.

„Aber der Dreizack kontrolliert das Meer …“

Es war die falsche Antwort. Salazars Degen schwang hoch und kam ihm bedrohlich nahe.

„Er wird sterben! Wie Ihr auch!“, rief er.

Barbossa hob die Hände.

„Ich bin der Einzige, der Euch zu ihm führen kann“, sagte er schnell. „Ich erkläre, bis Sonnenaufgang werdet Ihr Jacks Leben haben – oder Ihr nehmt meines. Sind wir uns einig?“

Für einen langen Moment sagte Salazar nichts, wog das Angebot ab. Schließlich nickte er.

„Bringt mich zu ihm und Ihr werdet leben, um die Geschichte zu erzählen.“

„Ihr habt mein Wort. Ich danke Euch im Namen meiner Crew.“

Salazar lächelte. Dann tippte er, sehr langsam, seinen Degen auf. Ein Schrei hallte über das Deck und Barbossa zuckte zusammen. Und nochmal und noch zweimal. Jedem Auftippen folgte ein fürchterlicher Schrei, und Barbossas Crew schmolz dahin.

„Ihr könnt haben, was von ihnen übrig bleibt“, sagte Salazar grausam. Dann drehte er sich um und befahl:

„Die Lebenden kommen an Bord!“

Eine Planke wurde zwischen beiden Schiffen ausgefahren, Hector drehte sich um und gab seinen Männern ein Zeichen. Er hatte seinen Handel und musste das nun durchstehen – selbst wenn es bedeutete, auf ein Geisterschiff zu gehen und sein Leben – und das Leben seiner Männer – in die Hände eines piratenhassenden Gespenstes zu legen. Nicht zum ersten Mal stieß er einen stillen Fluch gegen Jack Sparrow aus. Irgendwie brachte ihn dieser Gauner von Pirat immer wieder in Schwierigkeiten Doch dieses Mal würde er, Captain Hector Barbossa, Jack die Hölle heißmachen.

2

 

Henry Turner hatte durchaus schon in Tagträumen ein Abenteuer mit einem schönen Mädchen erlebt. Allerdings hatte er nie davon geträumt, dass dieses Abenteuer beinhalten würde, an den Mast eines armseligen Schiffes gefesselt zu sein, das einem schier irren Captain gehörte und von einer Piratencrew bemannt war. Doch genau dahin hatte ihn sein Abenteuer geführt. Nun fand er sich an den Mast der Dying Gull gefesselt wieder – zu fest daran gefesselt für seinen Geschmack. Auf der anderen Seite des Mastes kämpfte Carina mit ihren Fesseln, in sich hinein brummelnd.

„Carina“, sagte er und starrte nervös auf die See hinaus. Am Horizont sah er einen Sturm aufkommen und wusste, was das bedeutete.

„Das ist etwas, das du wissen solltest: Die Toten sind hinter uns her.“

Auf ihrer Seite des Mastes lupfte sie eine Augenbraue.

„Ist das so?“, fragte sie mit einem süffisanten Lächeln.

„Ja“, antwortete er ernsthaft. „Ich habe mit ihnen geredet.“

„Dann hast du auch schon mit Meerjungfrauen und Kraken gesprochen, oder?“, spottete sie.

Henry, dem nicht klar war, dass das Mädchen sich über ihn lustig machte, erwiderte völlig ernst:

„Kraken sprechen nicht. Das weiß doch jeder!“

Sie seufzte über den närrischen Jungen und seinen närrischen Glauben. Völlig klar: Er war nicht ganz richtig im Kopf. Und obendrein war er es gewesen, der sie in diesen Schlamassel hineingeritten hatte – und da war an erster Stelle die Tatsache, dass sie an den Mast gefesselt war.

„Ich hätte dich niemals retten sollen“, beschwerte sie sich.

Henry wurde klar, dass es nicht klug gewesen wäre, darauf eine passende Antwort zu geben. Er entschied sich, über die Aufgabe zu sprechen, versuchte, ihr den Kopf zuzuwenden.

„Gestern Nacht war ein Blutmond, wie du ihn beschrieben hast. Sag mir, was er dir offenbart hat.“

„Wieso sollte ich dir vertrauen?“, fragte sie.

„Du hast mir deine Backbordseite anvertraut, erinnere dich daran“, erwiderte er, von seiner Kühnheit selbst überrascht. Die schäkernden Worte hatten seine Lippen verlassen, bevor er sie stoppen konnte. Er hörte, dass sie geschockt die Luft einzog und protestierte. Er lächelte. Seit er sie getroffen hatte, hatte er oft das Gefühl gehabt, ihm fehlten die Worte. Doch jetzt war sie diejenige, die darum rang, das Richtige zu sagen.

„Sag’ mir, was du gefunden hast“, fuhr er fort. „Und ich verspreche, dir zu helfen.“

Er spürte, dass sich die Leinen über seiner Brust enger zogen, als sie sich auf ihrer Seite des Mastes zurechtrückte. Für einen langen Moment sagte sie nichts. Henry wünschte, ihr Gesicht sehen zu können, um eine Ahnung zu bekommen, was sie dachte. Hatte er es zu weit getrieben? Würde sie nichts mehr sagen … gar nicht mehr? Schließlich hörte er sie in sich hinein brummeln:

„Ich bin mein ganzes Leben schon allein“, sagte sie. „Ich brauche keine Hilfe.“

Er schüttelte den Kopf. Er glaubte ihr nicht. Jedenfalls nicht alles.

„Dann … warum bist du zu mir gekommen, Carina?“, fragte er drängend. „Warum sind wir mitten auf See aneinander gefesselt auf der Jagd nach demselben Schatz? Vielleicht erkennst du es nicht – aber unser Schicksal ist unbestreitbar verbunden.“

„Ich glaube nicht an Schicksal“, versetzte sie schroff.

„Dann glaube an mich“, sagte er. Der spöttische Ton war völlig aus seiner Stimme verschwunden. Er war völlig ernst, als hinzufügte:

„Wie ich an dich glaube.“

Wieder war eine lange Pause, wieder befürchtete Henry, zu weit gegangen zu sein. Doch schließlich seufzte sie.

„Der Mond enthüllte einen Hinweis, Henry“, sagte sie. „Um die Macht der See zu entfesseln, muss alles entzweit werden.“

„Was bedeutet das?“, fragte er verwirrt.

Zu seiner Überraschung hatte Carina nicht sofort eine Antwort parat. In der Tat musste sie – wenn auch ungern – zugeben, dass sie nicht wusste, was der verzwickte Hinweis bedeuten sollte.

„Dann müssen wir es eben herausfinden“, erwiderte er, nicht willens, seinen Traum, den Dreizack zu finden, aufzugeben.

„Da ist keine Karte in dieser Karte.“

Jacks Stimme erinnerte Henry augenblicklich daran, dass er und Carina nicht die Einzigen auf dieser Reise waren. Und sie waren auch nicht an einem besonders guten Ort, um irgendetwas zu finden. Er sah, dass der Captain zu ihnen herüber schwankte. In der Hand hielt Jack Galileos Tagebuch. Er hielt es Carina vor die Nase, die vergeblich versuchte, es zu erreichen.

„Gib mir die Karte, die kein Mann lesen kann.“

„Wenn du es lesen könntest“, sagte sie gereizt, „dann würde sie wohl nicht die Karte, die kein Mann lesen kann genannt werden.“

Jack zuckte mit den Schultern.

„Die meisten Männer auf diesem Schiff können nicht lesen. Das … macht alle Karten zu Karten, die kein Mann lesen kann.“

Henry stöhnte. Jack musste bescheuert sein, mit Carina diskutieren zu wollen. Er kannte sie nicht gut – oder besser: überhaupt nicht – aber er wusste, dass sie nicht aufgeben würde. Jedenfalls nicht ohne eine ausgedehnte Debatte. Er hatte Recht.

„Wenn keiner sie lesen kann“, stellte Carina klar, „dann habe weder ich noch die Karte einen Nutzen für dich.“

Jack hob eine Hand an seinen Kinnbart und zwirbelte das verfilzte Haar zwischen seinen Fingern. Dann streckte er die andere Hand aus und bewegte seine Finger, als ob er etwas zählte. Achselzuckend kam er zu seinem Entschluss.

„Nochmal von vorn. Zeig’. Mir. Die. Karte!“

„Das kann ich nicht.“

Ihre schnippische Antwort ließ Henry erschaudern.

„Sie existiert jetzt noch nicht“, fuhr sie fort.

Die Crew, die sich um den Mast versammelt hatte, begann zu murmeln.

„Sie ist eine Hexe!“, sagte Marty und sprach aus, was alle dachten.

„Nein“, sagte sie und schleuderte dem zwergwüchsigen Piraten einen vernichtenden Blick zu. „Ich bin Astronomin.“

Henry rollte mit den Augen. Es war kaum anzunehmen, dass diese Piraten eine Ahnung hatten, was ein Astronom (oder eine Astronomin) war. Deshalb war es keine Überraschung für ihn, als Scrum fragte, ob dies bedeute, dass sie Esel züchte.

Das Mädchen ließ ein frustriertes Stöhnen hören.

„Ein Astronom“, erklärte sie mit zusammengebissenen Zähnen, „betrachtet den Himmel.“

Sie hob den Kopf in Richtung des stürmischen Himmels.

„Auf einem Esel?“, fragte Scrum.

„Da ist kein Esel!“, wetterte Carina.

„Warum züchtest du sie dann?“, fragte ein anderer Pirat.

Henry unterdrückte ein Lachen. Er konnte regelrecht spüren, wie die Wut aus Carina strahlte. Obwohl er sie nicht sehen konnte, hätte er geschworen, dass ein finsterer Blick ihre schönen Züge verunstaltete. Er hatte noch nicht viel Zeit mit Piraten verbracht, aber er hatte genug Geschichten gehört, um auf ihre unlogische Denkweise – oder gänzlichen Mangel an Denkfähigkeit – vorbereitet zu sein. Auf der anderen Seite hatte Carina erwartet, die Karte mit ein paar intelligenten Männern finden zu können.

Jack, der die Fragen seiner Crew satt hatte und sich selbst für etwas schlauer als seine Gegenspieler hielt, trat auf Carina zu.

„Gestatte mir, die Sache zu vereinfachen“, sagte er. „Gib mir die Karte oder ich töte ihn.“

Er zog seine Pistole und zielte auf Henry.

„Na, los! Töte ihn“, erwiderte Carina nonchalant. „Du bluffst.“

Jack zog eine Augenbraue hoch.

„Und du wirst rot.“

Tatsächlich hatte Carinas Gesicht einen Anflug von rosa Schimmer angenommen.

Einige der Piraten lösten Henry vom Mast. Sie nahmen ihn an den Armen und brachten ihn an die Reling des Schiffs. Dann banden sie eine lange Leine an seine Hände.

„Das sieht nicht nach Bluff aus!“, rief Henry über seine Schulter.

Jack nickte.

„Wir nennen das kielholen“, erklärte er. „Der junge Henry wird über Bord geworfen und unter dem Schiff durchgezogen.“

Er wartete auf Carinas Antwort. Wenn er erwartet hatte, dass sie um irgendetwas betteln würde, sah er sich getäuscht. Sie zuckte nur mit den Achseln.

„Macht weiter“, sagte sie. „Worauf wartet ihr?“

Sie sah zu, wie die Männer Henry knebelten und einfach über Bord warfen. Sie unterdrückte einen Schrei, wandte ihren Blick wieder Jack zu und sah in seine Augen. Sie versuchte, nicht zusammenzuzucken, als der Captain über die Reling peilte und sie informierte, dass Henry kein besonders guter Schwimmer war. Sie brachte es sogar fertig, keinerlei Emotion zu zeigen, als Gibbs darauf hinwies, dass Henry wohl besser dran wäre, wenn er ertrinken würde, bevor die Seepocken ihn aufschlitzten. Doch als Jack laut darüber nachdachte, dass das Blut unweigerlich Haie anzöge, konnte sie nicht länger widerstehen.

„Wir verschwenden Zeit“, sagte sie und versuchte trotz der Panik, die sie zu übermannen drohte, ruhig zu klingen. „Holt ihn rauf!“

„In einem Stück?“, fragte Jack. „Weil … das könnte in wenigen Augenblicken problematisch sein.“

„Die Karte ist hier!“

Sie hob den Arm, soweit es überhaupt möglich war und wies in den Himmel.

„Auf deiner Fingerspitze?“, fragte Marty nach einer Pause.

Carina hielt nur mit Mühe einen Schrei der Frustration zurück.

„Sie ist am Himmel“, sagte sie und schluckte ein du Blödmann gerade noch herunter, obwohl sie es gar zu gern hinzugefügt hätte. „Das Tagebuch wird mich zu der Karte führen, die in den Sternen verborgen ist.“

Jack kehrte zu ihr zurück. Er beugte sich vor, bis sein Gesicht nur wenige Zoll von ihrem entfernt war, versuchte zu ergründen, ob sie nun ihrerseits bluffte.

„Eine Schatzkarte, die in den Sternen versteckt ist?“, wiederholte er, um sicher zu sein.

Sie nickte.

„Holt ihn rauf, und ich werde die Karte heute Nacht finden!“

„Sorry“, sagte Jack nach einer längeren Pause, während der Carina seinen rumgeschwängerten Atem auf ihrem Gesicht ertragen musste. „Wir können ihn nicht raufholen. Sieh es dir an.“

Als an die Seite des Schiffes sie eilte, bereitete sie sich auf das Schlimmste vor. Sie erwartete, Blut zu sehen. Oder Körperteile. Oder beides. Doch zu ihrer Überraschung sah sie einen sehr lebendigen, gar nicht blutenden Henry Turner in einem Stück, wenngleich immer noch gefesselt und geknebelt. Er sah aus dem Beiboot zu ihr hinauf, das die Dying Gull im Wasser schwimmend an Steuerbord mitschleppte. Sie wirbelte herum.

Jack beobachtete sie mit einem ironischen Ausdruck im Gesicht.

„Wie ich schon sagte … du bist rot geworden.“

Ihre Wimpern flackerten, ihre blauen Augen verengten sich.

„Du bist verwirrt“, sagte sie, versuchte, ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen und hoffte gegen alle Hoffnung, dass Jack ihre pulsierende Halsschlagader nicht bemerken würde.

„Ich bin nur aus einem Grund hier.“

„Ich weiß, wie das funktioniert“, sagte Jack. „Verstohlene Blicke, Schweißperlen auf der Stirn, Schweißspuren im Nacken …“

„Er bedeutet mir nichts“, erwiderte Carina, unwillkürlich ihren Nacken nach Schweißspuren absuchend. „Jetzt gib mir das Tagebuch zurück und geh mir aus dem Weg!“

Sie schnappte Jack das Tagebuch weg und stapfte davon.

Hinter ihr lächelte Jack.

„Der Geruch der Sehnsucht lügt nicht.“

Er machte eine Pause, hob den Arm und sog tief die Luft ein.

„Obwohl … das könnte ich sein …“

 

Kapitel 10

Auf der Suche

 

Über der Karibik war die Nacht hereingebrochen. Carina stand am Bug der Dying Gull, ihr langes, schwarzes Haar, umspielte sanft ihr Gesicht. Abwesend hob sie eine Hand, um sich eine Strähne aus den Augen zu streichen, war sich ihrer Schönheit im Mondlicht überhaupt nicht bewusst.

Sie hatte so lange gebraucht, diesen Augenblick wahr werden zu lassen. Jahre des Studiums. Tausende von Seiten, die sie im Kerzenlicht gelesen hatte. Endlosen Hohn und Spott von Dutzenden, die nicht verstehen konnten, dass ein Mädchen so etwas wie Astronomie und Kartografie lernen wollte. Und obwohl sie herausgefunden hatte, dass ein Blutmond weitere Informationen preisgeben könnte, wusste sie immer noch nicht genau, wie sie die Karte finden konnte.

Sie seufzte, drehte das abgewetzte Tagebuch hin und her. Es war ihr von dem Vater hinterlassen worden, den sie nie getroffen hatte; einem Vater, der ganz klar geplant hatte, dass sie die Sterne studieren sollte. Eine Welle Traurigkeit übermannte sie. Normalerweise konnte sie das im Zaum halten. Es hatte ihr nie gutgetan, melancholisch zu sein – weder in dem Waisenhaus, in dem sie aufgewachsen war, noch in der Handvoll von Orten, die sie seither Heim genannt hatte. Doch jedes Mal, wenn sie daran dachte, wie ihr Leben hätte sein können, kam es wieder hoch und überwältigte sie. Was wäre gewesen, wenn sie nicht als Baby im Kinderheim abgegeben worden wäre? Hätte sie dann am Bug eines Schiffes gestanden und hätte mit ihrem Vater den Himmel angeschaut?

Carina schüttelte den Kopf. Es blieb keine Zeit, sich in Eventualitäten zu verlieren. Sie hatte eine Arbeit zu tun. Sie spähte über die Schulter und sah Henry, der sie vom anderen Ende des Decks beobachtete. Sein gutaussehendes Gesicht verriet im Mondlicht nichts, und sie konnte nicht anders, als sich zu fragen, woran er dachte – ob er an seinen eigenen Vater dachte, von dem er glaubte, dass er von der See verflucht war.

Henry dachte im Moment allerdings nicht an seinen Vater. Ihn beschäftigten Blitze, die in einiger Entfernung zu sehen waren. Sie hatten ein zu klares Muster, um natürlich zu sein. Das konnte nur eines bedeuten …

Er eilte quer über das Deck und fand Jack Sparrow schlafend, der eine Flasche Rum locker in der Hand hielt. Henry stieß ihn an. Der Mann gab einen Schnarcher von sich, wachte aber nicht auf. Henry schubste ihn erneut und stärker. Jack wachte noch immer nicht auf. Henry sah sich um und entdeckte einen Eimer Schmutzwasser, das einer der Matrosen nach dem Deckschrubben stehen gelassen hatte. Henry hob ihn auf – und schüttete das Wasser über Jack.

Der Pirat erwachte. Mit einem Schrei sprang er auf die Füße.

„Was machst du da?“, fragte er und schüttelte sich, als ob das Wasser Gift wäre. „Ist noch nicht meine Woche, um zu baden!“

„Sieh auf die See“, sagte Henry und wies auf die Blitze. „Salazar ist da draußen!“

Jacks verschlafener Blick folgte Henrys Finger. Dann sah er zu dem jungen Mann zurück, lupfte eine Augenbraue.

„Und dafür weckst du mich auf?“

Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Flasche und legte sich wieder hin.

