… denn ein Haus, das gespalten ist, kann nicht bestehen

Nord und Süd stehen sich in Amerika unversöhnlich gegenüber, als der Sezessionskrieg ausbricht und Familien und Freunde auseinandergerissen werden. Der frischgebackene US-Leutnant Robert Bennett bekommt die ganze Wucht des sich entfesselnden Bürgerkrieges zu spüren:

Zwei seiner besten Freunde und sein eigener Bruder sind plötzlich seine Feinde Roberts große Liebe zu Susan, der Schwester seines Freundes und Regimentskameraden Thomas Craig, fordert einen hohen Preis von ihm, als er ihr ein Versprechen gibt.

Denn es kämpfen nicht nur reguläre Truppen gegeneinander. Partisanen, die zwischen allen Fronten stehen, machen beiden Seiten das Leben schwer. Und Yancey Morrows und seinen Partisanen in die Hände zu fallen, ist nahezu gleichbedeutend mit einem Todesurteil …

 

 

Prolog

 

Es war der 20. Dezember des Jahres 1860.

Im Kasino der Militärakademie West Point feierten die Kadetten des Abschlussjahrgangs die bestandene Prüfung. Der Jahrgang 1856 war ein außergewöhnlich guter Jahrgang gewesen. Von den im Mai 1856 aufgenommenen einhundert Anwärtern hatten fünfundneunzig die Abschlussprüfung bestanden. Am Nachmittag war eine feierliche Zeremonie in der Schulaula gewesen, in der sie ihre Offizierspatente erhalten hatten und zum Second-Lieutenant befördert worden waren. Jetzt veranstalteten die Ex-Kadetten eine eigene Feier, zu der sie auch die meisten Lehrer eingeladen hatten.

Aber dieser 20. Dezember 1860 war kein normaler 20. Dezember für die Vereinigten Staaten von Amerika. Es war der Tag, an dem die Union der Vereinigten Staaten nach dem Willen des Konvents von South Carolina aufgelöst werden sollte!

South Carolina war einer der Staaten der USA, in denen Sklavenhaltung nicht nur erlaubt war, sondern als Grundlage des Wirtschaftslebens betrachtet wurde. Die Frage, ob es einem Menschen erlaubt sein sollte, einen anderen sein sächliches Eigentum zu nennen, entzweite die Bürger der USA bereits seit etwa dreißig Jahren. Es hatte sich im Laufe der Zeit eine Zweiteilung des gewaltigen Landes herausgebildet: Der Norden bestand im Wesentlichen aus Staaten, in denen die Sklaverei verboten war oder Sklaven jedenfalls nicht gehalten wurden. Der Süden mit seinen Monokulturen von Baumwolle und Tabak lebte hauptsächlich von der Sklaverei. Die Sklaverei stellte wirtschaftlich den günstigsten Weg für die Südstaatler dar, weil ein Sklave nur den Anschaffungspreis kostete und später außer Kost und Logis keine weiteren pekuniären Belastungen verursachte.

Zwar war den Verfassungsvätern das Gewissen nicht leicht gewesen, als sie die Sklaverei weiterhin zuließen; schließlich stand sie in grundlegendem Gegensatz zur Unabhängigkeitserklärung, in der es hieß, dass alle Menschen gleiche Rechte besäßen, die unveräußerlich seien, so das Leben, die Freiheit und das Streben nach Glück. Thomas Jefferson, der Architekt der amerikanischen Unabhängigkeit, hatte die Sklaverei denn auch mehr als – wirtschaftlich – notwendiges Übel betrachtet. Doch so wie er sahen es nicht alle Sklavenhalter. Seit den Zeiten George Washingtons waren es die reichen Söhne der Südstaaten gewesen, die den Präsidenten gestellt hatten. Und sobald sich im Senat oder im Repräsentantenhaus Opposition gegen die Sklaverei regte, drohten die Sklavenhalterstaaten regelmäßig mit der Sezession, dem Ausscheiden aus der Union. An einer Verselbstständigung der Südstaaten war in den letzten dreißig Jahren keinem Parlamentarier in Washington D.C. gelegen, denn der Süden war reich, sehr reich. Erst mit der Vergrößerung der Industrie im Norden hatte sich der Widerstand der Abolitionisten – wie die Leute genannt wurden, die für die Freiheit der Schwarzen eintraten – eine solidere Grundlage verschaffen können. Doch trotz der im Norden wachsenden Ablehnung der Sklaverei wollte niemand ernsthaft die Auflösung der Union riskieren, und so kam es immer wieder zu Kompromissen im Parlament, die ein Weiterbestehen der Sklaverei im Süden ermöglichten und den Bestand der Union als solcher garantierten. Einer dieser Kompromisse besagte, dass die Sklaverei auf eine Linie südlich von 36° 30 nördlicher Breite beschränkt sein sollte.

1854 jedoch hatte das Kansas-Nebraska-Gesetz das Parlament passiert, das der Bevölkerung die Entscheidung über Sklaverei oder nicht überlassen sollte. Pikant an diesem Kompromiss war, dass die vom Kansas-Nebraska-Gesetz betroffenen Territorien nördlich dieser Linie lagen, die Mason-Dixon-Linie genannt wurde. Die auf den ersten Blick positive Regelung beschwor Unruhen herauf, als die Anhänger der Abolitionisten und der Sklavenhalter in die fraglichen Territorien zogen, um der jeweils eigenen Seite bei den bevorstehenden Abstimmungen Gewicht zu geben und dabei aneinander gerieten. In Kansas herrschte Aufruhr, Mord und Totschlag, so dass der Staat bald als Bloody Kansas bezeichnet wurde.

Hinzu kam, dass der Präsident der Vereinigten Staaten bisher stets mit massiver Unterstützung des reichen Südens gewählt worden war. Wenn er selbst schon nicht direkt aus dem Süden kam, war er doch sehr abhängig von der Gunst der Südstaatler. Am 6. November 1860 war aber etwas geschehen, das in der kurzen Geschichte der USA kein Beispiel kannte: Abraham Lincoln, ein Anwalt aus Kentucky, der seine politische Karriere in Illinois begonnen hatte, war im Jahr zuvor zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner gekürt worden und am Wahltag zum 16. Präsidenten der USA gewählt worden. Das Besondere daran war, dass er nicht eine einzige Wahlmännerstimme aus den Südstaaten bekommen hatte. Lincoln hatte sich zum Ziel gesetzt, den Siedlern im Norden und Westen und der einheimischen Industrie zu helfen. Zu diesem Zweck wollte er neue Schutzzölle einführen, die gerade erst in einem der vielen Kompromisse abgebaut worden waren. Vor allem aber war Lincoln gegen die Sklaverei und vertrat die Auffassung, dass ein Volk nicht glücklich sein könnte, wenn ein Teil frei und der andere unfrei sei. Er hatte dennoch nicht die Absicht, die Sklaverei sofort abzuschaffen, weil ihm durchaus bewusst war, dass er zum einen nicht die Macht hatte, einen solchen Schritt zu tun, zum anderen, dass ein solches Gesetz die Sklaven haltenden Staaten in ihrer Gesamtheit aus der Union treiben würde. Lincoln war weit blickend genug, zu erkennen, dass eine Spaltung des Landes den Untergang des Ganzen bedeuten konnte. In einer Rede im Senatswahlkampf 1858 gab er diesen Bedenken Ausdruck, indem er sagte:

„Ein Haus, das in sich uneins ist, kann nicht bestehen!“

Der Süden glaubte sich durch Lincolns Wahlprogramm vernachlässigt und in seinen Privilegien bedroht. Es kam zu dem Bruch, der von den dreizehn Sklaven haltenden Staaten schon mehrfach angedroht worden war. South Carolina tat den entscheidenden Schritt, wählte einen Konvent, der die Verfassung der Vereinigten Staaten passend auslegte und den Bruch vollzog, indem er an jenem 20. Dezember, an dem diese Geschichte beginnt, eine Verordnung ratifizierte, die alle Beziehungen an die Vereinigten Staaten auflöste.

Die jungen Männer, die im Schulkasino ihren Abschluss feierten, waren nicht ahnungslos. Die echten Yankees, die Nordstaatler, prügelten sich häufig mit den ebenso echten Dixies, den heißblütigen Südstaatlern, von südlich der Mason-Dixon-Linie. Zwar gab es auch Ausnahmen unter den Ex-Kadetten, die sich lieber auf die Ausbildung konzentriert hatten, statt sich zu raufen – aber Ausnahmen bestätigen die Regel. Und die Regel war, dass Nord und Süd sich nicht vertrugen. Für diesen Tag allerdings war eine Art Waffenstillstand vereinbart worden. Selbst die, die sich sonst die Köpfe eingeschlagen hätten, blieben friedlich, aber eine gewisse Spannung lag in der Luft.

Vier der genannten Ausnahmen hatten sich zu einem Billardspiel am grünen Tisch eingefunden.

Robert Christopher Bennett, Thomas Steven Craig, Martin Luther Moore und Mark Zachary Ashley hatten nicht die Absicht, sich zu streiten, nur weil Bennett und Craig aus dem Norden, Ashley und Moore aus dem Süden waren. Robert stützte sich auf seinen Queue und wartete auf seinen Einsatz. Er war jetzt einundzwanzigdreiviertel Jahre alt, hochgewachsen und schlank, trug das dunkle, leicht krause Haar sehr kurz geschnitten und hatte wache, intelligente Augen, die braun wie Haselnüsse waren. Um die Augen bildeten sich Lachfältchen, die bewiesen, dass der oft ernste junge Mann durchaus herzlich lachen konnte. Im Moment blickte er eher etwas skeptisch. Auf der Stirn bildete sich über der spitzen Nase eine steile Falte.

„Was du vorhast, geht daneben, Tom“, warnte er seinen Freund und Mannschaftskameraden Thomas Craig, der eben die weiße Kugel anvisierte.

„Halt’ dich raus, du mathematischer Blindgänger“, knurrte Tom, ohne aufzusehen, und führte seinen geplanten Stoß aus. Die weiße Kugel verfehlte die Elf knapp und rutschte auch an allen anderen noch auf dem Tisch befindlichen Kugeln vorbei. Thomas seufzte.

„Hab’ ich dir doch gesagt“, grinste Robert schelmisch. Thomas richtete sich auf. Er war ebenso groß wie Robert, hatte blaue Augen, war strohblond und trug einen noch leicht flaumigen Oberlippenbart. Es gab viele, die Robert und Thomas für Brüder hielten, so ähnlich waren sie sich trotz der Unterschiede in Haar- und Augenfarbe. Tatsächlich bestand eine entfernte Verwandtschaft, da beide ihre Abstammung auf den im 17. Jahrhundert in die Neue Welt eingewanderten Dänen Dag Merrild zurückführten. Craig schüttelte den Kopf und sah Bennett vorwurfsvoll an.

„Du weißt genau, dass ich nicht zielen kann, wenn du mir auf die Finger siehst, Bob“, sagte er und gab Martin Moore einen Wink. „Du bist dran, Martin.“

Moore war ein dunkelhaariger junger Mann von zwanzig Jahren, mathematisch ein wahres Genie, der gute Aussichten hatte, bei der Artillerie Karriere zu machen. Moore stammte aus Virginia. Sein Vater hatte eine Tabak- und Baumwollplantage, die von rund zweihundert Schwarzen bewirtschaftet wurde. Im Gegensatz zu den eher wenig bemittelten Offizierssöhnen Craig und Bennett schwamm Martin geradezu im Geld. Wegen der Sklaven auf der Plantage waren Robert und Martin häufiger aneinander geraten, aber es war stets bei einer hitzigen Diskussion geblieben. Die Hitzigkeit war jedoch regelmäßig verpufft, wenn einer von beiden für eine Arbeit nicht gelernt hatte. Der andere hatte ihm mit Sicherheit recht­zeitig den entsprechenden Schummelzettel zugeschoben.

Jetzt suchte Martin sich seinen Platz sorgfältig aus und stieß die auf der Platte verbliebenen Kugeln seiner Mannschaft mit einer yankeehaften Präzision in die Löcher.

„Kapierst du das, Bobby?“, fragte Tom entsetzt. Bennett nickte.

„Martin ist in Mathematik besser als wir“, erwiderte er lächelnd. Moore sah nur kurz hoch, grinste Bennett freundlich an – und räumte die Platte ab. Zufrieden brummend richtete er sich auf und sah Robert und Thomas herausfordernd an.

„Was ist, Yankeeboys? Revanche?“, fragte er.

„Sicher. Kann man ja nicht mit ansehen, dass die Dixies hier alles abräumen“, erwiderte Bennett lachend.

„Willst du’s noch mal mit Thomas riskieren, oder ziehst du einen anderen Partner vor, Bob?“

„Nichts gegen dein mathematisches Genie, Martin, aber Billard spiele ich grundsätzlich mit Tom zusammen“, erklärte Robert. „Das werde ich nicht am letzten Tag auf West Point ändern.“

Moore justierte das Dreieck mit den fünfzehn bunten Elfenbeinkugeln und wandte sich an Ashley:

„Lassen wir die Verlierer anfangen, Mark?“

„Keine Einwände, Martin“, erwiderte Ashley. Auch er war aus dem Süden, genauer: aus Georgia. Sein Vater besaß eine Baumwollkämmerei und eine Sägemühle in Atlanta und hatte in Savannah noch eine Textilfabrik. Wie Vater Moore war Vater Ashley zu den Reichen des Landes zu zählen.

Martin gab Robert einen Wink. Robert rieb sein Queue mit Kreide ein, zielte kurz und eröffnete mit einem ebenso kurzen wie harten Stoß. Mit zufriedenem Lächeln sah er der Elf nach, die gemächlich in ein Eckloch kullerte.

„Die Halben, Tommy“, sagte er. Sein Hinweis bezog sich darauf, dass die Kugeln, die mit den Ziffern ab der Neun bezeichnet sind, schmale Ringe um den Äquator haben und Halbe genannt werden, während die Kugeln mit den niedrigeren Ziffern einfarbig sind und nur die Ziffer selbst in einem weißen Kreis steht. Diese werden deshalb auch Volle genannt. Thomas sah seinem Freund mit triumphierender Miene zu, als der eine Kugel nach der anderen in den Löchern verschwinden ließ. Ashley und Moore sahen sich betreten an.

„He, Moment mal, das gilt nicht!“, protestierte Mark. „Wieso spielst du eigentlich so gut Billard, wenn du in Mathematik so eine Niete bist?“

„Weil ich mit der Praxis mehr anfangen kann als mit Theorie“, brummte Bennett.

Gerade wollte er anfangen, auch die Vollen abzuräumen, als lautes Gepolter von der Tür die Aufmerksamkeit der Spieler forderte.

„Extrablatt!“, tönte es von dort. „He, Jungs, hört mal alle her!“

Steve Graham, ebenfalls ein Ex-Kadett aus dem Abschlussjahrgang, sprang auf die Theke und schwenkte eine dünne Sonderausgabe der New York Times.

„Hört mal, ihr Politikbanausen. Wird vor allem die Jungs aus South Carolina interessieren. Hier steht: Eilmeldung! Konvent von Charleston/South Carolina ratifiziert Unabhängigkeitserklärung! South Carolina tritt aus der Union der Vereinigten Staaten aus und erklärt alle Bindungen an die USA für gelöst! Ende des Zitats. Jungs, Eure Landesväter haben unserer Verfassung gerade einen Fußtritt versetzt“, rief er.

Einen Moment war eine Stille im Kasino, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Dann begannen die Leute aus South Carolina zu jubeln. Es waren nur wenige. Die anderen Südstaatler waren verunsichert, wussten im Moment nicht, wie sie sich verhalten sollten. Die meisten machten ihren Standpunkt vom künftigen Verhalten ihrer Heimatstaaten abhängig.

Ein leises, aber deutliches Räuspern störte den Jubel der Männer aus South Carolina.

„Ihr solltet nicht zu früh jubeln, Freunde“, warnte Robert. „Euch ist doch hoffentlich klar, dass die Union eine Sezession nicht einfach hinnehmen wird. Das gibt ‘ne Menge Ärger.“

„Wer sollte uns wohl dazu bringen, diese schwachsinnige Union nicht aufzukündigen?“, fragte Andrew Newport. Er war aus South Carolina.

„Der Präsident, sei es der amtierende – Buchanan – oder der gewählte – Lincoln. Weder der eine noch der andere kann zulassen, dass ein oder mehrere Staaten wie beleidigte Schuljungs davonschleichen. Lasst euch gewarnt sein. Die Einheit unseres Landes ist lebenswichtig für uns. Ein Zerbrechen können wir uns nicht leisten“, erklärte Bennett.

„So etwas kann auch nur ein feiger Yankee von sich geben. Ohne uns mutige Südstaatler kommt ihr wohl nicht aus. Gib’s zu, Bennett: Du hast die Hose jetzt schon gestrichen voll“, spottete Newport. Der vierschrötige Riese aus Charleston schob sich nach vorn. Robert war klar, dass er bei einer Schlägerei gegen Newport keine Chance hatte. Andrew ließ ihn am ausgestreckten Arm verhungern. Er hatte buchstäblich einschlägige Erfahrungen aus dem Boxunterricht. Mark Ashley überblickte die Situation und wusste sofort, dass der junge Mann aus dem Nebraska-Territorium Newport körperlich nicht gewachsen war.

„Newport – du suchst Streit“, bremste Ashley. „Hier und heute ist nicht der richtige Ort dafür. Hauen könnt ihr euch immer noch, wenn es zu einem offenen Konflikt kommt. Aber davon abgesehen, glaube ich nicht, dass es wirklich Krieg gibt. Wetten?“, warf Ashley seinen Köder aus. Für Wetten waren die Kadetten immer zu haben gewesen. Daran änderte auch die Beförderung zum Second-Lieutenant nichts. Bennett warf Ashley einen dankbaren Blick zu. Die Situation war gerettet.

„Ich wette, dass der Krieg ausbleibt“, sagte Mark. „Sollte es trotzdem zu einem Krieg zwischen den amerikanischen Staaten kommen, dann werde ich – so wahr ich Marcus Zachary Ashley aus Georgia bin – diesen Krieg mit dem Rang durchstehen, mit dem ich hineingehe – oder mir damit die Radieschen von unten ansehen“, machte Mark sein Wettangebot.

„Und was soll das bedeuten?“, fragte Newport ebenso abschätzig wie immer noch herausfordernd.

„Newport, du bist ebenso lang wie vernagelt“, schalt Ashley beinahe sanft. „Welcher gute Offizier lässt seine Karriere sausen? Ich meine es ernst: Ich halte einen Bürgerkrieg für so unwahrscheinlich, dass ich meine Karriere drauf verwette.“

„Wer hält dagegen?“, fragte Graham, zückte ein Stück Kreide und eröffnete an der Tafel, an der sonst die Getränkepreise standen, ein Wettbuch. Der von Ashley ausgestreute Funke zündete. Die wettfreudigen Ex-Kadetten hielten eifrig mit. Alle verpflichteten sich, im Falle eines Sezessionskrieges auf ihre Karriere zu verzichten, wenn sie zu Ashleys Meinung tendierten. Robert Bennett und Thomas Craig hielten sich lange zurück, aber schließlich trat Robert doch an den ‚Wettschalter.

„Heute haben wir den 20. Dezember 1860“, sagte er langsam. „Am 4. März tritt unser neuer Präsident sein Amt an. Spätestens dann muss der Süden Farbe bekennen. Ich glaube, so lange werden die Sklavenstaaten nicht warten. Ich bin überzeugt, dass wir bis zum 4. März die Keilerei längst haben. Sollte ich mich irren, lasse ich mich im nächsten Krieg, den die Vereinigten Staaten führen, nicht befördern“, erklärte er. Graham zögerte, Roberts Wetteinsatz zu notieren.

„Das ist ‘n Wort!“, rief es irgendwo von hinten.

„Bravo, du Kriegsprophet!“, höhnte ein anderer. Robert stand noch an der Bar, als ihm jemand von hinten auf die Schulter tippte.

„He, Bennett!“

„Du schon wieder, Andrew?“, fragte er, ohne sich umzudrehen.

„Du willst doch unbedingt Krieg, Bennett, oder?“, fragte Newport. Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte Newport Bennett um und schlug einen rechten Haken.

„Bitte, da hast du ihn!“, lachte er dröhnend. Der Schlag warf Robert über die Theke. Newport ging um den Tresen herum, schob Graham sachte beiseite und stellte Bennett am Kragen wieder auf die Beine. Sein Grinsen wurde breiter.

„Und noch mal, weil’s so schön war!“, knurrte er und brachte einen unangenehmen Tiefschlag an. Robert japste noch einmal, sackte zusammen und blieb liegen.

Thomas Craig wurde es jetzt zu viel. Er mochte nicht zulassen, dass sein bester Freund verprügelt wurde und keiner eingriff, um Robert zu helfen. Eilig drängte er sich zur Theke durch und knuffte den Riesen aus South Carolina in den Rücken, worauf der sich umdrehte. Tom rieb sich kurz die geballte Faust, holte aus und platzierte eine rechte Gerade auf Newports Kinnspitze. Ohne lange zu überlegen fügte er noch einen mächtigen Hieb in die Magengegend hinzu. Aber der fleischgewordene Panzerschrank aus Charleston zeigte nur ein mildes Lächeln.

„Hast du schon geschlagen, Tommy?“, fragte er sanft. Thomas sah völlig verblüfft auf – und dann bezog Craig Dresche wie seit seiner Collegezeit nicht mehr. Weil er sich aber noch halbwegs decken konnte, gelangen Newport bei ihm nicht solche Treffer wie bei dem völlig überraschten Robert.

Moore hatte inzwischen Bennett wieder zu sich gebracht.

„Oh, Gott im Himmel, hat der einen Schlag am Leib!“, stöhnte Robert.

„Stimmt“, grinste Martin. „Tom bekommt auch grade sein Teil ab.“

„Wie?“

Robert war mit einem Schlag wieder wach.

„Steve, gib mir den Putzlappen“, verlangte er.

„Das Ding ist nass!“, warnte Graham.

„Eben!“, knurrte Robert. „Das ist das Einzige, was Newport zur Vernunft bringen kann!“

Er nahm Graham den nassen Putzlappen ab, der etwa die Größe eines Handtuchs hatte, schwang den Lappen wie ein Lasso und ließ ihn in Richtung des Riesen fliegen. Die Drehung vor dem Start bewirkte, dass das lange Tuch sich dreimal um Newports Kopf wickelte und ihn zu Boden warf. Baldwin und Gordon fingen Tom auf, der unter Newports Hieben zu Boden ging.

