Kapitel 1
Königliches Testament
König Balduin von Jerusalem spürte, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Der Graf von Tiberias hatte durchaus Recht gehabt, als er ihn vor der Reise nach Kerak gewarnt hatte. Er musste dringend seine irdischen Angelegenheiten regeln, bevor der Herr ihn abberief.
Er klingelte nach einem Diener, der auch umgehend erschien.
„Ihr wünscht, mein König?“, fragte der Mann mit einer tiefen Verbeugung.
„Ich möchte mit dem Grafen von Tiberias und dem Baron von Ibelin sprechen“, sagte der König. „Einstweilen aber mit dem Grafen allein. Bitte ihn her.“
Der Diener verbeugte sich erneut.
„Es wird umgehend geschehen, Herr“, versprach er.
Wenig später war Raymond, Graf von Tiberias, zur Stelle. Seit vielen Jahren war er ein enger Vertrauter des Königs, hatte schon für ihn als Bailli regiert, als Balduin wegen seiner Lepraerkrankung zeitweise regierungsunfähig gewesen war. Der ältere Ritter, dessen kurzgeschnittenes dunkles Haupthaar und Bart einige graue Sprenkel hatten, verneigte sich vor dem König. Über dem Kettenhemd trug er einen schwarzen Wappenrock aus Wildleder, auf dessen linker Brustseite das Jerusalemer Wappen prangte.
„Ihr habt mich rufen lassen, mein König“, sagte er.
„Nehmt Platz, Raymond. Ihr wisst, dass meine Schwester nur noch selten mit mir spricht, weil ich in meinem Verfall für sie unerträglich bin. Was hat sie Euch über ihren Aufenthalt in Ibelin gesagt?“, erkundigte sich der König. Tiberias lächelte leicht, als er sich auf des Königs Handzeichen in einen Sessel auf der anderen Seites des Tisches setzte.
„Ich dachte, sie hätte Euch bereits in Kerak unterrichtet …“, setzte er an. „Nun, sie hat mir gegenüber die eindeutige Meinung erkennen lassen, dass Balian für sie mehr ist als nur eine Alternative zu Guy. Sie hat sich richtig verliebt, mein König. Ich habe dafür gesorgt, dass sie sich in Kerak um Balian so bemühen konnte, wie sie es beabsichtigte.“
Balduin nickte. Guy de Lusignan war einst die Wahl seiner und Sibyllas Mutter Agnes de Courtenay gewesen, als die Tochter mit nur gut fünfzehn Jahren noch vor der Geburt ihres Sohnes Witwe geworden war. Arrangierte Ehen waren nicht nur im Königreich Jerusalem üblich. Jedes Königreich, jedes Fürstentum in christlichen Landen bediente sich dieser Art der Ehestiftung, um Reiche und Ländereien zusammenzuhalten, nach Möglichkeit zu vergrößern. Dass ein Mann und eine Frau einander liebten und deshalb heirateten, kam vielleicht beim einfachen Volk vor; in Adelskreisen war eine solche Ehe etwa so häufig, wie Ostern und Weihnachten auf einen Tag fielen …
Der König erlaubte sich ein Lächeln, das Graf Tiberias nicht sehen konnte, weil Balduin seit Jahren eine aus Silber getriebene Maske trug, die sein von Lepra entstelltes Gesicht vor der Welt verbarg. Es wurde Zeit, dass diese Gleichzeitigkeit von Ostern und Weihnachten einmal eintrat. Seine Schwester hatte es nach zwei durchaus unfreiwilligen Ehen verdient, endlich einen Mann zu bekommen, den sie sich selbst ausgesucht hatte, fand er.
„Was haltet Ihr von Balian?“, fragte er Raymond.
„Ihr habt mit ihm gesprochen, mein König“, erwiderte der ältere Graf zurückhaltend.
„Gewiss. Doch mich interessiert Eure Meinung, Graf Tiberias.“
„Ganz ehrlich?“
„Ganz ehrlich – wie immer, mein Freund“, lächelte Balduin unsichtbar.