Henry unterdrückte ein Stöhnen. Er begriff allmählich, weshalb sein Vater ihm gesagt hatte, er solle sich von Jack Sparrow fernhalten. Nach allem, was er wusste, war dieser Pirat nichts als ein Trunkenbold mit einem Hang zum Rum und der frappierenden Fähigkeit, nichts zu tun und daraus noch einen Nutzen zu ziehen.

„Die Toten jagen uns und du tust nichts?“, rief er schließlich, unfähig seine Enttäuschung noch länger zu verbergen.

„Nichts?“, wiederholte Jack. „Das nennst du nichts?“

„Du bist betrunken und schläfst“, stellte Henry klar.

Jack nickte stolz.

„Genau. Ich tue zwei Dinge auf einmal.“

Henry hatte genug. Er musste zu Jack durchdringen, doch Worte schienen nichts zu bewirken. Er schnappte sich ein Entermesser, das an Deck liegen geblieben war, hob es und versuchte, auf Jacks Brust zu zielen. Es ließ seine Hand zittern; der Stahl war schwerer, als er erwartet hatte.

„Ob es dir gefällt oder nicht“, sagte er, seine Stimme so drohend wie es nur ging. „Du wirst mir helfen, Jack. Ich werde den Fluch meines Vaters brechen!“

Henry hatte eine markige Antwort erwartet und war entsprechend überrascht, als Jack stattdessen zulangte und Henrys Finger am Entermesser ausrichtete.

„Lockere deinen Griff“, wies er ihn an und drehte Henrys Hand leicht. „Näher ans Heft, vorderes Bein gebeugt.“

Er wartete, bis Henry sein rechtes Bein leicht beugte.

„Viel besser. Und jetzt spieß’ mich auf!“

„Was?“erkundigte sich Henry verwirrt. Jack nickte erneut.

„Ein schneller Stich sollte mich töten“, sagte er. „Oder – wenn’s dir lieber ist – kann ich mich auch in die Klinge stürzen.“

Henry runzelte die Stirn.

„Vielleicht bin ich kein Pirat“, sagte er, hob die Klinge höher und sah Jack direkt in die Augen. „doch du irrst dich, wenn du meinst, ich würde es nicht tun.“

Statt einer Antwort hörte Henry, dass ein Abzugshahn gespannt wurde. Er senkte seinen Blick und sah, dass Jack eine Pistole in der Hand hielt. Sie zielte auf Henrys Kopf.

„Und du irrst dich, wenn du meinst, ich hätte es dazu kommen lassen. Das nächste Mal, wenn du zum Schwert greifst, sei sicher, dass du als letzter stirbst.“

Henry öffnete den Mund, um Jack auf den Mangel an Logik in seinem Vortrag hinzuweisen, doch in diesem Augenblick ging Carina an ihnen vorbei. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, den beiden Männern einen Blick zuzuwerfen. Stattdessen blieb sie auf das Tagebuch in ihren Händen fokussiert. Henrys Augen folgten ihr für einen Moment, bevor sie zu Jack zurückschossen. Zu seinem Verdruss beobachtete der Pirat ihn mit einem amüsierten Ausdruck im Gesicht, als er seinerseits Carina beobachtet hatte.

„Ich empfehle dir, sie mit Komplimenten zu umwerben“, sagte Jack. „Du kannst mit dem anfangen, was ich immer sage: Könntest du mir das waschen?“

„Ich bin nicht in sie verliebt!“, beharrte Henry.

Jack schlug die Hände zusammen, dass die Ringe klimperten.

„Ich wusste es! Sie ist alles, woran du denkst!“

Er beugte sich näher zu Henry, Entermesser und Pistole waren vergessen, als er im Verschwörerton flüsterte:

„Ein wenig Diskretion ist angebracht, wenn du einen Rotschopf umwirbst – verführe nie ihre Schwester. Aber wenn du dem Charme der Schwester nicht widerstehen kannst – bring den Bruder um.“

Henry zog eine Augenbraue hoch. Er wollte gar nicht wissen, woher Jack so viel über etwas derart Skandalöses wusste. Der Pirat fuhr, offensichtlich amüsiert, fort:

„Und wenn sie dir versucht, dir ein Stück gesalzenes Fleisch zu geben, nimm an, dass es vergiftet ist. Außer, wenn sie eine Zwillingsschwester hat – in dem Fall solltest du immer noch den Bruder töten. Klar soweit?“

Henry schwirrte der Kopf.

„Nein!“, rief er. „Nichts ist klar!“

„Nun, diese Weisheit kostet dich fünf Silberstücke“, sagte Jack.

„Ich bezahle dich nicht dafür“, entgegnete Henry. Jack lächelte und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Sag’ das nie zu einer Frau“, empfahl er. „Sie könnte dann ziemlich gereizt reagieren.“

Dann drehte er leise vor sich hin pfeifend um, schwankte zu seinem Platz an Deck zurück, ließ sich fallen, nahm einen tiefen Zug Rum und war augenblicklich wieder eingeschlafen.

Henry sah zu ihm hinunter und stöhnte. Wenn Jack Sparrow tatsächlich der Schlüssel zu Rettung seines Vaters war, dann hatte er eine Menge Probleme.

3

 

Der Mond war höher in den Nachthimmel gestiegen. Henry stand noch immer an Deck der Dying Gull. Er hatte ein Spektiv vor ein Auge gehoben und suchte den Horizont ab. Als er Schritte hörte, senkte er das Fernglas. Carina war herübergekommen und stand neben ihm.

„Was machst du?“, fragte sie leise.

Er zögerte. Es hatte etwas sehr Intimes, unter Sternen mit einer schönen Frau zu sprechen. Sein Herzschlag beschleunigte sich stets ein wenig, wenn er Carinas warmem, fragendem Blick begegnete.

„Ich suche nach ihm“, sagte er schließlich, „auch wenn ich weiß, dass er nicht da ist.“

Sowie seine Worte seine Lippen verlassen hatten, wünschte er, er könne sie zurückholen. Er klang wie ein kleiner Junge, nicht wie der Mann, als der er hoffte von ihr angesehen zu werden.

Zu seiner Überraschung lachte sie ihn nicht aus.

„Nur, weil du etwas nicht sehen kannst, bedeutet es nicht, dass es nicht da ist.“

„Wie die Karte?“, mutmaßte er. Sie nickte.

„Ich muss sie finden“, sagte sie mit bestimmt klingender Stimme.

„Niemand hat sie je gefunden“, bemerkte Henry. „Vielleicht existiert sie gar nicht.“

Carina zuckte herum, als ob er sie geschlagen hätte und nicht nur etwas ausgesprochen, von dem er annahm, dass viele andere Leute ihr schon über die Jahre gesagt hatten. Sie hielt das Tagebuch hoch und wedelte damit vor seiner Nase.

„Dies ist die einzige Wahrheit, die ich kenne. Ich trage es stets bei mir, seit ich im Waisenhaus war, habe den Himmel studiert, als es verboten war. Ich habe geschworen, den Himmel so zu kennen, wie mein Vater es wollte!“

Ihre Stimme brach vor Emotion, und sie senkte die Augen.

„Meine Mutter starb bei meiner Geburt. Dieses Tagebuch ist alles, was mir geblieben ist.“

Ihre Worte trafen ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Sie waren sich näher, als sie es sich je vorgestellt hatten: beide dazu gezwungen, ohne Vater aufzuwachsen; beide auf einer Reise, um etwas zu korrigieren, was falsch war; beide entschlossen, niemals aufzuhören, nach dem zu suchen, das ihnen das Gefühl gab, vollständig zu sein.

„Carina“, sagte er mit sanfter Stimme.

Sie hob die Augen tauchte in seinen Blick.

„Du siehst immer in den Himmel. Vielleicht ist die Antwort hier.“

Für einen langen Augenblick dachte Carina, Henry habe gemeint, er sei die Antwort. Sie spürte ein seltsames Hämmern in der Brust, ihre Wangen röteten sich unwillkürlich. Sie wollte gerade sagen, dass sie vielleicht dasselbe fühlte, als sein Hinweis auf das Tagebuch sie vor der Peinlichkeit bewahrte. Er hatte nicht von sich selbst gesprochen. Er hatte von dem gesprochen, was auf den Seiten von Galileos Tagebuch geschrieben war. Sie gewann die Contenance zurück und schlug das Buch auf.

„Galileo schrieb, dass ‚alle Wahrheiten verstanden werden, wenn die Sterne zu einer Linie werden‘“, las sie vor.

„Wenn sich die Sterne nicht bewegen, wie können sie dann zu einer Linie werden?“, fragte er verwirrt.

„Er könnte sich auf die Planeten bezogen haben“, mutmaßte sie. Sie zeigte auf ein paar Zeilen auf der Seite.

„Er schrieb das Wort derectus. Also müssen die Sterne zu einer Linie werden“, übersetzte sie. Er beugte sich vor, um die Seite besser sehen zu können. Tatsächlich, dort stand – mit verblasster Tinte geschrieben – das Wort derectus. Als er auf das Wort starrte, fiel ihm etwas auf. Das war eine Sprache, die über die Jahre gelegentlich bei seinen Studien über Piratenmythologien aufgetaucht war.

„Carina“, sagt er zunehmend aufgeregt, „Galileo war Italiener. Aber das Wort derectus ist nicht italienisch. Es ist Latein.“

„Latein?“

Er nickte.

„Und derectus bedeutet nicht zu einer Linie werden. Es bedeutet in einer geraden Linie.“

Henrys Worte sanken langsam ein. Carinas Augen weiteten sich. Sie sah wieder auf das Buch hinunter, dann in den Himmel.

„Alle Wahrheiten werden verstanden, wenn die Sterne in einer geraden Linie stehen“, flüsterte sie. Ihr Finger rieb sanft an dem Rubin auf dem Deckel des Tagebuchs. Dann schnappte sie nach Luft. Die Antwort war die ganze Zeit direkt vor ihrer Nase gewesen.

„Da ist eine gerade Linie, die beim Orion beginnt – dem Sohn Poseidons.“

„Wie verfolgst du sie?“, fragte Henry, sein aufgeregter Unterton war ein Echo von Carinas.

„Die Line beginnt mit dem Rubin. Eine gerade Linie vom Rubin …“

Ihre Stimme verlor sich, als sie den Edelstein vom Deckel entfernte. Sie hielt ihn hoch, peilte hindurch wie durch die Linse eines Fernglases. Henry trat dicht neben sie, sodass er ebenfalls durch den Stein sehen konnte.

„Siehst du das?“, fragte Henry, als er eine rote Linie erspähte, die über den Himmel brannte. Carina nickte.

„Eine gerade Linie, die im Orion beginnt – der Pfeil des Jägers, der direkt durch die Cassiopeia geht – weiter über den Himmel bis zum Ende des südlichen Kreuzes! Dort endet sie!“

„Also ist die Karte innerhalb des Kreuzes?“, fragte Henry, der versuchte, Carinas Gedanken zu folgen und scheiterte.

„Nein“, sagte sie und schüttelte den Kopf. „Weil es kein Kreuz ist! Es ist ein X! Das Kreuz des Südens ist ein X, das seit Anbeginn der Zeit im Himmel verborgen ist! Das ist die Karte, die kein Mann lesen kann!“

Aufgeregt ergriff sie Henrys Hand.

„Diese Karte wird uns zum Dreizack führen!“, sagte Henry, der aufgeregt auf seinen Zehen wippte. „Wir müssen nur dem X folgen!“

Der Jubel des Paares wurde grob unterbrochen, als ein Dutzend Abzugshähne gespannt wurden. Henry und Carina drehten sich langsam um.

Hinter ihnen standen Jack und seine bunt zusammengewürfelte Crew, die das meiste von ihrer Entdeckung mitgehört hatten. Der Piratencaptain lächelte. Wieder einmal lief ein Plan wie geschmiert. Er hatte nichts getan und nun alles bekommen, was er benötigte. Jetzt wusste er, wohin es ging. Das X markierte immer noch den Punkt.

 

Kapitel 11

Der Piratenjäger

Für Barbossa war das Außergewöhnliche nichts Außergewöhnliches. Immerhin war er einmal schon dazu verflucht gewesen, im Mondschein als Skelett zu erscheinen. Doch selbst diese unglückselige Periode hatte ihn nicht darauf vorbereiten können, in Gesellschaft einer Geistercrew an Bord der Silent Mary sein.

Seit sie auf die Silent Mary gekommen waren, waren Barbossa und seine Leute Zeugen der Sinnlosigkeit des Geisterdaseins gewesen. Sie waren nicht nur dazu verflucht, als Tote weiterzuleben, mit den unterschiedlichsten Arten von niemals heilenden Wunden an ein Schiff gebunden zu sein; sie waren obendrein dazu verflucht, die Crew Salazars zu sein. Und der war ein rabiater Captain – im Tode nicht weniger als er es im Leben gewesen war. Die Stimmung auf dem Schiff war stets so düster wie seine verrotteten Planken.

Vom Steuerrad des Schiffes aus beobachtete Hector die Gespenster beim Schrubben des blutgetränkten Decks. Ganz gleich, wie heftig sie schrubbten, das Blut blieb. Und immer noch rief Salazar seine Befehle:

„Schrubbt dieses Deck! Die Silent Mary wird der Stolz der spanischen Flotte sein!“

Er drehte sich um und ging zu Barbossa.

„Deine Zeit ist um“, sagte er.

Hector tastete in seiner Tasche vorsichtig nach Jacks Kompass. Er hatte ihn versteckt gehalten, diesen Fahrschein zum Verlassen des Schiffs. Er konnte es sich nicht leisten, ihn zu verlieren oder – schlimmer noch – dass er ihm weggenommen wurde.  Dann räusperte er sich.

„Fern sei es von mir, Euch zu widersprechen“, sagte er diplomatisch. „Doch unsere Abmachung sprach vom Sonnenaufgang. Dies ist das erste Licht – weit entfernt von einer strahlenden Sonne. Und Ihr seid doch ein Mann von Ehre …“

Seine Worte blieben ihm im Hals stecken, als Salazar den Degen an seinen Hals hob. Er schluckte.

„Mit meinem eigenen Tod kann ich leben, Capitán“, sagte er schließlich. „Doch es würde mich verfolgen, den Grund meines Ablebens nicht zu kennen. Sicherlich möchtet Ihr mir Einblick gewähren, während wir auf das Licht warten … zu wissen, was Jack Sparrow getan hat, um es sich mit den Toten zu verderben.“

Der Degen in Salazars Hand senkte sich nicht.

„Die Geschichte des toten Mannes ist nicht zu erzählen“, sagte er mit einem höhnischen Lächeln.

„Aye“, sagte Barbossa und nickte zustimmend. „Es sei denn man spricht mit dem Toten – was ich gerade tue.“

Er wartete und hoffte, dass sein Argument bei dem Geistercaptain verfing. Der Degen sank um einen Bruchteil. Barbossa nahm dies als gutes Zeichen und fuhr fort:

„Nun, ich habe Geschichten gehört von einem mächtigen spanischen Captain – El Matador del Mar. Einem Mann, der die Meere ohnegleichen geißelte – er jagte und tötete tausende von Männern …“

„Nein, nein, nein, nein“, unterbrach ihn Salazar korrigierend, „nicht Männer – Piraten!“

Dann, ganz langsam, senkte er seinen Degen. Er wandte sich von Barbossa ab und sah über seine verfallene Crew. Es war eine Ewigkeit her, dass er als El Matador del Mar bekannt gewesen war. Eine Ewigkeit war es her, dass er das Einzige getan hatte, das ihm je Freude bereitet hatte: Piraten vernichtet. Und der einzige Grund, weshalb er damit aufgehört hatte, der einzige Grund, weshalb er hier und in diesem Zustand war, war Jack Sparrow.

Er sah immer noch auf seine Crew, als er seine Geschichte zu erzählen begann. Seine Stimme war leise, und wenn Barbossa geglaubt hätte, dass Geister so etwas wie Seelen hätten, er hätte geschworen, dass der Mann sehnsüchtig geklungen hatte. Die Silent Mary, das machte Salazar deutlich, hatte nicht immer so wie jetzt ausgesehen. Zu einem anderen Zeitpunkt war sie der Stolz der Armada Española gewesen, und er war als der Capitán dieses Schiffes ein Held gewesen. Die Silent Mary hatte mehr Waffen als fünf andere zusammen. Ihre zahlreichen Decks waren stets ebenso tiptop sauber gewesen wie die Uniformen der Soldaten, die sie bemannten. Armando Salazar hatte über all dies mit geübter Leichtigkeit geherrscht. Er hatte durch gutes Beispiel geführt: sein Gesicht stets rasiert, seine Uniform täglich gebügelt, seine Schuhe geputzt, sein Degen glänzend.

Über die Jahre war sein guter Ruf als Piratenjäger gewachsen, als er die Meere nach dem Jolly Roger abgesucht hatte. Wann immer er einen erspähte, wurden auf der Silent Mary alle Segel gesetzt, und sie sauste über die Wellen, als würde sie von einer magischen Kraft angetrieben. Die Piratenschiffe hatten ebenso wenig eine Chance wie ihre Crews.

„Ich habe Dutzende Schiffe zerstört – bis nur noch eine Handvoll übrig war“, knurrte Salazar. „Die letzten vereinten sich und versuchten, mich zu besiegen. Doch sie erfuhren bald, dass es hoffnungslos war. Niemand konnte meine Silent Mary aufhalten.“

***

 

Die Piratenschiffe sanken eines nach dem anderen. Überlebende waren auf dem Wasser verstreut, beleuchtet vom Feuer ihrer brennenden Schiffe. Sie bettelten um Gnade. Capitán Salazars Erster Offizier, Teniente Lesaro, fragte, ob sie ihnen diesen Gefallen tun sollten.

Doch Salazar wollte davon nichts hören.

„Ihr wisst, mein Vater war Admiral – und ein Verräter. Er patrouillierte in eben diesen Gewässern, nahm von Piraten Bestechungsgelder an – Gold und Silber – und ließ sie ungestraft davon segeln!“

Seine Hände zitterten vor Wut.

„Er wurde verhaftet, als ich ein Junge war. Bald darauf kamen sie in unser Haus und holten meine Mutter ab, verschleppten sie in ein Arbeitshaus. Das Weib des Verräters sollte für seine Sünden bezahlen.“

Salazars Vater war aus dem Gefängnis entlassen worden, ein Jahr nachdem seine Mutter dort gestorben war. Und als er heimkam, begrüßte Armando ihn mit einem Messer.