„Jesus, wo bin ich?“, fragte Thomas, als er gleich darauf aus der gewaltsamen Narkose erwachte. „Und wo sind die Trümmer von dem Haus, das mir auf den Kopf gefallen ist?“

„Im Kasino, Tommy“, lachte Ronald Gordon. „Und die Trümmer liegen da drüben!“, wies er tränenlachend auf Newport, der sich am Boden wälzte und verzweifelt versuchte, den Putzlappen loszuwerden. Er schaffte es einfach nicht. Schließlich griff Robert ein, weil sich seine Kameraden nur vor Lachen die Seiten hielten, aber dem mit dem Ersticken ringenden Newport nicht halfen.

„Jetzt reicht’s! Du bist genug gestraft, Andy“, sagte er, klemmte den Riesen am Boden fest und wickelte ihn wieder aus. Ein Knie hatte er auf Newports Brust. „Aber wenn du nicht vernünftig bist, mach ich die Windel wieder zu!“, drohte er.

„Verd…!“

„Newport!“, warnte Robert. „Vorsicht – Putzlappen!“

„Bloß nicht! Lass mich hoch, Bennett!“

„Unter einer Bedingung.“

„Ich tu’ alles, was du willst, Bob, aber bleib’ mir mit dem Lappen vom Leib“, versprach Andrew.

„Du spielst jetzt ganz friedlich eine Partie Billard mit mir.“

„Okay.“

„Gut.“

Robert nahm Newport bei der Hand und zog ihn hoch.

„Und keinen Streit mehr, bis es wirklich ernst wird“, warnte er noch.

„Streit? Ich streite doch nie, Bennett“, brummelte Newport gemütlich, ließ sich ein Queue geben und spielte ganz friedlich Billard mit Robert.

Am folgenden Tag, nach der Abschlussparade, trennten sich die frischgebackenen Lieutenants und machten sich auf den Weg in ihre Heimatstaaten, ohne sich noch einmal im Frieden zu begegnen.

Kapitel 1

Der Neujahrsball

 

Am folgenden Tag fand die Abschlussparade der Absolventen auf dem großen Exerzierplatz der Akademie statt. Unter den Besuchern der Veranstaltung, die öffentlich war, waren auch Dr. Lucas Craig und Benjamin Bennett.

Dr. Craig war Chirurg, der in einem Krankenhaus in Brooklyn arbeitete. Er plante jedoch, sich selbstständig zu machen und im folgenden Jahr eine Praxis in Dover/Tennessee von einem alten Kommilitonen zu übernehmen. Er besuchte die Parade für seinen älteren Bruder Richard, Thomas Craigs Vater. Mit dem Militär hatte er wenig im Sinn. Im Gegensatz zu seinem Bruder hatte er keinen Militärdienst geleistet und hatte auch nicht vor, es zu tun. Er war der Meinung, dass er als Arzt schon in Friedenszeiten mehr als genug zu tun hatte. Von einem Krieg erwartete er nur Unheil.

Benjamin Bennett war Rechtsanwalt in Boston. Wie alle Männer der Familie Bennett hatte er wenigstens eine Zeitlang Militärdienst geleistet, hatte aber erkannt, dass ein Leben in Uniform nicht seinem Wesen entsprach.

Die Tatsache, dass er Rechtswissenschaften studiert hatte und Anwalt geworden war, hatte ihn von seinem Bruder Frederick, Roberts Vater, getrennt. Die Brüder waren schwer zerstritten, weil Frederick Bennett nichts mehr hasste als Indianer und Rechtsanwälte. Der Familienzwist mit dem Bruder hinderte Benjamin Bennett aber nicht daran, seine Neffen Robert und Philip wie Söhne zu lieben. Robert hatte eine sehr gute Abschlussprüfung abgelegt – sah man von indiskutablen Leistungen im mathematischen Bereich ab, was ihn nicht gerade für eine Karriere als Pionier oder Artilleristen empfahl. Benjamin, der gute Leistungen sehr schätzte, hatte sich deshalb einen Tag frei genommen, um seinem Neffen gleich nach der Parade zu gratulieren. Aus ähnlichen Beweggründen war Lucas Craig in West Point erschienen.

„Danke, dass du gekommen bist, Onkel Ben“, bedankte Robert sich später.

„Wenn dein Vater schon keine Zeit hat, seinen ganzen Stolz abzuholen, muss ich es wohl tun“, erwiderte Benjamin. „Bleibst du über Weihnachten?“

„Tom Craig hat mir eine Einladung seines Onkels Lucas aus New York gegeben. Onkel Lucas hat uns für Weihnachten eingeladen und Thomas’ Eltern über Neujahr. Ich werde erst zum Dienstantritt nach Fort Randall zurückkehren.“

„Hast du schon eine Einheit, mein Junge?“

„Ich habe mich zur Kavallerie verpflichtet, genau wie Tom. Aber unsere Zuordnung ist noch nicht geklärt. Es könnte sein, dass wir dem Regiment meines Vaters zugeordnet werden. Paps baut in Randall eine neue Truppe auf, von der aber noch keiner weiß, ob der Kongress sie überhaupt haben will. Entweder wird es ein Milizregiment oder ein siebentes US-Kavallerie-Regiment. Papa weiß es noch nicht. Miliz würde mir – ehrlich gesagt – quer durch den Hals gehen. Mit Sonntagssoldaten hab’ ich’s nicht so“, erklärte Robert.

„Hast du was von Phil gehört?“, fragte Benjamin. Robert nickte.

„Er hat mir geschrieben. Wenn ich ihn recht verstanden habe, will er den Dienst quittieren und ein Jurastudium anfangen. Ich kann mir vorstellen, was Daddy dazu sagt. Der wird vor Wut die Wände hochgehen.“

„Ja, Philip hat mir das auch geschrieben. Er hatte schon immer die Neigung zur Jurisprudenz, aber euer Vater hat ihn in die Uniform gesteckt. Was ist eigentlich mit dir? Was wolltest  du eigentlich machen?“

Robert lachte herzlich.

„Du wirst es kaum glauben, Onkel Ben: Ich habe nie etwas anderes im Sinn gehabt, als Soldat werden zu wollen. Im Gegensatz zu Philip bin ich nun mal unter Uniformen aufgewachsen. Das hinterlässt gewisse Spuren.“

„Was hältst du von Juristerei?“

„Der zweitschönste Job, den ich mir denken könnte“, grinste Robert. „Ich habe jeden Rechtskurs belegt, den ich auf der Akademie erwischen konnte. Wenn Daddy das spitz bekommt, setzt es Ohrfeigen. Aber ich muss es ihm nicht auf die Nase binden.“

Wenn Robert und Thomas Benjamins Einladung, zum Weihnachtsfest zu bleiben, auch nicht annahmen, so besuchten sie ihn doch noch kurz in Boston, bevor sie nach New York reisten, mochte es zunächst auch einen Umweg bedeuten. Von dort schickte Tom eine Depesche nach Topeka, wo seine Eltern und Geschwister lebten, mit der Ankündigung, er und Robert würden pünktlich am 31. Dezember eintreffen.

Der Telegrammbote klopfte morgens um sieben am Haus von Richard Craig. Der Captain a. D. öffnete noch recht verschlafen.

„Guten Morgen, Sir. Ein Telegramm für Sie“, grüßte der Bote freundlich.

„Danke, Mr. Marcus. Das wär’s gewesen, wenn Sie um zehn gekommen wären“, gähnte Richard Craig. „Trotzdem – fröhliche Weihnachten“, setzte er hinzu und gab dem Boten ein gutes Trinkgeld, der freudestrahlend weiterging. Craig öffnete das Depeschensiegel und las das Tele­gramm seines ältesten Sohnes:

„ANKOMME DEZEMBER 31. ROBERT KOMMT MIT. ERWARTE GROSSE PORTION KRAPFEN! TOM“

Richard lachte herzlich. Gwendolyn, seine Frau, hatte Thomas ange­droht, keine Silvesterkrapfen zu backen, wenn er Robert Bennett nicht zu Neujahr mitbrächte. Silvester ohne Mutters Krapfen war für Thomas kein Silvester. Das Rezept hatte Gwendolyn von ihrer Schwiegermutter Helen, die aus Kassel im Deutschen Bund stammte.

Die Craigs kannten Robert Bennett schon so lange, wie er lebte. Richard Craig war ein guter Freund von Frederick Bennett und Roberts Taufpate. Richard Craig und Frederick Bennett hatten lange Jahre in derselben Einheit gedient, waren deshalb in denselben Forts stationiert gewesen. Die enge Freundschaft der Väter hatte dazu geführt, dass die Kinder die Eltern der anderen als eine deutlich nähere von Art Verwandtschaft ansahen als sie tatsächlich bestand.

Sechs Jahre zuvor hatte Richard aber seinen Abschied genommen und war in den Holzhandel gegangen, hatte eine Stelle in Topeka/Kansas angenommen. Die Familien waren getrennt worden, als Frederick 1854 in die neu gegründete Stadt Omaha im Nebraska-Territorium versetzt worden war. Der Kontakt hatte ein wenig gelitten, was aber nicht hieß, dass er völlig abgebrochen war. Richard und Gwendolyn Craig hatten jedenfalls darauf bestanden, dass Robert Bennett das Neujahrsfest in Topeka feiern sollte.

„Gwendy!“, rief Craig.

„Ja, Dick?“

„Tom hat telegrafiert! Er kommt Silvester nach Hause!“

„Bringt er Robert mit?“

„Ja. Er schreibt, dass der junge Bennett mitkommt. Und du sollst auf keinen Fall deine Krapfen unterschlagen!“, rief Richard. Aus dem ersten Stock kam nur das fröhliche Lachen seiner Frau.

Im Hause der Craigs begannen fleißige Vorbereitungen für die Ankunft der Lieutenants. So eifrig wie jetzt hatten Susan und Frank, Toms jüngere Geschwister, ihren Eltern schon lange nicht mehr geholfen.

Am frühen Nachmittag des 31. Dezember 1860 trafen die jungen Männer in Topeka ein. In Warrensburg hatten sie die Eisenbahn verlassen und waren den Rest des Weges geritten.

„Hübsche kleine Stadt. Immer noch richtig verträumt“, bemerkte Robert, als sie in den Ort hineinritten.

„Oh, das ist nicht immer so. Wenn hier Abolitionisten und Sklavokraten zusammenstoßen, ist man als Normalsterblicher besser nicht auf der Straße. Ich hoffe, dass sich das in den letzten vier Jahren etwas beruhigt hat. Und dann hat Vater mir geschrieben, dass geplant ist, die Eisenbahn von Warrensburg über Kansas City nach Topeka und darüber hinaus Richtung Westen zu verlängern. Dann ist es mit der Ruhe ohnehin vorbei“, erwiderte Tom mit einem Anflug von Melancholie.

„Wo ist euer Haus?“

„Das weiße Gebäude da vorn ist es schon.“

Sie ritten auf das bezeichnete Haus zu, banden ihre Pferde an der Veranda fest. Tom sprang die drei Stufen bis zur Tür mit einem Satz hoch und klopfte. Es dauerte auch nur wenige Augenblicke, bis sich die Tür öffnete und Gwendolyn ihren ältesten Sohn glücklich umarmte.

„Tommy, endlich bist du wieder da! Willkommen zu Hause!“

„Danke, Mom“, erwiderte Tom und gab seiner Mutter einen Begrüßungskuss. „Ich hoffe, es gibt Krapfen?“

„Wie immer, wenn du heimkommst.“

Gwendolyns Blick fiel auf Robert, der unten an der Treppe stand.

„Herzlich willkommen, Robert!“, sagte sie. „Du bist ja eine Ewigkeit nicht mehr bei uns gewesen.“

Er stieg die Treppe hinauf und machte einen höflichen Diener.

„Danke für die Einladung, Tante Gwendy. Tom hat nicht viel Mühe gehabt, mich zu überreden.“

„Ma, wo sind die Kleinen eigentlich?“, fragte Tom.

„Die sind in die Stadt gefahren, um noch einige Sachen einzukaufen“, erwiderte Gwendolyn. „Kommt doch erst mal rein. Bei der Kälte braucht ihr nicht draußen zu stehen“, lud sie dann ein.

„Danke, aber ich will mein Pferd erst versorgen. Wo kann ich den Burschen unterstellen?“, fragte Robert. Thomas winkte ihm.

„Komm mit.“

Als sie die Pferde in den Stall gebracht hatten, zeigte Richard Robert sein Zimmer und verband gleich eine Hausführung damit. Solange die Familie in Topeka wohnte, war noch niemand von den Bennetts zu Besuch gewesen.

„Was macht dein Vater Robert?“, fragte Richard, als er mit seinem Taufpaten wieder im Wohnzimmer angekommen war.

„Er ist immer noch Soldat, ist vor einem Jahr zum Lieutenant-Colonel befördert worden und hat jetzt den Auftrag, oben im Nebraska-Territorium ein neues Regiment aufzustellen, hat er mir geschrieben. Aber der Auftrag kam noch von Kriegsminister Floyd unter Präsident Buchanan. Wer weiß, ob der neue Minister die Truppe überhaupt noch will.“

„Wie geht’s ihm sonst?“

„Abgesehen von der Unsicherheit mit seiner Truppe geht’s ihm gut. Er lässt schöne Grüße bestellen. Betty hat mir allerdings noch verraten, dass die Lausekälte zu Hause Papas Bein arge Schwierigkeiten macht. Sie behauptet, Daddys rechtes Bein wäre der beste Wetterprophet.“

„Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie er sich die Verletzung damals in Mexiko 46/47 eingefangen hat“, geriet Richard in Erinnerungen. „Wir lagen gerade …“

„Stopp, die Geschichte kenne ich auswendig!“, bremste Robert. „Papa erzählt sie beinahe alle Tage.“

„Dann werde ich dich damit nicht belämmern“, lachte Richard auf. Thomas kam herein.

„Wenn du erlaubst, Papa, werde ich dir Robert jetzt für eine Weile entführen und ihm die Stadt zeigen“, sagte er.

„Geht nur. Aber seid zum Abendessen zurück.“

Kaum waren die Freunde fort, kehrten Thomas’ jüngere Geschwister Susan und Frank von ihrem Einkauf zurück.

„Das nächste Mal bestelle ich eine zweite Kutsche!“, protestierte Frank. „Ein Wagen fasst das alles nicht, wenn Susan ohne eindeutige Anweisungen einkaufen will.“ Er grinste frech. „Und ich glaube, wir haben noch nicht alles bekommen. Susy hat ein Gesicht gemacht wie dreizehn Tage Regenwetter!“, petzte er.

„Ekel!“, fauchte seine Schwester und sprang die Treppe hinauf ins erste Stockwerk. Richard folgte seiner Tochter besorgt.

„Fehlt noch etwas? Soll ich Tom noch mal losschicken?“

„Nein, nein, Papa. Was ich einkaufen wollte, haben wir bekommen“, widersprach Susan.

„Und warum machst du so ein Gesicht?“

„Ach, Paps, ich hab’ keine Lust, heute zum Neujahrsball zu gehen.“

„Das ist ja ganz was Neues! Seit wann hast du keine Lust mehr zum Tanzen, Susy?“, wunderte sich Richard.

„Roger O’Malley ist doch vor zehn Tagen weggezogen. Ohne Roger macht mir kein Tanz richtig Spaß, Daddy. Außerdem habe ich ohne Roger keinen Tischherrn und ersten Tanzpartner mehr. Und ohne Tischherrn zum Ball zu gehen, ist völlig unmöglich. Nein, ich mag nicht.“

„Und wenn ich einen passenden Ersatz auftreibe?“

„Den kannst du doch nicht aus dem Hut zaubern, Paps. Kann Tom das nicht machen, wenn ich unbedingt mitmuss?“

„Thomas ist an Miss Covington vergeben. Das weißt du doch“, erinnerte Richard.

„Ausgerechnet diese Zicke?“, ereiferte sich Susan.

„Susan, bitte!“, bremste der Vater den aufkommenden Wutanfall seiner Tochter. „Ich werde einen Ersatz finden, und ich erwarte, dass du dich anständig benimmst. Sonst hast du eine Menge Ärger, meine liebe Tochter!“

Susan nickte brummig, aber sie sagte nichts mehr. Sie wusste, wann es besser war, den Vater nicht weiter zu reizen.

Richard Craig ging nachdenklich hinunter. Susan konnte unausstehlich sein, wenn ihr Tischpartner ihr nicht passte. Sie hatte es oft genug bewiesen. Vater Craig stellte sich also die Frage, wem er die Kratzbürste Susan anvertrauen sollte – oder sollte er besser andrehen sagen? Trotz ange­strengten Nachdenkens wollte ihm kein passender Partner für Susan einfallen. Schließlich fragte er seine Frau um Rat.

„Gwendy, Susan will nicht zum Neujahrsball mitkommen“, sagte er, als er die Küche betrat.

„Und warum nicht?“

„Sie hat keinen Tanzpartner mehr, seit O’Malley weggezogen ist. Ich müsste ihr wohl einen suchen.“

„Und warum bist du dann noch nicht weg? Um acht beginnt die Veranstaltung“, erinnerte Gwendolyn, beinahe uninteressiert.

„Gwendy, du kennst unsere Tochter mindestens so gut wie ich, wenn nicht noch besser. Wenn sie sich seit dem großen Ball zum Unabhängigkeitstag in Fort Larned nicht völlig verändert hat, kann sie unausstehlich sein. Denk mal daran, wie sie den armen Lieutenant Parker fertig gemacht hat. Susan kann richtig widerlich sein, wenn ihr derjenige, mit dem sie am Tisch sitzt, nicht gefällt. Ich hätte wirklich Gewissensbisse …“

„Lass nur, Dick, ich mache das schon. Bis jetzt habe ich immer noch jemanden gefunden“, beruhigte Gwendolyn ihren Mann.

„Bis jetzt war auch immer Roger O’Malley zur Stelle. Aber der hat sich plötzlich erinnert, dass er aus South Carolina ist und hat sich lieber den Rebellen da unten angeschlossen!“, schnaufte Richard. „Ich wüsste nicht, wer sonst mit unserer Tochter fertig werden könnte, ohne von ihr unmöglich gemacht zu werden“, gab er zu bedenken.

„Lass dich überraschen, Dick. Du wirst sehen, dass ich den Richtigen gefunden habe – spätestens um Mitternacht“, lächelte Gwendolyn. Ihr war gerade eine Idee gekommen …

Einige Zeit danach kehrten Thomas und Robert aus der Stadt zurück. Gwendolyn Craig packte die Gelegenheit beim Schopfe, ihre Idee gleich zu verwirklichen und bat Robert ins Wohnzimmer. Sie schloss die Tür und fragte:

„Robert, tanzt du noch so gut wie früher?“

Der junge Mann war sehr überrascht.

„Ich hatte nicht viel Gelegenheit, es in den letzten vier Jahren auszu­probieren. Es langt grade noch für English Waltz, Polka und einen Square Dance. Ich hoffe, dass es für einen Garnisonsball reicht.“

„Bestimmt, mein Junge. Du hast doch sicher für heute Abend noch keine Tischdame oder?“

„Nein, ich hatte gehofft, Tommy würde mir behilflich sein. Schließlich bin ich hier fremd.“

„Wärst du einverstanden, Susan heute Abend zum Ball zu begleiten?“

Robert erinnerte sich an ein Mädchen, das er zuletzt vor sechs Jahren gesehen hatte. Susan war gerade vierzehn Jahre alt gewesen, als er sie in Omaha verabschiedet hatte. Der junge Mann war nie sehr zu Mädchen hingezogen gewesen, sie hatten ihn bisher einfach nicht interessiert. Zudem hatte er oft erlebt, wie sehr seine Mutter geweint hatte, wenn sein Vater auf einem Feldzug gewesen war. Er wollte nicht, dass sich jemand um ihn Sorgen machte. Aber der Name Susan Craig löste eine ganz seltsame Empfindung bei Robert Bennett aus. Das Besondere daran war, dass ihm zwar viele Mädchen schöne Augen gemacht hatten, die ihm absolut nicht gefielen, nur Susan hatte ihn nie mit diesem verliebte-Katzen-Blick bedacht, den Robert so gar nicht mochte. Und genau das war es, was Robert so an ihr schätzte.

„Es wäre mir eine Ehre“, sagte er lächelnd.

„Hast du Susan schon gesehen? Sie ist richtig erwachsen geworden.“

„Nein. Als ich ankam, war sie noch einkaufen“, erwiderte Robert.

„Dann warte einen Moment“, sagte Gwendolyn und verließ eilig das Wohnzimmer.

Es war inzwischen sieben Uhr abends, und Susan war dabei, sich für den Silvesterball fertig zu machen. Gerade kämmte sie ihre halblangen, braunen Locken, als es klopfte und sie die Stimme ihrer Mutter hörte:

„Susy, mach bitte auf.“

„Sofort, Mama!“, rief sie, einen Kamm zwischen den Zähnen. Eilig sprang sie auf und öffnete die Tür.

„Was ist denn? Fehlt doch noch etwas?“, fragte sie erschrocken.

„Nein, im Gegenteil, mein Kind: Es ist jetzt wirklich alles komplett. Ich habe für heute Abend einen Begleiter für dich gefunden“, strahlte Mutter Craig. Susans Miene war alles andere als glücklich.

„Mama, du hast doch nicht etwa einen Fremden …?“

„Nein, Unsinn. Du kennst ihn, aber du hast ihn schon lange nicht mehr gesehen. Mach dich fertig, dann stelle ich ihn dir vor.“

Kaum fünf Minuten später war Susan im Wohnzimmer. Völlig verblüfft erkannte sie Robert Bennett.

„Bobby, du?“, fragte sie verwirrt nach. Der Lieutenant sprang auf, als er Susan sah. Wenn das nicht die Frau seiner Träume war! Gwendolyn Craig lächelte viel sagend und nahm Susan bei der Hand.

„Susan, Bob Bennett wird heute Abend dein Tischherr sein“, sagte sie. Dann wandte sie sich an den jungen Mann:

„Robert, ich vertraue dir Susan an. Pass bitte gut auf sie auf.“

„Selbstverständlich Tante Gwendy. Es ist mir eine Ehre, Susan.“

Er lächelte Susan warm an und bedachte ihre Hand mit einem höflichen Handkuss.