„Er ist genau der Mann, den Euer Reich benötigt, mein König. Er ist mutig, er kann führen, er kann kämpfen. Doch er kämpft nicht um der Rauferei willen, er tut es nur, wenn er es muss – doch dann zeigt er Fähigkeiten, die ich einem Mann, der als …“
„Bastard?“, schmunzelte der König.
„Dafür kann er selbst gewiss am wenigsten, mein König“, erwiderte Raymond. „Nein, ich meine einen Mann, der nicht zum Ritter erzogen wurde; der beim einfachen Volk gelebt hat und sich seinen Lebensunterhalt durch seiner Hände Arbeit verdient hat, wie sein Vater schrieb. Ich gebe zu, dass ich einem solchen Mann diese Fähigkeiten nicht zugetraut hätte, hätte ich es nicht von Godfrey mitgeteilt bekommen und hätten seine Männer es mir nicht ausdrücklich bestätigt. Ihr wisst, dass Ibelin das armseligste Lehen ist, das dieses Reich zu vergeben hat. Er hat ein Paradies daraus gemacht – und er hat persönlich mit nach Wasser gegraben. Ich kenne wenigstens in Eurem Reich niemanden im Adelsstand, der sich dazu je herbeigelassen hätte. Er hat mir noch in Kerak die Zeichnungen für die neuen Mauern gegeben, die ich ihm zur Verbesserung mitgegeben hatte und mir gesagt, dass er mit seinen Männern damit anfangen will, sofern er in Jerusalem ist. Wenn er das so ausführt, wie er es gezeichnet hat, dann haben wir mit Balian von Ibelin einen genialen Baumeister, der auch noch in der Lage ist, diese Mauern persönlich zu verteidigen.
Er hat gute Beziehungen zu Saladins Heerführer Imad ad-Din. Ich hatte Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, bevor die Sarazenen von Kerak abzogen. Er hat mir erzählt, Balian habe sein Leben verschont, als Mohammed al-Faes Godfreys Sohn angriff und dies mit dem Leben bezahlte. Und nicht nur das: Er hat ihn nur gebeten, ihn nach Jerusalem zu bringen, hat ihn ohne jede Bedingung freigelassen und ihm auch noch ein Pferd geschenkt. Imad sieht in ihm so etwas wie einen Engel.“
Balduin ließ ein amüsiertes Lachen hören.
„Lasst das nicht den Patriarchen hören, Raymond. Der würde das als … Blasphemie … bezeichnen“, lachte er.
„Oh, mit dieser Meinung ist Imad nicht allein, mein König“, erwiderte der Graf, ebenfalls schmunzelnd. „Eure Schwester ordnet ihn ebenfalls so ein – und Euer Neffe ist … wie soll ich das ausdrücken …? Begeistert? Das trifft es vielleicht am ehesten. Ich wüsste nicht, dass Guy ihm jemals höchstselbst ein beschädigtes Spielzeug repariert hätte …“
„Ich weiß. Balduin hat mir davon erzählt, als Sibylla in Ibelin war. Godfrey schrieb, er sei Hufschmied. Ich will Euch gern gestehen, dass ich ebenso verblüfft war, wie Ihr es seid, als ich ihm die Pläne der Mauern in die Hand drückte und er mit einem Blick erkannte, was daran verbesserungswürdig ist“, sagte der König. „Was ich in Kerak über ihn erfahren konnte, bestätigt mir, dass er nicht nur tapfer und kampfstark ist, sondern dass er seine Männer durch sein eigenes Beispiel mitgerissen hat. Würdet Ihr mir zustimmen, dass er als neuer Heerführer Jerusalems geeignet ist?“
„Ja, mein König. Das ist er.“