„Ich habe ihn als den Feigling ausgenommen, der er war. Und an dem Tag schwor ich mir, sie alle zu töten.“

Es gab keine Gnade für die hilflos im Wasser treibenden Piraten. Auf Salazars Nicken eröffnete die Crew der Silent Mary das Feuer auf die Schiffbrüchigen, während das letzte der Piratenschiffe noch vor ihren Augen brannte. Der Capitán dachte, die Schlacht wäre vorbei, dachte, er hätte die Wasser ein für allemal gesäubert.

Doch dann hörte er eine unbekannte, trotzige Stimme, die durch seinen Sieg schnitt.

„Schöner Tag zum Segeln, Captain! Würdet Ihr mir zustimmen?“

Ein letztes Schiff glitt durch den Rauch und versuchte, sich Salazars Zugriff zu entziehen. Im Krähennest war ein junger Pirat, der Capitán Salazar furchtlos anrief.

„So wie ich das sehe“, schrie der junge Pirat, „sind nur noch wir beide übrig. Ergebt Euch, Capitán, und ich lasse Euch am Leben.

Der Captain des Piraten war in der Schlacht getötet worden, hatte ihm einen Kompass hinterlassen und eine führungslose Crew. Die Chancen standen schlecht für ihn. Dennoch machte der Pirat sich über Salazar lustig und setzte den Jolly Roger, der trotzig im Wind wehte.

„Er stand da und sah wie ein Vogel aus. Er war wie … ein kleiner … Sperling“, erzählte Salazar Barbossa. „Und von dem Tag an verdiente er sich einen Namen, der mich für den Rest meiner Tage verfolgen sollte – Jack Sparrow!“

Erzürnt und entschlossen, einen derart unverschämten Piraten nicht mit dem Leben davonkommen zu lassen, befahl Salazar seinen Männern, dem Piratenschiff durch den Nebel zu folgen. Jack Sparrow lotste die Silent Mary zum Tor des Teufelsdreiecks, instruierte seine Crew, ihren Kurs erst im letzten Moment zu ändern. Als das Piratenschiff eine 180-Grad-Wende machte, segelte die Silent Mary unter den aufragenden Bogen, verschaukelt von Sparrows Schiff. Capitán Salazar bekam einen Schlag auf den Kopf und fiel in die dunklen Wasser. Seine Männer eilten ihm zu Hilfe, hatten keine Ahnung, was sie erwartete.

Der junge Jack Sparrow und seine Crew segelten fort in den Sonnenuntergang, und Jacks Kompass zeigte ihm, was er am meisten begehrte – ein Piratenleben. Und Capitán Salazar und seine Männer wurden zu Bruchstücken ihrer früheren Existenz, waren an das Teufelsdreieck gebunden.

***

 

„Dieser … Sperling … nahm mir alles“, vollendete Salazar seinen Bericht. „Er ließ mich im Dreck des Todes verrotten – und hier endet die Geschichte!“

Erneut hob er seinen Degen an Barbossas Kehle.

Doch Hector sah nicht besorgt aus. Stattdessen wies er auf den Horizont, wo eben gerade die Sonne aufging.

„Ich habe ihn gefunden – wie versprochen!“, sagte er.

Salazar folgte dem Blick des anderen Captains, verengte ungläubig die Augen. Barbossa hatte tatsächlich Wort gehalten. Denn dort am Horizont war die Dying Gull. Langsam verzog sich sein einstmals gutaussehendes Gesicht zu einem höhnischen Lächeln. Er war dabei, den Vogel zu fangen. Und wenn er das tat, würde er ihm die Flügel ein für allemal stutzen.

Kapitel 12

Dämliche Piraten

1 „Also, sie sagt, sie hat die Karte, aber nur sie kann ihr folgen?“

Gibbs’ Frage hing unbeantwortet in der Luft. Es gab zwei Dinge, die Jack Sparrow mehr hasste als irgendetwas anderes – leere Rumflaschen und etwas nicht zu wissen. Wenn so ein unglücklicher Moment eintrat, in dem er keine passende Antwort hatte, erfand er schleunigst eine. Doch in diesem Fall hatte er damit ein Problem. Carinas Geschwafel und Gemurmel über ein X am Himmel waren verwirrend und – offen gesagt – langweilten sie ihn.

Die Crew allerdings war keineswegs gelangweilt. Statt die Arbeit zu tun, die sie hätten tun sollen, starrten sie in den Himmel.

„Sieht irgendwer von euch dieses X?“, fragte Pike, seinen Hals schmerzhaft weit nach hinten gebogen. Neben ihm schüttelte Scrum den Kopf. Er hielt die Hand über die Augen, um die Sonne abzuschirmen, die strahlend auf das Deck der Dying Gull schien.

„Ich sehe einen Vogel. Und eine Wolke. Und meine eigene Hand“, sagte er.

„Jack“, sagte Gibbs und drehte sich zu seinem Captain um. Wie der Rest der Männer wurde er langsam unruhig. Seit Stunden segelten sie unter der heißen Sonne und schienen dem, was immer sie suchten, nicht näher gekommen zu sein.

„Wie sollen wir einem X zu einem Punkt folgen, wo kein Land existiert? Einem X, das in der Sonne verschwunden ist?“

Jacks Wimpern flatterten, und seine Augen verengten sich. Er hatte genug gewartet und hatte genug davon, nichts zu wissen. Er schwebte über das Deck zu Carina, die auf ein metallenes Objekt sah, und schnappte sie am Arm. Sie keuchte erschrocken, als er sein Gesicht nahe an ihres brachte.

„Zum letzten Mal:“, sagte er. „Wo finden wir das X?“

„Dieser Chronometer“, sagte sie und hielt das kleine metallene Objekt hoch, „zeigt die exakte Zeit von London an. Ich messe die Höhe vom Kreuz des Südens, um den Längengrad zu ermitteln. Nur dann werden wir den Ort auf See finden!“

Jack legte den Kopf schief. Er hatte gesehen, dass sich Carinas Lippen bewegt hatten, doch er war sicher, dass sie Kauderwelsch gesprochen hatte.

Marty schien ihm zuzustimmen.

„Hexe!“, schrie er, keinesfalls gewillt, seinen Glauben daran aufzugeben, dass sie sich der Magie bediente.

„Also … willst du deinem X mit der Uhr da folgen?“, fragte Gibbs und übersetzte damit ihre Worte in etwas, das Jack schließlich verstand.

Sie nickte.

„Meine Berechnungen sind präzise und korrekt.“

Sie machte eine Pause und sah auf den Chronometer.

„Ich bin nicht nur Astronomin, sondern auch Horologin.“

Eine lange Pause entstand, in der ihre Worte über das Deck hallten. Die Männer tauschten Blicke. Es war nicht das erste Mal, dass sie so einer begegneten. Die Häfen waren voll davon.

„Kein Grund zum Schämen, Liebes“, sagte Jack und klopfte ihr sanft auf die Schulter. „Jeder muss von irgendwas leben.“

Carina verzog das Gesicht. Wieso fühlte er sich unwohl wegen ihrer Studien in Sachen Zeit? Er musste sie wohl nicht richtig verstanden haben.

„Nein, ich bin Horologin!“

„Wie meine Mutter auch!“, versetzte Scrum. „Nur hat sie nicht so viel Wind darum gemacht wie du.“

„Deine Mutter war dem Rationalen zugeneigt?“, fragte Carina überrascht.

„Eher dem … Horizontalen“, bemerkte Jack.

Plötzlich wurde Carina rot, als ihr klar wurde, was die Crew unter Horologin verstand.

„Horologie ist die Wissenschaft der Zeit!“, rief sie.

„Also kann niemand außer dir das X finden?“, fragte Jack.

„Auf einem Esel?“, fügte Scrum hilfreich hinzu.

Plötzlich stieß Henry einen Schrei aus:

Salazar!“

Jack sprang auf.

Schiff achteraus!“

Gibbs’ Schrei ließ alle nach hinten sehen. Und während Carina froh war, dass diese lächerliche Unterhaltung vorüber war, war die Erleichterung darüber gleichwohl kurzlebig. Denn was da schneller näher kam, als natürlich war, war die Silent Mary.

„Jack“, sagte Henry, als er das Schiff genauer sah. „Die Toten werden nicht ruhen, bis sie ihre Rache haben.“

Alle Augen richteten sich auf Jack. Die Toten waren niemals Teil des Handels gewesen. Als die Silent Mary aufholte, machten sie ihrem Unmut Luft. Es war eine Sache, einen Bankraub zu unternehmen oder auf etwas zu segeln, für das der Begriff Schiff eine übertriebene Bezeichnung war. Es war etwas völlig anderes, wenn sie allesamt vom berüchtigtsten Piratenjäger verfolgt wurden, der je gelebt hatte – oder besser: je gelebt hatte, gestorben und zurückgekommen war.

„Wir hätten niemals einem glücklosen Piraten und einer Hexe auf See folgen sollen!“, schrie Pike und drückte damit aus, was der Rest der Crew dachte. Er zog sein Entermesser und die übrige Crew tat es ihm gleich.

Jack drehte sich um und fand sich von seiner eigenen Crew umzingelt. Neben ihm traten Henry und Carina nervös von einem Fuß auf den anderen angesichts der Säbel und Pistolen, die sie bedrohten.

„Tötet sie alle!“, schrie einer der Piraten.

Jack hob die Hände.

„Wenn ihr mich umbringt, dann haben … die Toten keinen mehr, an dem sie sich rächen könnten“, sagte er.

„Was sie noch mehr erzürnen wird“, ergänzte Henry.

Die Piraten sahen verwirrt drein. Einige senkten ihre Waffen etwas, völlig unsicher, was sie nun tun sollten.

Glücklicherweise hatte Jack – wie so oft – eine Antwort parat:

„Dürfte ich als Captain“, sagte er, „eine … Meuterei vorschlagen?“

Als die übrigen Crewmitglieder Blicke tauschten, rollte Carina mit den Augen. Sie sehnte sich mächtig nach dem Tag, an dem sie nicht mehr von einer Crew von Idioten mit einem noch idiotischeren Captain umgeben war. Doch bis dieser Tag anbrach, würde sie – idiotisch oder nicht – hoffen, dass Jack Sparrow rechtzeitig einen Plan aus seinen dreckigen Ärmeln ziehen würde.

2

 

„Meuterei?“, hakte Carina nach. „Du musstest eine Meuterei vorschlagen?“

Ihre Hoffnung, dass Jack einen Plan hatte, hatte sich bestätigt. Dummerweise war sein Plan ihrer Meinung nach grauenhaft. Ein grauenhafter Plan, der damit begonnen hatte, dass eine Meuterei vorgeschlagen worden war, besagte Meuterei ausgeführt worden war und der damit geendet hatte, dass sie, Jack und Henry im Beiboot ausgesetzt worden waren. Nun saß sie am Heck des Bootes und sah Henry und Jack verzweifelt in Richtung einer kleinen Insel pullen. Sie schienen es verdammt eilig zu haben, anscheinend nirgendwo hinzufahren.

„Carina“, sagte Henry, als er ihren Seufzer hörte. „Sie kommen!“

Sie kräuselte die Lippen. Sie hatte besser von ihm gedacht. Oder jedenfalls hatte sie angenommen, dass er etwas heller war als die Piraten. Doch seit sie von der Dying Gull geworfen worden waren, hatte er ständig von Toten gemurmelt, die hinter ihnen her waren.

„Geister“, sagte sie, ohne die Herablassung in ihrer Stimme zurückzuhalten. „Ihr habt beide Angst vor Geistern.“

„Ja“, sagte Jack. „Und vor Eidechsen. Und Quäkern.“

„Nun, ich habe mich entschieden, nicht an sie zu glauben“, versetzte sie.

Henry hielt gerade lange genug im Pullen inne, um auf die See zu weisen.

„Siehst du nicht, was hinter uns ist?“, fragte er.

Sie drehte sich langsam um. Nicht mehr als eine Meile hinter ihnen war die Silent Mary klar zu sehen. Am Himmel direkt über dem Schiff bildeten sich dunkle Sturmwolken, und die See darunter war unnatürlich aufgewühlt. Sie drehte sich schnell wieder zu den beiden Männern um und kreuzte die Arme vor der Brust

„Ich sehe ein sehr altes Schiff – mehr nicht“, sagte sie und hoffte, dass ihre Stimme nicht zittrig klang.

Als ob sie die Verletzlichkeit ihres Opfers gespürt hatte, nahm die Silent Mary Geschwindigkeit auf. Gigantische Segel erschienen aus dem Nichts, gaben dem Schiff viel mehr Kraft. Carina bemerkte, dass Jacks Augen sich weiteten und drehte sich erneut um. Die Silent Mary schoss durch die Wellen und würde ihr kleines Beiboot in Nullkommanichts eingeholt haben. Und Carina hatte nicht die Absicht, dazubleiben und zu sehen, was dann geschehen würde.

Sie stand auf und begann, ihr Kleid aufzuknöpfen.

„Was machst du?“, fragte Henry geschockt. Seine Hände zitterten, und er wandte die Augen ab.

„Mich zum Schwimmen vorbereiten“, erwiderte Carina, als ob das offensichtlich wäre. „Wer immer diese Männer sind, sie sind hinter Jack her. Und Jack ist in diesem Boot. Deshalb ziehe ich es vor, zu schwimmen.“

Jack sah beeindruckt aus – und verdrießlich.

„Wie kannst du es wagen, genau das zu tun, was ich täte, wenn ich du wäre!“, grollte er.

Sie fuhr fort, sich auszuziehen.

„Ich kann mit dem Kleid nicht besonders gut schwimmen“, sagte sie, als Henry sie aufforderte, damit aufzuhören. Sie zog ihr Kleid aus, Jacks lüsterne Blicke und rüde Kommentare ignorierend. Als sie fertig war, stand sie am Bug des Bootes, von den Schultern bis zu den Knöcheln durch ihr verhüllendes, unattraktives Unterzeug bekleidet.

„Das ist bei weitem die beste Meuterei, die ich je erlebt habe“, sagte Jack, ohne sich daran zu stören, dass Carinas Entkleidung nicht wirklich Entkleidung gewesen war.

Sie warf ihm einen scharfen Blick zu und tauchte ins Wasser. Sie begann zu schwimmen, während Henry wie erstarrt an seinem Platz blieb, gedemütigt. Er hatte ihre Knöchel gesehen – beide! Das war ungebührlich, unanständig und … nun ja, aufregend. Er schüttelte den Kopf. Jetzt war nicht der passende Augenblick, um abgelenkt zu sein. Und sie hatte Recht. Capitán Salazar war nicht hinter ihnen beiden her; er war hinter Jack her. So weit wie möglich von dem Piraten entfernt zu sein, war wahrscheinlich die beste Idee. Er stand auf und zog seine Jacke aus.

Als er sah, dass Henry ebenfalls tauchen wollte, legte Jack eine Hand aufs Herz.

„Willst du mich verlassen, nach allem, was ich für dich getan habe?“, fragte er, ehrlich beleidigt. „Einem Mädchen in Unterhosen folgen? Ihr Männer seid doch alle gleich.“

Henry drehte sich um und hob eine Augenbraue.

„Eine kleine Änderung“, spöttelte Henry. Er drehte sich wieder um, wollte ins Wasser springen. Doch kaum hatte er seine Knie gebeugt, als ein Hai aus dem Wasser schoss und ihn nur im wenige Zoll verfehlte.

Der Hai war allerdings kein gewöhnlicher Hai. Und er war nicht allein. Eine ganze Gruppe war erschienen. Sie bewegten sich schneller als jeder reale Hai, und als Henry hinuntersah, bemerkte er, dass sie das Boot umkreisten, sah, dass ihr Fleisch teilweise völlig weggerottet war. Einige hatten keine Augen, andere hatten immer noch Haken in ihren Mäulern. Es waren Geisterhaie, ebenso dem Fluch des Teufelsdreiecks verfallen wie Salazar und seine Männer. Und ihr einziges Ziel war, Jack Sparrow zu töten – und alles und jeden, das oder der im Weg war.

Henry zog sich vom Ende des Bootes zurück, sah entsetzt, dass die Haie das Boot aufzufressen begannen, indem sie riesige Stücke herausbissen, um an die beiden Menschen zu gelangen, die darin gefangen waren. Henry schnappte sich einen Riemen und versuchte, sie damit zu vertreiben. Doch es war zwecklos. Neben ihm zog Jack seine Pistole und feuerte auf das Wasser. Doch das wirkte ebenso wenig. Die Kugeln verschwanden in dem dunklen, wirbelnden Abgrund. Und die ganze Zeit fraßen die Haie weiter am Boot.

„Wir müssen schwimmen!“, schrie Henry. Er hob seinen Fuß, den er damit knapp davor bewahrte, von einem der Haie abgebissen zu werden. „Ich lenke sie ab!“

Er langte nach Carinas abgelegtem Kleid auf dem Boden des Boots, steckte es auf einen Riemen und schmiss es damit  über Bord. Augenblicklich wandten sich die Haie dem Kleid zu.

Drei Dinge geschahen zur selben Zeit: Henry tauchte ins Wasser und schwamm in Richtung Küste. Jack versuchte ins Wasser zu tauchen, doch sein Fuß traf ein Loch im Boden, womit er gefangen war. Und schließlich erschienen hinter ihnen Salazar und seine Männer, die auf dem Wasser liefen, Mordlust in die Gesichter gefressen.

Jack sah hinunter auf seinen Fuß, dann nach vorne zu Henry. Dann zu den Geistern nach hinten. Er schluckte. Er hatte eine Menge Geschick, sich aus verzwickten Situationen zu befreien, doch diese war besonders verzwickt.

Und besonders tödlich‘, dachte er, als ein Hai seinen Fuß streifte. Zusammenzuckend wollte er den Fuß heben. Doch er bewegte sich nicht. Er würde aus diesem Boot nicht lebend herauskommen. Es sei denn …

Sein Blick fiel auf einen Enterhaken, der auf dem Boden des Bootes lag. Ein kleines Lächeln zog an seinen Mundwinkeln. Er hatte eine Idee.

Er schnappte sich den Haken, schlug ihn an einer langen Leine an, als einer der Haie näher kam. Als er ihn beobachtete, stieg einer – ein sehr großer, in der Tat sehr löchriger Hai – vor dem Boot aus dem Wasser. Jack wartete. Der Hai kam näher. Jack wartete noch etwas länger. Der Hai kam noch näher. Und gerade, als er sein Maul weit aufriss, warf Jack den Haken, angelte den Geisterhai.