„Ganz meinerseits, Robert“, erwiderte sie mit nicht zu übersehender Röte im Gesicht.

Viertel vor acht hielt eine Kalesche von Fort Leavenworth vor der Haustür. Ein Soldat in großer Uniform hielt die Wagentür auf. Richard Craig hatte seine alte Uniform aus dem Schrank geholt und hatte sich vom biederen Holzkaufmann wieder in den schneidigen Captain Craig verwandelt. Sämtliche Orden, die er sich in seiner Karriere verdient hatte, waren fein säuberlich aufgesteckt. Er half seiner Frau in den Wagen. Gwendolyn Craig war anzusehen, dass ihr Mann es mit Holzhandel zu Geld gebracht hatte. Ihr Mantel war mit allerfeinstem Biberfell besetzt. An den Ohrläppchen glitzerten diamantbesetzte Ohrringe, die allein ein Vermögen wert waren. Ohne es eigentlich zu wollen, verglich Robert Susan mit ihrer Mutter. Was die Mutter aufgedonnert war, war die Tochter bescheiden. Sie trug nicht einmal einen Ring, geschweige denn solches Geschmeide wie diamantene Ohrringe. Auch ihr Mantel war nicht von der Pracht wie der ihrer Mutter, was nicht hieß, dass er seinen Zweck nicht erfüllte. Vorsichtig half Robert Susan in die Kalesche und stieg dann selbst als Letzter ein. Tom war zu den Covingtons geritten, um mit Captain Covington, dessen Frau und Tochter Angela zum Ballhaus zu fahren. Richard Craig klopfte an die Wagenfront und der Kutscher fuhr los.

Eine Viertelstunde später saßen die Gäste im Ballhaus. Das Organisationskomitee der Garnisonen Riley und Leavenworth veranstaltete den Neujahrsball als gemeinsames Fest der Garnisonsangehörigen, zu dem auch alle ehemaligen Mitglieder der Garnisonseinheiten eingeladen worden waren. Da Topeka ziemlich genau in der Mitte zwischen beiden Garnisonsstandorten lag, hatte das Komitee den Stars and Stripes Saloon in Topeka für das Fest gemietet. Die Organisatoren hatten sich alle Mühe gegeben, deutlich zu machen, dass dieses Fest von Soldaten für Soldaten gemacht war. Der Saal war mit Girlanden und Rosetten in den Staatsfarben Rot, Weiß und Blau geschmückt, dazu hatten sie sämtliche Regimentsfahnen und Schwadronswimpel gut sichtbar aufgehängt. Der Kommandant des Forts Riley eröffnete den Ball, und die Kapellen der Garnisonen spielten abwechselnd Tanzmusik, die in die Beine ging und bewies, dass die Musiker mehr konnten, als nur Märsche blasen.

Robert kam sich recht unbeholfen vor. Er brachte es weder fertig, mit seiner Tischdame ein Gespräch anzuknüpfen, noch war es ihm beschieden, mit ihr zu tanzen. Irgendwie hatte sie immer eine passende Ausrede. Aber schließlich kam ihm der Zufall zu Hilfe: Susan begann zu niesen und konnte ihr Taschentuch nicht finden.

„Nimm meins, Susan. Es ist ganz sauber“, bot er an. „Gesundheit!“, setzte er hinzu, als sie nochmals herzhaft nieste.

„Tschii! Danke, Bob. Oh, ich glaube, ich habe mich ganz scheußlich erkältet. Kein Wunder, wenn Petrus nicht weiß, ob nun Herbst oder Winter sein soll.“

Sie schnupfte aus und wollte Robert sein Taschentuch zurückgeben, als ihr die Stickerei in der Ecke des Tuchs auffiel.

„Oh“, sagte sie, „das ist aber hübsch. Noch von deiner Mutter?“

„Nein, das hat Betty mir zum Geburtstag geschickt. Sie hat die Stickkunst unserer Mutter offensichtlich geerbt.“

Der Anfang war gemacht. Das Gespräch entwickelte sich nun rasch und nahm die jungen Leute völlig in Anspruch; so sehr, dass sie die Zeit und das Tanzen vergaßen. Schließlich schlug es elf.

„Was? Schon elf?“, wunderte er sich. „Ich denke, wir sollten doch noch ein Tänzchen wagen, ehe es Mitternacht ist. Würdest du mir die Ehre des nächsten Tanzes geben, Susan?“

Im gleichen Moment stimmte die Kapelle von Fort Leavenworth einen English Waltz an. Sie zögerte einen Moment.

„Ja, gern“, sagte sie dann und ließ sich auf die Tanzfläche führen. Robert hatte das Gefühl, eine Feder in den Armen zu halten, so leicht schwebte Susan mit ihm dahin. Der junge Lieutenant war sicher, noch nie mit einem Mädchen getanzt zu haben, das so perfekt Walzer tanzte. Schließlich konnte er nicht mehr umhin, ihr das auch zu sagen:

„Du tanzt wundervoll Walzer. Du bist so leicht wie eine Feder“, lächelte er warm. Die Reaktion, die darauf folgte, hatte er allerdings überhaupt nicht erwartet: Sie wurde weiß und rot und blieb plötzlich stehen.

„Was ist? Ist dir nicht gut?“, fragte er besorgt nach.

„Oh, du … du Ekel!“, zischte Susan giftig, machte sich von dem völlig verblüfften Lieutenant Bennett frei und rannte hinaus. Er brauchte einen Moment, um sich zu fassen.

„Susan!“, rief er hinter ihr her. „Susan, bleib hier!“

Er drängte sich durch die Gäste auf der Tanzfläche, die den Eklat gleichfalls überrascht beobachtet hatten. Aber Susan war verschwunden. Nach einiger Zeit traf er auf Tom.

„Was war das?“, fragte der entsetzt.

„Das wüsste ich auch gern. Wir haben uns prächtig vertragen, bis ich ihr gesagt habe, wie schön sie Walzer tanzt. Hat sie öfter solche Anwandlungen?“

„Komisch, immer wenn ihr jemand sagt, dass sie eine Walzerfee ist, macht sie dasselbe Theater. Ich weiß nicht warum, aber es ist so. Ich hätte dich warnen sollen“, erwiderte Tom.

„Hast du eine Ahnung, wo sie sein könnte?“

„Bei uns zu Hause wäre sie garantiert in ihrem Zimmer. Wo sie sich hier verkrochen haben könnte, weiß ich nicht. Aber diesmal warne ich dich gleich: Mach dir keine Hoffnung, sie wieder in den Ballsaal zu lotsen. Meine Schwester kann unausstehlich sein, wenn sie schmollt. Und ich fürchte, dass sie jetzt schmollt. Alles, was du jetzt erreichst, ist, dass sie dich unmöglich macht.“

„Das hat sie bereits“, seufzte Robert. „Danke für die Warnung, Tommy, aber schlimmer kann es nicht mehr werden. Ich will es wenigstens versuchen.“

Während Robert weiterhin Susan suchte, setzte Thomas sich zu seinen Eltern.

„Ich hab’s ja geahnt. Robert mit Susan zusammenzuspannen, konnte nicht gut gehen. Susan ist ne Kratzbürste. Mama, so blamiert man keine Gäste!“, sagte er vorwurfsvoll. Gwendolyn lächelte freundlich.

„Warte es ab, mein Junge, warte es ab“, beruhigte sie ihren ältesten Sohn. „Ich glaube, Robert hat mehr Erfolg mit ihr als Roger O’Malley, glaub’ mir“, orakelte sie dann.

Robert hatte den Saloon erfolglos abgesucht und wandte sich schließlich an den Wirt.

„Haben Sie Miss Craig gesehen?“

„Miss Craig? Ja, die ist vor einer Viertelstunde rausgegangen. Sie war ganz bleich und sagte, ihr wäre nicht gut. Sie hat ihren Mantel allerdings nicht mitgenommen. Ich habe angenommen, sie wäre durch den anderen Eingang zurückgekommen.“

Robert schüttelte den Kopf.

„Nein, ist sie nicht. Könnte ich meinen Mantel und den von Miss Craig haben?“

„Gewiss.“

Der Wirt gab Bennett die beiden Mäntel. Schon im Hinausgehen zog er seinen Mantel an und nahm den von Susan über den Arm.

Draußen im Garten musste er noch eine ganze Weile suchen, bis er sie endlich schmollend und frierend hinter einem Baum fand.

„Hier steckst du? He, was soll das?“, sprach er sie an.

„Oh, lass du mich zufrieden! Du bist wahrhaftig nicht besser als die anderen! Fast hätte ich es geglaubt! Lass mich allein!“, schnaubte sie.

„Kompliment zu deinem Versteckspiel. Ich habe dich geschlagene zwanzig Minuten gesucht. Mädchen, wenn du dir nicht die Kripilz holen willst, ziehst du das nächste Mal den Mantel an, wenn du schon ausreißt“, sagte er sanftmütig.

„Ach was, ich bin selten … Tschii!“

„So siehst du aus!“, lachte er auf. „Ich habe deinen Mantel mitgebracht – und den ziehst du jetzt bitte an! Komm.“

Widerstrebend ließ sie sich von ihm in den Mantel helfen und drehte sich dann wieder brüsk um.

„Ich finde, du bist mir eine Erklärung schuldig, Susan“, sagte er leise. Sie wollte wieder davonlaufen, aber diesmal bekam er sie rechtzeitig am Arm zu fassen.

„Stopp! Hier geblieben, Miss Craig!“, sagte er und drehte sie mit sanfter Gewalt um. „Gestatte mir die Frage, was so ungewöhnlich daran ist, wenn ein junger Mann einer jungen Dame ein Kompliment über ihre Tanzkünste macht, dass sie gleich davonläuft?“, fragte er.

Sie blitzte ihn wütend an.

„Dieses Kompliment, wie du es nennst, Robert, ist mir schon oft gemacht worden – es ist nur nie ernst gemeint gewesen, wie ich weiß. Wir haben uns lange unterhalten. Denk’ nicht, ich hätte nicht bemerkt, wie ironisch du sein kannst. In Bezug auf meine Tanzkünste vertrage ich nicht sehr viel Spaß, Sir! Und jetzt lass mich endlich allein!“, giftete sie.

„Oh, nein!“, widersprach Robert. „Kommt gar nicht in Frage! Du kannst recht kratzbürstig sein, Susan, aber damit wirst du mich nicht los. Ich weiß, ich kann ironisch sein – aber was ich einer Dame beim Tanz sage, ist ernst gemeint.“

Ohne ihre Gegenwehr zu beachten, zog er sie vorsichtig an sich.

„Darum sage ich es dir noch einmal:“, setzte er dann hinzu, „Du tanzt wunderbar, Susan. Ich habe noch niemals erlebt, dass eine Dame so schön tanzt.“ Er machte eine kurze Pause. „Ich meine es absolut ehrlich, Susan“, sagte er leise. Sie sah auf und entdeckte einen warmen, verständnisvollen Schimmer in seinen Augen. Seine Nähe war ihr lieber, als sie zugeben mochte, und sie gab ihre Gegenwehr auf.

„Das ist nett gesagt, aber schwer zu glauben“, sagte sie dennoch abweisend. Es hörte sich beinahe flehend an. Aber sie ließ es zu, dass er sie umarmte und ihr sanft über das Haar strich.

„Ich bin nicht nur ironisch, sondern auch ganz widerwärtig neugierig. Warum fällt es dir so schwer, mir zu glauben“, fragte er leise. Ein eisiger Luftzug brachte sie dazu, sich dicht an seine Mantelpelerine zu kuscheln. Es war warm dort, und seine Nähe gab ihr eine Sicherheit, die sie bisher nicht gekannt hatte.

„Na gut“, seufzte sie, „da du so penetrant fragst, muss ich es dir wohl erklären. Aber versprich mir eines: Erzähle es niemandem und lach’ bitte nicht darüber!“

„Versprochen.“

„Vor vier Jahren nahm mein Vater mich zum ersten Mal mit auf einen Ball. Einer meiner Tanzpartner war ein junger Captain, der wie ein junger Gott tanzte. Er machte mir das gleiche Kompliment wie du, aber er hatte so einen merkwürdigen Unterton dabei. Wenig später beobachtete ich, wie er mit einigen Kameraden zu mir hinschaute, einige zweideutige Bewegungen machte und dann mit ihnen zu lachen begann. Auf längeren Umwegen fand ich heraus, dass ich mit den Beinen durcheinander geraten war und mit ihm in einer mehr als zweideutigen Position getanzt hatte. Seitdem renne ich davon, wenn mir einer ein Kompliment über meine Tanzkünste macht, weil ich fürchte, ich könnte wieder…“

Sie brach ab und machte sich heftig von ihm frei.

„Ach, wieso erzähle ich dir das eigentlich? Du wirst sowieso nichts Besseres zu tun haben, als das brühwarm …“

Weiter kam sie nicht. Robert hielt sie fest und drehte sie grob zu sich.

„Susan!“, erboste er sich. Er fühlte sich jetzt in seiner Ehre gekränkt. „Es gibt auch bei mir einen Punkt, an dem der Spaß aufhört: Nämlich dann, wenn jemand an meinem Wort zweifelt! Ich habe dir mein Wort gegeben, nichts weiterzuerzählen und dich nicht auszulachen. Ich habe nicht vor, es zu brechen!“, stellte er zornig klar. Susan erschrak. Plötzlich tat es ihr Leid, ihm misstraut zu haben, ja ihn überhaupt so behandelt zu haben.

„Es tut mir Leid, Bob. Entschuldige bitte“, bat sie leise um Verzeihung. Er umarmte sie und zog sie ganz nah an sich.

„Ist gut. Tu’ es nur nie wieder“, erwiderte er sanft. Sie spürte, dass seine behandschuhte Hand vorsichtig eine Träne fortwischte. Sein warmes Lächeln verzauberte das Mädchen.

„Susan, wenn ich nicht fürchten müsste, dass du wieder das Weite suchst, würde ich dich jetzt küssen“, flüsterte er vertraulich. Augenblicklich loderte wieder Zorn in ihren dunkelblauen Augen auf. Sie stemmte die Hände in die Hüften.

„Du Wüstling!“, schalt sie wütend. Sie kam nicht zum Davonlaufen, denn er hielt sie sanft, aber unnachgiebig fest.

„Genau deshalb lasse ich es ja auch“, grinste er jungenhaft. Es hatte ihn einige Beherrschung gekostet, zu unterlassen, was seine Lippen unbedingt tun wollten. Er griff in seine Hosentasche und zog seine Taschenuhr hervor.

„Schon zwanzig vor zwölf“, sagte er. „Ich denke, wir haben genug frische Luft geschnappt. Außerdem willst du bestimmt mit deinen Eltern auf das neue Jahr anstoßen, oder?“

Sie nickte.

„Ist dir jetzt wohler?“, fragte er.

„Ja. Danke, dass ich mit dir reden konnte.“

Er bot ihr den Arm, in den sie sich gern einhakte. Langsam gingen sie zum Festsaal zurück. An der Garderobe half er ihr aus dem Mantel und kehrte mit ihr in den Saal zurück. Am Eingang wartete Gwendolyn Craig schon aufgeregt.

„Mein Gott, wo warst du so lange, Kind?“

„Ihr war nicht gut, Tante Gwendy. Der Wirt hat mir gesagt, sie sei ganz blass und ohne Mantel nach draußen gegangen. Ich habe ihr den Mantel gebracht und wir haben einen kleinen Spaziergang gemacht. Sie hat sich wieder erholt.“

„Und der Krawall vorhin?“, hakte Gwendolyn mit strengem Blick auf ihre Tochter nach.

„Hängt damit zusammen“, erklärte Robert. „Bei Kreislaufzusammen­brüchen kann so etwas vorkommen, hat mir jedenfalls Onkel Lucas erklärt.“

„Wie bitte?“

„Oh, als ich mit Tom bei Onkel Lucas war, hatten wir das Thema Kreislaufkollaps. Er hat dabei erklärt, dass es bei einem Kollaps durchaus zu so etwas wie Halluzinationen kommen kann. Wer weiß, welche Albtraumgestalten Susan vorhin gesehen hat“, schwindelte der Lieutenant. Gwendolyn nahm das zur Kenntnis.

„Es ist gleich zwölf. Verträgst du schon Sekt, Susan?“

„Vielleicht.“

„Ich bin in ihrer Nähe, Tante Gwendy. Es wird nichts passieren“, versprach Robert. Mit deutlichen Zweifeln im Gesicht brachte Gwendolyn ihrer Tochter und dem Familienfreund den Sekt. Fast im gleichen Augenblick schlug es zwölf Uhr. Der Wirt des Saloons und einige Soldaten löschten rasch die Kerzen im Raum, neben den Kerzenständern postierten sich Soldaten mit brennenden Dochten, um später die Kerzen wieder zu entzünden. Als es dunkel war, stimmte der Kapellmeister das Lied Auld Lang Syne an, in das die Gäste einstimmten.

Susan stand immer noch neben Robert und bemerkte, dass er ganz sanft seinen Arm um ihre Schultern legte. Es war ein wunderbares Gefühl und sie lehnte sich an ihn.

„Danke“, sagte sie leise. „Und ein frohes Neues Jahr.“

„Ein frohes Neues Jahr. Wofür danke?“

„Dafür, dass du mich zurückgeholt hast, und dafür, dass du für mich geschwindelt hast, dass sich die Balken bogen.“

„Für dich würde ich fast alles tun, Susan“, hörte sie ihn leise sagen. „Ich mag dich sehr“, setzte er flüsternd hinzu.

„Noch ist es dunkel, Bobby“, erwiderte sie im gleichen Ton.

„Ist das eine Einladung?“

„Ja.“

Eine weitere Aufforderung war unnötig. Er nutzte umgehend die sich ihm bietende Chance und küsste sie. Als der Wirt wieder Licht machen ließ, ahnte niemand etwas von der soeben angebahnten Romanze zwischen Robert Bennett und Susan Craig. Die Gäste stießen mit den Gläsern an, wünschten sich ein gutes Neues Jahr, sprachen über die Ereignisse des vergangenen Jahres. Gwendolyn Craig sah zu Robert und Susan hinüber und entdeckte einen deutlichen Blick, den die jungen Leute tauschten. Erst das beginnende Feuerwerk, das von den Sprengmeistern der Riley-Garnison veranstaltet wurde, rief sie wieder in die Wirklichkeit zurück.

Als die Gäste vom Feuerwerk in den Festsaal zurückkehrten, sah Richard Craig nachdenklich auf die Riesentorte, die der Wirt mit seinem Chefkoch gerade anschnitt. Die Torte war vierstöckig, auf jedem Stockwerk war eine Ziffer. Sie bildeten zusammen die Jahreszahl 1861.

„Ich werde das dumme Gefühl nicht los, dass dies erst einmal das letzte friedliche Neujahr sein wird“, murmelte Richard pessimistisch. Thomas hörte seinen Vater sinnieren und lachte auf.

„Paps, du bist ein Schwarzseher! Ich glaube nicht, dass die Sezession eine so ansteckende Krankheit ist. South Carolina kann alleine nicht viel ausrichten. Du wirst sehen: In ein paar Monaten ist die Sezession nur noch Geschichte.“

„Oder der Spuk fängt erst richtig an“, unkte Richard. „Was meinst du, Robert?“

„Ich habe mich noch nicht so recht damit befasst“, antwortete Bennett zurückhaltend. Doch dann sprudelte es aus ihm heraus:

„Aber wenn das Beispiel Schule macht – und das werden die kommenden Wochen und Monate zeigen müssen – laufen uns bald sämtliche Sklavenstaaten aus der Union weg, vorausgesetzt, wir hindern sie nicht daran.“

„Muss diese Fachsimpelei sein?“, fragte Gwendolyn Craig erbost. Im Geiste sah sie die Männer schon hitzig diskutierend um die Tische sitzen. Ob es allerdings beim Diskutieren bleiben würde, stand in den Sternen, denn es gab noch immer einige Soldaten und Offiziere aus den Südstaaten in den Einheiten, die ausgesprochen hitzig veranlagt waren. Bevor es zur Saalschlacht kam, musste das Thema Sezession unbedingt beendet werden.

„Meine Güte, Gwendy!“, entfuhr es Richard Craig. „Man muss doch mal über politische Dinge reden! Schließlich leben wir in einer Demokratie.“

„Aber doch nicht ausgerechnet zehn Minuten, nachdem ein neues Jahr begonnen hat, Dick!“, gab Mrs. Craig zurück. Damit ließ sie ihren Mann stehen und bahnte sich einen Weg zum Kapellmeister.

„Tambourmajor Masterson!“, rief sie. Don Masterson drehte sich um.

„Mrs. Craig? Was kann ich für Sie tun?“

„Die Männer fangen an zu fachsimpeln. Tun Sie was dagegen und veranstalten Sie zwei oder drei Tänze Damenwahl, Donald.“

Don Masterson grinste.

„Selbstverständlich, Mrs. Craig“, sagte der Kapellmeister und ließ einen Tusch blasen. Die Gespräche verstummten sofort.

„Ich erbitte der Kameraden geschätzte Aufmerksamkeit! Meine Damen, meine Herren: Drei Tänze mit dem Herrn Ihrer Wahl – Damenwahl!“, rief Masterson.

Zunächst war Stille. Die Damen waren etwas schüchtern. Schließlich machte Gwendolyn Craig den Anfang und forderte Captain Covington auf. Der Bann war gebrochen und die Damen holten sich die Soldaten und Offiziere auf das Parkett – Ende der Politik! Susan Craig war noch unschlüssig, als sie Angela Covington geradewegs auf Robert Bennett zu rauschen sah.

‚Augenblick, werte Dame!‘, dachte sie. ‚Da habe ich auch noch ein Wörtchen mitzureden!‘

Sie fasste sich ein Herz und ging die drei Schritte zu ihm.

„Darf ich um diesen Tanz bitten, Robert?“, fragte sie mit hochrotem Kopf.

„Gern, Susan“, erwiderte er lächelnd und ließ sich von ihr auf das Parkett führen. Angela hatte das Nachsehen und tröstete sich mit Richard Craig

Der Ball dauerte bis in den frühen Morgen an. Gegen vier Uhr morgens verabschiedeten sich die ersten Gäste. Um fünf Uhr verließen auch die Craigs und ihr Gast den Festsaal. Gwendolyn und Richard Craig bemerkten, dass zwischen Robert und Susan etwas begonnen hatte, was sie zunächst erschreckte, was sie aber letztlich weder unterbinden wollten noch konnten. Zudem war es Richard nur recht, wenn der Sohn seines besten Freundes sich vielleicht in seine Tochter verliebt hatte.