„Er ist ein tapferer Ritter, der nicht durch Befehl, sondern durch eigenes Beispiel führt. Er ist ein fähiger Landwirt, Baumeister und Schmied. Mein Neffe himmelt ihn geradezu an, Sibylla auch, wie Ihr sagt. Er ist Witwer, könnte Sibylla also auf der Stelle ehelichen, wenn sie ihren ebenso ungeliebten wie machtgierigen Gemahl los wäre“, fasste Balduin IV. zusammen. „Bleibt noch eine Frage: Wird Guy de Lusignan einer Scheidung zustimmen und der Macht entsagen? Oder wird er auf der Ehe bestehen und seine Nagelkreuzritter und die Templer auf den hetzen, der ihm Hörner aufsetzte?“
„Nein, er wird sich nicht einfach beiseiteschieben lassen, mein König. Guy ist als Gemahl der Prinzessin auch ein zu wichtiger Garant dafür, dass die Templer ihre kriegstreiberischen Überfälle auf Karawanen fortsetzen können; dafür, dass meinen Jerusalemrittern nur kleine Fische ins Netz gehen, die am Ende hängen, aber solche wie Reynald de Châtillon straflos davonkommen“, entgegnete Tiberias. „Wäre Guy nicht mehr, könnte ich gewiss endlich so durchgreifen, wie es erforderlich ist, um den Frieden zu bewahren, den Ihr mit dem Sultan ausgehandelt habt.“
„Wie darf ich Eure Aussage verstehen wenn Guy nicht mehr wäre? Wenn er nicht mehr der Gemahl meiner Schwester wäre oder wenn er nicht mehr lebte?“, hakte der König mit leicht schräggelegtem Kopf nach. Raymond seufzte leise.
„Mein König, solange Guy lebt, wird er versuchen, sich zurückzuholen, was ihm durch eine Scheidung verlorenginge“, erklärte er. „Er hat genügend auf dem Kerbholz, um ihn zu hängen. Ihn schützt im Moment nur sein Status als Gemahl der Prinzessin, der nach Euren Gesetzen unbedrängt von sich aus zugeben müsste, dass er sich an den Karawanenüberfällen beteiligt. Würde er dem Rittereid wirklich folgen, würde er die Wahrheit zu sprechen nicht nur als die Möglichkeit betrachten, anderen Beleidigungen vor die Füße zu werfen, würde er sich dazu bekennen. Doch ihr habt die Gerichtsverhandlung erlebt. Er wird es nicht tun. Eher wird das Tote Meer zum Süßwasserozean, als dass Guy sich selbst ans Messer liefert.“
Balduin knetete unschlüssig die bandagierten Hände. Es war nicht sein Stil, einen Justizmord zu begehen. Andererseits setzte sein Schwager den Frieden mit den Sarazenen täglich vorsätzlich aufs Spiel – nein, noch schlimmer: Er hintertrieb ihn ganz bewusst. Balduin wusste es. Er wusste aber auch, dass er selbst in Abstimmung mit der Haute Court, der Versammlung der Grafen und Barone des Königreichs, erklärt hatte, dass gegen die Lehensinhaber und Mitglieder des Hofes Zeugenbeweise ohne Geständnis des Angeklagten vor Gericht nicht ausreichten. Folter als Mittel der Wahrheitsfindung lehnte Balduin grundsätzlich ab. Wer zu diesem erlauchten Personenkreis gehörte, wurde lediglich auf den Inhalt des Rittereides verwiesen, der zur Wahrhaftigkeit verpflichtete. Doch ob der Betreffende wirklich die Wahrheit sagte, wenn er vor dem König stand, das wusste letztlich nur Gott allein. Was Guy de Lusignan betraf, gab es bergeweise Aussagen sarazenischer und auch christlicher Händler, die Guy bei den Überfällen ebenso gesehen haben wollten wie Reynald de Châtillon. Doch da beide dies beharrlich leugneten und stets behaupteten, bewaffnete Banden angegriffen zu haben, hatte der König nach seinem eigenen Gesetz keine Handhabe gegen sie.