Augenblicklich wich der Hai zurück. Jack hielt die Leine fest und ließ den Hai das Boot über das Wasser ziehen, steuerte die Kreatur von den Geistern fort und in Richtung der Insel. Als das Boot Henry in rasender Geschwindigkeit passierte, schnappte Jack den zappelnden Jungen am Kragen seines Hemdes. Er nickte ihm kurz zu, als er ihn ins Boot schmiss. Henry konnte ihm später danken.

Voraus kam die Insel näher und näher. Jack konnte Carina sehen, die sich an Land schleppte. Er zog an der Leine und der Hai drehte sich etwas, zielte nun genau dorthin, wo sie lag.

„Festhalten!“, schrie Jack Henry zu, als der Hai einen Augenblick später das Land berührte und sich in Rauch auflöste, das Boot dabei an Land schleudernd. Sand und Wasser flogen gen Himmel, und als es wieder aufklarte, lagen Jack, Henry und Carina am Strand, durchgeschüttelt, aber überraschenderweise unverletzt.

„Was ist denn mit euch beiden los?“, fragte Carina und wischte sich Sand aus dem Gesicht. Ihr Rücken war der See zugewandt, weshalb sie glücklicherweise keine Ahnung von dem Schrecken hatte, der hinter ihr geschah. Doch das würde sich umgehend ändern.

„Carina, dreh’ dich nicht um!“, warnte Henry, der sie vor diesem Anblick bewahren wollte.

„Lass mich raten“, sagte sie, stand auf und klopfte sich ab. Sie begann, sich umzudrehen.

„Du siehst noch …“

Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie sich ganz umgedreht hatte. Ihr Körper erstarrte. Ihre Hände begannen zu zittern. Henrys Bemühungen waren vergeblich gewesen. Der Schrecken war soeben offenbar geworden.

Vor ihnen stand wie eine Armee von Untoten, die geisterhafte Crew der Silent Mary. Sie standen auf den Wellen, unfähig, den Lebenden auf trockenes Land zu folgen. Ein paar von ihnen versuchten, näher zu kommen, doch als sie es taten, stießen sie an eine unsichtbare Grenze, ihre Körper entmaterialisierten, als sie einen zweiten gewaltsamen Tod starben.

Ein wenig vor seinen Männern stand Capitán Salazar und starrte mit kalten, dunklen Augen Jack an.

„Jack der Sperling“, sagte er mit heiserer Stimme. Eine weitere Welle Geister rauschte voran, nur um zu entmaterialisieren.

„Sie können nicht an Land!“, sagte Jack, sein Gesichtsausdruck entspannte sich. „Wusst’ ich aber!“

Er führte einen kleinen Tanz im Sand auf.

Neben ihm öffnete und schloss Carina den Mund, als sie heftig damit kämpfte, das, was sie sah, zu begreifen. Sie sah Männer, die durch die Luft trieben, schwebten, was schlicht unmöglich war. Sie sah sie stehen, den schweren Wunden in diversen Körperteilen zum Trotz – manchen fehlten ganze Teile ihres Körpers – was ebenso unmöglich war. Und sie hörte deren Captain sprechen, was sie ebenfalls ins Reich der Fabel verwiesen hätte. Es gab nur eine Erklärung dafür. Und als die Erkenntnis sie überkam, fand sie auch ihre Stimme wieder.

Geister!“, schrie sie. „Geister!“

„Erinnerst du dich an mich, Jack?“, fragte Capitán Salazar, der Carinas Schreie ignorierte.

Jack nickte.

„Du siehst immer noch so aus wie früher. Abgesehen von dem klaffenden Loch in deinem Schädel.“

Er sah auf die Füße der Gespenster. Er konnte nicht an sich halten, zu fragen:

„Sind die Stiefel neu?“

Geister!“

Carinas schrille Stimme brachte Jack, dazu, einen Sprung zu machen. Das Mädchen hatte sie offensichtlich nicht mehr alle. Sie brachte noch einen Schrei heraus, dann rannte sie fort. Henry zögerte nicht, ihr zu folgen und ließ Jack mit seinem geisterhaften Publikum allein.

„Ich warte auf dich, Jack“, fuhr Salazar fort. „Du wirst meine Pein kennenlernen.“

Jack sah Salazar an, dann über die Schulter zu Carina und Henry, dann wieder zurück zu Salazar. Obwohl das Wiedersehen so glücklich war, dachte er nicht ernsthaft daran, es fortsetzen zu wollen.

„Würde ja gern bleiben und weiter schwatzen“, sagte er und drehte auf dem Absatz um. „Aber meine Karte hat gerade Beine bekommen.“

Damit drehte sich Jack um und rannte davon. Hinter sich hörte er, dass Salazar schrecklich fluchte. Jack schauderte seinem eigenen Willen zum Trotz. Er konnte nicht ewig an Land bleiben. Er war immer noch ein Pirat, war dazu bestimmt, ein Schiff auf dem offenen Meer zu kommandieren. Und in dem Moment, in dem er auf die hohe See zurückkehren würde, würde Salazar ihn erwarten; er wusste es.

 

Kapitel 13

Unvorhergesehene Ereignisse

Lieutenant Scarfield wurde ungeduldig. Jack, Carina und Henry hatten seinen Ruf ruiniert, als sie dem Tod auf Saint Martin von der Schippe gesprungen waren. Nun tat er alles, was in seinen Kräften stand, um sie zu finden – selbst wenn er sich dazu herablassen musste, die Hilfe der Seehexe Shansa in Anspruch zu nehmen.

Er beobachtete, wie seine Männer die Frau die dunkle Halle des Gefängnisses mit gezogenen Pistolen herunter führten. Sie sahen Shansas schlanke, dennoch bestimmende Gestalt nervös an, versuchten, so große Distanz wie möglich zu ihr zu halten. Selbst die Gefangenen zogen sich von den Türen ihre Zellen zurück, als sie vorbeiging.

„Ihr wagt es, Hand an mich zu legen!“, rief sie, als die Zellentür aufflog.

Scarfield blieb ruhig. Er würde sich von einer Hexe nicht erschüttern lassen.

„Die See hat sich in Blut verwandelt.“, sagte er. „Niemand kann dich jetzt noch beschützen.“

Ihre Augen verengten sich.

„Und wer wird Euch beschützen, Lieutenant?“

„Die Royal Navy. Zeit, der Krone zu dienen.“

Die Soldaten spannten die Hähne ihrer Waffen. Scarfield fuhr fort:

„Ein an Land gespülter Soldat faselte was vom Dreizack Poseidons. Er suchte nach Jack Sparrow – demselben Piraten, der eine Hexe vor dem Galgen bewahrte.“

„Sie ist keine Hexe!“, spottete Shansa.

„Aber du bist eine“, erwiderte Scarfield. „Und du wirst uns helfen. Wir werden für immer die Meere beherrschen.“

Sie sah den Soldaten nachdenklich an.

„Ihr habt Angst, Lieutenant. Weil Eure Schiffe in der Nacht brennen, wollt Ihr wissen, ob Ihr Euch retten könnt. Ob der Dreizack real ist.“

Er bewegte sich zu einer Zelle hinter sich, zu den Markierungen, die der letzte Insasse – genauer: die letzte Insassin – hinterlassen  hatte.

„Ihr werdet die Zeichnungen für mich lesen oder Ihr werdet sterben. Ich will wissen, wohin Sparrow mit der Hexe fährt.“

Sie bewegte sich vorwärts, starrte auf Carinas Gleichungen und Zeichnungen von Sternkonstellationen.

„Das Schicksal steht in den Sternen“, sagte sie ihm. „Ich setze den Kurs für Euch.“

3

 

Henry war in Panik. Er hatte Carina verloren. Eine Minute war sie vor ihm in den Dschungel eingetaucht und dann war sie verschwunden. Er hatte sie überall gesucht, doch er hatte nichts finden können – keine einzige Spur von ihr.

„Wir müssen sie finden!“, sagte er wohl zum elften Mal, als er und Jack eine schmutzige Straße entlanggingen. In der Entfernung konnte Henry eine kleine Stadt sehen. Er hoffte, dass Carina dorthin gelangt war und sie mit gerunzelter Stirn in Empfang nehmen würde, wenn sie dort eintrafen.

Aus dem Augenwinkel sah er, dass Jack eine Augenbraue hochgezogen hatte. Er stolzierte den Weg entlang, als ob er keine Sorgen hatte, auch wenn da realiter ein Geistercaptain war, der beabsichtigte, ihn zu vernichten. Und seine einzige Hoffnung, Salazars Griff wirklich zu entkommen, war Carina, die – worauf Henry oft hingewiesen hatte, seit sie die Straße entlanggingen – vermisst war. Es macht den jungen Mann wütend.

„Ich weiß, was dich plagt, Junge …“, sagte Jack und hielt an, um etwas von seinem Hosenbein zu wischen.

„Ich hab’ das schon oft bei traurigen, schwachsinnigen, idiotischen Typen wie dir gesehen, die sich blöderweise auf See wiederfinden, die eine schöne, verführerische Frau zurückgelassen haben, nur um sich mit einem einnehmenden jungen Typen mit perfekten Zähnen einzulassen, etcetera … Du hast das unkratzbare Jucken!“

Er machte eine Pause und kratzte sich unter dem Arm.

„Auf mein Wort: Zeit wird deine Pein nicht lindern …“

Henry hatte genug. Er hatte dem Geschwafel des Piraten seit Stunden gelauscht. Er hatte sich mit den verrückten Theorien dieses Mannes über die Liebe abgefunden, hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, darauf hinzuweisen, dass Jack nicht zu der Sorte Mensch gehörte, von der er Ratschläge haben wollte. Er hatte über den Umstand hinweggesehen, dass der Mann in der kurzen Zeit, in der sie sich kannten, immer und immer wieder darauf zurückkam. Er hatte sich damit abgefunden. Doch genug war genug. Er blieb stehen und drehte sich zu Jack.

„Sie ist die Einzige, die den Dreizack finden kann!“, sagte er, lauter als beabsichtigt. „Und ich bin nicht in sie verliebt!“

Jack tat perplex.

„Liebe?“, widerholte er. „Wer redet denn von Liebe? Ich meine Krätze! Kleine Milben, die sich in deine Haut bohren. Ist das nicht das, was dich plagt? Mich plagt sie ganz sicher – seit Jahren.“

Seine Entschuldigung wurde von einem hohen Schrei unterbrochen, der von irgendwo vor ihnen kam. Es folgte:

„Hilfe!“

Jack und Henry tauschten Blicke. Das war Carina. Ohne Zweifel. Die beiden rannten los. Sie sprangen von der Straße und bahnten sich ihren Weg durch dicke Blätter und Äste, bis sie auf eine Lichtung kamen. Sie sahen hoch und bemerkten Carina, die in einem Netz gefangen war, das an einem großen Ast sachte hin und her schwang.

„Hilf ihr!“, sagte Jack zu Henry.

Doch bevor der junge Mann agieren konnte, wurden sie beide in einem Netz hinauf gefegt. Einen Moment später erschien eine Bande raubeiniger Männer aus dem Dschungel. Jack schluckte. Er hatte sie erkannt.

„Helft … mir?“, wandte er sich an den Anführer, der auf ihn zuging und ihm einen Schlag auf den Kopf verpasste. Das letzte, was Jack noch sah, bevor es dunkel um ihn wurde, war das fiese Grinsen des Mannes. Sie waren in Schwierigkeiten …

1

 

Jack wachte abrupt auf. Seine Kehle war ausgedörrt und sein Herz raste. Wo war er? Was tat er hier? Und vor allem: Wo war der Rum?

Jack sah sich um und fand sich umgeben von Männern. Es waren nicht irgendwelche Männer. Sie gehörten zu Pierre „Pig“ Kellys Bande. Und Pig Kelly war Jack nicht gerade gewogen. Er spähte zu seiner Linken und sah dort Carina und Henry stehen, auf deren Köpfe Pistolen zielten. Carina, bemerkte er, trug ein zerschlissenes rotes Kleid und hielt Blumen in der Hand.

Ungünstige Zeit zum Umziehen‘, dachte Jack, als Pig Kelly vortrat.

„Wach auf, Sparrow“, sagte der Mann. Seine Nase war fast platt, was ihm ein schweineartiges Aussehen gab.

„Zeit, deine Schuld zu begleichen.“

„Pig Kelly“, lächelte Jack. „Mein alter Freund.“

Der Mann runzelte die Stirn und hob seine Pistole.

„Freund?“

Er drehte sich zu seinen Männern um.

„Hört ihr das, Jungs? Dieser lügnerische Pirat schuldet mir eine Ladung Silber. Aber das Glück hat ihn nach Hangman’s Bay gebracht – und er wird seine Schuld hier und jetzt bezahlen.“

„Selbstverständlich, Pig“, sagte Jack, vor falscher Aufrichtigkeit triefend. „Ich hab’ dich überall gesucht. Habe für deine Sicherheit gebetet, nachdem ich unabsichtlich die Kerle bezahlt habe, die dich in den Sack steckten.“

Er zuckte mit den Schultern, als Jack ihm einen anklagenden Blick zuwarf.

„Nenn’ mir deinen Preis.“

Ein teuflisches Grinsen huschte über das Gesicht des anderen Mannes, als er zu einer Person wies, die hinter ihm stand.

„Ihr Name ist Beatrice. Und sie ist meine arme, verwitwete Schwester.“

Jack unterdrückte ein Keuchen. Pigs „arme Schwester“ war ziemlich rund und ziemlich fleckig, ihr Mund von Schorf und Geschwüren umgeben. Als sie Jack anlächelte, präsentierten sich ihm ihre gelben, verrotteten Zähne. Er zog eine Grimasse.

„Sie ist eine Hebamme“, fuhr Pig Kelly fort, den Augenblick sichtlich genießend. „Sie sucht nach einem respektablen Mann. Aber so einer kommt nicht an diesen scheußlichen Ort. Doch du tust es auch.“

„Was tue ich?“, fragte Jack, ohne die Antwort wirklich hören zu wollen.

„Eine ehrbare Frau aus ihr machen“, erwiderte Pig Kelly. Er gab ein Zeichen, und ein alter Mann begann, auf seiner gebrochenen Fiedel einen Hochzeitsmarsch zu spielen. Jack sah mit wachsendem Schrecken, dass Beatrice einen Schleier herausnahm und ihn über den Kopf zog. Der dünne Stoff verbarg nichts von ihren grauenhaften Gesichtszügen. Jack sah sich um und bemerkte, dass sie sich nicht auf irgendeiner Lichtung befanden. Sie standen unter den bleichen Knochen eines Wals. Sie waren in einer Seemannskapelle, was nur bedeuten konnte …

„Herzlichen Glückwunsch, Jack“, fuhr Pig Kelly fort. „Es ist dein Hochzeitstag.“

Jack stieß einen hohen Schrei aus und wollte wegrennen. Doch er war keine zwei Schritte weit gekommen, als er zurückgerissen wurde. Ein Strick war um seinen Hals gelegt worden, das andere Ende war am Altar befestigt. Er würde nirgendwo hingehen.

Als ein Priester seine Bibel aufschlug und schwankend seinen Platz vor dem Altar einnahm, befahl Pig Kelly, den Trauzeugen und die Brautjungfer nach vorn zu bringen. Henry und Carina wurden zum Altar geschubst, beide wehrten sich dagegen.

Das erklärt den Aufzug‘, dachte Jack, als die beiden an seinen Seiten postiert wurden. Einen Moment später kamen zwei Kinder zur Hochzeitsgesellschaft hinzu.

„Wer sind die?“, fragte Jack und begutachtete sie.

„Unsere Kinder“, sagte Beatrice und ließ ein schreckliches Lächeln aufblitzen. Dann beugte sie sich näher zu Jack und flüsterte ihm mit einem Atem, der schlimmer roch als zehn Piraten, ins Ohr:

„Am besten siehst du ihnen nicht in die Augen.“

Jack schauderte es, als der Priester begann. Als er sie anwies, die Hände auf die Bibel zu legen, zermarterte Jack sich das Gehirn, um einen Ausweg aus dieser unangenehmen Situation zu finden.

„Ich hab’ Krätze!“, bot er voller Hoffnung an.

„Ich auch“, sagte Beatrice.

„Sag: ich will oder ich schieß’ die eine Kugel in den Kopf!“, befahl Pig Kelly und beendete Jacks vergebliche Versuche, die Hochzeit zu vermeiden.

„Versprichst du mir, nicht danebenzuschießen?“, fragte Jack. Gleich daneben hörte er wie einer von Kellys Männern den Hahn seiner Waffe spannte, die auf Henrys Kopf zielte. Er betrachtete seine Optionen. Wenn er bei diesem bösen Spiel von Hochzeit nicht mitmachte, würden Henry und Carina mit ihm zusammen umgebracht werden. Das wäre eine Schande. Andererseits, wenn er mitspielte, würde er Beatrice heiraten – und Vater von zwei Monsterkindern werden – was ebenso eine Schande war.

„Wartet!“

Henrys Schrei erschreckte Jack. Er drehte sich um und sah den jungen Mann erwartungsvoll an. Henrys Vater hatte immer einen Weg gefunden, sie aus brenzligen Situationen zu retten. Vielleicht wurde diese Eigenschaft in der Familie vererbt.

„Das ist nicht legal!“, fuhr Henry fort.

Jack stöhnte. Nichts kümmerte Pig Kelly weniger als Legalität. Tatsächlich ignorierte der Bruder der Braut Henrys Protest und nötigte den Priester, weiterzumachen.

Doch genau in dem Moment, als es so aussah, dass Jacks Tage als Junggeselle – oder seine Tage überhaupt – am Ende waren, zerriss ein Schuss die Luft. Eine der Walrippen zerstob in tausend Teile. Jack hob die Hände, um sich vor den fallenden Trümmern zu schützen und drehte sich langsam um. Er hatte den Klang einer ganz bestimmten Donnerbüchse erkannt.

„Ah, Jack! So treffen wir uns wieder!“

Barbossa stand mit immer noch rauchender Pistole an einem Ende des provisorischen Altars. Sein goldenes Ersatzbein schimmerte in der Sonne, ein riesiger federgeschmückter Hut beschattete seine Augen. Seine Männer standen nur wenige Fuß hinter ihm, sahen die sich ergebende Situation.

„Hector?“, fragte Jack ehrlich verblüfft über das plötzliche Auftauchen dieses Mannes. „Wer hat dich zu meiner Hochzeit eingeladen? Bringst du mir ein Geschenk?“

Als Antwort schritt Barbossa näher. Er hob erneut seine Pistole und schoss Pig Kelly in die Kniescheibe. Als der Mann einen lauten Schmerzensschrei ausstieß, ergriff seine Bande die Flucht. Innerhalb von Augenblicken war der Altar von Feinden frei.