„Hat es dir gefallen, Robert?“, fragte der Captain a. D. Der junge Mann nickte.

„Ich glaube, ich habe noch kein schöneres Neujahrsfest erlebt“, antwortete er. Er sah Susan an.

„Und schuld daran ist meine so bezaubernde Tischdame“, setzte er hinzu. Sie spürte, dass sie rot wurde. Zu ihrem Glück stoppte die Kalesche in diesem Moment vor dem Haus der Craigs. Die Ankunft entband sie von einer Antwort, die sie im Augenblick noch nicht geben konnte. Der Kutscher stieg vom Bock und öffnete den Wagenschlag. Robert stieg aus und bot Susan die Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen.

„Galant, der junge Mann“, flüsterte Gwendolyn Craig ihrem Mann zu.

Schon wenig später ging Gwendolyn Craig durch das Haus, um die letzten Lichter zu löschen. Als sie Susan eine gute Nacht wünschte, zupfte Susan ihre Mutter am Ärmel.

„Du, Ma … ?“

„Was ist denn?“ fragte Gwendolyn sanft.

„Mama, ich hab’ so ein Gefühl wie Ameisen in Händen und Füßen und schwindlig ist mir auch. Ma, ist das immer so, wenn man einen Menschen sehr gern hat?“

„Zu meiner Zeit war es jedenfalls so“, lächelte die Mutter. „Er gefällt dir wohl, der Robert Bennett, hm?“

„Jaaa! Ach Mom, er hat so hübsche Augen und er sieht so gut aus in der Uniform. Mama, er tanzt einfach hinreißend. Oh, ich hab’ ihn so gern!“

„Dann träum schön von deinem Herzenshelden, mein Kind. Gute Nacht, Spatz.“

„Gute Nacht, Mama“, erwiderte Susan. Ein deutliches, sehr zufriedenes Seufzen mischte sich unter den Gruß.

Ein paar Zimmer weiter wünschte Thomas seinem Freund eine angenehme Nachtruhe.

„Danke, Tom“, erwiderte Robert. „Tommy …“, setzte er dann an.

„Ja?“

„Tom, ich glaube, ich habe mich verliebt.“

„Wie bitte?“ fragte Tom erschrocken. „Was hast du gesagt? Ich habe nicht richtig gehört!“

„Doch, du hast völlig richtig gehört. Ich habe mich verliebt, Thomas – und zwar in deine Schwester Susan“, wiederholte Bennett. „Du hast Recht: Sie kann ein Biest sein, ohne Zweifel – aber ein sehr nettes Biest“, lächelte er versonnen.

„Wenn ich mich recht erinnere, hast du dich nie …“

„Nein, für die dummen Gänse, die du und George mir unterjubeln wollten, gewiss nicht, stimmt. Aber deine Schwester, Tommy, das ist ganz was anderes. Du hast nicht untertrieben, als du sie als Schwan beschrieben hast.“

Thomas grinste über das ganze Gesicht.

„Tut’s weh?“

„Bitte? Mir geht’s prächtig nach diesem wundervollen Abend. Was sollte wehtun?“

„Na, Amors Pfeil!“, lachte Thomas auf. Robert sah ihn verblüfft an, bis Tom auf einen Gegenstand hinter ihm wies. Robert drehte sich um und entdeckte eine Gipsfigur in der Ecke über dem Ofen, die Gott Amor als Putte mit Pfeil und Bogen darstellte. Die Figur schien ihn schelmisch anzugrinsen. Fehlte nur noch, dass Amor den Daumen hob, um anzuzeigen, dass er wieder einmal mitten ins Schwarze getroffen hatte. Gott Amor hatte zugeschlagen …

Kapitel 2

Colonel Bennetts Regiment

 

Robert blieb noch zehn Tage nach Neujahr in Topeka, dann machte er sich auf den Weg nach Fort Randall, wo sein Vater und seine Geschwister auf ihn warteten. Tom hatte noch länger Urlaub und würde Anfang Februar nachkommen. Als Robert am 15. Januar 1861 nach Fort Randall zurückkehrte, glaubte er, diese zehn Tage müssten für immer einen besonderen Platz in seiner Erinnerung haben. Ganz besonders die wundervolle Schlittenfahrt mit Susan … Ihm wurde noch ganz warm, wenn er daran dachte.

Die Armeekalesche, die ihn von der Postkutschenstation abgeholt hatte, passierte das Tor und stoppte dann so hart, dass der junge Mann aus seinen Träumen gerissen wurde. Er stieg steifbeinig aus und ließ sich vom Fahrer sein weniges Gepäck heruntergeben. Die Tür des Kommandantenbüros öffnete sich und Lieutenant-Colonel Frederick Bennett trat heraus. Er blinzelte in die ebenso strahlende wie tief stehende Wintersonne. Robert war versucht, sofort zu ihm hinzustürzen und ihn zu begrüßen, wie es sich für einen Sohn gehörte, der nach vier Jahren Abwesenheit heimkehrte, aber er besann sich rechtzeitig. Er war in Uniform, betrachtete sich also als im Dienst befindlich und hatte sich entsprechend zu verhalten. Sein Vater war Soldat vom Scheitel bis zur Sohle und erwartete von einem Soldaten ein militärisches Verhalten. Es war jetzt nachmittags kurz nach drei Uhr, also noch Dienstzeit. Robert winkte einen Soldaten herbei, drückte ihm seine Tasche in die Hand und ging dann zur Kommandantur. Unten an der zweistufigen Treppe blieb er stehen, stand stramm und salutierte, wie man es ihm auf West Point beigebracht hatte.

„Second-Lieutenant Robert Bennett meldet sich zum Dienst, Sir!“

„Danke, Lieutenant Bennett. Melden Sie sich beim Quartermaster-Sergeant. Er wir Ihnen Ihr Quartier zuweisen. Ich erwarte Sie zur Eintragung in die Regimentsstammrolle um vier Uhr. Wegtreten!“, antwortete Frederick Bennett im selben militärischen Tonfall. Robert salutierte erneut, sein Vater erwiderte den Gruß. Der Lieutenant drehte auf dem Absatz um und marschierte zu dem Soldaten zurück, der mit seiner Tasche erwartungsvoll neben der Kutsche stand.

„Trooper, begleiten Sie mich zum Quartermaster-Sergeant!“, forderte Robert den Mann auf.

„Ja, Sir! Darf ich vorangehen, Sir?“

Robert sagte nichts, sondern machte nur eine auffordernde Handbewegung.

„Soll ich, Sir?“

„Ja, Trooper, nun gehen Sie schon!“

Der Trooper ging voraus und brachte den Lieutenant zu einem am nördlichen Wehrgang gelegenen Blockhaus. An der Tür war ein Holzschild angebracht, auf dem in weißen Buchstaben Quartermaster-Sergeant geschrieben stand. Der Trooper klopfte an und öffnete die Tür, ohne eine Antwort abzuwarten.

„Sir, der neue Lieutenant ist da“, meldete er Robert an.

„Danke, Elliot“, kam es von drinnen. Elliot machte eine einladende Handbewegung und Robert trat ein.

„Second-Lieutenant Robert Bennett meldet sich zum Dienst und möchte sein Quartier beziehen“, sagte er.

„Willkommen, Sir. Ich bin Quartermaster-Sergeant Van Dyke. Das ist Trooper Elliot. Ich habe eine gute Stube für Sie reserviert. Elliot wird Ihr Gepäck gleich rüberbringen. Sie haben Stube fünfzehn, direkt neben Ihrem Bruder, Sir. Wenn Sie einen Burschen brauchen, empfehle ich Trooper Elliot, Sir.“

Van Dyke reichte Robert den Stubenschlüssel.

„Danke, Mr. Van Dyke. Ich werde mich zunächst einrichten. Wie ist die allgemeine Lage hier?“

„Ich denke, Sir, der Colonel sollte Sie in die allgemeine Lage einweisen. Es steht mir nicht zu, Offiziere einzuweisen, Sir.“

Robert nahm die Worte des Sergeants mit einem Kopfnicken zur Kenntnis.

„Bringen Sie mich bitte in mein Quartier, Mr. Elliot“, sagte er zu dem Trooper und verließ die Quartiermeisterei mit einem freundlich-lässigen Gruß, den der Sergeant zackig erwiderte.

„Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben dürfte, Sir …?“, setzte Elliot an, als sie über den Exerzierplatz gingen.

„Ja?“.

„Sie haben wenig Gepäck, Sir. Second-Lieutenant Gordon hatte wesentlich mehr, Sir.“

„Second-Lieutenant Gordon benötigt eine Menge Zivilkleidung, wenn er sich in Omaha amüsieren will. Ich besitze praktisch keine Zivilkleidung“, gab Robert zurück.

„Wollen Sie sich in Uniform amüsieren, Sir? Ich würde davon abraten. Die Spielhöllenbesitzer in Omaha mögen keine Uniformierten im Lokal.“

„Stört mich nicht weiter. Ich neige nicht dazu, mich abendlich zu beschlucken.“

„Sie kennen Lieutenant Gordons Gewohnheiten, Sir?“

„Ich kenne ihn von der Schule.“

Elliot öffnete die Tür zu Roberts neuer Stube und stellte die Tasche auf dem Bett ab.

„Ich heize gleich ein, Sir“, versprach er dann und wollte gehen.

„Sind Kohlen, Anzünder und Spanholz vorhanden, Mr. Elliot?“

„Ja, Sir.“

„Danke, Sie können gehen. Ich heize selbst ein.“

„Aber, Sir, ich …“

„Schon gut, Mr. Elliot. Ich habe in den letzten vier Jahren auch selbst geheizt.“

„Sir, Sie sind jetzt Offizier“, erinnerte der Trooper erschrocken.

„Offizier, aber kein König“, erwiderte Robert grinsend. „Ich werde Sie noch häufig genug brauchen, Elliot, aber Sklavenarbeiten brauchen Sie für mich nicht zu tun.“

„Danke, Sir. Wann soll ich mich wieder bei Ihnen melden?“

„Wo finde ich Sie, falls ich Sie brauche?“, fragte Robert ohne auf die Frage einzugehen.

„Mein Quartier ist in der dritten Mannschaftsbaracke, Sir.“

„Danke, Mr. Elliot. Sie können gehen.“

Elliot salutierte zackig, machte eine vorschriftsmäßige Kehrtwendung und schloss hinter sich die Tür.

Bennett packte seine wenigen Sachen aus und verstaute sie in einem Schrank, der der vierfachen Menge von Kleidung Platz geboten hätte. Zurzeit besaß er nur einen Uniformrock, den Wintermantel mit der großen Pelerine, zwei Hosen, zwei Hemden, zwei Paar Strümpfe, zwei Sätze Unterwäsche und ein Paar Stiefel.

Zu guter Letzt nahm er ein kleines Ledersäckchen aus der Tasche, von dem er sich schon seit Jahren nicht mehr trennte. Es enthielt eine Kräutermischung, die Zwei Schlangen, der Medizinmann der Assiniboins, hergestellt hatte. Die Assiniboins waren ein Prärieindianerstamm, mit dessen Häuptling Gelbe Wolke Robert gut befreundet war. Die Freundschaft reichte weit zurück in ihre gemeinsame Kinderzeit, als Robert dem jungen Indianer einmal das Leben gerettet hatte. So sehr die Assiniboins die Weißen allgemein hassten – und die weißen Soldaten unter Lieutenant-Colonel Bennett im Besonderen – so sehr mochten sie den jüngeren Sohn des Häuptlings der Blauröcke, wie sie Bennett senior nannten. Robert hatte ihre Sprache gelernt, hatte viel Zeit bei ihnen verbracht, konnte Spuren lesen wie ein Trapper und hatte gelernt, dass man von einem Büffel nichts übrig lassen brauchte, weil alles in irgendeiner Form verwendbar war.

Nachdenklich sah er auf das kleine Säckchen, das ihm schon manch guten Dienst erwiesen hatte. Die Kräuter waren ein wahres Wundermittel gegen Entzündungen. Im Laufe der letzten vier Jahre auf der Akademie hatte er sich häufiger einen Kräutertee machen müssen, wenn er beim Fechten oder Boxen Verletzungen gehabt hatte. Der Inhalt war bedrohlich knapp geworden. Aber Robert konnte nur vage hoffen, seinen Freund besuchen zu können. Bevor er auf die Akademie gegangen war, hatte er wohl der familiären, aber nicht der militärischen Befehlsgewalt seines Vaters unterstanden. Nun war er Soldat und hatte seinem Vorgesetzten zu gehorchen. Früher hatte er eine Woche Hausarrest bekommen, wenn er verbotenerweise seine indianischen Freunde besucht hatte, jetzt würde es mit einem Disziplinarverfahren enden, wenn er wieder Kontakt zu Gelber Wolke suchte. Mit einem Seufzer packte Robert das Säckchen in den Schrank und sah auf die Uhr. Es war kurz vor vier, und sein Vater hasste Unpünktlichkeit.

Der Posten vor dem Amtszimmer des Lieutenant-Colonels riss die Tür mit zackigem Salut auf und Robert trat ein.

„Second-Lieutenant Robert Bennett meldet sich zur Stelle, Sir!“, sagte er, stand stramm und salutierte. Frederick Bennett stand von seinem Schreibtischsessel auf und trat zu seinem jüngeren Sohn.

„Ich benötige Ihr Offizierspatent, Second-Lieutenant Bennett“, erwiderte er. Robert griff in die Jacke, nahm die Urkunde heraus und gab sie seinem Vater.

„Meine Beförderung zum Second-Lieutenant, Sir!“

Frederick kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und nahm einen Folianten heraus, in den er eine Eintragung machte. Dann schob er Robert die Urkunde wieder zurück.

„Letztes Zeugnis der Akademie?“

„Verzeihung, Sir, aber das Abgangszeugnis ist nicht Bestandteil der Personalunterlagen.“

Frederick Bennett lächelte zum ersten Mal, seit sein Sohn sich bei ihm vorgestellt hatte.

„Weiß ich, mein Junge, aber dein Vater wird doch hoffentlich erfahren dürfen, wie sein Sohn die Schule beendet hat“, erwiderte er beinahe sanft­mütig.

„Ich hab’s drüben, Pa. Soll ich es holen, oder willst du mir erst meine Aufgabe vorstellen?“, antwortete der junge Mann im gleichen vertraulichen Ton.

„Second-Lieutenant Bennett!“, herrschte Frederick seinen Sohn an. „Sie sind im Dienst! Solche Respektlosigkeiten dulde ich nicht!“

Robert stand augenblicklich wieder stramm.

„Dann ersuche ich Sie, Sir, das Dienstreglement ebenfalls einzuhalten und private Dinge auf die dienstfreie Zeit zu verschieben!“, gab er zurück. Bennett senior knurrte unwillig. Der Junge hatte auch noch Recht!

„Kommen wir zu Ihren künftigen Aufgaben, Lieutenant. Sie übernehmen den ersten Zug der Schwadron C unter dem Kommando von Captain Barry Bruce. Das heißt, sofern die entsprechenden Rekruten dafür gefunden sind. Mein Regiment besteht zurzeit nämlich nur aus den Schwadronen A und B“, erklärte Lieutenant-Colonel Bennett. Er sah Robert prüfend an.

„Und ich erwarte, dass diese Schwadron C die beste Schwadron wird, die dieses Land jemals gesehen hat! Habe ich mich klar genug ausge­drückt, Lieutenant Bennett?“

„Ja, Sir!“

„Es werden Frischlinge sein, die nicht wissen, wo bei einem Gewehr vorn und hinten ist, die keine Ahnung haben, wie man ein Pferd besteigt, geschweige denn, wie man es sattelt. Außerdem wird es Ihre Aufgabe sein, Pferde für das Regiment einzukaufen. Quartermaster-Sergeant Van Dyke wird Ihnen über den Jahresetat für solche Anschaffungen Auskunft geben. Bevor ich Ihnen weitere Aufgaben zuteile, warte ich die weitere Entwicklung sowohl des Regimentes als auch Ihrer Befähigung ab. Ich sehe, Sie haben noch die dunkelblaue Uniformhose. Beschaffen Sie sich beim Zeugmeister umgehend die vorschriftsmäßigen neuen himmelblauen Hosen und die erforderlichen Regimentsabzeichen. Ich erwarte Sie heute Abend um sechs Uhr zum Privatdinner in neuer Uniform, Second-Lieutenant Bennett. Und mit Ihrem Abgangszeugnis. Verstanden?“

„Ja, Sir!“

„Wegtreten!“

Robert salutierte und verließ die Kommandantur.

Wie befohlen, suchte er zunächst den Zeugmeister auf, der ihm die neuen Hosen gab. Sergeant Quaid kannte Robert schon, seit er ein kleiner Junge gewesen war. Entsprechend ungezwungen war ihr Umgang miteinander.

„Gott, was bin ich froh, dass sie dich auf der Akademie nicht so verbogen haben wie deinen Vater, Bob. Als du hier eben reinkamst, habe ich fast ‘nen Herzanfall bekommen, so militärisch hast du ausgesehen“, seufzte Sergeant Quaid erleichtert, als Robert alles andere als militärisch grob seine vorschriftsmäßigen Hosen erbeten hatte.

„Jeff, wir kennen uns zu lange und duzen uns zu lange, als dass ich dir gegenüber den Vorgesetzten herauskehren könnte. Außerdem war in diesem Fort eigentlich noch nie ein zu stark militärischer Ton an der Tagesordnung. Jedenfalls nicht unter den Soldaten, wenn mein Vater nicht in der Nähe war. Was ist eigentlich mit Philip? Ich habe ihn den ganzen Tag noch nicht gesehen“, erwiderte Robert freundlich lächelnd. Es war dieses Lächeln, das den jungen Mann deutlich von seinem Vater unterschied.

„Dein Bruder und dein Vater liegen wieder mal im Dauerclinch. Vorgestern hat Euer Vater Phil zur Strafe auf eine Dreitagespatrouille geschickt. Er müsste heute Abend zurück sein.“

„Sag’ Jeff: Seit wann ist Barry Captain? Als ich auf die Akademie ging, war er noch Sergeant und hatte nicht die Absicht, Offizier zu werden.“

„Barry ist dazu gekommen wie die Jungfrau zum Kind. In den letzten vier Jahren ist hier der Teufel los gewesen. Du warst der Einzige, der die Sprache der Assiniboins konnte – außer Barry Bruce. Dein Vater brauchte einen Dolmetscher, als er mit Gelber Wolke verhandeln musste, weil der die Einhaltung der von seinem Vater Roter Bison geschlossenen Verträge einforderte, und dein Vater extra jemanden aus Washington kommen ließ, um die Verhandlungen zu führen. Der Politiker wollte aber nur mit einem Offizier zu den Roten, keinesfalls mit einem simplen Sergeant. Also bekam Barry die gelben Schulterspangen angeheftet und war damit Lieutenant. Er fühlt sich nicht besonders wohl in der Rolle. Jetzt soll er auch noch eine Schwadron übernehmen. Aber Barry ist nicht so wie du oder Philip. Euch beide würde ich für die geborenen Offiziere halten, auch wenn Phil das selbst nicht glaubt. Nein, Barry ist damit nicht glücklich.“

„Warum steigt er dann nicht aus?“

„Dasselbe Problem wie bei Philip. Dein Vater unterschreibt kein Abschiedsgesuch. Außerdem ist bei Barry der Nachteil, dass er seine Dienstzeit als Offizier noch nicht erfüllt hat. Du weißt: Drei Jahre mindestens. Und er hat erst zwei hinter sich.“

„Daddy hat mich Barry als Zugführer zugeordnet.“

„Warst du schon bei ihm?“

„Nein. Wo finde ich den Knaben?“

„Stube sechzehn. Ich denke, er wäre glücklich, wenn du tatsächlich sein Lieutenant wirst. Aber eines garantiere ich dir, mein Junge: Die Schwadron hast du am Hals! Barry wird sicher dich vorschieben.“

„Macht nichts. Ich hab’s gelernt, Jeff. Oh, bevor ich das vergesse: Beschaff’ mir für den Sommer blaue Hemden mit Plastron. In den dicken Jacken hält man s nicht aus.“

„Wird ‘ne Weile dauern, Bobby. Aber zu Ostern habe ich sie hoffentlich da. Du weißt, dass du die selbst bezahlen musst?“

Robert nickte nur und verließ die Zeugmeisterei.

Es war bereits dunkel geworden, aber im Schein einiger Lampen erkannte Robert etwa zehn Reiter, die gerade das Tor passierten. Er blieb stehen und wartete in der Nähe der Kommandantur, erkannte in dem führenden Offizier seinen Bruder Philip. Noch bevor Robert aus dem Schatten treten konnte, tat sich die Tür der Kommandantur auf und der Lieutenant-Colonel kam heraus.

„First-Lieutenant Bennett zurück von Patrouille. Keine besonderen Vorkommnisse, Sir!“

„Danke, Lieutenant. Führen Sie die Leute in die Quartiere und erstatten Sie mir genauen Bericht.“

„Wenn Schnee, Schnee und nochmals Schnee einen Bericht hergeben würden, würde ich einen schreiben, Sir“, gab Philip zurück. „Es gibt nichts zu berichten.“

„Dann werden Sie genau das berichten, Lieutenant!“, grunzte Frederick. „Die Disziplin wird nicht versäumt! Ich erwarte Sie um sechs Uhr zum Privatdinner – in Uniform!“

„Zum Privatdinner in Uniform!“, knurrte Roberts Bruder bitter.

„Sie haben etwas vergessen, Lieutenant!“, stoppte Bennett senior seinen älteren Sohn. Philip drehte sich um.

„Sir?“

„Wenn Sie mit Ihrem Vorgesetzten sprechen, Lieutenant, haben Sie die Rede mit Sir zu beenden. Das nächste Mal gibt es dafür Arrest, verstanden, Lieutenant?“

„Ja, Sir!“

„Wegtreten!“

„Danke, Sir!“

Robert fühlte sich plötzlich an der Schulter angetippt und drehte sich erschrocken um.

„Neugierig, Lieutenant?“, fragte ihn eine tief vermummte Gestalt, die offensichtlich einen Offiziersmantel trug. In der Dunkelheit war die Stärke der schwarzen Schnüre, die den Dienstgrad markierten, auf dem dunkelblauen Stoff nicht zu erkennen.

„Wer sind Sie, Sir?“, fragte Robert mit erzwungener Kühle.