Dass die Karawanen bewaffnet waren, war kaum zu leugnen – sie mussten sich auch bewaffnen, um gegen die Templer gewappnet zu sein, die die Handelsrouten mit dem Regelmaß des Nilhochwassers unsicher machten. Tiberias hatte mehrfach angeboten, die Karawanen mit christlichen Soldaten zu schützen, doch die muslimischen Händler fürchteten, Allah zu beleidigen, wenn sie christlichen Schutz akzeptierten. Und Gott zu beleidigen, führte nach muslimischer Auffassung direkt in die Fänge des Sheitans, des Teufels. Da ließ man sich lieber von christlichen Kreuzrittern des Glaubens wegen umbringen … Die Chance, ins Paradies zu kommen, schien ihnen dann deutlich größer.
„Also muss er von Sibylla geschieden werden, damit die Zeugen gegen ihn aussagen können und diese Aussagen auch für eine Verurteilung ausreichen“, konstatierte Balduin mit einem Seufzen.
„Es ist die einzige Möglichkeit, Guy wirklich für das strafen zu können, was er angerichtet hat“, bestätigte Raymond von Tiberias.
„Und seine Ritter?“
„Stellt sie vor die Wahl, Balian als Heerführer Jerusalems und künftigem Prinzgemahl die Treue zu schwören oder mit dem Strick Bekanntschaft zu machen“, schlug der Konstabler vor.
König Balduin nickte. Es fiel ihm schwer, ein solch wenig ehrenhaftes Vorgehen zu billigen, doch wenn der Frieden überhaupt irgendwie erhalten werden sollte, mussten die Friedensstörer wirksam daran gehindert werden, ihr schändliches Tun fortzusetzen. Er läutete erneut nach dem Diener.
„Ist der Baron von Ibelin schon eingetroffen?“, fragte er.
„Ja, mein König“, bestätigte der ältere Diener.
„Lass ihn ein!“, befahl Balduin. Der Diener verneigte sich und verließ den Raum.
Balian betrat die Gemächer des Königs und verneigte sich. Balduin IV. ließ seinen Blick wohlgefällig über den jungen Ritter gleiten. Ja, er konnte verstehen, weshalb Sibylla sich auf der Stelle in diesen ohne jeden Zweifel schönen Mann verliebt hatte. Godfreys Sohn war knappe sechs Fuß groß, schlank und athletisch. Sein dunkles Haar reichte fast bis auf die breiten Schultern und war leicht gewellt. Ein kurzgehaltener, dunkler Bart umrahmte ein ebenmäßiges, inzwischen gebräuntes, ovales Gesicht, aus dem unter geraden, dunklen Augenbrauen braune Augen leuchteten. Eine schmale, gerade Nase ließ ohne näheres Wissen um sein bisheriges Leben Zweifel aufkommen, dass dieser Mann jemals in einen bewaffneten Kampf geraten war. Das Kettenhemd war von erstklassiger Qualität – ein Erbstück seines in Frankreich tödlich verwundeten und in Messina verstorbenen Vaters. Über dem Kettenhemd trug er den Wappenrock des Hauses Ibelin, der von dunklem Rot und hellem Beige gespalten und mit sieben Tatzenkreuzen in gewechselten Tinkturen belegt war. Um die schmalen Hüften schlang sich ein brauner Schwertgürtel, dessen Löcher mit silberfarbenen, metallenen Rosen verstärkt waren. In der mit hellem Leder bezogenen Schwertscheide steckte ein eineinhalbhändiges Schwert mit achteckigem, durchbrochenem Knauf, in den ein rotes Tatzenkreuz aus Granat eingesetzt war.
„Nun, mein Freund“, eröffnete Balduin. „Die Zeit ist gekommen, meine diesseitigen Angelegenheiten zu regeln. Wenn ich das Heer Guy überlasse, wird er durch meine Schwester zur Macht gelangen und Krieg gegen die Muslime führen. Wir haben daher beschlossen, Euch das Kommando über die Truppen Jerusalems zu übertragen.“
Balian war ebenso überrascht wie erfreut über das große Vertrauen, das sein König ihm entgegenbrachte.