„Danke“, sagte Jack, als der andere Mann ihn von seinen Fesseln befreite. „Das wollte ich auch schon immer haben. Du siehst großartig aus.“

Er peilte auf Hectors extravagante Kleidung, die durch goldene Knöpfe vervollständigt wurde.

Barbossa neigte dankbar den Kopf.

„Und ich bin erstaunt, wie du deine jugendliche Erscheinung erhalten hast.“

Und während die beiden Männer warme Grüßen hin- und herwarfen, warf Barbossas Crewmitglied Mullroy verwirrte Blicke hin und her. Das war nicht das Wiedersehen, das er erwartet hatte, als sein Captain mit Salazar übereingekommen war, an Land zu gehen, Jack zu finden und ihn zur Silent Mary zurückzubringen. In der Tat war das auch nicht das Wiedersehen, das er erwartet hätte, wäre das nicht der Fall gewesen. Kurz zuvor hatte er herausgefunden, dass Jack und Barbossa, nun ja, auf Kriegsfuß standen.

„Äh, Captain“, setzte er zögernd an, „sollten wir nicht zu Salazar zurückkehren und Jacks Leben gegen unseres eintauschen?“

Barbossa nickte; er benötigte keine Erinnerung an den Handel.

„Aye“, sagte er. „Das könnten wir – doch ich bin wegen Poseidons Dreizack hergekommen!“

Seine Ankündigung schien in dem Walgerippe widerzuhallen, prallte gegen jeden Mann seiner Crew, bis sie einer nach dem anderen realisierten, was ihr Captain im Sinn hatte.

„Ihr wollt die Toten betrügen?“, fragte Murtogg schließlich.

„Aber Ihr habt es versprochen!“, protestierte Mullroy.

Barbossa warf dem Ex-Marine einen vernichtenden Blick zu. Wie konnte der es wagen, seine Pläne zu hinterfragen? Hector wusste ganz genau, was er tat.

„Mit Poseidons Dreizack werde ich die Toten auseinandernehmen, die mir die Herrschaft über die Meere geraubt haben!“, sagte er. Im Stillen fügte er hinzu:

Salazar wird den Tag bereuen, an dem er sich mit Hector Barbossa angelegt hat.‘

Während er seiner Crew seinen veränderten Plan darlegte, hörte Jack begierig zu. Er hatte es immer genossen, ihn zu beobachten, wenn sich dem die Nackenhaare sträubten. Er war genau die Macht, vor der man sich in Acht nehmen musste, wenn das geschah. Und obwohl er den neuen Plan des anderen Captains mochte – speziell, wenn er sah, dass er davon ordentlich profitieren würde – es gab da zwei kleine Probleme:

„Erstens“, sagte er zu Barbossa, „ich wünsche nicht, dass wir sterben. Und zweitens kann kein Schiff diesem Wrack entkommen.“

„Doch, da ist eines, Jack“, sagte Barbossa, dem das Problem durchaus klar war. Er zog seinen Säbel und zielte damit auf Jack. Der Pirat wich nervös einen Schritt zurück.

„Und sie ist das schnellste Schiff auf See. Die Black Pearl“, – er tippte auf die Flasche, die Jack unter seinem Mantel trug – „vor nunmehr fünf Wintern von Blackbeard in dieser Flasche gefangen.“

Jack erinnerte sich nur gar zu gut, was Blackbeard getan hatte und wusste das Vertrauen in sein Schiff durchaus zu schätzen; Gleichwohl öffnete er den Mund, um darauf hinzuweisen, dass es ihnen in seinem gegenwärtigen Zustand keine große Hilfe sein würde. Doch bevor er irgendetwas sagen konnte, überraschte Barbossa ihn aufs Neue. Er hob den Säbel, den er Blackbeard auf der namenlosen Insel an der Quelle der ewigen Jugend abgenommen hatte, über seinen Kopf, schwang es im Kreis.

„Durch die Macht der Klinge dieses Unholds befreie ich hiermit die Black Pearl in ihrer ganzen Schönheit!“

Mit einem Knurren stieß Barbossa das Schwert nieder, stach direkt in Richtung von Jacks Herz. Es war ein kaum vernehmbares Flüstern, als die scharfe Klinge den Mantel des Piraten durchbohrte und dann ein deutlich hörbares pling, als Stahl auf Glas traf. Jack spürte, dass die Flasche an seiner Brust zu vibrieren begann. Er öffnete seinen Überrock. Ein kleiner Riss war an der Seite der Flasche erschienen, wo sie von Blackbeards Klinge getroffen worden war. Einige Tropfen Wasser flossen auf sein Hemd wie Blut aus einer Wunde.

Jack sah auf und lächelte.

„Ooh, Hector“, sagte er, als die lange verlorene Hoffnung zurückkehrte. „Ich glaube, mein Wasser ist gebrochen.“

 

2

 

Als die Dämmerung zur Nacht wurde, rannte Jack zum Strand von Hangman’s Bay, Wasser floss aus der Flasche und durchnässte seinen Rock. Gerade als er, gefolgt von Barbossa und dessen Crew, aus dem Dschungel herausbrach, zerbarst die Flasche in tausend Stücke. Die Black Pearl fiel Jack vor die Füße.

Und dann begann sie zu wachsen.

Und wuchs.

Und wuchs.

Jack taumelte rückwärts, versuchte verzweifelt, nicht unter der Pearl eingeklemmt zu werden. Seine Augen waren weit und sein Herz schlug heftig, als er seinem geliebten Schiff beim Wiederaufbau zusah.

Und dann hörte es auf zu wachsen. Jack trat hinzu und beugte sich darüber. Es war gewachsen, soviel war sicher. Doch obwohl es nicht mehr nur wenige Zoll lang war, überspannte es kaum ein paar Fuß. Es sah wie eine Spielzeugversion des realen Stücks aus. Er hob es auf, sah auf die Decks. Dann hob er den Fuß, als ob er an Bord gehen wollte. Er seufzte.

„Vielleicht bedeutet Größe ja doch etwas“, sagte er schließlich traurig.

Barbossa nahm Jack das Schiff ab. Für einen langen Augenblick sah er darauf. Im Mondlicht schien es wie ein Fisch auf dem Trockenen zu sein. Die Planken schienen nach Luft zu schnappen, die Segel bauschten sich und fielen zusammen wie keuchende Lungen. Er ging mit der Pearl zum Ufer.

Dann warf er sie hinein.

„Sie braucht die See“, sagte Barbossa und wandte sich zu der versammelten Menge um.

Die beiden Männer standen zusammen an der Wasserkante, sahen das Schiff auf der Oberfläche dümpeln. Dann begann es zu sinken, verschwand im dunklen Wasser. Die Piraten standen geschockt da, fragten sich, was schiefgegangen war.

„Sie war ein gutes Schiff“, sagte Jack nach einer Pause.

„Das Schönste, das je die Meere befuhr“, stimmte Hector zu.

Sie standen in respektvoller Stille, beide verloren in Gedanken an Abenteuer, die sie auf der Black Pearl erlebt hatten. Jack spürte sein Herz nochmals brechen; erneut war ihm sein Schiff genommen worden. Er ließ den Kopf hängen.

„Da geschieht etwas“, riss Henrys Stimme Jack aus dem Nebel der Trauer, der ihn umwaberte. Langsam hob er den Kopf. Der Junge hatte Recht. Es geschah in der Tat etwas. Direkt vor ihren Augen begann die See zu blubbern und zu schäumen. Das Wasser wurde weiß, als ob es von einer starken Kraft von unten verwirbelt wurde. Und dann explodierte die Black Pearl förmlich aus dem Wasser.

Es war nicht länger das Vier-Fuß-Spielzeug, das es noch Augenblicke zuvor gewesen war. Im Mondlicht glänzten die Planken wie frisch poliert. Ihre schwarzen Segel hingen von den Rahen, und ihr Jolly Roger wehte im leichten Seewind. Und als sie es sich wieder im Wasser bequem gemacht hatte, lächelte Jack. Die Pearl war zurück. Und das bedeutete: er auch.

Kapitel 14

Erkenntnisse

Unglücklicherweise war Jack nicht ganz zurück. Jedenfalls jetzt noch nicht. So wie die Black Pearl zurückgekehrt war, war es auch die Fehde zwischen ihm und Hector, wer Captain sein sollte. Und diese Runde war an Barbossa gegangen – und seinen verfluchten Affen, der mit dem Schiff befreit worden war.

Als die Black Pearl sich wieder in den Ozean aufmachte, stand er am Steuer. Auf seiner Schulter bleckte Jack der Affe die Zähne und ließ sein Affenlachen hören. Jack der Pirat sah von dem Mast, an den man ihn einfach gefesselt hatte, hinauf und runzelte die Stirn. Er hatte diese hinterhältige Kreatur noch nie leiden können. Der Affe hatte ein übles Verhalten – und das hatte sich noch verschlechtert, seit er in die Flasche geraten war.

„Der Kurs, den Ihr segelt, muss exakt sein, Captain“, hörte Jack Carina sagen. Er reckte seinen Hals und sah, dass sie und Henry ebenfalls an einen Mast gefesselt waren. Das jedoch verschaffte ihm ein gewisses Vergnügen.

Barbossa beachtete das Mädchen kaum. Seine Augen waren nach vorn gerichtet, eine Hand am Steuerrad, ein selbstgefälliges Grinsen im Gesicht.

„Auf See ist nichts exakt!“, erwiderte er.

„Ihr solltet auf sie hören, Captain!“, plädierte Henry. „Sie ist die Einzige, die dem X folgen kann!“

Das schien Barbossas Interesse zu wecken. Er sah auf das Paar und hob eine Augenbraue.

„Ist das so?“, fragte er sarkastisch. „Ein Mädchen weiß mehr über die See als ich?“

Carina ignorierte den Stich.

„Folgt dem Kreuz des Südens bis zum Symmetriepunkt“, sagte sie. „Ich habe ein Chronometer, mit dem der Längengrad zu bestimmen ist, der uns zu diesem exakten Punkt auf See bringt.“

Ich tue es einem Mädchen mit ein wenig Courage gleich‘, dachte Jack. ‚Besonders, wenn dieser Mut in der Form kommt, zu beweisen, dass Barbossa falsch liegt.

Er ruckelte an den Fesseln, die ihn an den Mast banden, versuchte, sie zu lockern. Er wusste, dass Carina Recht hatte und dass sie das X finden konnte. Er wusste ebenso, dass er keine Chance haben würde, den Dreizack zu bekommen, wenn er zu dem Zeitpunkt, an dem sie es gefunden hatte, noch an den Mast gefesselt war. Und wenn er eine künftige Begegnung mit Salazar überleben wollte, brauchte er ihn.

Während Jack mit seinen Fesseln kämpfte, starrte Barbossa Carina lange und hart an. Seine Augen verengten sich. Sie wusste offenbar, wovon sie sprach. Er sah zu Jack. Sparrow würde sie nie mitgenommen haben, wäre sie ihm nicht von Nutzen gewesen.

„Macht sie los!“, befahl er schließlich. Als Carina frei war, gab er ihr ein Zeichen, zu ihm ans Steuerrad zu kommen.

„Nehmt das Steuer, Miss.“

Es fiel ihm sichtlich schwer, diese Worte auszusprechen. Es war eine wohlbekannte Tatsache, dass eine Frau an Bord Unglück brachte. Und es war ein noch größeres Unglück für eine Frau, ein Schiff zu kommandieren. Doch als er sich umdrehte und hinter ihnen die Silent Mary in schneller Verfolgung erspähte, dachte er, dass sie das Beste war, was sie hatten um zu überleben. Er würde Carina ihrem Stern folgen lassen. Wenn er es nicht tat, würden sie alle sterben.

1

 

Carina hob den Kopf. Am Himmel glitzerte strahlend das Kreuz des Südens und zeigte ihr den Weg zu einem Ziel, das nur sie kannte. Henry stand neben ihr, und sie spürte, dass er ihrem Blick folgte. Der junge Mann war seltsam still, seit sie losgebunden worden waren und sie das Steuer übernommen hatte. Sie fragte sich, ob er an seinen Vater dachte. Dorthin wanderten ihre Gedanken oft, wenn die Nacht kam. In dieser Nacht allerdings waren ihre Gedanken von düsterer Natur.

„Dieses Schiff … diese Geister“, sagte sie leise und brach das Schweigen zwischen ihnen. „Es gibt keine logische Erklärung dafür.“

Er riss seinen Blick vom Himmel los und sah sie an.

„Die Mythen der See sind real, Carina. Ich bin froh, dass du deinen Fehler einsiehst.“

„Fehler?“, wiederholte sie das Wort und ließ es einen Moment zwischen ihnen schweben. Er trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Vielleicht hatte er nicht das Richtige gesagt. Er sah ihre Augen enger werden, dennoch hob sich ein Mundwinkel, als ob sie versuchte, nicht zu lächeln.

„Vielleicht hatte ich einige Zweifel – dachte, du wärst verrückt.“

Sie zögerte.

„Man könnte sagen, ich habe mich möglicherweise, wohl ein wenig …“

Ihre Stimme erstarb.

„Geirrt“, sagte er schließlich, als ihm klar wurde, dass sie es selbst nicht aussprechen würde. „Das Wort ist geirrt.“

„Eine Fehleinschätzung“, konterte sie mit funkelnden Augen.

„Die schlechteste Entschuldigung, die ich je gehört habe“, bemerkte er. Er hatte das Gefühl, dass sie ihn necken wollte – und es genoss.

Ihr Kopf zuckte hoch.

„Entschuldigung?“, fragte sie, als wäre sie verwirrt. „Wieso sollte ich um Entschuldigung bitten?“

Henry machte eine ausladende Geste.

„Weil wir von Toten gejagt werden; weil wir auf einem Schiff fahren, das aus einer Flasche geholt wurde! Wo ist da deine Wissenschaft?“, fragte er.

Jetzt hab’ ich sie!‘, dachte er.

„Es war Wissenschaft, die die Karte gefunden hat“, erwiderte sie unnachgiebig.

Henry schüttelte den Kopf.

„Nein“, erwiderte er. „Wir haben sie gefunden. Gemeinsam.“

„Fein“, sagte Carina, sah hinunter auf die Ruderanlage, studierte sie mit vorgetäuschtem Interesse. „Dann will ich um Entschuldigung bitten. Obwohl … man könnte auch damit argumentieren, dass du mir eine Entschuldigung schuldest, weil mein Leben von Piraten und Untoten bedroht wurde.“

Henry starrte sie einen Moment an. Sie war in ihrem Necken unverbesserlich. Er wusste, wann es besser war, mit der weißen Fahne zu wedeln.

„Ich geh’ dann mal in den Ausguck“, kündigte er an, ging mit einem Lächeln auf den Lippen fort.

Hinter ihm sah Carina ihn fortgehen und grinste, zufrieden mit sich. Als sie sich wieder umwandte, war sie überrascht, Barbossa zu sehen, der im Schatten stand. Er trat vor, setzte an, etwas zu sagen, doch er stoppte, als er Galileos Tagebuch sah, das sie fest umklammerte. Seine Augen verengten sich.

„Woher habt Ihr das Buch, Missy?“, fragte er. „Ich kenne dieses Buch.“

„Ich bezweifle, dass Ihr Galileos Tagebuch gelesen habt“, schnappte sie.

Die langen Finger des Piraten streckten sich aus und strichen sachte über den Fleck, an dem der Rubin gewesen war.

„Dieses Buch war die Beute eines Piraten“, sagte er leise. „Von einem italienischen Schiff gestohlen vor vielen Jahren.“

„Gestohlen?“, wiederholte Carina. „Ihr irrt Euch.“

Barbossa schüttelte den Kopf.

„Da war ein Rubin auf dem Deckel, den ich so schnell nicht vergesse.“

Sie griff in ihre Tasche und zog den Rubin heraus. Hectors Augen weiteten sich, als der rote Edelstein das Mondlicht einfing und glitzerte.

„Dies wurde mir von meinem Vater mitgegeben“, sagte sie und hielt den Rubin hoch, „der ganz sicher ein Mann der Wissenschaft war.“

Bevor sie ihn aufhalten konnte, schnappte sich Jack der Affe den Rubin. Er kreischte und legte ihn in Barbossas offene Hand.

„Er war ganz klar ein gewöhnlicher Dieb“, sagte der Pirat, sie korrigierend.

Carina verpasste ihm eine Backpfeife. Wie konnte er es wagen, den Namen ihres Vaters in den Schmutz zu ziehen? Er wusste nichts von ihm. Er hatte keine Ahnung, wer er gewesen war oder was er möglicherweise in seinem Leben erlitten hatte. Ihr Herz schmerzte beim geringsten Gedanken, ihr Vater könnte irgendetwas anderes gewesen sein als der Mann, den sie sich immer vorgestellt hatte – ein guter, freundlicher Mann mit wissenschaftlichem Verstand. Ein Mann, der schrecklich unter dem Verlust seiner Tochter gelitten hatte. Ein Mann, der es gehasst hätte, zu wissen, dass sie auch nur einen Tag gelitten hatte, den sie im Waisenhaus allein war. Sie presste das Tagebuch an ihre Brust.

„Dies ist mein Geburtsrecht“, sagte sie, „das mir auf den Stufen des Kinderheims mit meinem Namen mitgegeben wurde. Nichts weiter.“

Carina hatte erwartet, dass der Pirat über ihren Ausbruch lachen würde und war überrascht, dass er stattdessen mit einem undurchdringlichen Ausdruck im Gesicht einen Schritt zurückwich.

„Oh, dann seid Ihr eine Waise?“, erkundigte er sich. Er sah sie eindringlich an.

„Wie werdet Ihr genannt?“, fragte er weiter.

„Der hellste Stern im Norden gab mir meinen Namen (ich wurde nach dem Sternbild Kiel des Schiffs benannt)“, sagte sie geheimnisvoll.

„Das wäre Carina“, sagte Barbossa.

Seine Antwort überraschte sie. Sie nickte langsam.

„Carina Smyth“, sagte sie, sich vorstellend. „Also kennt Ihr die Sterne?“

„Ich bin ein Captain“, sagte er, seine Stimme nun leise und einen Hauch traurig. „Ich kenne die Sterne, die mich heimführen.“

Er überließ es ihr, auf das Ruder zu achten, ging zur Reling. Sein Gesicht war bleich, als er den Kompass aus der Tasche zog und darauf sah. Die Nadel zitterte und drehte sich dann – bis sie geradewegs auf Carina wies.