„Unerheblich. Warum grüßen Sie nicht, Lieutenant?“

„Weil ich nur bei zweifelsfrei höherem Rang zum Gruß verpflichtet bin, Sir. Also, mit wem habe ich das Vergnügen?“

Aus dem Mantel schälte sich Ronald Gordon, Roberts Schulkollege.

„Schade, du bist nicht ins Bockshorn zu jagen. Wo nimmst du bloß diese Abgebrühtheit her?“

„Daher, dass ich das Reglement im Gegensatz zu dir seit Kindertagen beten kann.“

„Wie lange lauschst du schon?“

„Lange genug, um zu wissen, dass mein Vater immer grimmiger wird. Er war schon immer ein Reglementsfanatiker.“

„Mit dem Alten ist nicht gut Kirschen essen. Wenn er so weitermacht, geht Philip eher stiften, als dass er länger als unbedingt nötig hier bleibt“, orakelte Ronald.

„So schlimm?“

„Noch schlimmer! Philip wollte sich wegversetzen lassen, um von einer anderen Einheit seinen Abschied zu nehmen. Dein Vater gibt ihn einfach nicht frei.“

Schlag sechs erschien Robert zum Abendessen. Sein Vater und seine jüngere Schwester Elizabeth, genannt Betty, saßen bereits am Tisch. Frederick Bennett zog die Taschenuhr und warf einen vorwurfsvollen Blick darauf.

„Gerade noch pünktlich!“, knurrte er.

„Guten Abend, Paps. Du hattest gesagt, dass ich um sechs zum Privatdinner kommen soll, und ich bin pünktlich da. Was grämst du dich?“, erwiderte Robert ruhig. Er trat zum Tisch und nahm Bettys Hand.

„Grüß dich, Betty. Du siehst süß aus. Tom wäre begeistert.“

Er gab ihr einen brüderlichen Kuss. Betty umarmte ihn.

„Bobby, endlich bist du wieder da! Kommt Tom auch?“, fragte sie mit leuchtenden Augen.

„Er hat noch Urlaub und kommt in etwa zwei Wochen“, erwiderte Robert. „Hier, das hat er mir für dich mitgegeben. Kleines Weihnachtsgeschenk.“

Er zog aus der Hosentasche ein schwarzes Kästchen und überreichte es Betty. Sie öffnete es und fand eine kleine Opalbrosche.

„Vater, sieh nur, was Tommy mir schickt!“

Frederick Bennett warf einen flüchtigen Blick auf die Brosche.

„Tand!“, grunzte er unfreundlich.

„Daddy, was ist eigentlich los mit dir? Hast du Schmerzen im Bein, oder welche Laus ist dir über die Leber gekrochen? Du benimmst dich wie die Axt im Wald“, wies Robert seinen Vater zurecht. Doch Frederick Bennett antwortete nicht, sondern polterte gleich drauflos:

„Philip, ich hatte dich in Uniform her befohlen! Wie kannst du es wagen dich dem Befehl zu widersetzen? Außerdem bist du drei Minuten zu spät!“

Philip stand in der Tür und trug einen zivilen Anzug, der offensichtlich maßgeschneidert war und wie angegossen saß. Philip hakte die Daumen in die Uhrtaschen seiner grauen Weste und maß seinen Vater mit einem abschätzenden Blick.

„Du hast mich zum privaten Dinner gebeten, Pa. Es ist nach sechs Uhr, ich bin nicht mehr im Dienst, also bin ich nicht verpflichtet, Uniform zu tragen. Du bist jetzt mein Vater, nicht mehr mein Vorgesetzter. Und von meinem Vater lasse ich mir als Volljähriger nicht vorschreiben, was ich anzuziehen habe, insbesondere dann nicht, wenn meine Kleidung dem Anlass durchaus angemessen ist!“, gab Philip kalt zurück. Robert spürte Betroffenheit. Es war ihm sichtlich peinlich, sich diesen Eklat anhören zu müssen.

„Philip!“, brauste Frederick auf. „Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, tust du genau das, was ich dir sage, verstanden?“, fauchte er.

„Die Sachlage ließe sich ganz schnell ändern, wenn ich dieses gastliche Haus verlassen dürfte. Ich will dir ja gar nicht zur Last fallen! Lass mich mein eigenes Leben führen und du brauchst dich nicht über meine Unpünktlichkeit und Disziplinlosigkeit zu beschweren.“

„Aha, es ist also Absicht, dass der Herr Sohn sich meinen Anordnungen widersetzt!“, schnaufte Frederick. „Ich werde dich morgen exerzieren lassen, dass dir das Wasser in der Nase kocht!“, drohte er dann.

„Du kannst mir den Buckel herunterrutschen!“, versetzte Philip eisig. „Du weißt genau, dass du kein Recht …“

Komm mir nicht mit irgendwelchen Gesetzen, du Paragrafenhengst!“, donnerte Bennett senior.

Robert sah den bittenden Blick seiner Schwester.

„Unternimm was!“, bat sie ihn leise. „Die bringen sich noch gegenseitig um.“

Robert hatte für einen Moment dem Gezeter seines Vaters und seines Bruders nicht zugehört. Er nahm seine Schwester am Arm.

„Komm, Betty, wir gehen“, sagte er leise. Betty stand auf und wollte mit Robert das Zimmer verlassen. Aber so heftig Philip und Frederick sich auch stritten, das leise Davonstehlen der jüngeren Kinder hatte der alte Bennett doch bemerkt.

„Hiergeblieben! Wer hat euch erlaubt, einfach aufzustehen und das Zimmer zu verlassen?“, fuhr er Robert und Elizabeth an.

„Vater, du hast mich zu einem privaten Dinner eingeladen“, erwiderte Robert an der Tür. „Da es offensichtlich nicht stattfindet, weil du dich lieber mit Philip um des Präsidenten Bart streitest, ziehen Betty und ich es vor, in der Kantine zu essen, weil wir allmählich Hunger bekommen und dort in Ruhe essen können, ohne dies Gezeter in den Ohren zu haben“, erklärte Robert ruhig.

„Ihr bleibt hier!“, keifte Frederick. Dann wollte er sich wieder an Philip wenden, um weiter zu streiten, aber Robert ging dazwischen.

Es reicht jetzt!“, befahl er barsch. Lieutenant-Colonel Bennett war es nicht gewohnt, dass ihm jemand Befehle gab. Der barsche Befehlston verschlug ihm zunächst die Sprache. Philip schwieg genauso verblüfft, weil er seinem jüngeren Bruder eine derart tragfähige Stimme nicht zuge­traut hatte.

„Sagt mal, seid ihr eigentlich von allen guten Geistern verlassen?“, fuhr Robert Vater und Bruder an. „Ich komme nach vier Jahren Akademie nach Hause, und was erlebe ich? Mein Vater verkehrt nur noch im Befehlston mit mir und meinen Geschwistern. Ihr keift euch an wie die Kampfhähne, weil du, Philip, von Natur aus die Opposition in Menschengestalt bist und du, Vater, einen völlig unerklärbaren Rochus auf Rechtsanwälte hast – oder solche Leute, die es werden wollen. Ihr seid doch beide nicht ganz dicht! Vater, nimm bitte zur Kenntnis, dass Philip außerhalb der Dienstzeit nicht deiner disziplinarischen Gewalt unterliegt. Falls es dir Reglementskenner entfallen sein sollte, lies dir bitte deine Befugnisse im Reglement mal wieder durch. Ferner solltest du zur Kenntnis nehmen, dass es für dich ganz böse Folgen haben könnte, wenn du Philip wegen seiner Kleidung bei einem privaten Dinner außerhalb der Dienstzeit morgen exerzieren lassen willst. Ich werde das nicht zulassen, weil ich mich so gut auch im Reglement auskenne, dass ich sofort eine Beschwerde schreiben werde, wenn ich feststelle, dass du Philip zwiebelst, weil er außerhalb des Dienstes etwas getan hat, was dir als Privatmann widerstrebt. Und du, Phil, stell’ deine Daueropposition endlich ein und wende dich an Stellen, die dir helfen können, Vater dazu zu bringen, dich endlich aus dem Dienst zu entlassen. Entweder ist mit dem Gekeife jetzt sofort Schluss, oder Betty und ich gehen wirklich rüber in die Kantine. Dort essen wir mit Sicherheit in besserer Gesellschaft als hier!“

Frederick und Philip saßen mit offenem Mund da. Der Colonel fing sich als erster.

„Was erlaubst du dir eigentlich? Hast du keinen Respekt vor deinem Vater?“

„Wenn mein Vater sich wie ein Hanswurst aufführt, nicht. Dein Benehmen ist eines Lieutenant-Colonel nicht würdig, Pa.“

Der Streit hörte zwar schlagartig auf, aber das gemeinsame Abendessen verlief in einer unschönen, gespannten Stimmung, in der sich eigentlich nur noch Robert und Betty unterhielten.

Einige Tage lang beruhigte sich das Verhältnis zwischen Philip und Frederick Bennett. Robert hatte wegen der Gereiztheit seines Vaters zunächst darauf verzichtet, ihm mitzuteilen, dass er von der Akademie mit Sonderzeugnis den Magistergrad der Rechte hatte. Der Hass seines Vaters auf jeden, der sich mit den Gesetzen auskannte, war Robert nur zu gut bekannt. Bettys Bedrücktheit blieb. Nicht einmal Robert konnte sie mit Spaziergängen und Schlittenfahrten aufmuntern. Er schob es darauf, dass Betty hoffnungslos in Thomas Craig verschossen war und er ihr sehr fehlte.

Knapp zwei Wochen nach seiner Ankunft in Fort Randall verfügte Robert über einen Zug von fünf Mann. Jeder, der neu zum Regiment kam, wurde in Roberts entstehenden Zug gesteckt. Zu seinem Leidwesen konnten die Neuen kaum reiten, hatten von Waffen überhaupt keine Ahnung. Robert hatte schon viel Geduld investiert, um seine Neulinge in die Geheimnisse des Soldatenberufes einzuführen. Einer seiner Rekruten war Umberto Cologgia, ein italienischer Einwanderer, der augenscheinlich nur wenig Englisch sprach. Robert hatte seine liebe Not mit ihm.

„Mr. Cologgia!“, schnaufte er, als er morgens im Stall mit dem Italiener Pferde putzte. „Im Italienischen mag meine Rangbezeichnung Sottotenente sein. Hier ist es Second-Lieutenant! Kapieren Sie das endlich!“

Si, Sotto…, permesso, Second-Lieutenant.“

Sir reicht völlig“, grinste Bennett, in der Meinung, Cologgia habe es endlich begriffen.

Si, Signor Sottotenente“, machte Cologgia die Bemühung im Einzelunterricht wieder zunichte. Robert lehnte sich vornüber an das Pferd, das er gerade striegelte.

„Womit hab’ ich das verdient?“, seufzte er resigniert. „Collie, Sie lernen’s nie!“

„Ah, Signore, ich bin fertig mit meinem cavallo. Was soll ich jetzt tun?“

Robert zog die Uhr aus der Tasche.

„Es ist Weckzeit. Schmeißen Sie Mattson, Elders und Andersson aus dem Bett und holen Sie Brennecke vom Donnerbalken, falls er nicht schon festgefroren ist. Sie sollen sich hier im Stall melden.“

Si, Signor Sottotenente“, grinste Cologgia.

Robert sah ihm kopfschüttelnd nach. Einerseits schien Cologgia ihn aus purer Nichtswürdigkeit italienisch anzureden, andererseits tat er für den Lieutenant nahezu alles, war immer zur Stelle, wenn Robert jemanden brauchte, der nicht ganz angenehme Arbeiten übernahm. Collie war die Gutwilligkeit in Person und machte das, was man ihm auftrug, immer richtig, vollständig und schnell. Vor allem schien er besser zu begreifen, als er mit seiner offenbar gewollt falschen Anrede glauben machen wollte. Robert schätzte den kleinen Italiener sehr. Cologgia war um die Stallecke verschwunden, und Robert nahm sich den rechten Vorderhuf seines Dienstpferdes, eines großen Armeeschimmels, vor.

Plötzlich hörte er eilige Schritte in der Stallgasse, die zu keinem seiner Rekruten passten. Vorsichtig sah er um die Kruppe seines Schimmels und erkannte Philip, der im hinteren Teil des Stalles eilig seine Stute sattelte.

„Guten Morgen, Philip. Hat Paps dich schon wieder auf Patrouille geschickt?“, fragte er.

„Nein“, kam es von hinten. „Und ein guter Morgen ist es auch nicht! Ich habe eben ein Telegramm vom Kriegsminister bekommen. Er meint, er kann nichts für mich tun; ich sollte mich an seinen Nachfolger wenden. Ich sehe keine andere Chance mehr. Ich muss handeln“, erwiderte Philip. Robert legte sein Putzzeug beiseite und ging zu seinem Bruder hin.

„Was hast du vor?“, fragte er. Philip seufzte.

„Es hat keinen Zweck mehr, Bob. Vater unterschreibt mein Abschiedsgesuch nicht, will mich auch nicht zu den 2nd Dragoons lassen, und der amtierende Kriegsminister Floyd verweist mich auf seinen Nachfolger, der erst im März sein Amt antritt. Mir reicht’s. Ich sehe keine andere Möglichkeit das Sommersemester noch zu erreichen, als einfach abzuhauen.“

„Philip, mach’ keinen Blödsinn! Du fängst dir mit Fahnenflucht mehr Ärger ein als im Stall Fliegen mit dem Fliegenfänger! Tu’s nicht! Mach dich nicht unglücklich!“, beschwor Robert den fünf Jahre älteren Bruder.

„Das bin ich schon. Robert, ich bin in die Army eingetreten worden, weil Paps mich einfach beim Virginia Military Institute angemeldet hat, ohne mich zu fragen, ob ich das überhaupt wollte. Und als ich dann gegen meinen Willen Soldat war, hat er Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um mich in seinen Haufen zu bekommen – so wie er auch dafür gesorgt hat, dass du in sein Regiment gekommen bist. Und jetzt lässt er uns nicht mehr aus den Klauen. Nein, Bob, wenn ich legal offenbar hier nicht wegkomme, kann ich auch türmen.“

„Philip, lass es bleiben! Ich habe an den Armeechef geschrieben und von Vaters Kapriolen berichtet. Warte wenigstens die Antwort noch ab!“

„Nein, zu spät, Robert. Ich gehe jetzt!“

„Wie?“, fragte Robert gedehnt.

„Ich haue ab! Ich de – ser – tie – re, kapiert?“

Robert wollte noch etwas einwenden, aber er kam nicht mehr dazu. Philip schlug so schnell und hart nach der Schläfe seines Bruders, dass der nicht mehr ausweichen konnte und bewusstlos zu Boden ging.

„Tut mir Leid, Bobby. Ich habe keine andere Wahl“, murmelte Philip, sattelte sein Pferd fertig und verließ den Stall.

Cologgia und Roberts übrige Rekruten sahen First-Lieutenant Philip Bennett den Stall verlassen und dachten sich nichts dabei. Er ritt öfter allein fort. Aber als sie in den Stall kamen, war der Second-Lieutenant Robert Bennett wie vom Erdboden verschluckt.

Sottotenente!“, rief Cologgia besorgt. „Signor Bennett? Roberto?“

Keine Antwort. Schließlich suchten sie die langen Stallungen ab und fanden Robert besinnungslos neben dem Stand, in dem sonst Philips braune Stute stand. Einige Momente waren sie völlig verblüfft, dann fasste Cologgia sich ein Herz und klopfte den Lieutenant wach. Allmählich kam er zu sich.

„Collie, was ist mit dem Lieutenant?“

Non lo so, scusi, ich weiß nicht. Eh, Lieutenant!“

„Bah! Das klingt ja noch grausiger als Sottotenente, Collie!“, beschwerte sich Robert, der in diesem Moment aufwachte.

Bene, Sottotenente. Come sta? Permesso, wie geht’s?“

Robert richtete sich ruckartig auf und packte Cologgias Arm.

„Wo ist mein Bruder?“, fragte er hastig.

„First-Lieutenant Bennett ist vor ein paar Minuten weggeritten, Sir“, gab Trooper Andersson Auskunft.

„Schon jemand hinter ihm her?“

„Nein, Sir. Weshalb, Sir?“

„Weil mein Bruder gerade dabei ist, Fahnenflucht zu begehen. Los, sattelt eure Pferde!“

„Sie wollen Ihren eigenen Bruder verfolgen, Sir?“, fragte Mattson entgeistert.

„Das ist nicht der Moment, dumme Fragen zu stellen, Trooper Mattson! Los, beeilt euch, bevor Lieutenant-Colonel Bennett seine Hofhunde in Gestalt der Militärpolizei loslässt!“, schnauzte Robert ungewohnt barsch. Cologgia legte den Kopf schief.

Si, Sottotenente, ich bin dabei“, sagte er. Die anderen vier sahen ihn verstört an.

„Collie, bist du übergeschnappt?“, keuchte Andersson.

No! Ich glaube, ich weiß, was der Sottotenente vorhat. Andiamo!“, erwiderte Umberto mit listigem Grinsen. Mehr oder weniger laut murrend folgten die Reiter Cologgia zu den Ständen ihrer Pferde.

Frederick Bennett sah die kleine Truppe aus dem Fort reiten.

„Robert holt ihn zurück, da bin ich sicher. Captain Stanfield, Sie können die Verfolgung abblasen“, sagte er.

„Sie meinen ernsthaft, dass Ihr Sohn seinen Bruder ans Messer liefert?“, fragte Stanfield verblüfft. „Sir!“, setzte er eilig hinzu, als er Bennetts strafenden Blick bemerkte.

„Ja, Captain Stanfield, das glaube ich. Robert ist der beste Spurenleser, den ich kenne, und er ist Soldat von Herzen. Deserteure gehen ihm genauso gegen den Strich wie mir.“

Am Platte-River stürmte es eiskalt direkt aus der kanadischen Eiswüste herunter. Der aufkommende Blizzard drohte alle Spuren zu verwischen, einschließlich denen, die Roberts Patrouille hinterlassen hatte. Robert sah sich nach seinen Leuten um. Sie hingen mit offensichtlich schmerzenden Hinterteilen in den Sätteln. Die Spur auf dem gegenüberliegenden Ufer des Platte war für den Lieutenant noch deutlich erkennbar, aber er konnte annehmen, dass seine Leute sie nicht wahrnehmen würden. Er beschloss, die Probe aufs Exempel zu machen.

„Trooper Andersson! Ich sehe keine Spur mehr. Können Sie noch was entdecken?“

Andersson schloss zu ihm auf, sah angestrengt auf die andere Seite.

„Nein, Sir. Ich sehe nichts mehr. Der Schneesturm muss die Spur verweht haben.“

„Sehe ich auch so“, erwiderte Robert, schelmisch grinsend. „Los, zurück, bevor uns der Blizzard wegpustet!“, befahl er dann.

Sie machten kehrt. Andersson, ein Mann, der aus Schweden eingewandert war, ritt neben Cologgia.

„Du hattest Recht, Collie“, murmelte er.

„Was meinst du, Arne?“, fragte Cologgia harmlos.

„Collie, ich bin Jäger. Die Spur war klar wie die Sonne. Der Lieutenant wollte sie nicht sehen!“

Cologgia grinste, dass sich sein schwarzer Schnurrbart sträubte.

„Er ist kein schlechter Kerl, unser Lieutenant“, sagte er. „Aber wenn du ihn verpfeifst, setzt es heiße Ohren!“, warnte Cologgia den Schweden in nahezu akzentfreiem Englisch. Robert grinste in sich hinein. Der kleine Kerl wollte ihn also doch nur aufziehen, wenn er italienisch radebrechte. Andererseits lag in seiner Anrede immer so viel Respekt, dass Bennett sich langsam von der italienischen Titulatur angenehm berührt fühlte. Er mochte Cologgia. Und seine Jungs waren in Ordnung.

Frederick Bennett machte aus seiner Enttäuschung keinen Hehl, als Robert ihm meldete, er habe die Spur am Platte-River verloren.

„Seit wann verlieren Sie eine Spur, Lieutenant Bennett?“, fauchte er.

„Am Platte ist ein Blizzard über uns hereingebrochen, der jeden Hauch von Spur vernichtet hat. Ich kann nur annehmen, dass Philip ein Stück durch den Fluss geritten ist und erst später auf dem linken Platte-Ufer weitergeritten ist. Es hat so einen Schneesturm gegeben, dass wir unsere eigenen Spuren bald verloren haben. Wenn Sie mir nicht glauben, Sir, dann fragen Sie meine Männer“, erklärte Robert. Lieutenant-Colonel Bennett winkte ab.

„Ich seh’s ein. Sie haben getan, was Sie konnten. Ist gut, Lieutenant Bennett, Sie können gehen.“

Robert salutierte, drehte sich um und wollte gehen, als Frederick ihn noch einmal ansprach:

„Was meinst du? Was wird er jetzt machen? Wohin wird er gehen?“

Verblüfft über die ungewohnt vertrauliche Anrede, drehte Robert sich wieder langsam um.

„Als Privatmann gefragt oder als Offizier, Sir?“, fragte er zurück. Sein Vater wandte sich vom Fenster ab, aus dem er die ganze Zeit hinaus gestarrt hatte, als könne er seinen älteren Sohn mit Blicken herbeiholen. Jetzt wirkte er müde, alle dienstliche Strenge, die er bis vor wenigen Sekunden noch gezeigt hatte, war gewichen.

„Wir sind allein, Robert. Was meinst du?“, wiederholte der Colonel seine Frage.

„Sorry, Sir, das ist noch keine Antwort auf meine Frage. Darf ich den Colonel im Dienst duzen, ohne mit drei Tagen Arrest rechnen zu müssen?“, fragte Robert erneut.

Frederick Bennett seufzte schwer und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er hatte das dunkle Gefühl, dass er mit seiner Forderung nach Disziplin, die er auch seinen Söhnen ohne Nachsicht abverlangt hatte, einen schweren Fehler gemacht hatte. Jetzt wollte er diesen Fehler revidieren, aber er stieß auf Misstrauen, das er erst abbauen musste.