„Wirst du meinen Neffen beschützen, wenn er König ist?“, erkundigte sich Balduin freundschaftlich.
„Was Ihr auch verlangt, ich werde es tun“, ließ sich der junge Baron zu einem weiten Versprechen hinreißen. Das leichte Schmunzeln von Raymond von Tiberias konnte er nicht recht deuten, dann meldete sich erstes Misstrauen, als der König abwehrend die Hand hob.
„Nein, hört erst alles, bevor Ihr antwortet“, bremste er die allzu leichtfertig wirkende Aussage des Geliebten seiner Schwester. „Würdet Ihr meine Schwester Sibylla ehelichen, wenn sie von Guy de Lusignan befreit wäre?“, ergänzte er. Ein kurzer Hustenreiz schüttelte den todkranken König. Balian schluckte schwer. Ein solches Angebot bekam ein Mann, der beim einfachen Volk aufgewachsen war und obendrein nicht ehelich geboren war, bei Gott, nicht alle Tage …
„Und Guy?“, fragte er vorsichtig. Immerhin war er Sibyllas rechtmäßig angetrauter Ehemann …
Raymonds leicht nervös wirkendes Spiel mit einer Perlenkette wurde noch etwas schwungvoller.
„Man würde ihn hinrichten – zusammen mit seinen Rittern, die dir nicht die Treue schwören“, erklärte er mit genüsslichem Unterton. Balian fuhr entsetzt zurück.
„Nein!“, stieß er hervor. „Ich kann für so etwas unmöglich der Anlass sein!“
„Was Ihr auch verlangt, ich werde es tun“, erinnerte Tiberias Balian an sein eben gerade gegebenes Versprechen. Der junge Ritter ärgerte sich über seine unbedachte Wortwahl, die er gebraucht hatte, um Balduin davon zu überzeugen, dass er ihm treu sei und bestmöglich dienen wolle. Doch wenn Raymond ihn an seine unbedachten Worte erinnerte, konnte er das ebenso tun. Er sah den König an.
„Ein König mag einen Mann fordern, habt Ihr gesagt … aber seine Seele gehört ihm allein“, mahnte er den Bruder seiner Liebsten an dessen eigene Worte. Balduin nickte.
„Das waren meine Worte“, bestätigte er.
„Ihr habt meine Liebe – und meine Antwort“, erwiderte Balian. Der sterbenskranke König nickte erneut.
„So soll es sein“, sagte er. Balian verneigte sich und verließ den Raum. Raymond von Tiberias sprang auf.
„Das könnt Ihr nicht zulassen!“, ereiferte er sich.
„Lasst ihn gehen, Raymond“, wehrte Balduin den scheinbaren Versuch seines Konstablers ab, den Baron nötigenfalls mit Gewalt zurückzuholen. „Er hat Recht. So, wie wir es ihm zumuten wollten, kann ein Mann von Ehre nur ablehnen. Lasst ihn eine Nacht darüber schlafen. Vielleicht ist es besser, wenn ich in einigen Tagen nochmals mit ihm spreche. Lasst ihn jetzt nachdenken.“
Tiberias zwang sich zur Ruhe und verneigte sich.
„Darf ich gehen, mein König?“, bat er.
„Ja, aber lasst Balian in Ruhe!“, entließ der König ihn. Raymond verbeugte sich erneut und verließ mit raschen Schritten die Gemächer des Königs.
Balduin fühlte sich nach der deutlichen Ablehnung Balians müde und erschöpft. Es war ein Fehler gewesen, diesen ehrenhaften Mann mit einer augenscheinlichen Intrige zu konfrontieren, das wurde ihm nun erst richtig klar. Balian von Ibelin war der vollkommene Ritter. Wenn Balduin irgendwelche Zweifel daran gehabt hatte, waren sie nun verweht wie Nebel in einem Sturm.