Er stolperte zurück, kollidierte dabei fast mit dem Mast, an dem nach wie vor Jack gefangen war. Der Pirat hatte die ganze Unterhaltung mitgehört und sah nun mit einem schelmischen Funkeln in den Augen zu seinem alten Freund und noch älteren Erzfeind.

„Smyth? Smyth? Das ist ein wirklich exotischer Name, Hector“, sagte er mit spielerischem Ton in der Stimme. „Kannten wir nicht mal jemanden mit Namen Smyth? Sag’s nicht, ich komm’ gleich drauf … Ich hol’ die Erinnerung nur aus der Tiefe …“

„Sei gewarnt, Jack!“, grollte Barbossa.

Jack war niemals jemand gewesen, der Warnungen beachtete und fuhr fort. Er hob einen Finger an seinen Kinnbart und spielte damit:

„Ich erinnere mich an das Gesicht eines hübschen jungen Mädchens. Eine wahre Schönheit, die einen unbestreitbaren Fehler hatte – dich.“

„Halt ‘s Maul!“

Jack hatte ganz klar einen Nerv getroffen. Er trieb es weiter, erfreute sich an Barbossas offensichtlicher Qual.

„Wie war noch ihr Name? Die, mit der du vor zwanzig Jahren so scheußlich verschlungen warst? Sie liegt mir auf der Zunge …“

Barbossa zog sein Entermesser.

„Du bist kurz davor, diese Zunge zu verlieren!“, warnte er und fasste das Heft fester.

„Nein, hilf mir nicht“, fuhr Jack fort, unfähig aufzuhören, wenn er solchen Spaß hatte. „Ich hab’s! Es war ein königlicher Name – so königlich wie das Wesen, das er schmückte.“

Er zögerte, ließ die Spannung – und die Qual – wachsen. Dann stieß er einen freudigen Schrei aus, als ob er sich erst jetzt erinnerte.

„Margaret! Margaret Smyth! Ich seh’ sie, als stünde sie gerade vor mir!“

Mit Bedacht hatte er sich soweit umgedreht, dass er Carina ansehen konnte. Dann sah er wieder zu Barbossa. Er konnte schier den Dampf aus den Ohren des anderen Mannes kommen sehen. Sparrow hatte erreicht, was er wollte – die Verbindung zwischen Barbossa und Carina aufdecken – seine familiäre Verbindung. Es war nicht nur ein mittelmäßiges Spiel für Jack gewesen – er liebte es wirklich, seinen alten Freund zu necken – noch viel wichtiger war, dass diese Verbindung ihm ein fettes Pfund zum Wuchern gab.

„Können wir uns einigen? Oder soll ich Carina Smyth was erzählen, von dem wir beide wissen, dass es wahr ist?“

Hector hob sein Entermesser an Jacks Kehle.

„Dieses Geheimnis werden wir beide mit ins Grab nehmen.“

„Töte mich und du hast nichts mehr, um mit den Toten zu handeln“, erwiderte Jack schulterzuckend. „Du brauchst mich, Hector. So wie ein Kind eine …“

„Ruhe!“

Barbossas Stimme klang über das Deck, erschreckte schlafende Piraten und veranlasste Carina, den beiden Männern einen scharfen Blick zuzuwerfen. Hector packte Jack an der Kehle und senkte seine Stimme, als er sagte:

„Margaret starb und ich kratzte so viel Ehrgefühl zusammen, wie ein elender Lump wie ich konnte. Ich gab dem Säugling selbst den Namen. Legte sie auf die Stufen des Waisenhauses und dachte, ich würde sie nie wiedersehen. Ich dachte, der Rubin könnte ihr das Leben etwas erleichtern.“

Er hatte sich nie vorstellen können, dass Carina, statt den Rubin zu nutzen, sich mit dem Gekritzel in dem Buch ein eigenes Leben würde aufbauen können. Er hatte sich auch nie vorstellen können, dass diese spezielle Besessenheit sie geradewegs zu ihm zurückführen könnte – und das machte ihn gegenüber Jack verwundbar.

„Sag mir, was du willst“, forderte er ihn auf.

Trotz der Tatsache, dass Barbossa immer noch die Finger an seinem Hals hatte, lächelte Jack.

„Sehen wir mal“, sagte er schadenfroh. „Ich will meinen Kompass, eine Locke von deinem Haar, zweihundertsechzehn Fässer Rum … und den Affen.“

„Du willst den Affen?“, fragte Barbossa überrascht. Das hatte er nicht erwartet.

Jack nickte.

„Ja. Um ihn zu verspeisen. Und schmeiß’ noch den Dreizack dazu, wenn es dir nichts ausmacht. Jeder scheint …“

Bevor er ausreden konnte, stopfte Jack der Affe ihm einen schmutzigen Lappen in den Mund, knebelte ihn damit.

„Kommt nicht infrage, Jack“, sagte Barbossa, der die Fassung zurückgewann. „Ein kluges Mädchen wie sie wird niemals glauben, dass ein Schweinehund wie ich vom selben Blut sein könnte. Der Dreizack wird mein sein!“

Rotröcke!“

Henrys erschrockene Stimme ließ Barbossa und Sparrow die Hälse nach oben recken, wo der junge Mann im Ausguck stand. Selbst aus der Entfernung konnten sie sehen, dass er aschfahl geworden war. Er deutete nach achtern.

Hector rauschte an die Reling, sah über das Wasser. Als die Black Pearl auf einer Welle hochkam, konnte er sehen, was Henry so erschreckt hatte – und das zu Recht. Das britische Kriegsschiff HMS Essex kam rasch näher. Ihre Kanonen waren klar, und er konnte Marines ausmachen, die über das Deck rannten und sich auf die Schlacht vorbereiteten.

„Sie kommt an Steuerbord auf!“, schrie er an seine eigenen Männer gewandt. „Wir kämpfen bis zum Letzten! Die Black Pearl wird mir nicht noch einmal genommen!“

Jack konnte nur hilflos zusehen, als Hector Befehle bellte. Erneut kämpfte er mit der Leine, die ihn am Mast festhielt. Aber das Tau gab nicht nach. Er würde nirgendwo hingehen, hatte eine einmalig unbehagliche Position, aus der er Zeuge wurde, dass die HMS Essex näher und näher kam, bis sie in Schussdistanz war. Über die Wellen hörte er die unverwechselbare Stimme von Lieutenant Scarfield, als er schrie:

„Klar zum Feuern!“

Er wollte gerade die Augen zukneifen, doch er stoppte, als er etwas hinter der HMS Essex bemerkte. Er realisierte, dass die Black Pearl nicht zerstört werden würde – jedenfalls nicht von der HMS Essex. Denn dort erhob sich wie eine große, gezähnte Kreatur: die Silent Mary. Vor seinen Augen öffnete sich der Rumpf weit und brach mit einem lauten Knarren die HMS Essex entzwei. Das britische Kriegsschiff hatte keine Chance. Es explodierte von innen, als die Pulverfässer, die zur Zerstörung der Black Pearl geöffnet waren, alle auf einmal gezündet wurden. Die Silent Mary brach durch die Trümmer und setzte ihren Weg zur Black Pearl fort. Barbossa stand da, die Hand an der Reling, das Feuer der HMS Essex spiegelte sich in seinen Augen. Er drehte sich rasch um und eilte zum Steuer. Carina hielt sich am Steuer fest, aber nur knapp. Ihre Finger zitterten, als sie das Massensterben auf der HMS Essex erfasste, das die Silent Mary verursacht hatte.

„Was immer auch geschieht“, sagte Barbossa in dem Versuch, sie zu beruhigen. „Haltet Euren Kurs!“

Sie sah zu ihm auf, die Augen weit aufgerissen. Er befürchtete, sie würde ohnmächtig werden, schreien oder etwas ähnlich Blödes zu tun. Doch zu seiner Überraschung nickte sie einfach und hob den Kopf wieder zu den Sternen. Er drehte sich lächelnd um. Es schien nicht nur die Liebe zu den Sternen zu sein, die die junge Frau von ihrem Vater hatte.

 

Kapitel 15

Seeschlacht

Capitán Salazar war zufrieden. Er hatte die HMS Essex zerstört, als wäre sie nicht mehr als ein Floh unter seinem Fuß. Und nun war er kurz davor, sich die Black Pearl vorzunehmen und – mit ihr – Jack Sparrow.

Er sprang auf das Deck der Black Pearl, seinen Degen an der Seite, Tod in seinen Augen, sah sich unter den Piraten um.

,Was für ein Lotterhaufen‘, dachte er, als er die Männer wahrnahm. Ihre Kleidung war schlampig, und keiner war in Uniform. Manche hatten nicht mal Schuhe. Als er auf das Holz unter sich sah, bemerkte er, dass seit Jahren niemand für eine gründliche Reinigung gesorgt hatte. Diese Leute, für die die Bezeichnung Seeleute eine grobe Übertreibung war, verdienten es, zu sterben. Aber nicht bevor ein ganz bestimmter Pirat seinem Schicksal begegnet war.

„Zeit, deine Rechnung zu begleichen!“, rief er.

Während er sprach, schloss sich seine geisterhafte Crew ihm auf der Black Pearl an.

„Wo ist Jack Sparrow?“

Barbossa trat vor, zog seinen eigenen Säbel.

„Wir kämpfen bis zum Ende!“, rief er mutig. Unglücklicherweise stimmten ihm nicht alle seine Männer zu. Er hörte es platschen, als einige über Bord sprangen. Andere versuchten gegen die Gespenster zu kämpfen, doch sie hatten keine Chance. Schreie hallten über die Black Pearl als sie abgeschlachtet wurden, so sie gerade standen.

„Wo ist er?“, fragte Salazar erneut.

„An den Mast gebunden!“, schrie Mullroy.

Barbossa drehte sich um und warf dem hinterhältigen Mann einen vernichtenden Blick zu. Der dicke Ex-Marine zuckte mit den Schultern.

Alle Augen wandten sich dem Mast zu.

Jack war nicht dort.

Er war – dank Henrys schnellem Denken und raschem Durchschneiden der Taue – nun an Bord der Silent Mary. Salazar sah den Piraten ihm von seinem eigenen Schiff munter zuwinken.

„Überlasst ihn mir!“, sagte er zu seinen Männern. Er sprintete quer über das Deck, stieg auf die Reling und übersprang dann das Wasser, das die beiden Schiffe trennte. Er landete auf einer Kanone neben Jack, seinen Degen gezogen und bereit.

Jack begegnete ihm mit ebenfalls gezogenem Säbel. Als die beiden Männer zu fechten begannen, wurde klar, dass Salazar der stärkere Fechter war. Seine Klinge zischte mit erschreckender Wildheit durch die Luft, schlitzte alles auf, was ihr in den Weg kam – Taue, Segel, zufällig den Docht einer Kanone. Jack versuchte zu entkommen, indem er von Kanone zu Kanone sprang.

„Dieses Mal werde ich dich brechen“, sagte Salazar mit einer Stimme, die so kalt war wie das Blut, das durch seine Adern floss, „dich für den Schmerz bestrafen, den ich erdulden muss, wenn ich den Tod wieder und wieder spüre.“

„Oder du könntest mir einfach vergeben“, schlug Jack vor. Mit einem Blick über die Schulter sah Jack, dass die Black Pearl nahe genug an die Silent Mary herangetrieben war, um hinüberzuspringen. Er tat es eilig. Salazar folgte ihm.

An Bord der Black Pearl war die Hölle losgebrochen. Piraten kämpften gegen Gespenster. Jack sah, dass Henry verzweifelt versuchte, Carina zu beschützen, während sie wiederum Barbossa zu retten versuchte, dessen Holzbein in einem Loch festklemmte. Jack beobachtete, dass Hector versuchte, sich vor dem Hieb eines Geisterseemanns zu ducken, doch er schaffte es nicht. Er stöhnte, als der Säbel ihn in der Seite traf.

Sparrow erspähte auch seine alte Crew unter den Piraten. Es sah aus, als wären sie den Rotröcken im Durcheinander in einem Ruderboot entkommen und hätten die Black Pearl geentert. Gibbs und Scrum standen Rücken an Rücken, als sie versuchten, die Gespenster in Schach zu halten; ein uncharakteristisch kluges Verhalten, das funktionierte. Jack öffnete den Mund, um seine Crew an Bord der Pearl willkommen zu heißen, wurde aber von Salazars niedersausendem Degen gestoppt, der ihn nur knapp verfehlte. Mit einem Schrei sprang Jack zurück auf die Silent Mary.

„Du hast mir alles genommen!“, schrie Armando und folgte ihm. „Hast mich abstoßender gemacht als jeden Piraten!“

„Das ist nicht zwangsläufig wahr“, erwiderte Jack. „Bist du jemals Edward dem Blauen begegnet? Der ist sehr abstoßend. Schon wie er isst …“

Seine Stimme verlor sich, als ein reißendes Geräusch sein Ohr traf. Er sah zum Bug des Schiffes, wo die geschnitzte weibliche Galionsfigur der Silent Mary langsam zum Leben erwachte. Die Galionsfigur löste sich vom Schiff, kletterte über die Reling und stand turmhoch über Jack.

„Das ist sehr befremdlich“, sagte Jack. „Aber ich mag dein Kleid.“

Zur Antwort stieß die Galionsfigur einen entsetzlichen Schrei aus.

Jack schrie zurück – und ergriff die Flucht.

Hinter ihm hob die Galionsfigur ein Schwert und griff ihn an. Eingeklemmt zwischen Salazar und der Galionsfigur, versuchte Jack verzweifelt, sich einen Fluchtweg freizukämpfen. Er duckte sich vor eine Kanone, um kurz Luft zu holen, nur um sehen zu müssen, dass Salazar die Kanone zündete. Kurz bevor sie feuerte, schwang Jack sich hinauf, sodass sie nicht länger auf sein Gesicht zielte. Stattdessen riss die Kugel der Galionsfigur den Kopf weg, als die Kanone losging.

Die Galionsfigur hob dennoch das Schwert hoch über sich und war dabei ihm den Garaus zu machen, als es laut krachte. Vor seinen Augen wurde sie zwischen dem Bug der Pearl und der Seite der Silent Mary zerquetscht, als die Schiffe kollidierten. Der Schwung warf ihn auf das Deck. Er sah hoch und fand sich vor den wütenden Augen Salazars wieder. Der Geist hob den Degen hoch. Jack schluckte.

Und dann brach am Horizont die Dämmerung an.

Land!“

Der Schrei ließ Jack und Salazar vor Schreck erstarren. Sie drehten sich langsam zur Reling der Black Pearl. Tatsächlich war wie aus dem Nichts eine Insel erschienen. Jack konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Carina hatte es geschafft. Sie hatte das X gefunden.

Dann weiteten sich seine Augen, als er realisierte, dass sie nicht nur das X gefunden hatte, sondern schnurstracks darauf zu segelte! Salazar schien zur gleichen Zeit zu diesem Schluss gekommen zu sein. Er sah zu Jack hinunter, dann auf das rasch näherkommende Eiland. Jack wusste, dass der Capitán nicht bescheuert war. Wenn er nicht auf die Silent Mary zurückkehrte und es vermied, trockenes Land zu berühren, würde er ein zweites Mal sterben – und dieses Mal würde er nicht zurückkehren.

Mit einem wütenden Schrei begann der Capitán, sich zurückzuziehen. Doch bevor er auf die Mary zurücksprang, langte er aus, um Carina zu ergreifen, die näher zu Jack gekommen war. Seine Finger schlossen sich gerade um das Handgelenk des Mädchens, als Henry dazwischen sprang. Salazar ergriff stattdessen ihn, und als die Pearl auf Grund lief, zog er Henry auf die Mary. Mit einem Stöhnen drehte das Geisterschiff ab, verpasste die Insel nur knapp.

An Bord der Black Pearl beobachteten Jack, Barbossa und Carina, dass sich das andere Schiff auf die See zurückzog.

„Henry!“, schrie Carina. „Wir müssen Henry retten!“

Neben ihr schüttelte Barbossa den Kopf. Es gab keinen Weg zurück.

„Der Dreizack ist das Einzige, was ihn jetzt noch retten kann“, sagte er, überrascht von der Trauer, die er über Carinas möglichen Verlust spürte.

Hoffen wir lieber, dass wir ihn finden können‘, fügte er im Stillen hinzu. ‚Sonst ist Henry so gut wie tot.‘

 

2

 

Ich bin so gut wie tot‘, dachte Henry, als er auf die Gespenster starrte, die sich versammelt hatten, um den neuesten Gefangenen der Silent Mary zu sehen.

Aus dem Schlamassel komme ich nicht heraus. Ich werde ins nasse Grab sinken durch Salazars Hand oder – schlimmer noch – durch einen aus seiner Crew, und dann werde ich niemals meinen Vater retten … oder Carina wiedersehen.‘

Er seufzte, als ihm an Handgelenken und Fußknöcheln enge Fesseln gemacht wurden. Es würde eines Wunders bedürfen, um ihn zu befreien, und Henry war ziemlich sicher, dass er alle Wunder, die ihm zur Verfügung gestanden hatten, für die Suche nach Carina und Jack aufgebraucht hatte.

Als Salazar sich näherte, stand seine Mannschaft stramm.

„Capitán, Jack Sparrow sucht nach dem Dreizack!“, schrie einer der Gespensterseeleute. „Er ist auf trockenem Land; es gibt nichts, was wir noch tun können.“

Henry hob den Kopf und versuchte, Carina an der Küste der Insel zu finden. Aus seiner Sicht war die Insel mehr Fels als Strand. Dunkle Steine aus zahllosen Lavaströmen geformt, markierten einen schmalen Streifen Strand und wuchsen zu Hügeln an, was der ganzen Insel eine Atmosphäre von Zerstörung und finsterer Verzweiflung gab. Henry schüttelte es bei dem Gedanken, dass Carina dort mit Jack und Barbossa und deren Crews allein war. Er hoffte, dass es ihr gutging.

„Ich habe diesen Jungen aus gutem Grund mitgenommen.“

Henry sprang auf bei diesen Worten Salazars, die seine Aufmerksamkeit auf seine eigene düstere Lage lenkte.

„Ich werde in seinen Schuhen gehen. Kein Pirat wird uns besiegen!“

‚In seinen Schuhen gehen?‘, wiederholte Henry in Gedanken. Was immer das bedeutete, es klang nicht gut.