„Vergiss es“, sagte er. „Es ist einfach Blödsinn, von den eigenen Söhnen Ehrenbezeigung zu fordern, selbst wenn man allein mit ihnen ist. Es ist Dummheit, private Unterhaltungen nur auf die eine oder zwei Abendstunden zu beschränken. Ich möchte das jetzt ändern, mein Junge. Ich frage dich als meinen Sohn, Robert.“

Robert zog sich den schweren Mantel aus und hängte ihn mit dem schwarzen Hardeehut an die Garderobe im Amtszimmer seines Vaters. Dann setzte er sich auf die andere Seite des Schreibtisches und sah seinen Vater einen Moment an. So bedrückt, wie sein Vater ihn ansah, hatte er viel Ähnlichkeit mit Philip an diesem Morgen im Stall. Kein Zweifel, Frederick Bennett war das Ebenbild seines älteren Sohnes – nur grauhaarig und mit eisgrauem Bart um die jetzt zusammengekniffenen Lippen und das Kinn.

„Ich weiß, dass dir Disziplin über alles geht, einschließlich der eigenen Familie, Dad. Mom hat darunter gelitten, Onkel Ben hat darunter gelitten, Betty, Phil und ich auch. Jetzt hast du das Ergebnis davon“, sagte Robert leise. „Was Philip tun wird? Ich nehme an, er wird weggehen, so weit wie nur irgend möglich. Er wird sich einen Staat suchen, in den der Arm unseres Gesetzes nicht ohne weiteres reicht und er in Ruhe studieren kann. Zu denken wäre an Kanada oder die in Sezession befindlichen Staaten, wobei das Letztere wenig wahrscheinlich sein wird. Eher noch England. Aber du kannst es verhindern, indem du sein Gesuch einfach unterschreibst und ihn für derzeit in Urlaub befindlich erklärst“, schlug der junge Mann vor.

„Wenn es so einfach wäre, mein Junge! Ich habe heute Morgen, gleich, nachdem klar war, dass Philip flüchten wollte, an die Armeeführung telegrafiert und seine Desertion angezeigt“, erwiderte Frederick müde.

„Und wenn du noch mal telegrafierst, dass ein Irrtum vorliegt, weil der Urlaubsschein verlegt war?“, versuchte Robert es weiter. „Es ist doch kein Problem, ihm einfach Urlaub zu geben.“

„Das ist ja mein Problem!“, seufzte Frederick. „Die Streiterei geht schon seit fast zwei Jahren. Ich habe General Scott geschrieben und mit ihm dieses Signal ausgemacht. Er hat die Maschinerie schon in Gang gesetzt.“

„Na, großartig, Daddy. Warum hast du es nur soweit kommen lassen, dass du als Vater deinem Sohn eine Anzeige wegen Fahnenflucht an den Hals hängst? Du weißt doch, was passiert, wenn die Militärpolizei ihn schnappt. Die spicken ihn erst mit elf Stücken Blei und fragen dann, ob sie den richtigen erwischt haben!“

„Du weißt doch, wie stur Philip ist.“

„Wohl wahr – genauso wie sein Vater!“, versetzte Robert grinsend. Frederick wollte etwas einwenden, aber der Jüngere schüttelte den Kopf.

„Vater, wir sind beide deine Söhne, auch wenn wir unterschiedliche Mütter haben. Philip hat schon äußerlich viel Ähnlichkeit mit dir. Du kannst verdammt stur sein. Aber nachdem, was Philip mir von seiner Mutter erzählt hat, und was ich von dir von deiner ersten Frau weiß, wusste sie auch ihren Kopf durchzusetzen. Bei der Kombination solltest du dich über Philips Sturheit nicht wundern“, sagte er lächelnd. Sein Vater bekam einen beinahe wehmütigen Ausdruck in den Augen.

„Wie biege ich das wieder gerade?“ fragte er.

„Versuch’ es beim Provost Department. General Howard, der Oberste Richter, ist eigentlich ein vernünftiger Mensch. Vielleicht kann er die Verfolgung stoppen, die nach deiner Anzeige von Amts wegen aufgenommen wurde“, empfahl Robert. Die Art, wie er es sagte, ließ bei Frederick den Verdacht aufkommen, sein jüngerer Sohn verstünde etwas von Recht. Eine furchtbare Vorstellung für jemanden wie Frederick Bennett, der kaum etwas mehr hasste, als Rechtsanwälte und Indianer.

„Du verstehst doch nicht etwa was von Gesetzen? Das tust du mir nicht an!“, keuchte er.

„Papa, ich habe mich kundig gemacht, weil auch ein Soldat heute nicht mehr ohne Paragrafen auskommt. Ich habe einen Magistergrad in Jura.“

Frederick schnappte heftig nach Luft und war im ersten Impuls versucht, in seine alte Gewohnheit zurückzufallen und heftig zu zetern, aber er beherrschte sich rechtzeitig, weil ihn im Augenblick die Sorge drückte, auch Robert könnte den Dienst quittieren.

„Womit habe ich das nur verdient?“, seufzte er nur. Robert grinste breit.

„Vermutlich hast du so heftig auf Anwälte gewettert, dass Phil und ich unbedingt wissen wollten, ob Jura wirklich ein so widerliches Fach ist“, erwiderte er.

„Wenn du schon den Leuten das Wort im Munde herumdrehen kannst, könntest du eigentlich für mich ans Provost-Department schreiben.“

„Wenn du unterschreibst, mache ich das sofort“, bot Robert an. Sein Vater nickte und der junge Mann schrieb gleich folgenden Brief:

 

Fort Randall, 30. Januar 1861

 

General Simpson T. Howard

c/o Provost  Department

Washington D.C.

– per Kurier –

 

 

Dear Sir,

 

mit Telegramm vom heutigen Tage hatte ich bei General Scott, Commander-in-Chief, angezeigt, dass First Lieutenant Philip Bennett, Cavalry Reserve West, die Truppe unerlaubt verlassen hat und fahnenflüchtig ist.

Bei der Anzeige handelte es sich um einen bedauerlichen Irrtum, der sich nun bei der täglichen Kontrolle der Personalakten aufgeklärt hat. Versehentlich wurde der Urlaubsschein für First-Lieutenant Philip Bennett in der Akte von Second-Lieutenant Robert Bennett abgelegt, der gleichfalls meinem Kommando angehört. Ich bitte deshalb darum, eventuell eingeleitete Fahndungsmaßnahmen einzustellen.

Darüber hinaus teile ich mit, dass First-Lieutenant Philip Bennett mir als seinem Kommandeur seine Kündigung zum 1. Februar 1861 vorgelegt hat. Bei dem jetzt angetretenen Urlaub handelt es sich um noch ausstehenden Resturlaub bis zum Ablauf der Dienstzeit.

 

Hochachtungsvoll

 

( Frederick J. Bennett, Lieutenant-Colonel )

Frederick Bennett las das Schreiben durch, brummte zufrieden und unterschrieb.

„Es wäre mir noch lieber, wenn du noch eine Depesche gleichen Inhalts an das Provost Department absenden würdest“, sagte er dazu.

„Wird gemacht, Sir“, bestätigte Robert.

„Den Brief hast du so locker aus dem Handgelenk geschüttelt, mein Junge. Philip war mein Adjutant. Jetzt bin ich ihn auf jeden Fall los. Willst du die Position übernehmen?“

„Ich schlage so ein Angebot ungern aus, Paps. Ich bin mir nur nicht ganz sicher, ob ich wirklich zum Schreibtischhengst tauge. Aber wenn du meinst, dass sich der Job mit meiner neuen Stellung als Zugführer verträgt, mache ich es“, erwiderte Robert.

„Noch besteht dein Zug aus ganzen fünf Mann. Solange der Zug nicht vollständig ist, kannst du auf jeden Fall mein Adjutant sein. Danach sehen wir weiter“, bot der Lieutenant-Colonel an. Robert nickte und verließ das Amtszimmer. Draußen schüttelte er sich zunächst, wie um ein Traumbild loszuwerden. War das wirklich sein Vater, mit dem er gerade gesprochen hatte? Wenn ja, hatte Frederick Jefferson Bennett sich von einer Sekunde auf die andere um hundertachtzig Grad gedreht.

Der Lieutenant eilte zum Telegrafen und ließ die Nachricht durchgeben, bevor er Trooper Morgan aus Philips Zug mit der Beförderung des Original-Schreibens beauftragte. Aber die Antwort, die er schon zwei Stunden später in der Hand hielt, war niederschmetternd: Das Provost Department hatte die Ermittlungen von Amts wegen aufgenommen und wollte einer Rücknahme der Anzeige nicht zustimmen. Man verwies darauf, dass im anstehenden Prozess ausreichend Gelegenheit sei, ein entsprechendes Missverständnis aufzuklären.

Robert gab seinem Vater die Antwort des Militärgerichtes mit einem Blick, der Bände sprach. Frederick las die Antwort und raufte sich nur noch die Haare. Er hatte seinen ältesten Sohn verraten!

Kapitel 3

Flucht in den Süden

 

Philip hatte hinter einigen Bäumen versteckt die Patrouille beobachtet und festgestellt, dass es ausgerechnet sein Bruder Robert war, der ihn verfolgte.

‚Ich hätte ihn nicht niederschlagen sollen. Das war ein Fehler. Er ist bestimmt sauer‘, bedauerte Philip in Gedanken seine Tat im Stall. Aber zu seiner Verblüffung blieb die Patrouille auf der rechten Seite des Platte. Philip hatte mit Robert oft gejagt und wusste, dass es in dieser Gegend außer Schwarzer Adler vom Stamm der Assiniboins keinen besseren Spurenleser gab als seinen jüngeren Bruder. Umso mehr wunderte es ihn, dass die Truppe den Fluss nicht überquerte. Zwar waren seine Spuren verweht, aber für einen geübten Fährtensucher wie Robert mussten sie zu sehen sein. Philip nahm vorsichtig sein Fernglas aus der Satteltasche und sah nach drüben. Den Ausdruck im Gesicht seines Bruders kannte er. Kein Zweifel, Robert konnte die Spur sehen wie eine im Wind flatternde Fahne! Philip konnte erkennen, dass Robert sich kurz mit einem seiner Männer unterhielt und dann ein überdeutliches Zeichen zum Umkehren gab. Er hatte die Spur absichtlich verloren!

„Teufelskerl!“, murmelte Philip. „Wie mache ich das nur wieder gut?“

So von seinem Bruder geschützt, reiste Philip unbehelligt zunächst nach Boston, zu seinem Onkel Benjamin Bennett.

„Bist du des Teufels?“, fuhr Ben seinen Neffen an. „Robert und ich schreiben uns die Finger wund, um dich aus der Army zu holen – und du kneifst einfach aus! Hast du den Verstand verloren?“

„Vielleicht“, räumte Philip ein. „Onkel Ben“, sagte er dann, „seit einem vollen Jahr versuche ich, meinen Dienst legal zu quittieren. Paps leitet meine Gesuche nicht weiter, von ihm nicht abgezeichnete Briefe bekomme ich von General Scotts Adjutanten mit der Bemerkung zurück, ein Abschiedsgesuch nur mit dem Vermerk der Kenntnisnahme meines Kommandeurs vorzulegen. Daddy lässt nicht einmal eine Versetzung zu einer anderen Einheit zu, und vom amtierenden Kriegsminister bekomme ich die freundliche Empfehlung, mich doch an seinen Nachfolger zu wenden, der ihm aber leider noch nicht namentlich bekannt ist. Ich gehe jede Wette ein, dass auch weder der amtierende Präsident Buchanan noch der gewählte Präsident Lincoln willig sind, mir behilflich zu sein! Es sieht doch so aus, dass ich die Army nicht legal verlassen kann, wenn sich mein Kommandeur weigert, meine Kündigung zur Kenntnis zu nehmen! Onkel Ben, ich sehe keine andere Chance mehr, als mich französisch zu verabschieden!“, versetzte Philip bitter.

„Zugegeben, in gewisser Weise hast du Recht, Phil. Aber wir hätten noch die Möglichkeit gehabt, deinen Vater vor Gericht zur Kenntnisnahme deiner Kündigung zu zwingen“, erwiderte Ben Bennett. „Durch deine Fahnenflucht hast du jetzt aber alles zunichte gemacht.“

„Onkel Ben, ich hätte mit Sicherheit ein weiteres volles Jahr auf der Universität verloren, wenn …“

„Und durch diesen Blödsinn von Desertion verlierst du jetzt alles!“, unterbrach Benjamin seinen Neffen barsch. „Du bist doch sonst nicht so kopflos!“, schüttelte er den Kopf. Philip ließ sich müde in den Sessel fallen, vor dem er stand.

„Seit ich zum ersten Mal die Absicht geäußert habe, den Dienst quittieren zu wollen, schikaniert mein Vater mich nach Strich und Faden. Die Schikanen werden immer schlimmer. Bob hat versucht, sich als Puffer zu betätigen, aber er kann mich auch nicht schützen. Dazu müsste er wohl Papas Vorgesetzter sein. Aber bevor mein Vater zulässt, dass einer seiner Söhne ihm vor die Nase gesetzt wird, läuft der Missouri in die Quelle zurück. Onkel Ben, ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten.“

Benjamin Bennett seufzte.

„Das Beste wäre, wenn du jetzt wirklich nicht mehr greifbar wärst. Du solltest das Land verlassen. Geh’ nach England oder Kanada“, empfahl er nach einigem Nachdenken.

„Dann suche ich mir am besten gleich eine Passage nach England. Dann kann ich wenigstens in Oxford studieren.“

„Komm, wir machen uns gleich auf den Weg, damit du möglichst weit auf hoher See bist, wenn die Steckbriefe ausgehängt werden“, sagte Benjamin, nahm seinen Mantel und verließ mit seinem Neffen die Kanzlei.

Auf dem Weg zum Hafen kamen sie an einem Polizeirevier vorbei, bei dem Steckbriefe in einem Schaukasten an der Straße hingen. Philips Name stand in großen Lettern auf einem der Steckbriefe – und eine Belohnung von zweihundert Dollar war auf seine Ergreifung ausgesetzt. Benjamin ging näher heran. Der Steckbrief enthielt zwar nicht die übliche Porträtzeichnung des Gesuchten, aber eine deutliche Personenbeschreibung: Sechs Fuß, zwei Inch groß, kurzes, dunkles Haar, grüne Augen, Oberlippenbart, bekleidet mit Kavallerieuniform und den Rangabzeichen eines First-Lieutenant.

„Hmm“, brummte Benjamin. Er sah seinen Neffen an. „Unsere Idee können wir vergessen. Los, komm mit.“

„Was meinst du?“, fragte Philip erschrocken.

„Du brauchst neue Sachen. Wir gehen zu meinem Schneider und zum Friseur, mein Junge. Der Bart muss runter“, erwiderte Benjamin und schob Philip in den nächsten Friseurladen. Beim Schneider fanden sich passende Sachen, die Philip kaufte und gleich gegen seine Uniform tauschte. Dann kehrten sie in die Kanzlei zurück.

„Du kannst dich nicht direkt von Boston aus einschiffen. Von hier aus kommst du nicht ins Ausland. Du solltest nach Süden reisen und von Virginia oder noch besser von South Carolina fahren“, schlug Ben vor.

„Onkel Ben, als Nordstaatler reist man besser nicht freiwillig in einen vor Yankeehass brodelnden Süden“, gab Philip zu bedenken.

„Du kannst den virginischen Zungenschlag kaum verbergen, mein Junge. Nutze ihn. Du kennst Virginia wie deine Westentasche.“

„Jeder Virginier würde sofort merken, dass ich nicht von dort bin“, entgegnete Philip.

„Möglich. Aber jemand aus South Carolina oder aus Texas könnte deinen virginischen Dialekt nicht vom tatsächlichen Idiom unterscheiden. Du fährst mit der Bahn über Lynchburg und Danville in Virginia nach Florence in North Carolina, dort steigst du nach Charleston, South Carolina, um. In Charleston findest du mit Sicherheit ein Schiff, das nach England geht. Dein Steckbrief dürfte Charleston noch nicht erreicht haben, weil die Regierung von South Carolina sämtliche Beziehungen zum Bund gelöst hat.“

„Gut, dann besorge ich mir sofort eine Fahrkarte, bevor die Personenbeschreibung noch geändert wird“, erwiderte Philip und verließ eilig die Kanzlei.

Philip hatte Glück. Noch am selben Nachmittag fuhr ein Zug nach Lynchburg. North Carolina und Virginia hatten sich noch nicht zur Sezession entschlossen, weshalb es noch problemlos möglich war, per Zug dort­hin zu reisen. In Charlotte, North Carolina, hatte der Zug längeren Aufenthalt, weil es Probleme mit dem Grenzübertritt gab. Beamte der Staatspolizei von North Carolina durchsuchten den Zug nach möglichen flüchtigen Gesetzesbrechern. Philip sah sein letztes Stündlein gekommen, als ihn ein Zugschaffner beiseite nahm und ihn ins Gepäckabteil lotste.

„Sie wollen bestimmt nicht von den Burschen kontrolliert werden, Sir“, mutmaßte der Mann.

„Wie kommen Sie darauf?“, fragte Philip verblüfft.

„Sie haben sich zu deutlich nach einem Fluchtweg umgesehen. Was haben Sie ausgefressen? Bankraub? Überfall?“

„Nein, ich habe nur meinen letzten Arbeitgeber heimlich, still und leise verlassen“, erwiderte Philip.

„Das war dann wohl die Army, was? He, Sie sind in guter Gesellschaft, Mister. Ich hab’s genauso gemacht“, lachte der Schaffner. Er überlegte einen Moment. „Ich geb’ Ihnen eine Bahnuniform. Unter der Verkleidung vermutet kein Polizist einen Ausreißer von der Army“, schlug er dann vor, und Philip nahm an.

Die Polizisten fielen auf seine neue Tarnung prompt herein, und der Zug überquerte die Grenze nach South Carolina.

„Herzlich willkommen in den Confederate States of America“, sagte der Schaffner, als der Zug über die Staatsgrenze von South Carolina rollte. Philip bedankte sich mit einem Kopfnicken.

„Was haben Sie vor, Sir?“, fragte der Schaffner dann.

„Ich suche eine Passage nach England, um dort Jura zu studieren.“

Der Schaffner winkte ab.

„Rausgeschmissenes Geld, Mister. In Texas, das sich der Konföderation angeschlossen hat, können Sie das genauso gut.“

Philip lachte bitter.

„Ja, bis der Spuk zu Ende ist. Ich glaube nicht, dass die Konföderation langen Bestand haben wird.“

Der Schaffner stemmte die Hände in die Hüften.

„Das kann nur ein Yankee von sich geben, Mister!“, schnaubte er. „Wir Südstaatler sind einzeln mehr wert als fünf Yankees.“

Philip zog spöttisch eine Augenbraue hoch.

„Und den Blödsinn, den Sie da gerade faseln, den glauben Sie, ja?“, fragte er. Der Schaffner senkte den Kopf und war kurz davor, auf Philip loszugehen, als ein hochgewachsener Mann, etwa in Philips Alter, das Dienstabteil betrat. Er trug die Uniform der Eisenbahngesellschaft.

„He, Read, wo bleiben Sie denn? He, Moment mal, wer is’n das?“, stockte er, als er den ihm fremden Mann in der Eisenbahnuniform sah.

„Verzeihung, Sir, wir hatten noch keine Zeit, uns vorzustellen“, erwiderte Read. „Dieser Herr hier ist bei der Yankeearmee ausgerückt. Ich habe ihm eine neue Tarnung verschafft.“

Der Mann sah Philip einen Moment an.

„Mein Name ist Morrows, Yancey Morton Morrows. Mit wem habe ich das Vergnügen?“, stellte er sich vor.

„Philip Bennett.“

„Nun, herzlich willkommen im besten Land, das die Erde bieten kann, Mr. Bennett.“

„Mr. Morrows, ich habe nicht vor zu bleiben, denn ich glaube weder an den Bestand der Konföderation noch an die Sklaverei“, erwiderte Philip mit einem freundlichen Lächeln.

„Sir, ich hoffe, die Konföderation wird Sie eines Tages eines erheblich Besseren belehren“, gab Morrows zurück.

„Mr. Read erwähnte gerade die interessante Theorie, dass ein Süd­staatler fünf Yankees aufwiege – woran ich denn doch meine Zweifel hätte, Mr. Morrows. Davon abgesehen, denke ich, dass die Südstaatler ein paar mehr als Stücker fünf erledigen müssten, wenn sie denn gegen den Norden wirklich durchhalten wollen. Ihnen ist sicher bekannt, dass im Norden etwa dreißig Millionen Menschen leben, während sich für den Süden vermutlich um die vier Millionen Weißer streiten würden – rechnet man Frauen, Kinder und Greise mit ein“, lächelte Philip verbindlich. Morrows sah Bennett interessiert an.

„Nun, Mr. Bennett, ich glaube, solche Leute wie Sie könnte der Süden gut brauchen. Wir hoffen zuversichtlich, dass sich auch die übrigen Sklavenhalterstaaten der Revolution anschließen werden. Nichtsdestoweniger können wir auch Leute brauchen, die aus dem Norden sind, wenn sie unsere Ideen von Freiheit und Selbstbestimmung vertreten“, lockte Morrows.

„Danke, Sir, ich bin bedient. Ich habe der Armee der Vereinigten Staaten einige Jahre gedient, was mir für den Rest meines Lebens reicht. Ich bin absolut sicher, dass Lincoln eine Abspaltung des Südens nicht dulden wird, weil er sich das nicht leisten kann. Zum anderen bin ich allergisch dagegen, dass manche Leute meinen, sie könnten von einer anderen Person schon deshalb Besitz in Form von Eigentum ergreifen, weil diese andere Person schwarzer Hautfarbe ist“, versetzte Philip kühl. Morrows lächelte freundlich.

„Sie werden es kaum glauben, Sir, aber es gibt auch im Süden Leute, die Ihrer Auffassung hinsichtlich der Sklaverei sind. Ich halte diese besondere Einrichtung für eine derzeit noch notwendige Übergangslösung. Aber es wird auch im Süden auf Dauer keine Sklaverei geben. Davon jedoch abgesehen, Mr. Bennett, glaube ich, dass es die weitaus meisten Sklaven in den Südstaaten es wesentlich besser haben, als manche Arbeiter im Norden. Der Arbeiter im Norden mag nominell frei sein, tatsächlich ist er es nicht. Von den Sklaven im Süden wird kaum einer so schlimm behandelt, wie die Arbeiter im Norden.“

„Die Arbeiter im Norden, verehrter Mr. Morrows, können sich frei entscheiden, ob sie bei diesem oder bei dem Fabrikanten arbeiten wollen. Und wenn ihnen ihr Arbeitgeber nicht passt, haben sie durchaus die Freiheit, sich einen Arbeitgeber zu suchen, der ihren Ansprüchen eher gerecht wird“, erwiderte Philip schluckend. Der Mann trieb ihn in eine Ecke, die ihm unangenehm war. Morrows lächelte gewinnend.