‚Ich muss nochmals mit ihm reden und ihm die Hintergründe erklären‘, dachte er. ‚Er muss wissen, dass es keine andere Möglichkeit gibt, diese Gefahr zu bannen!‘
Er klingelte nochmals nach dem Diener, damit der ihm half, sich für die Nacht umzukleiden und schlafen zu gehen.
Kapitel 2
Neuer Tag, neue Gedanken
Am folgenden Tag ließ Balduin Balian erneut zu sich rufen. Es dauerte auch nicht lange, bis der junge Baron gehorsam erschien. Anders als am Abend zuvor war er jetzt jedoch mit einem schwarzen Hemd, ebenso schwarzer Hose und einem schwarzen Wams bekleidet, an dessen schwarzem Ledergürtel lediglich das im täglichen Gebrauch unerlässliche Tafelmesser hing. Weil der Diener ihn von der Baustelle an den Mauern geholt hatte, trug er auch noch den schwarzen Turban, den er seit seiner Kopfverletzung in Kerak zum Schutz vor der brennenden Sonne benutzte.
„Ihr wolltet mich sprechen, mein König“, meldete er sich mit einer Verbeugung. „Ich bitte um Vergebung, dass ich direkt zu Euch kam und mich nicht erst umgezogen habe.“
Balduin schüttelte den Kopf.
„Ich habe dir nichts zu vergeben, Balian. Ich habe dich um Vergebung zu bitten“, sagte er.
„Wofür das, mein König?“
„Setz dich!“, bot Balduin seinem Gast einen Sessel an. Der Baron setzte sich gehorsam.
„Ich habe dir gestern ein Angebot gemacht, das so nicht … nicht gut war. Du musst den Eindruck haben, Guy solle einfach ermordet werden. Ist das so?“
„Ja, der Gedanke ist mir gekommen. Ihr wisst, dass ich einem solchen Plan nicht zustimmen kann, wenn ich mein Seelenheil nicht gefährden will“, erwiderte Balian. Balduin lächelte. Es tat so wohl, jemand gefunden zu haben, den es nicht zu Tode erschreckte, mit einem König zu sprechen …
„Dann will ich dir erklären, wo das Problem liegt. Dein Vater schrieb mir, du hättest ohne zu zögern eingeräumt, dass die Häscher deines früheren Herrn das Recht gehabt hätten, dich mitzunehmen, weil du deinen Bruder ermordet hattest. Stimmt das?“
„Das ist richtig“, erklärte der Baron mit einem leichten Zittern in der Stimme. Balduin wurde bewusst, dass sein tapferer Lehnsmann nun Sorge hatte, wegen seiner Ablehnung, der Grund für de Lusignans Tod zu sein, von seiner Vergangenheit eingeholt zu werden und dafür Strafe auf sich nehmen zu müssen.
„Du, Balian, bist der vollkommene Ritter“, sagte der König mit hörbarer Bewunderung. „Du bist deines Vaters Sohn, denn Godfrey war einer der Wenigen, der so wie du eine Verfehlung ohne zu zögern bekannte. Doch nicht alle denken so wie du oder dein Vater. Für die meisten bedeutet ‚sprich immer die Wahrheit, auch wenn es deinen Tod bedeutet‘, dass sie das Recht haben, andere zu beleidigen. Doch es bedeutet auch, einzugestehen, wenn man etwas Falsches getan hat und dafür auch Strafe in Kauf zu nehmen. Es ist die Verpflichtung zur Beichte, wenn du so willst. Du tust es, aber Guy nicht. Ich weiß genau, dass er die Überfälle auf Karawanen der Sarazenen befiehlt und selbst dabei mitmacht.“
„Und weshalb straft Ihr ihn dafür nicht, wenn Ihr das genau wisst?“, fragte Balian verblüfft.
„Eben, weil er es nicht von sich aus gesteht. In diesem Königreich kann ein vom König belehnter Adliger nur verurteilt werden, wenn er von sich aus ein Geständnis ablegt, dass er ein Verbrechen begangen hat“, erklärte Balduin.