Offensichtlich wussten Salazars Männer sehr wohl, was er meinte. Die grässlichen Männer sahen einander an, Verständnis breitete sich auf ihren Gesichtern aus.

„Aber wenn Ihr einmal einen Lebenden übernehmt, gibt es kein Zurück. Ihr werdet für immer in seinem Körper gefangen sein!“, warnte ein anderer Geist.

Einen Lebenden übernehmen?‘, durchzuckte es Henry. Er sah sich wie wahnsinnig um. Es musste doch eine Möglichkeit zur Flucht geben, etwas, an das er bisher noch nicht gedacht hatte.

Dann traf Henrys Blick den des spanischen Geistercapitáns, der Tod verhieß.

„Der Dreizack wird mich befreien“, sagte der mit einem boshaften Lächeln. „Zeit, den Sparrow zu töten.“

 

Kapitel 16

Black Rock Island

Carina fing an zu glauben, dass das Glück sie verlassen hatte. Sie fand sich auf einer Insel wieder, die nichts weiter als eine felsige Landmasse war. War dies der Ort, an den die Karte, die kein Mann lesen konnte, führte? Von ihrem Platz an Deck der Black Pearl sah sie über das wüste Eiland und seufzte.

„Es ist leer“, sagte sie leise. „Aber dies muss es sein.“

Sie kehrte dem Strand den Rücken zu und senkte den Kopf. Welch grausames Spiel des Schicksals war es, so weit zu kommen und nicht zu finden, wonach sie suchten? Als sie versuchte, diese scheußliche Realität zu erfassen, erschien der erste Strahl des Tageslichts über dem Horizont. Hinter sich hörte sie, dass einer von Jacks Männern einen aufgeregten Schrei ausstieß. Sie wirbelte herum und bekam große Augen.

Im Licht enthüllten die Felsen ihr Geheimnis. Tausende Diamanten glitzerten, eingebettet in Vulkangestein, reif zum pflücken.

„Wir sind reich!“, schrie ein anderer Pirat heraus, sprang von der Black Pearl herunter und rannte zu den Felsen. Er bückte sich und zog an einem der größeren Diamanten, versuchte ihn aus dem Stein freizubekommen.

Gerade als er es geschafft hatte, gab es ein gewaltiges Grollen und einen Ausstoß sengend heißen Dampfes, der aus einem Riss in den Felsen schoss. Carina beobachtete, wie der Riss breiter und breiter wurde. Der Pirat, der den Diamanten herausgekratzt hatte, stieß einen entsetzten Schrei aus, als er gewaltsam unter die Erde gezogen wurde. Wo er gestanden hatte, blieb ein leerer Fleck.

„Zurück zum Schiff!“, schrie Gibbs und bahnte sich den Weg durch die Menge der Piraten, die gehofft hatten, endlich ihren Schatz zu bekommen. Während sie liefen, kam mehr Licht über den Horizont, und plötzlich wurde die ganze Insel von Licht überflutet. Als es auf die Diamanten traf, ließ es sie schimmern und glitzern.

Carina trat vor, ihre Enttäuschung wich.

„Sieh dir das an, Jack!“, sagte sie flüsternd. „Das ist das Schönste, was ich je gesehen habe!“

Er zuckte mit den Schultern.

„Schöne Felsen“, sagte er unbeeindruckt, „die grundlos töten.“

„Nicht Felsen, Jack“, korrigierte Carina ihn. „Sterne.“

Eilig begann sie, von der Black Pearl hinunterzusteigen.

Hinter ihr tauschten Jack und Barbossa Blicke. Hatte sie Sterne gesagt? Was hatten Sterne auf einer Insel zu suchen? Verwirrt und neugierig folgte Jack dem Mädchen. Barbossa folgte einen Schritt später, nicht willens, sie zu lange aus den Augen zu lassen.

„Sterne und Planeten genauso, wie sie am Himmel erscheinen“, sagte Carina, als sie den Weg fortsetzte. „Diese Insel ist ein perfektes Abbild des Himmels.“

„Aber es sind immer noch Felsen“, gab Jack zu bedenken. „Mörderische Felsen!“

Sie ignorierte den Piraten und ging weiter. Ihr Kopf schwirrte, als sich die Wahrheit mehr und mehr enthüllte. Sie hatte sich nicht geirrt. Diese Insel war, wonach sie so lange gesucht hatte. Und wenn ihre übrigen Berechnungen richtig waren – was sie nicht bezweifelte – wenn sie den fehlenden Stern fanden, würden sie das X finden.

Ohne zu ahnen, dass Sparrow und Barbossa sie beobachteten, folgte Carina den bekannten Mustern des Himmels. Als sie über die Diamanten ging, schien es, als ginge sie über den Nachthimmel. Jack drehte sich zu Hector und legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. Seine gerade gefundene Tochter hatte offensichtlich eine oder zwei Schrauben locker. Er spürte, dass es an der Zeit war, dem Mann auch die andere böse Nachricht zu geben.

„Hector“, sagte er mit ernster Stimme, „ich denke, du solltest es wissen … sie ist eine Horologin.“

Barbossa brachte Jack mit einem Blick zum Schweigen. Dann wandte er sich wieder Carina zu. Sie hatte an einem bestimmten Punkt angehalten und sah zwischen ihrem Tagebuch und dem Boden vor ihren Füßen hin und her.

„Vollende es, Carina“, sagte Hector, als er bemerkte, dass sie auf einen Klumpen von fünf Edelsteinen schaute – nicht Diamanten, sondern pulsierende Rubine – so angelegt, dass sie die identische Konstellation auf dem Tagebuch skizzierten. Und bis jetzt glühte einer der Rubine nicht wie die anderen. Sie wusste genau, was sie zu tun hatte.

Sie nahm den Rubin aus der Tasche und hielt ihn hoch.

„Für meinen Vater“, sagte sie, ohne den Strahl Traurigkeit zu bemerken, der über das Gesicht des Piraten an ihrer Seite huschte. Dann entfernte sie den stumpfen Stein und platzierte ihren Rubin in die Mitte der Konstellation. Er glitt an seinen Platz, passte perfekt.

„X markiert den Punkt!“, sagte sie, als die Edelsteine plötzlich aufleuchteten, die Gestalt des Dreizacks annahmen. Tief im Innern der Insel schien es zu rumpeln.

Unmittelbar bevor sich ein gigantischer Riss unter ihren Füßen auftat, griff Jack zu und zog Carina fort. Sie standen ein paar Fuß entfernt und sahen, wie die Welt zu zerbrechen begann – im übertragenen Sinn. Zwischen dem Bett von Diamanten und der Black Pearl sackte der Strand zum Wasser zusammen. Unsichtbare Winde zerrten am Wasser, trieben die Wellen in entgegengesetzte Richtungen fort, teilten das Meer vor ihren Augen. Das Wasser stieg hoch, höher und höher und vom Meeresboden fort, bis es sie umgab und den Meeresboden freigab.

Jack sah nach unten und hatte nur einen Augenblick, um zu erfassen, was nun geschehen würde. Er sagte Carina, sie solle einen Moment warten, als der Sand unter ihren Füßen nachgab und sie ausrutschten und eine Wand aus Wasser hinunter schlidderten, bis sie mit einem dumpfen Schlag hunderte Fuß tiefer auf dem Meeresboden landeten. Um sie herum hing das Wasser wie Vorhänge, unglückliche Fische, die zur falschen Zeit am falschen Platz waren, hingen einen Moment zwischen Meer und Luft, bevor sie auf den Boden fielen, wo sie purzelnd aufkamen, hilflos nach Luft schnappten. Mit großen Augen betrachtete Jack, was noch kein Mensch – kein lebender Mensch – je zuvor gesehen hatte. Er erspähte dutzende von Schiffswracks, deren Rümpfe durchgescheuert und von Seepocken bedeckt waren, Er nahm sogar einen Blauwal wahr, der um das Loch herumschwamm.

„Die Rückseite des Wassers“, sagte er. „Das sieht man auch nicht alle Tage.“

Als er sah, dass Carinas Tagebuch auf den Meeresboden gefallen war, hob er es auf und steckte es in seine Tasche.

„Jack, da ist es!“

Carinas Stimme forderte die Aufmerksamkeit des Piraten, und er drehte sich um. Sie starrte auf eine muschelförmige Kammer, die vor ihnen lag. Aus Korallen und Seeglas geformt, erhob sie sich vom Meeresboden. Und in deren Mitte stand – in seinem ganzen mythischen Glanz – der Dreizack. Fast acht Fuß hoch, mit drei scharfen Zinken, die das Licht selbst in den Tiefen dieses Loches noch reflektierten, triefte Poseidons Dreizack geradezu vor absoluter Macht. Es war ein uraltes, starkes Objekt mit einer unbestreitbaren Anziehungskraft auf die beiden Sterblichen, die nun dastanden und es anstarrten. Wie in Trance machten Carina und Jack einen Schritt vorwärts.

„Jack!“

Aus der Trance gerissen, drehten sich Jack und Carina um in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. Zu ihrer Überraschung sahen sie Henry in ihre Richtung kommen.

„Henry!“, rief Carina, Freude überflutete ihr Gesicht.

Doch er hielt nicht an. Er schob sie mit fürchterlicher Macht weg, die sie auf den Meeresboden warf. Er zog seinen Degen und schwang ihn – genau auf Jack. Der Pirat duckte sich knapp davor weg, konnte nur knapp vermeiden, von den geschmeidigen und wohlgeübten Hieben des Jungen aufgespießt zu werden.

Jacks Kopf zuckte hoch. Geschmeidig und wohlgeübt? Das letzte Mal, als er gegen Williams Sohn gefochten hatte, hatte der Junge den Degen kaum heben können, ohne dass sein Arm gezittert hatte. Er verengte die Augen und beobachtete, wie er ihn erneut angriff.

„Arme gerade … Schultern rechtwinklig … vorderes Bein gebeugt …“, beobachtete er mit wachsendem Argwohn.

„Henry?“, schrie Carina erneut und brachte sich auf die Füße.

Jack schüttelte den Kopf.

„Henry hält den Degen nicht so“, sagte er. Blitzschnell zog Jack einen Dolch aus dem Stiefel und schlitzte dem Jungen den Arm auf. Jack beobachtete, wie Henry auf seinen Arm sah und das Blut berührte, das aus seiner Haut quoll. Dann sah er wieder Jack an. Doch die Augen, die sich mit Wut und Pein in Jacks bohrten, waren nicht mehr Henrys. Sie waren unzweifelhaft Salazars. Jack schluckte. Salazar hatte Henrys Körper übernommen – was bedeutete, dass er zu Jacks Pech nun an Land gehen konnte.

„Verletze mich und du verletzt den Jungen“, sagte Salazar mit Henrys Stimme und bestätigte Jacks Verdacht.

„Gewiss nicht, Henry!“, rief Jack, als Salazar/Henry ihn erneut angriff, mit aller aufgestauten Wut und Ärger, die sich über die Jahre angesammelt hatten. Er schlug Jack den Dolch aus der Hand und griff zu, seine Finger wollten Sparrows Hals umschließen.

„Lass ihn!“

Carinas Stimme schreckte Salazar auf und stoppte ihn. Als er zu ihr sah, bemerkte er dass sie den Dreizack hielt, dessen Spitze auf Henry zielte.

„Lass’ deinen Degen fallen!“

„Carina …“, warnte Jack. Er wusste, dass das Mädchen sich eben erst mit dem Jenseitigen und dessen Arten arrangiert hatte. Ihm war klar, dass es für sie eine schwierige Vorstellung war, dass der Junge vor ihr irgendetwas anderes sein konnte als der Junge, den sie kennen gelernt und, wie Jack argwöhnte, vielleicht liebte. Doch Henry war nur ein Instrument unter Salazars Kontrolle, der alles dafür tun würde, zu bekommen, was er wollte. Und was er wollte, war der Dreizack.

Mit einer schnellen Bewegung riss Salazar Carina den Dreizack aus den Händen. Als sie erneut zu Boden ging, schloss Salazar seine Hand um die uralte Waffe. Mit einem Triumphschrei hob er ihn in die Luft.

„Es ist vorbei, Jack!“

Der Dreizack glühte, die ganze Macht des antiken Stabes begierig, nach Jahrtausenden losgelassen zu werden. Der Boden unter Jacks Füßen begann zu beben, und das Wasser – ohnehin schon unnatürlich fortgerissen – floss geradewegs nach oben, erhob sich vor seinen Augen. Wind peitschte den Meeresboden entlang, als der sich ebenfalls zu erheben begann.

Jack schluckte, als alles drunter und drüber ging und wie Kraut und Rüben durcheinander stürzte. Es schien, in der Tat, als würden die Dinge für ihn – und vielleicht für den Rest der Zivilisation – sehr, sehr seltsam werden.

3

 

Capitán Salazar fühlte, wie ihn die Kraft durchströmte, ein Gefühl, großartiger als er je erfahren hatte. Die Befriedigung, Piraten zu töten, verblasste im Vergleich zu diesem Gefühl. Jack zu beobachten, wie er sich wand, war – wenngleich befriedigend – eine Kleinigkeit verglichen mit dieser Empfindung. Mit jedem vergehenden Augenblick spürte er, dass der Dreizack ihm mehr und mehr Kraft gab, bis er mit einem triumphierenden Schrei in der Lage war, sich aus Henrys Körper zu befreien. Als der Junge halb bewusstlos und verwundet zu Boden ging, trat Salazar vor. Im düsteren Zwielicht des Meeresbodens wirkte seine geisterhafte Gestalt noch scheußlicher als ohnehin schon. Nun war er praktisch nicht mehr aufzuhalten.

Hola, Sparrow“, sagte er. Dann zielte er mit dem Dreizack auf Jack und ließ ihn mit einem Schnippen seines Handgelenks gegen einen Felsen fliegen.

Carina sprang zu der halb bewusstlosen Gestalt, die auf dem sandigen Boden lag.

„Henry!“

Sie fiel auf die Knie und schüttelte ihn. Nichts geschah.

„Wach auf!“

Sie schüttelte ihn abermals. Es geschah immer noch nichts. Ihre Augen hoben sich zu dem Vorhang aus Wasser, der sie umgab. Hinter dem Vorhang war ein Dutzend von Salazars Mannschaft, unfähig ihn auf die Lichtung zu durchschreiten. Sie standen, unheimlich schimmernd, verhöhnten sie in geisterhaftem Geflüster. Carina ignorierte sie, schöpfte mit den Händen etwas von dem salzigen Nass und schüttete es über Henry.

Wach auf! Er bringt Jack um!“

Schrecklich langsam öffnete er die Augen. Benebelt sah er sich um, unfähig, seine neue Umgebung zu begreifen. Schließlich traf sein unkonzentrierter Blick Carinas entsetzten.

„Der Dreizack“, sagte sie, als sie sah, dass sie seine Aufmerksamkeit hatte – sozusagen.

„Salazar kann mit dem Dreizack auf trockenem Land gehen.“

Dieser Umstand war ihr eben erst eingefallen. Es erklärte alles: wie Salazar gegen Jack kämpfen konnte, während seine Leute im Wasser gefangen blieben.

„Jeder weiß, dass Gespenster nicht an Land gehen können!“, schrie sie, plötzlich Experte für das Paranormale.

Als die wahre Macht des Dreizacks Carina klar geworden war, weiteten sich ihre Augen und sie sah zu Salazar, der Jack immer noch quälte, ihn durch die Wasserwände schleuderte, als wäre er ein flacher Stein, der über eine Wasseroberfläche sprang. Henry mühte sich ab, sich aufzusetzen und sah ebenfalls auf die alten Feinde.

„Die Macht der See …“, flüsterte er.

Ihr blieb der Atem im Hals stecken. Das war es! Die kryptische Botschaft, die sie in der Gefängniszelle übersetzt hatte.

„Um die Macht des Meeres zu entfesseln, muss alles entzweit werden“, wiederholte sie laut.

Er sah sie verwirrt an.

„Entzweit?“, erkundigte er sich. Sein Kopf schmerzte immer noch, er hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren.

Sie nickte.

„Wenn der Dreizack alle Macht enthält …“

„Dann ist jeder Fluch darin eingeschlossen …“, vollendete Henry, endlich klarsehend – und denkend.

„Entzweien!“, sagte er. Das machte alles Sinn. Sie mussten den Dreizack entzweien. Sie mussten ihn zerstören. Wenn ihnen das gelang, würden alle Flüche des Meeres gebrochen werden, einschließlich Salazars – und er würde wieder sterblich sein.

Ohne zu ahnen, dass Henry und Carina einen möglichen Weg gefunden hatten, ihn ein für allemal zu vernichten, spielte Salazar weiter mit Jack wie eine Katze mit einer Maus spielte. Er hob den Dreizack, schleuderte Jack damit in ein großes Korallenriff. Trotz der offensichtlichen Pein, die Jack litt, kämpfte er sich auf die Füße.

„Ergib dich“, sagte er, die Worte seines neunzehnjährigen Selbst wiederholend, „dann lass’ ich dich am Leben.“

Salazar knurrte.

„Du willst, dass ich mich ergebe?“

„Ich empfehle es dringend“, höhnte Jack. Hinter Salazar sah er Henry auf die Füße kommen. Er und der Junge tauschten ein knappes Nicken. Dann sah Jack wieder zu Salazar – gerade, um zu sehen, dass er ihm den Dreizack geradewegs in die Brust rammte.

1

 

Im nächsten Moment hielt alles inne.

Der Wind hörte auf zu heulen.

Das Wasser wurde still.

Und Henry und Carina standen wie erstarrt da.

Und dann lächelte Salazar. Seine Hand fasste den Dreizack, den er nach wie vor hielt, fester.

„Jack Sparrow ist nicht mehr.“

Jack sah dorthin, wo die Spitze des Dreizacks seine Brust durchbohrt hatte, war einen Moment still. Langsam hob er beide Hände und packte den Schaft hinter den Spitzen. Dann lächelte er ebenfalls.

„Ich bin ziemlich sicher, dass das Teil des Plans war.“

Salazars Augen verengten sich.

„Und was für ein Plan war das?“

Als Antwort öffnete Jack sein blutiges Hemd, enthüllte Galileos Tagebuch. Die schärfste Spitze des Dreizacks war gerade hindurch gegangen und kurz vor Jacks Herz gestoppt worden. Und obwohl er nicht gänzlich unversehrt war – die Spitzen hatten sich tief in ihn gebohrt – würde er überleben. Jack sah über seine Schulter und rief:

„Henry, sei der Letzte, der stirbt, mein Guter!“

Salazar drehte seinen Kopf, aber es war zu spät. Während er sich darauf konzentriert hatte, Jack zu vernichten, war Henry auf die Füße gekommen und hatte seinen Degen gezogen. Auf Jacks Signal schwang er ihn mit aller Kraft. Es gab einen lauten Klang, als der Stahl des Degens das Metall des Dreizacks traf und die uralte Waffe in tausend Stücke zerschmetterte.