„Die Arbeitgeber im Norden, Mr. Bennett, behandeln ihre Leute schlechter als Sklaven. Ein Sklavenhalter käme nicht auf die Idee, seine Leute, wenn sie zu alt und zu schwach sind zum Arbeiten, einfach rauszuschmeißen, wie es im Norden tägliche Übung ist. Ein altgewordener Sklave bekommt sein Gnadenbrot, bis der Herrgott meint, es sei nun genug mit dem irdischen Dasein. Ein Arbeiter im Norden wird auf die Straße gesetzt und weiß künftig nicht, wovon er leben soll. Sagen Sie selbst, ist das System perfekt?“

„Kein System, Mr. Morrows, das auf die Ausbeutung von anderen Menschen setzt, ist perfekt. Der Arbeiter im Norden hat jedenfalls die Möglichkeit, auszuprobieren, ob es nicht einen besseren Arbeitgeber gibt. Der Sklave im Süden schmachtet unter der Peitsche seines Aufsehers, hat keine Wahlmöglichkeit. Ich will nicht ausschließen, dass es im Süden anständige Leute gibt, die ihre Sklaven vernünftig und gut behandeln. Solche Fabrikanten gibt es auch im Norden. Das Gegenteil werden Sie mir nicht beweisen. Selbstverständlich bestreite ich nicht, dass es auch im Norden Fabrikanten gibt, denen das Leben eines an sich freien Arbeiters weniger wert ist, als das einer Katze. Aber für mich steht die persönliche Freiheit des Einzelnen deutlich höher als das Ansehen, das er als Individuum vielleicht bei jemandem hat, der ihn beschäftigt. Mich stört am System der Sklaverei einfach, dass ein Mensch einen anderen als sein Eigentum betrachtet. Warum muss Sklaverei sein? Warum können die Pflanzer des Südens die Schwarzen nicht einfach als normale Arbeiter beschäftigen?“

„Ein Sklave, Mr. Bennett, kostet seinen Besitzer den Anschaffungspreis und die laufenden Lebenshaltungskosten – sonst nichts.“

„Ich gebe zu, ich weiß nicht, was ein Sklavenhalter für seine Leute bezahlt und wie viel er ihnen zu essen gibt, aber diese Rechnung sieht doch sehr danach aus, dass der Sklavenhalter einen noch besseren Reibach macht, als ein Fabrikant im Norden, wenn er die Leute kauft und sie ihm persönlich gehören bis zum Ende ihrer Tage.“

Morrows seufzte.

„Sie sind ein Yankee und ein Abolitionist. Aber Sie scheinen wenigstens jemand zu sein, der sich mit dem Problem halbwegs wertneutral beschäftigt. Geben Sie mir die Chance, Sie zu überzeugen, dass unser System besser ist als Ihres?“

„Wie meinen Sie das, Mr. Morrows?“

„Nun, ich habe Verbindungen, die Ihnen einen Einblick in das Geschehen hier im Süden vermitteln können. Ich bin mit einem Pflanzer in Georgia befreundet, der über eine große Anzahl von Sklaven verfügt und der Ihnen gewiss gerne seinen Betrieb zeigen würde“, schlug Morrows vor. Philip dachte einen Augenblick nach. Er wollte verdammt sein, wenn er Sklaverei guthieß. Aber er wollte genauso verdammt sein, wenn er nicht jemandem die Chance gab, ihn von seiner vielleicht vorgefertigten Meinung abzubringen. Er lächelte Morrows gewinnend an.

„Gut, Mr. Morrows. Überzeugen Sie mich.“

Morrows grinste freundlich.

„Aber mit dem größten Vergnügen, Mr. Bennett.“

Yancey Morrows’ Bekannter, ein gewisser Edmund Mitchell, besaß in der Nähe von Savannah, Georgia eine Baumwollplantage, die von gut einhundertfünfzig schwarzen Sklaven bewirtschaftet wurde. Wenn Morrows die besondere Einrichtung namens Sklaverei einem Yankee wie Philip Bennett nahe bringen wollte, ging er mit der Plantage von Mitchell das geringste Risiko ein. Mitchell gehörte zu der vorbildlichen Art Sklavenhalter, die ihre Leute zwar auf dem Sklavenmarkt kauften, sie aber nicht wie Vieh, sondern wie Menschen behandelten. Auf der Plantage, Cotton Belle genannt, existierte wohl eine Peitsche, aber die hing im plantageneigenen Museum und war seit fast dreißig Jahren, seit Edmund die Plantage von seinem Vater übernommen hatte, unbenutzt. Er war ein wirtschaftlich denkender Mann, der ungern verschwenderisch mit Arbeitskräften umging. Auspeitschung oder gar Brandmarken bedeutete mindestens eine Woche Arbeitsunfähigkeit des Sklaven – und das konnte man sich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wie diesen nicht leisten. Mitchell war gut zu seinen Sklaven und es hieß, dass seine Sklaven die zuverlässigsten und ruhigsten in ganz Georgia waren. Er hatte ein System entwickelt, das die Sklaven unter Kontrolle hielt, ohne sie mit körperlichen Strafen bedrohen zu müssen. Im Wesentlichen setzte er schwarze Vorarbeiter ein, die alle Vorfahren im Hochadel ihrer Stämme hatten. Diese Stammesautorität hielt sich auch noch nach zwölf Generationen und zweihundert Jahren. Edmund hatte auch nichts dagegen, seinen Betrieb als Vorzeigeplantage herzugeben, um Gegnern der Sklaverei die Vorzüge dieser Institution aufzuzeigen. Das Telegramm, das er von Yancey Morrows bekommen hatte, hatte ihn inspiriert, wieder ein Austernrösten zu veranstalten. Es war Februar, also eine gute Jahreszeit, um Austern zu essen. Er bat Yancey und seinen Yankee-Bekannten, doch zu Washingtons Geburtstag, dem 22. Februar, zum Austernrösten zu kommen. Der Tag war gleichzeitig der Tag der Amtseinführung des Präsidenten der Konföderation, Jefferson Davis.

Morrows selbst lebte in den eher bescheidenen Verhältnissen, die der Verdienst eines Bahnangestellten mit sich brachte. Er war Wachmann für Werttransporte bei der Wilmington & Manchester Railroad Company, führte manche Transporte aber auch bis nach Savannah auf der Charleston & Savannah Railroad. Wie sich herausstellte, besaß er eine kleine Farm in Kentucky und eine kleine Wohnung in Florence, South Carolina, wo er wohnte, wenn er Dienst hatte. Den wenigen Urlaub verbrachte er meist im Sommer zur Erntezeit auf der elterlichen Farm, die die meiste Zeit des Jahres von seiner Schwester Pamela bewirtschaftet wurde. Sklaven hatte Morrows nicht. Als Kleinfarmer und Eisenbahnangestellter konnte er sich Arbeitskräfte nicht leisten. Mit Edmund Mitchell war er deshalb so gut bekannt, weil die Charleston & Savannah Railroad den größten Teil der Baumwolle transportierte, die Mitchell exportierte. Zudem war Morrows außer seinem Job als Wachmann auch für die Baumwolltransporte als Disponent zuständig. Da er über gute Manieren verfügte – oder wenigstens eine Art an sich hatte, die manche Südstaatler für solche hielten – hatte Mitchell ihn häufig zu solchen Festlichkeiten eingeladen. Dass Morrows als Nichtsklavenbesitzer anderen Nichtsklavenhaltern die Sklaverei schmackhaft machen wollte, empfahl ihn zusätzlich.

Edmund Mitchell hatte alles aufgeboten, was notwendig war, um ein Austernrösten zum unvergesslichen Erlebnis zu machen. Washingtons Geburtstag, der 22. Februar, seit den Kindertagen der Vereinigten Staaten ein besonderer Festtag, wurde auf Cotton Belle im Morgengrauen mit drei Salutschüssen aus alten, spanischen Salutkanonen eröffnet. An diesem Tag galt der Salut auch der Amtseinführung des ersten Präsidenten der Konföderation. Die Schüsse waren gleichzeitig für das Küchen- und Bedienungspersonal das Zeichen, mit Wagen und Karren die benötigten Zutaten aus allen möglichen Teilen der Plantage zusammen zu holen. Das Festmahl sollte auf dem gepflegten, englischen Rasen vor dem Herrenhaus stattfinden. Der Platz wurde von uralten Eichen gesäumt, zwischen denen das für die amerikanischen Südstaaten so typische spanische Moos wie eigens für das Fest aufgehängte Girlanden hing.

Einige Feldsklaven gruben am Rand der Rasenfläche Löcher und stellten in zwei parallelen Reihen Öfen auf, wobei die Ofenreihen ungefähr zweihundert Yards auseinander lagen. Zwischen den Ofenreihen stellten Zimmerleute – ebenfalls Sklaven – lange Tische aus Zypressenholz auf. Die Dienstmädchen deckten diese Tische unter Aufsicht des schwarzen Butlers Henry mit kostbarem, feinem Leinenzeug, das bereits seit fünfzig und mehr Jahren auf Cotton Belle von Generation zu Generation weitervererbt wurde. Auf die strahlend weißen Leinentücher wurde wertvolles Porzellan, altes Tafelsilber und kostbares Kristall gedeckt.

Gegen zwölf Uhr inspizierte Edmund Mitchell zusammen mit seiner Frau Edwina die gedeckten Tische, um sich zu vergewissern, dass der Butler und seine Hilfskräfte den Anordnungen des Hausherrn gefolgt waren. Nachdem das Ehepaar Mitchell die Tischdekoration zur Zufriedenheit des Butlers abgenommen hatte, verpackten die Dienstmädchen Gläser, Geschirr, Tafelsilber und Damast in bereitstehende, große Weidenkörbe und legten statt dessen auf die nun blanken Holztische vor jeden der gut hundert Plätze eine kleine Leinendecke, auf die sie je eine hölzerne Austernschüssel und ein großes Glas stellten. Daneben kam ein Austernmesser zu liegen. Zusätzlich befestigten die Zimmerleute für jeden Gast eine Armstütze am Tisch.

Die Gehilfen des Kochs setzten die Holzkohlen in den Öfen in Brand, deren Rauch bald über die Kronen der mächtigen Eichen zog und den Eindruck eines Großbarbecues verbreitete. Edmund Mitchell hatte den Beginn des Essens auf ein Uhr mittags angesetzt. Die Gäste erschienen auch alle vor dieser Zeit, weil bekannt war, dass Pünktlichkeit eine Voraussetzung für eine gut geröstete Auster war.

Edmund Mitchell war in seiner Jugend Kavallerieoffizier gewesen und hatte während seiner Ausbildung auch Trompetensignale gelernt. Schlag ein Uhr blies er auf der Treppe des Herrenhauses das Kavalleriesignal Attacke, worauf die Sklaven an den Öfen die Austern aus Tonnen auf die glühenden Kohlen schütteten. Die Gäste setzten sich, und der Butler ließ durch seine Hilfskräfte heiße Getränke verteilen: Whiskypunsch für die Herren und Eierpunsch mit Muskatnuss und einem Schuss karibischem Rum für die Damen. Die Gäste – unter ihnen auch Yancey Morrows, seine Schwester Pamela und deren neuer Bekannter Philip Bennett – sahen den Hausherrn erwartungsvoll an. Es schickte sich nicht, von den gereichten Getränken zu probieren, bevor nicht der Gastgeber selbst sein Glas erhob. Mitchell wartete, bis seine Gäste saßen und jeder ein Glas Punsch vor sich hatte. Dann erhob er seines und sagte:

„Ein herzliches Willkommen unseren Freunden, Nachbarn und Neubürgern des Staates Georgia auf Cotton Belle. Lassen Sie uns auf die Freiheit unserer Nation und unseren Präsidenten Jefferson Davis trinken, meine Freunde.“

Die Gäste stießen miteinander an, prosteten sich zu und nahmen den ersten Schluck ihres Punsches. Die Sklaven an den Feuern brachten nun die ersten Platten mit noch vor Hitze zischenden Austern herbei und bedienten die Gäste. Jeder Sklave hatte dabei jeweils zwei Gäste zu betreuen, was hieß, dass er stets dafür zu sorgen hatte, dass seine Gäste immer eine frische, prasselnde Auster vor sich hatten. Die Austern mussten immer einzeln serviert werden, da sie vom Feuer sofort in den Mund kommen mussten. Nur dann waren sie noch saftig.

Morrows unterwies den Yankee Bennett im Umgang mit dem Austernmesser. Philip hatte noch nie Austern gegessen, geschweige denn ein Austernmesser in der Hand gehabt. Aber er war gelehrig und konnte nach der dritten Auster mit dem fremden Gegenstand umgehen.

Das Essen dauerte etwa eine Stunde, dann gab einer der männlichen Gäste in der Nähe des Gastgebers ein Zeichen, und die Herren stiegen über die starren Bänke, um sich zurückzuziehen. Für den Gastgeber selbst wäre es unfein gewesen, das Essen zu beenden. Philip fühlte sich von Yancey am Ärmel gezogen, als er Pamela helfen wollte, die Bank zu überklettern.

„Halt! Sie lösen einen Skandal aus, Mr. Bennett, wenn Sie sich nicht augenblicklich abwenden“, warnte Morrows leise.

„Warum? Ist man hier nicht ritterlich zu den Damen?“, fragte Philip ebenso leise, aber völlig verblüfft.

„Selbstverständlich ist man ritterlich zu den Damen, Mr. Bennett. Aber die Ritterlichkeit besteht darin, dass die Herren sich von den Damen abwenden, um auch nicht den Schatten eines Strumpfes über den Schuhen zu entdecken. Es ist schwierig, mit diesen unpraktischen Krinolinen über so eine scheußlich steife Bank zu klettern, aber es wäre absolut unmöglich, wenn Sie meiner Schwester helfen würden und dabei noch ihren Strumpf entdecken“, erklärte Morrows. Philip seufzte.

„Das spanische Hofzeremoniell ist dagegen Ringelreihen“, murmelte er. Er musste sich zwingen, sich nicht umzudrehen. Doch als er einen Stolperschritt und einen erschrockenen Aufschrei hörte, hielt ihn nichts mehr. Philip drehte sich um und konnte Pamela Morrows gerade noch stützen, die sich mit der auch für sie ungewohnten Krinoline verhakt hatte und ins Straucheln gekommen war.

„Vielen Dank Mr. Bennett. Beinahe hätte ich mir das Kleid zerrissen“, bedankte sie sich. Philip lächelte.

„Ich fürchte, sie hätten sich noch erheblich mehr getan, Miss Morrows“, erwiderte er. Er half ihr auf und erlaubte sich die Freiheit eines Handkusses.

„Yancey?“, wandte sie sich an ihren Bruder.

„Ja?“

Morrows drehte sich jetzt erst um.

„Yancey, würdest du erlauben, dass Mr. Bennett für heute mein Begleiter ist?“

Morrows seufzte.

„Pam, wir sind hier nicht in Kentucky. Hier sind Manieren angebracht. Ich will keinen Skandal – und Mr. Bennett auch nicht. Du weißt doch, was es bedeutet, wenn eine Südstaatlerin ohne Begleitung eines Familienmit­gliedes mit einem ihr offiziell fremden Mann zusammen ist. So gern ich es tun würde, ich kann es nicht erlauben.“

„Yancey, die Frauen hier sind mir wesentlich unbekannter als Mr. Bennett, den ich wenigstens einige Tage kenne“, widersprach Pamela.

„Du kannst dich bei mir einhaken, wenn du möchtest“, bot ihr Bruder an. Beinahe widerwillig tat sie es.

Der Gastgeber, Edmund Mitchell, kam auf sie zu, und begrüßte Yancey mit einem herzlichen Handschlag.

„Ich hatte leider noch keine Gelegenheit, mit Ihnen persönlich zu sprechen, Mr. Morrows. Wie geht es Ihnen?“

„Danke der Nachfrage, Mr. Mitchell. Ich kann nicht klagen, meine Arbeit bei der Bahn nimmt mich zwar in Anspruch, aber schließlich will ich mich auch nicht langweilen. Darf ich Ihnen meine Schwester Pamela vorstellen?“

„Ich bin entzückt, Miss Morrows“, erwiderte der Plantagenbesitzer und hauchte einen formvollendeten Handkuss auf Pamelas schmale Hand.

„Und dies ist Mr. Philip Bennett aus Virginia, der auf der Durchreise nach England ist und sich dabei die Schönheiten des tieferen Südens nicht entgehen lassen wollte“, stellte Morrows auch Philip vor. Mitchell reichte ihm die Hand.

„Willkommen, Mr. Bennett. Sie sind aus Virginia?“

„Ja.“

„Darf ich fragen, weshalb Sie von hier aus nach England reisen wollen? Von Norfolk wäre das doch auch möglich.“

„Sagen wir, ich habe Probleme mit den Behörden in meinem Heimatstaat, weil ich nicht so lange bei der Armee geblieben bin, wie die Army sich das vorgestellt hat. Ich habe vor, Rechtswissenschaften zu studieren und denke, dass ich das besser außerhalb der USA oder der Konföderierten Staaten tue.“

„Oh, die Konföderation kann Ihnen eine Reihe ausgezeichneter Universitäten bieten. Mr. Bennett. Und bis hierher reicht der Arm des Yankee-Gesetzes nun einmal nicht mehr“, entgegnete Mitchell.

„Mr. Mitchell, ich bin weit davon entfernt, Ihren Enthusiasmus hinsichtlich des Bestandes der Konföderierten Staaten von Amerika zu dämpfen, aber ich gestehe, dass ich meine Zweifel habe, ob die Konföderation tatsächlich bestehen bleibt“, sagte Philip ruhig. Mitchell war kein Hitzkopf. Auch er neigte dazu, eine Angelegenheit in Ruhe zu besprechen.

„Was bringt Sie zu dieser Meinung, Mr. Bennett?“

„Sehen Sie, die Industrie konzentriert sich fast vollständig im Norden. Bis auf einige Werften in Virginia findet der Schiffbau im Norden statt. Der Süden hat wohl Sägemühlen, Baumwollkämmereien, manuelle Textilverarbeitung allgemein – aber keine Waffenproduktion. Der Norden wird wirtschaftliches Potenzial wie die Südstaaten nicht einfach davongehen lassen, denn Baumwolle ist bares Geld. Sie können sich denken, dass der Norden irgendwann versuchen wird, die Südstaaten in die Union zurück zu zwingen. Bei der Übermacht von Menschen und Material bin ich nicht sicher, dass der Süden einen Krieg gegen den Norden tatsächlich gewinnen kann. Davon abgesehen: Wenn sich Virginia der Konföderation anschließt, bin ich auch in Georgia nicht mehr sicher“, gab Philip zu bedenken.

„Ich sehe es etwas anders, Mr. Bennett. Zum einen haben wir seit heute mit Jefferson Davis einen Präsidenten, der einmal Kriegsminister war und der selbst Soldat gewesen ist. Er versteht also etwas von Kriegführung. Zum anderen sind wir hier fest davon überzeugt, dass England und Frankreich zu unseren Gunsten eingreifen würden, da beide sich den Ausfall der Baumwolle aus dem Cotton-Belt hier in den Südstaaten nicht leisten können. England und Frankreich und die Südstaaten, das sind Gegner, mit denen der Yankeenorden nicht fertig werden kann, Mr. Bennett“, versetzte Mitchell.

„Gut, nehmen wir einmal an, der Süden gewinnt tatsächlich den – nennen wir’s mal Unabhängigkeitskrieg – gegen die Yankees. Dann wäre mein Hals damit noch nicht aus der Schlinge. In den Südstaaten, die sich der Konföderation noch nicht angeschlossen haben, besteht ein Haftbefehl gegen mich wegen Fahnenflucht“, erwiderte Philip. Mitchell klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.

„Da lassen Sie sich keine grauen Haare wachsen, junger Mann“, sagte er jovial. „Ich habe eine Menge Einfluss im Konvent, bin mit dem Gouverneur persönlich befreundet. Das können wir regeln.“

„Mr. Mitchell, Sie sind sehr freundlich, aber ich möchte nicht, dass meinetwegen jemand in Schwierigkeiten gerät. Jeder, der in meiner Familie etwas ausgefressen hat, hat immer für sich selber eingestanden und die Suppe selbst ausgelöffelt. Deshalb möchte ich Amerika vorerst verlassen“, wehrte Philip ab. Mitchell schüttelte den Kopf und zog ihn vorsichtig, aber bestimmt in eine ruhige Ecke der Plantage. Dort sah er sich vorsichtig um.

„Hier können wir offen reden, Mr. Bennett. Hat Ihre Fahnenflucht etwas mit Ihrem Wunsch nach dem Jurastudium zu tun?“, fragte Mitchell. Philip überlegte einen Moment. Dann nickte er. Mitchell sah ihn durchdringend an.

„War vielleicht Ihr Vater Ihr letzter Kommandeur?“

Philip stutzte. Kannte der etwa seinen Vater? Katastrophe!

„Was, wenn dem so wäre?“, erkundigte er sich. Mitchell lächelte breit.

„Wissen Sie, ich war als junger Mann selbst Kavallerist und ich habe mit einem Mann zusammen gedient, der nichts mehr hasste, als Indianer und Rechtsanwälte. Das mit den Indianern kann ich noch verstehen, nachdem er zweimal verheiratet war und er beide Frauen jeweils bei einem Indianerangriff verloren hat. Das mit den Rechtsanwälten habe ich nie ganz verstanden. Auf jeden Fall haben Sie viel Ähnlichkeit mit diesem Mann, der in seiner Tapferkeit gewiss wert wäre, ein Südstaatler zu sein. Wenn Ihr Name Bennett ist, dürfte Ihr Vater Frederick Jefferson Bennett sein.“

Philip schwieg. Röte stieg ihm ins Gesicht. Er war ertappt.

„Seien Sie unbesorgt, Mr. Bennett. Ich werde nicht verraten, dass Sie nicht aus dem Süden sind. Aber eingedenk meiner alten Freundschaft zu Ihrem Vater wäre es unbillig, dass ich Sie in die Fremde ziehen lasse, wenn Sie hier in Georgia oder in Virginia genauso gut studieren können. Doch so sehr ich meinen Freund Frederick schätze, so sehr möchte ich ihm eins auswischen, weil er mir beim Pokern einmal fast tausend Dollar abgeknöpft hat. Und wenn ich es damit tue, dass ich seinem Sohn zu einem Beruf verhelfe, den sein Vater wie sonst nichts auf dieser Welt hasst.“

Philip sah in die untergehende Sonne und traf seine Entscheidung. Es war riskant, wenn er sich für den Süden entschied, aber nach England zu gehen hatte ihm nicht recht behagt, wie er sich jetzt eingestand.

„Gut, Mr. Mitchell. Es wäre wohl feige, den Schwanz einzuziehen und davonzulaufen. Ich danke für Ihr Angebot und nehme es an.“

„Sie bleiben zunächst bei mir auf der Plantage. Dabei können Sie sich auch gern davon überzeugen, dass es meinen Schwarzen wirklich gut geht. Denn deshalb sind Sie doch eigentlich gekommen, oder nicht?“

Philip musste lachen. Er war Tausende von Meilen gereist und wen traf er? Einen ehemaligen Kameraden seines Vaters! Wenn der das wüsste …

Gegen drei Uhr kamen die Gäste von ihren kleinen Ausflügen auf der Plantage oder vom Mittagsschlaf aus den Schlafzimmern des Herrenhauses zurück, um sich wieder zu Tisch zu setzen. Jetzt erstrahlten die langen Tische in weißem Leinen, glitzerndem Kristall, kostbarem Porzellan und teurem Tafelsilber. Als die Küchenbediensteten als Vorspeise einen Hummer in Aspik servierten und später Backfisch mit Bordeauxsauce auftrugen, schien es unpassend, dieses Fest Austernrösten zu nennen. Nach einer weiteren Zwischenmahlzeit in Form von Schildkrötensuppe wurden noch Wildpasteten mit Palmblattherzenpüree und Süßkartoffeln gereicht. Hauchdünne, kleine, knusprige Kekse ergänzten das festliche Mahl. Dazu wurde den Herren Madeirawein angeboten, den Damen Likör oder der leichtere Bordeauxwein.

In der milden Wintersonne, die das Fest beschien, begann Philip, sich im Süden wohl zu fühlen.

Kapitel 4

Die neue Einheit

 

Es war März geworden. Selbst in den nahezu baumlosen Ebenen des Mittelwestens, die der Winter meist noch länger im Griff hielt, als die eher windabweisenden Gebirgszüge im Westen und Osten der USA, machte sich der beginnende Frühling bemerkbar. Die Zeitungen berichteten in großer Aufmachung vom Amtswechsel im Weißen Haus in Washington. Zwar erreichten die Blätter aus Sioux City in Iowa das abgelegene Fort Randall erst mit einwöchiger Verspätung, aber da die Soldaten sonst keine weiteren Informationsquellen hatten, waren die Zeitungsnachrichten immer noch aktuell genug.

Frederick Bennett legte seine letzte Ausgabe des Sioux City Morning Telegraph mit einem Seufzen beiseite und trank den Rest Kaffee aus.

„Was hast du, Daddy?“, fragte Elizabeth, als sie das Frühstücksgeschirr abräumte.

„Der neue Präsident Lincoln ist vereidigt und wird nun hoffentlich bald sein Kabinett vorstellen. Bin gespannt, wer Kriegsminister wird“, sagte ihr Vater.

„Warum?“

„Weil ich erst dann weiß, ob der Haufen, den wir gerade mühevoll aufbauen, als Regiment zusammenbleibt, oder ob die Männer in alle Richtungen verstreut werden. Gerade für Bruces Schwadron wäre es wichtig, dass sie erhalten bleibt – mitsamt den jetzigen Offizieren“, erwiderte Frederick und nahm sich einen Zigarillo. Betty gab ihm Feuer.

„Und warum wäre dir das so wichtig?“, hakte sie nach.

„Robert und Tom wenden viel Mühe auf, um aus den Männern Soldaten zu machen. Ich hätte nicht gedacht, dass sie in so kurzer Zeit so gute Erfolge haben würden. Toms Leute sind großenteils Spezialisten für Sprengstoffe und Pionierarbeiten, Robert hat aus seinen Jungs die besten Schützen gemacht, die ich je gesehen habe. Ich bin froh, dass ich ihnen freie Hand gelassen habe.“

Elizabeth Bennett musste lachen.

„Aber auch erst nach langem Ringen mit dir“, kicherte sie.

„Was meinst du?“, fragte Frederick verblüfft.

„Daddy – Robert hat mit dir zehn Tage lang einen erbitterten Kampf geführt, bis du ihm die Scharfschützenausbildung erlaubt hast. Und mit Thomas’ Idee, die Begabung einiger seiner Leute für Pioniertätigkeiten zu nutzen warst du überhaupt nicht einverstanden“, lächelte Betty freundlich.

„Nun, ich habe mich eben überzeugen lassen“, versetzte der Colonel. „Alles, was den Männern jetzt noch fehlt, ist Kampferfahrung. Eine kleine Expedition gegen die Assiniboins wäre genau das Richtige.“

„Es wäre das Falscheste, was du tun könntest“, erwiderte seine Tochter. „Dank Roberts Bemühungen halten sie Ruhe. Ich weiß nicht, was du von den armen Indianern willst, Daddy.“

„Indianer sind einfach überflüssig, Betty. Sie sind den weißen Siedlern, die in immer größer werdenden Strömen aus dem Osten kommen, im Weg. Sie widersetzen sich der neuen Zeit“, erklärte der Colonel.

„Paps, du weißt genau, dass das nicht wahr ist, was du sagst. Gelbe Wolke und vor ihm Roter Bison haben viel Land abgegeben, damit hier Weiße siedeln können. Ich weiß, dass du die Indianer hasst, weil sie dir beide Frauen getötet haben. Du weißt aber auch, dass es jedenfalls bei meiner Mutter ein Versehen war“, entgegnete Betty. „Robert und ich …“

„Betty, halt’ den Schnabel! Du weißt ja nicht wovon du redest!“, fuhr ihr Vater sie an.

„Ich weiß es sehr gut, Vater!“, gab Betty eben so scharf zurück. „Und ich weiß auch, dass nur Roberts Besuch bei Gelbe Wolke vor einer Woche verhindert hat, dass die Krieger der Assiniboins wieder auf den Kriegspfad gehen.“

„Robert ist wo gewesen?“, fragte Frederick nach. Elizabeth stutzte, wurde dann feuerrot. Ihr Bruder hatte seinem Vater offenbar verschwiegen, dass er einen Besuch bei seinem Freund gemacht hatte. Jetzt hatte sie ihn verraten!

„Ich sag’ nichts mehr“, murmelte sie und stürmte eilig aus dem Raum, ohne darauf zu achten, dass ihr Vater ihr die augenblickliche Rückkehr befahl. Als Betty nicht reagierte, rief Frederick Bennett die Ordonnanz.

„Sir?“

„Holen Sie mir Lieutenant Bennett her – sofort!“, schnauzte der Lieutenant-Colonel den Ordonnanzsoldaten an.

„Ja, Sir!“, bestätigte der Mann und eilte davon.

Robert war mit seinem Zug beim Schießtraining. Eine Viertelmeile vom Fort entfernt hatte Tom aus Grassoden von seinem Zug einen Kugelfang bauen lassen – zu Übungszwecken, um Pionierbauten zu lernen. Toms Spezialisten hatten richtige Schießbahnen gebaut, auf denen das komplette, noch kleine Regiment üben konnte. Keine andere Einheit verfügte über eine solche Einrichtung.

„Elliot, Sie wollen immer noch nur mit dem Korn zielen“, knurrte Robert, als Trooper Elliot wieder mal nur die Luft traf.

„Hab’ ich nicht, Sir!“, protestierte Elliot. „Ich hab’ genau gezielt!“

„Gib mal her!“, forderte der Lieutenant, nahm dem Trooper das Springfield-Gewehr Baujahr 1850 ab und zielte sorgsam auf das Zentrum der Scheibe, die gut hundert Yards entfernt war. Sein Schuss klatschte rechts neben der Scheibe in den Kugelfang, obwohl er hundertprozentig auf die Scheibe gezielt hatte.

„Ja, zum Donner, was ist das für ein Mistgewehr?“, fluchte er, lud erneut und zielte diesmal direkt links neben die Scheibe – und traf mitten ins Schwarze. Seine Leute, die eben doch schadenfroh gegrinst hatten, raunten bewundernd.

„Der Lauf ist krumm. Das Ding hat eine Streuung, die ist nicht mehr feierlich“, bemerkte der Lieutenant. „Gut, Jungs, Schluss für heute. Ich muss erst unserem Ordnance-Sergeant die Ohren lang ziehen, damit wir anständige Waffen bekommen. Aufsitzen, in Zweierreihe zurück zum Fort!“, kommandierte Robert. Seine Männer erhoben sich von der Schießbahn, saßen befehlsgemäß auf und formierten sich ohne weiteren Befehl ihres Lieutenants zur angeordneten Formation. Vom Fort kam Trooper Thiemann geritten, der Ordonnanzdienst hatte.

„He, Thiemann, wo wollen Sie denn hin?“, fragte Robert. Thiemann hielt sein Pferd an und salutierte preußisch korrekt.

„Ordonnanz Thiemann, Sir! Lieutenant-Colonel Bennett befiehlt Ihr umgehendes Erscheinen, Sir“, meldete Thiemann.

„Wir sind unterwegs, Thiemann.“

„Second-Lieutenant Robert Bennett zur Stelle, Sir!“, meldete Robert sich kaum zehn Minuten später bei seinem Vater.

„Ich habe gehört, Sie waren ohne ausdrücklichen Befehl bei den Rot­häuten, Lieutenant! Was hat das zu bedeuten?“, bellte Frederick, seinen Sohn korrekt siezend, weil mit Trooper Thiemann ein weiterer Soldat anwesend war. Nach dem Schock von Philips Desertion hatte Bennett senior diese überkorrekte Anredeweise abgeschafft, wenn er mit seinem Sohn allein war.

„Nachdem ich auf meiner letzten Patrouille festgestellt hatte, dass wieder Büffel gewildert wurden, habe ich die Assiniboins von mir aus aufgesucht und dort um Einhaltung des Vertrages nachgesucht, Sir. Gelbe Wolke versprach mir, Frieden zu halten. Über die Büffelwilderei habe ich schriftlich berichtet, Sir.“

„Und warum haben Sie nicht über den Besuch bei den Assiniboins berichtet?“

„Ich habe es nicht für notwendig gehalten, Sir. Es gab keinen Zwischenfall mit den Indianern.“

„Lieutenant Bennett, ich warne Sie: Besuche bei den Rothäuten ohne ausdrücklichen Befehl werde ich in Zukunft als unerlaubtes Entfernen von der Truppe betrachten und entsprechend bestrafen. Ich stelle fest, dass Sie Ihren Patrouillenbericht nicht wahrheitsgemäß gemacht haben, da Sie den Besuch bei Gelbe Wolke unterschlagen haben. Ich bestrafe Sie mit drei Tagen Arrest, Lieutenant! Geben Sie Ihre Waffe ab! Ordonnanz!“, donnerte der Colonel. Robert öffnete sein Holster und gab seinem Vater wortlos den Dienstrevolver. Er wusste, wie weit er gehen konnte, und hier hatte er die Grenze seiner Kompetenz überschritten. Thiemann trat vor.

„Sir?“

„Lassen Sie die Wache kommen! Lieutenant Bennett steht unter Arrest“, sagte Frederick. Thiemann salutierte und verschwand.

Der Colonel wandte sich an seinen Sohn.

„Irgendwann treibe ich dir diese Freundschaft zu den verdammten Rot­häuten noch aus“, knurrte er.

„Werde ich jetzt wegen meines falschen Berichtes bestraft oder wegen meiner Freundschaft zu Gelbe Wolke, die hier schon manche Katastrophe verhindert hat, Pa?“, fragte Robert ruhig.

„In erster Linie wegen des falschen Berichtes“, gab sein Vater mit wütend vorgerecktem Kinn zurück. „Aber ich werde dir auch noch wegen deiner Anhänglichkeit an diese verdammten Wilden einen Denkzettel verpassen!“, drohte er dann.

„Meine Freundschaft zum Häuptling der Assiniboins ist meine Privatsache, Vater. Ich lasse mir in dieser Hinsicht keine Vorschriften machen“, erwiderte Robert kühl. Bevor Lieutenant-Colonel Bennett antworten konnte, traten vier Mann der Wache ein.

„Sie haben uns rufen lassen, Sir?“

„Sergeant Henry, Lieutenant Robert Bennett steht für drei Tage unter Arrest, weil er einen falschen Patrouillenbericht abgegeben hat. Bringen Sie ihn in den Arrestbereich!“, befahl Frederick.

„Ja, Sir! Kommen Sie freiwillig mit, Sir, oder müssen wir Gewalt anwenden?“, fragte Henry den Lieutenant.

„Ich komme mit, Sergeant Henry. Oh, Sir, wer hat Ihnen eigentlich gesagt, dass ich bei Gelbe Wolke war?“

„Meine Informationsquellen gebe ich nicht preis! Raus!“

Wenig später hatte Sergeant Henry die Gittertür im Arrestblock abgeschlossen. Robert legte sich auf die harte Pritsche und dachte nach. Der Besuch bei Gelbe Wolke hatte sich durchaus gelohnt. Er hatte sich so viel von der Kräutermischung mitgebracht, dass es für wenigstens fünf Jahre reichen würde, wenn ihn keine außergewöhnlichen Krankheiten plagen würden. Dafür konnte er schon drei Tage Arrest in Kauf nehmen. Ärgerlich war der Arrest aber insofern, als sich in den nächsten Tagen wohl entscheiden würde, ob die Schwadron bestehen bleiben würde. Wenn er dann noch in Arrest war, konnte sein Vater leicht einen anderen als First-Lieutenant favorisieren. Robert hatte zu viel Arbeit in die Neuen gesteckt, als dass sich ein anderer ins gemachte Nest setzen sollte.

Ein Klopfen an den Gittern machte ihn aufmerksam. Tom Craig stand vor der Tür.

„He, was hab’ ich gehört? Du brummst?“

„Wie du siehst“, erwiderte Robert, ohne aufzustehen.

„Darf man fragen, warum?“

„Ich habe meinem alten Herrn verschwiegen, dass ich meine Patrouille letzte Woche genutzt habe, um meinen Medizinschrank aufzubessern und um die Assiniboins von Dummheiten abzuhalten. Wilderer haben schon wieder Büffel geschossen und einfach liegenlassen. Es hat mich eine Menge Überredungskunst gekostet, damit sie Frieden halten. Ich hab’s im Bericht nicht erwähnt, dass ich dort war, weil ich meinen Vater nicht heiß machen wollte. Wenn er erfährt, dass bei den Roten was im Busch ist, sitzt er mit scharrenden Hufen da und wartet nur darauf, losschlagen zu können. Möchte nur wissen, wer ihm das überhaupt geflüstert hat.“

„Kann ich dir sagen: Betty hat sich heute Morgen verplappert. Sie hat sich vorhin bei mir ausgeweint.“

„Und warum hat sie geheult? Weil ich sitze?“

„Sie macht sich Vorwürfe, weil sie dich verpfiffen hat.“

„Betty konnte nicht wissen, dass ich Paps nichts erzählt habe, und meinen Bericht hat sie auch nicht gesehen. Sag’ ihr, dass ihr das nicht leidtun muss. Ich muss nur in Zukunft aufpassen, wem ich was erzähle“, erwiderte Robert. Er schwang die Beine von der Pritsche, reckte sich und stand auf.

„Gibt’s irgendwas Neues zum Regiment?“, fragte er dann. Tom schüttelte den Kopf.

„Nein. In der Zeitung vom 5. März war nur die Antrittsrede des Präsidenten abgedruckt. Er will wohl einen Mittelkurs zwischen Konfrontation und Versöhnung mit dem Süden steuern. Hast du was von Philip gehört?“

Robert nickte und seufzte tief.

„Ja, ich habe einen Brief von ihm bekommen. Er ist in Georgia und studiert in Atlanta Jura“, sagte er.

„In Georgia?“, entfuhr es Tom entsetzt.

„Genauso habe ich auch reagiert. Ich bin fast vom Stuhl gefallen. Onkel Ben hatte er gesagt, dass er nach England wolle. Er schreibt, er habe auf einer Plantage Arbeit gefunden. Der Plantagenbesitzer finanziert ihm sein Studium, und zum Ausgleich arbeitet Phil als sein Privatsekretär. Ich bete, dass es gut geht“, erwiderte Robert.

„Philip und Plantage? Bob, das passt nicht zusammen! Philip verabscheut die Sklaverei!“

„Sicher tut er das. Aber er ist an Edmund Mitchell geraten. Vater kennt Mitchell aus Mexiko. Sie waren zusammen in derselben Einheit. Er hat mir gesagt, dass Mitchell einer der Sklavenhalter ist, die mit den Schwarzen vernünftig umgehen. Ich habe nur Sorge, dass es zum ernsthaften Bruch mit dem Süden kommt und man Philip im Süden in die Armee zwingt oder ihn dann als Yankee ausweist“, mutmaßte Robert.

„Er ist doch schon mal ausgerissen“, bemerkte Tom.

„So viel Glück hat er nicht noch mal, Tommy. Vor allem hätte er dann weder im Norden noch im Süden die Chance ins Ausland zu entkommen, weil ihn beide Seiten dann wegen Fahnenflucht suchen würden“, gab Robert zurück.

Tom nickte.

„Hör’ mal …“, sagte er dann, „Barry hat dich als First-Lieutenant vorgeschlagen.“

„Und du möchtest den Posten lieber selber haben, oder?“

Thomas lächelte freundlich.

„Du warst immer der Bessere von uns beiden. Mir wäre es lieber, wenn du der Captain wärst und Barry oder ich der First-Lieutenant. Barry hat nicht deine Qualitäten.“

„Tom, Barry ist bereits Captain. Er verdient eine Chance. Außerdem wird mein Vater mir noch einen kleinen Denkzettel extra verpassen wollen – wegen des Ausflugs zu Gelbe Wolke. Deine Chancen auf den First-Lieutenant steigen, Freund.“

„Übrigens, Bobby: Wir beide haben unsere Wette verloren. Der 4. März ist vorbei, und es ist kein Krieg mit dem Süden ausgebrochen“, stellte Tom fest.

„Weiß ich, mein Junge, weiß ich. Gerade deshalb könnte es für uns beide wichtig sein, noch ein bisschen in der Hierarchie aufzusteigen, sonst ist’s mit der Karriere im nächsten Krieg aus. Also vermute ich, dass du den Job haben möchtest“, erwiderte Robert grinsend.

„Sei ehrlich: Glaubst du noch an Krieg?“

„Ja.“

„Und warum?“, bohrte Tom.

„Die Union weigert sich zwar offiziell, den Süden als unabhängiges Staatsgebilde anzuerkennen, aber die meisten Forts wurden im Süden mehr oder weniger ohne Rangeleien an Miliztruppen der rebellischen Staaten abgegeben. Wenn der Präsident auch Fort Sumter in Charleston ohne weiteres freigibt, ist das praktisch die Anerkennung der Konföderation. Tut er es nicht, frage ich mich, wie lange Davis noch stillhält. Unternimmt Davis nichts, um Sumter in die Hand zu bekommen, bedeutet das, dass der Süden zurücksteckt und militärische Präsenz eines nach seiner Lesart fremden Staates auf seinem Territorium duldet. Ich fürchte, dass sich der Süden das nicht leisten kann, ebenso wenig wie wir es uns leisten können, Sumter aufzugeben“, erklärte Robert.

„Hoffen wir, dass du zu schwarz siehst“, flüsterte Tom.

Robert hatte das Glück, dass in den drei Tagen seines Arrestes keine Entscheidung zum Status des Regiments und damit zu seiner Schwadron eintraf. Am 28. März 1861 erschien unangemeldet eine Prüfungskommission des Kriegsministeriums. Lieutenant-Colonel Bennett war sichtlich nervös, als er die Herren die Front seines angetretenen Kleinregiments abschreiten ließ.

„Gut, gut, Lieutenant-Colonel Bennett. Ihre Truppe ist zwar kaum ein Bataillon, aber wenn die Prüfung insgesamt positiv ausfällt, werden wir darauf dringen, dass Ihre Einheit weiter aufgebaut wird. Wir möchten einen praktischen Test sehen und werden die Schwadron dafür auslosen“, erklärte der Kommissionschef, Brigadier-General Compson. Er winkte seinem Adjutanten, der fünf Lose mit den Schwadronsbezeichungen in seinen Hardeehut warf und dem General den Hut hinhielt. Compson mischte und zog eines der Lose heraus.

„Schwadron C ist zum Test ausgewählt. Veranlassen Sie bitte, dass die Truppe zur Vorführung hinausreitet.“

„Jawohl, Sir. Captain Bruce, lassen Sie Ihre Männer aufsitzen und führen Sie sie vor das Fort.“

„Ja, Sir!“, bestätigte Bruce zackig und drehte ebenso zackig um.

„Schwadron C, Achtung!“, kommandierte er. Die Soldaten standen stramm. „Schwadron – aufsitzen!“

‚Jetzt kommt’s drauf an! Robert, lass mich nicht im Stich!‘, durchzuckte es Frederick Bennett. Bruces Soldaten stiegen fast gleichzeitig auf. Auch der Captain saß auf.

„Schwadron – rechts um!“, kommandierte er. Achtzig Pferde drehten sich in Richtung Tor.

„Schwadron in Zweierreihe – Marsch!“

Die Truppe formierte sich kurz, ritt dann an wie ein Eisenbahnzug, der sich in Bewegung setzt.

„Torposten – Tor auf!“, rief Bruce der Torwache zu, die augenblicklich den Balken vom Tor wegnahm und das große Tor weit öffnete. Bruce ritt mit seiner Schwadron bis zum Schießstand und ließ dort halten und die Schwadron in Linie antreten. Er sah sich vorsichtig um. Die Kommission war noch nicht da.

„Danke, dass du die Kommandos noch mal mit mir geübt hast, Robert. Ich verlasse mich auf dich“, sagte Bruce mit leicht belegter Stimme.

„Barry, du bist der Chef dieses Haufens. Ich helfe dir, so gut ich kann. Pass bloß auf, die wollen formalen Dienst sehen. Spielen wir ihnen Theater vor“, versprach Bennett leise und zwinkerte Bruce und Tom zu, die gleich verstanden.

 

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