Als die Fragmente eins nach dem anderen zu Boden fielen, begann Jacks Wunde zu heilen. Henry und Jack wandten sich gemeinsam Salazar zu. Vor ihren Augen veränderte sich der Capitán. Das Loch in seinem Schädel füllte sich langsam. Seine Uniform, so lange blutig und befleckt, wurde sauber und perfekt. In wenigen Momenten war er kein Gespenst mehr. Nun stand Salazar in seinem ganzen Glanz vor ihnen, sah aus, als ob kein Tag vergangen war in all den langen, schrecklichen Jahren.

Salazars Fluch war gebrochen.

Kapitel 17

Väterliches Opfer

2 „Alle Flüche sind gebrochen – das bedeutet, mein Glück ist zurückgekehrt!“

Jacks froher Schrei verwandelte sich rasch in ein Stöhnen, als er die Wände aus Wasser sah, die nur durch die Macht des Dreizacks in Schach gehalten worden waren, mit deren Abwesenheit aber zu brechen begannen. Vielleicht war sein Glück nicht ganz zurückgekehrt.

„Lauft!“

Carinas Stimme schnitt durch den Lärm des rauschenden Wassers. Jack zögerte nicht. Er schob Henry vorwärts, rannte hinter Carina her, die schon die Seite des Korallenriffs hinauflief. Die stachelige Treppe zur Oberfläche wurde schnell vom Wasser überspült. Sie hatten nicht viel Zeit.

„Die Black Pearl!“, schrie Jack und wies nach oben. Alle Augen wandten sich nach oben. Dort schwebte die Black Pearl auf der Kante des geteilten Ozeans. Der Anker des Schiffs wurde heruntergelassen. Darauf stand Barbossa und streckte eine Hand aus.

„Beeilung!“, schrie er.

Jack, Henry und Carina erreichten gerade rechtzeitig den Anker. Nachdem sie sich darauf geworfen hatten, befahl Hector den Piraten auf der Black Pearl, den Anker einzuholen.

Doch sie waren nicht die Einzigen, die den Weg aus dem Wasser gesehen hatten. Unter ihnen hatten Salazar und seine nun wieder normal lebendigen Männer den unteren Teil des Ankers ergriffen. Sie begannen zu den anderen hinaufzuklettern, Arm über Arm, als das Wasser um sie herumwirbelte.

Auf der Black Pearl strengten sich die Piraten an, den Anker hochzuhieven. Doch mit all den Leuten, die versuchten, daran hinaufzuklettern, konnten sie es nicht. Das Schiff bekam Schlagseite.

„Sie gibt nach!“, schrie Henry.

„Klettert!“, befahl Barbossa.

So schnell sie konnten, begannen Jack und Henry, sich hinaufzuziehen. Hinter ihnen kämpfte Carina; das Gewicht ihres Kleides machte es ihr schwer, sich zu bewegen. Die Black Pearl bekam noch stärkere Schlagseite, brachte Carina aus der Balance. Sie schrie, als ihre Hände abrutschten. Doch als sie kurz davor war, abzustürzen spürte sie starke, raue Finger, die sich um ihre Hand schlossen. Als sie hochsah, trafen ihre Augen Barbossas.

„Ich hab’ dich!“, sagte er. Sein Hemdsärmel rutschte hoch und legte seinen Unterarm frei.

Carina blieb die Luft weg. Und plötzlich dachte sie nicht länger über schreckliche Tatsache nach, dass ihre Füße hilflos über dem Meeresgrund hingen und unter ihr Salazar und seine Männer näher kamen. Alles, was Carina sehen konnte, woran sie denken konnte, war die Tätowierung, die auf Barbossas Arm bloßgelegt war: Die Tätowierung von fünf zusammenhängenden Sternen – die Tätowierung, die Carina bedeutete. Ihre Augen trafen erneut Barbossas.

„Was bin ich für Euch?“, flüsterte sie, obwohl sie glaubte, die Antwort zu kennen. Die Wahrheit war dort, in seine Haut gezeichnet, für sie zu sehen.

Hector starrte sie an, sein Gesichtsausdruck wurde weicher, seine Augen klar.

„Ein Schatz!“, sagte er schlicht. Und dann, nachdem er sichergestellt hatte, dass sie sicher am Anker war, schnappte er sich den Säbel aus Jacks Gürtel und ließ sich fallen.

Carina schrie, als sie sah, dass der Pirat – ihr Vater – durch die Luft fiel, durch Salazars Leute schlitzte. Und dann in einem letzten – oder vielleicht ersten – Akt väterlicher Liebe fiel er auf Salazar, stach dem Mann den Säbel in das nun wieder schlagende Herz. Gemeinsam stürzten sie zurück auf den Meeresboden. Als Barbossa hochsah, den Blick fest auf Carinas Augen gerichtet, lächelte er, endlich zufrieden.

Einen Moment später rauschte Wasser über ihn und er verschwand zusammen mit Salazar und dessen Leuten außer Sicht.

„Halt dich fest!“, schrie Henry, als der Anker – nun vom meisten Gewicht befreit – rasch zu steigen begann. Gerade, als das Loch im Meer vollständig zusammenbrach, schoss der Anker durch die Wasseroberfläche und flog in die Luft, wo er samt Jack, Henry und Carina, die wie nasse Seepocken daran klebten, hängenblieb. Sie hatten es geschafft.

Doch der Preis war hoch gewesen.

Das Trio fiel vom Anker auf das Deck der Black Pearl und sie blieben einen Moment liegen, husteten und rangen nach Luft. Als Jack sicher war, dass alles Wasser aus seinen Lungen heraus war, stand er auf und bewegte sich zur Reling. Am Himmel verzogen sich die Wolken und ließen die Sonne hindurchbrechen, und darunter wurde die See ruhig.

Als die übrige Crew zu ihm kam, nahm Jack den Kapitänshut ab und hielt ihn an sein Herz.

„Piratenleben, Hector“, sagte er leise. Es fiel ihm schwer, sich ein Leben auf See ohne seinen alten Freund vorzustellen. Doch als Jack sich umdrehte und das Mädchen ansah, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. Der alte Mann hatte ein Erbe hinterlassen, etwas, was nur ein Ausnahmepirat tat.

Carina ahnte nicht, dass Jack sie ansah. Sie stand neben Henry und starrte über die ruhige See. Sie war überrascht, dass es so schön sein konnte, wenn es nur Augenblick zuvor so furchtbar gewesen war. Was sie noch mehr überraschte war die Tiefe ihrer Trauer, als sie an den Mann dachte, den sie für so lange Zeit überhaupt nicht gekannt hatte, den Mann, der sein Leben für ihres geopfert hatte.

„Geht es dir gut?“, fragte Henry sanft.

Sie seufzte.

„Für einen Moment hatte ich alles, Henry, nur um alles wieder zu verlieren.“

„Nicht alles, Miss Smyth“, erwiderte er. Er gab ihr das Tagebuch. Dann streckte er seine Hand aus und nahm ihre andere Hand, verschränkte seine Finger mit den ihren. Bevor sie das noch überdenken konnte, warf sie sich in seine Arme, drückte ihn mit aller Macht an sich. Er hatte Recht: Sie hatte nicht alles verloren. Tatsächlich realisierte sie, dass sie, als Henrys Arme sich enger um sie legten und sie nahe zu sich zogen, vielleicht noch etwas mehr bekommen hatte.

„Barbossa“, sagte sie, ihn korrigierend. „Mein Name ist Barbossa.“

 

 

Kapitel 18

Will Turners Rückkehr

Als die Sonne über der Karibik unterging, illuminierte orangenes Licht die gigantischen Klippen, die aus dem Wasser aufragten. Die Klippen hatten sich in hunderten von Jahren nicht verändert. Sie waren dieselben, die sie vor all den Jahren gewesen waren, als Will Turner sich zum ersten Mal von Elizabeth Turner verabschiedet hatte, bevor er auf die Flying Dutchman zurückgekehrt war. Sie waren dieselben, als sie zehn Jahre später zurückgekehrt war, um Henry seinem Vater vorzustellen. Und sie waren dieselben, die sie gewesen waren, als Henry sich zu seinem Abenteuer aufgemacht hatte; die Klippen hatten hinter ihm gewacht.

Nun segelte die Black Pearl von dort in ihr nächstes Abenteuer. Henry stand oben auf den Klippen, sah über die See, fühlte sich nervös und aufgeregt zur gleichen Zeit. Als er neben sich sah, wurde ihm klar, dass es nicht nur deshalb so war, weil er vielleicht seinen Vater sehen würde. Im Licht der untergehenden Sonne sah Carina einfach himmlisch aus. Die Sonnenstrahlen ließen ihr Haar glitzern und ihre Augen leuchten. Als sie bemerkte, dass er sie ansah, wurde sie geziemend rot.

„Vielleicht hatte Jack Recht“, sagte er und brach ihre kameradschaftliche Stille.

„Womit?“

„Das unkratzbare Jucken“, erwiderte er. Bevor sie ihn fragen konnte, was das war, beugte er sich zu ihr und öffnete die Lippen. Seine Augen schlossen sich, er hielt den Atem an, als er sie küssen wollte, begierig, die Weichheit ihrer Lippen …

Klatsch!

Stattdessen spürte er ihre Handfläche.

„Was machst du?“, schrie er auf und hob die Hand zu seiner brennenden Wange.

„Ich wollte nur sicherstellen, dass du es wirklich bist“, sagte sie, ein kleines, spielerisches Lächeln verzog ihre Lippen.

Henry grinste.

„Ich bin es – immer noch!“

„Dann schätze ich, ich habe mich …“

„Geirrt!“, fügte Henry für sie hinzu, ihre erste Diskussion seinerzeit auf der Pearl wiederholend.

„Eine leichte Fehleinschätzung“, sagte Carina neckend. „Obwohl man damit argumentieren könnte …“

Er stoppte sie mitten im Wort durch einen Kuss. Sanft zunächst, wuchs die Intensität, als sie beide ihre Zurückhaltung aufgaben und einräumten, dass Jack in der Tat Recht gehabt hatte. Henry zog sich schließlich zurück. Er strich eine Strähne von Carinas Haar hinter ihr Ohr.

„Entschuldigung angenommen“, sagte er und wollte sie erneut küssen, nur um aufgehalten zu werden. Nicht mit einer Backpfeife dieses Mal, sondern von etwas, das er aus dem Augenwinkel sah.

„Siehst du das?“, fragte er und ging zum Rand der Klippe.

Carina folgte ihm und sah über den Ozean. Zunächst sah sie nichts außer rollenden Wellen und ein paar Vögeln, die im Wind flatterten. Doch dann sah sie am Horizont einen Schein. Klein zunächst wurde er größer, bewegte sich direkt auf sie zu, als ob er von der Sonne selbst abgestrahlt wurde. Neben ihr zog Henry sein Fernglas und hob es mit zitternden Fingern an sein Auge. Dann stieß er einen Schrei aus.

Die Flying Dutchman war zurückgekehrt.

3

 

Will Turner hatte nie gedacht, dass dieser Tag jemals kommen würde. Sein Fluch war gebrochen. Er musste seine Tage nicht länger gefangen auf der Flying Dutchman verbringen. Er konnte wieder an Land gehen, wann immer er wollte. Und das Beste von allem: Er konnte Henry endlich wiedersehen. Er ging von Bord und stieg die Klippen hinauf, für ihn der wichtigste Ort auf der Welt. Als er den Gipfel erreicht hatte, sah er seinen Sohn und ein schönes Mädchen, die schnell auf ihn zukamen.

„Lass dich ansehen, mein Sohn“, sagte Will, als Henry vor ihm stehenblieb. Er legte seine Hände auf die Schultern des Jungen.

Männerschultern‘, dachte er, sich selbst korrigierend. Denn Henry war nicht länger der kleine Junge, den er Jahre zuvor verlassen hatte. Er war auch nicht mehr der sture und naive Junge, der auf sein Schiff gekommen war und geschworen hatte, ihn zu retten. Welche Ereignisse auch immer sich ergeben hatten, um sie beide an diesen Punkt zu bringen und den Fluch zu brechen, sie hatten Henry verändert. Der Junge war fort, ersetzt durch einen gutaussehenden Mann, der nun vor ihm stand. Unfähig, seine Emotionen noch länger im Zaum zu halten, zog Will Henry an sich in eine Umarmung. Sie standen lange Zeit so, wiedervereint, nicht willens, den anderen schon von sich zu lassen.

Schließlich schob Will Henry zurück.

„Wie ist dir das gelungen?“, fragte er. Diese Frage hatte ihn beschäftigt seit er bemerkt hatte, dass der Fluch aufgehoben war.

„Wie hast du mich gerettet?“

Henry sah seinen Vater an und dann Carina.

„Ich werde dir eine Geschichte erzählen“, setzte er an, „eine Geschichte vom größten Schatz der Menschheit …“

Und als er seine Geschichte zu erzählen begann, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen, denn er wusste, dass ein Schatz nicht nur aus Gold und Juwelen bestand. Ein Schatz war Familie und Liebe. Und er hatte beides.

Schritte hinter dem Hügel störten die Dreisamkeit. Will blieb stehen, sah erst seinen Sohn an, sah dessen Lächeln; dann sah er in Richtung der Schritte und glaubte, zu träumen. Elizabeth lief eilig über den Hügel. Auch sie hatte bemerkt, dass er zurückgekehrt war.

Will ließ Henry und Carina stehen und rannte so schnell ihn seine Füße trugen, zu der Frau, die er liebte, die er so lange hatte missen müssen und die ihn ebenso vermisst hatte, die ihren gemeinsamen Sohn hatte allein aufziehen müssen. Knapp jenseits eines schmalen Pfades trafen sie sich und fielen einander in die Arme, küssten sich.

Sie würden sich nicht wieder trennen müssen. Sie hatten ihren Sohn bei sich; niemand würde sie je wieder trennen. Sie waren zusammen – und sie hatten noch jemanden dazugewonnen: Carina.

Epilog

Jack war wieder dort, wohin er gehörte. Er stand auf der Black Pearl und sah durch sein Fernglas auf die Küste. Er suchte das Land vor sich ab, zögerte, als er Will und Elizabeth erspähte. Sie küssten sich. Carina und Henry schlossen langsam zu Henrys wiedervereinten Eltern auf.

„Das ist ein wirklich abstoßender Anblick“, brummte er in den Bart.

„Captain Jack Sparrow an Deck!“

Gibbs’ Ausruf zog Jacks Aufmerksamkeit von den Liebenden fort. Jack lächelte. Captain. Das hörte sich gut an. Er drehte sich zu Gibbs um. Hinter ihnen verblassten die Klippen in der Entfernung, als sie in den Sonnenuntergang segelten. Sie waren von nichts als dem offenen Ozean umgeben. Es waren keine verfluchten Seeleute hinter ihnen her, keine britischen Kriegsschiffe, die hinter ihnen aufkamen, keine Geisterhaie, die sie an Backbord oder Steuerbord attackierten. Nur die See. Genauso, wie Jack es liebte.

„Wie ist unser Kurs, Sir?“, fragte Gibbs.

„Wir folgen den Sternen, Gibbs“, sagte er schließlich. „Ich habe eine Verabredung hinter meinem geliebten Horizont.“

Jack wandte sich um, Jack der Affe landete auf seiner Schulter. Der Pirat hätte ihn fast über Bord geworfen, doch er hielt inne, als er sah, dass der Affe etwas in den Pfoten hielt. Der Affe hob die Pfoten und ließ Jacks Kompass in dessen Hand fallen. Dann verzog er die Lippen zu einem Affenlächeln.

Jack schnippte den Kompass auf und sah auf die Nadel herab. Als sie sich langsam zum Horizont bewegte, begann Jack eine Melodie in sich hinein zu summen. Der Kompass musste nicht länger in irgendeine Richtung weisen, was Jack wissen ließ, dass er alles hatte, was er je hatte haben wollen. Er war zurück an Bord der Black Pearl und hatte nur noch das unendliche Vergnügen auf See, das er wünschte. Er lebte das beste Leben, das er hätte haben wollen – das Piratenleben.

Ende

 

(beinahe)

 

 

Postskriptum

Ein Gewitter erschütterte eine schwüle Nacht, der heftige Wind ließ die Vorhänge und die Gardine eines offenen Fensters weit in den Raum hineinschlagen. Die kleine Flamme der Nachtlampe, die Elizabeth schon in ihrem Zimmer in der Gouverneursvilla von Port Royal gehabt hatte, flackerte wild.

Will und Elizabeth Turner schliefen dennoch ruhig und zufrieden in ihrem Ehebett in dem Haus nahe des Leuchtturmes. In den Donner nach einem Blitz mischte sich das leise Quietschen der Schlafzimmertür. Licht vom Flur fiel auf Elizabeths Bettseite.

Ein Schatten schob sich in das Schlafzimmer des Ehepaars Turner – ein Schatten mit einem hornartig geformten Dreispitz und einer riesigen Krabbenklaue, die eine linke Hand ersetzte. Die Klaue hob sich drohend und klapperte.

Will, der auf der rechten Seite des gemeinsamen Bettes lag, schreckte plötzlich hoch, als ihn das klappernde Geräusch aufstörte. Er sah sich zur Tür um, doch dort stellte er nichts Ungewöhnliches fest.

Mit einem Seufzen erklärte er die Gestalt seines Vorgängers als Captain der Flying Dutchman, Davy Jones, von der er geträumt hatte, zum Albtraum. Sein Blick fiel auf Elizabeth, seine geliebte Frau, bei der er endlich dauerhaft sein konnte – und nicht nur für einen Tag in zehn Jahren. Er beugte sich zu ihr und umarmte sie. Zufrieden schnurrend erwiderte sie seine zärtliche Umarmung und drehte sich zu ihm.

Erneut schoss ein Blitz über den Himmel, dem grollender Donner folgte. Die Eheleute Turner ließen sich dadurch nicht stören und widmeten sich einander voller Liebe.

Die Seepocken, die in einem kleinen See vor ihrem Bett lagen und vor dem Geräusch, das Will geweckt hatte, samt dem Wasser nicht vorhanden gewesen waren, fielen ihnen nicht auf …

Ende

 

(nun aber wirklich)

 

 

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