„Und wieso ändert Ihr dieses Gesetz nicht?“, fragte der Baron.
„Weil ich es allein nicht kann“, seufzte der König „Im Königreich Jerusalem regiert der König nicht allein. Ich bin – jedenfalls was Gesetze betrifft, an die sich der Adel halten muss –, auf die Zustimmung der Haute Court angewiesen. Du kannst dir vorstellen, dass die Haute Court, die Versammlung, die mit dem König die Gesetze berät und ihnen zustimmen muss, ein solches Gesetz, das sie privilegiert, kaum ändern wird.“
„Und … weshalb habt Ihr ihnen ein so weitreichendes Zugeständnis gemacht, das den Adel praktisch von jeglicher Bestrafung ausschließt?“, hakte Balian nach. Der König seufzte abermals.
„Als Godfrey de Bouillon zum Herrn Jerusalems wurde, war keinesfalls sicher, dass Jerusalem unter den Fürstentümern hier im Heiligen Land die herausragende Stellung haben würde, die es heute hat. Dieses Königreich, das Fürstentum Antiochia, die Grafschaften Edessa und Tripolis wurden von gleichrangigen Fürsten gegründet, die mit dem Ersten Kreuzzug herkamen. Im Grunde bin ich ein Erster unter Gleichen, der nur deshalb als oberster Lehensherr anerkannt wird, weil er die anderen Fürsten, Grafen und Barone an der Regierung beteiligt. Das ist ein großer Unterschied zu den Königen und dem Kaiser in Europa. Jerusalem ist ein sehr verletzliches Königreich. Von allen Seiten sind wir von Muslimen umgeben. Ich brauche meine Lehensleute, um dieses Land zu verteidigen. Ohne die Ritter und Soldaten der anderen Fürstentümer wäre Jerusalem nicht zu halten, wenn sich auf sarazenischer Seite ein Herrscher findet, der die Muslime nicht nur einigt, sondern sich ernsthaft das Ziel setzt, Jerusalem zu erobern. Um diese Einigkeit zu erhalten, habe ich dieser Regelung zugestimmt“, erklärte der König. Balian nickte. Auch ein König hatte keine unbeschränkte Macht.
„Wenn ich sterbe, Balian, dann wird Guy de Lusignan als Gemahl meiner Schwester die tatsächliche Macht haben“, fuhr Balduin fort. „Sibyllas Sohn ist noch nicht mündig. Er würde fortsetzen, was ich begonnen habe, doch nur dann, wenn er entsprechend ausgebildet wird. Guy wird ihn – auch gegen den Willen meiner Schwester – lehren, dass Muslime kein Lebensrecht haben. Er wird in dem Moment einen Krieg anzetteln, in dem er als Gemahl Sibyllas und Vormund meines Neffen die Macht hat. Daran kann und wird ihn dann niemand hindern, denn er hat das Argument, dass wir hier sind, um die Ungläubigen zu bekämpfen. Das war der Auftrag, den der Papst den ersten Rittern gegeben hat, die vor fast hundert Jahren herkamen. Damit hat er die Ritterorden schon auf seiner Seite. Anders als die Adligen und einfachen Leute, die sich hier angesiedelt haben, die schon zwei oder drei Generationen hier leben und auch weitere Generationen hier leben wissen möchten, ist ererbtes oder zu vererbendes Land den Mönchsrittern gleichgültig. Sie sind fast alle jüngere Söhne ohne Erbrecht und haben als Mönche keine Kinder.“
„Ich verstehe Eure Not“, sagte Balian. „Aber gibt es denn wirklich keine andere Möglichkeit, Guy zu bestrafen, als ihm Treulosigkeit gegen mich vorzuwerfen? Das müsste er doch schließlich auch freiwillig gestehen“, gab er zu bedenken.
„Guy fällt unter diese Regelung, weil er als Sibyllas Gemahl Mitglied des Hofes ist. Wird er von ihr geschieden, besteht dieser Schutz nicht mehr. Er kann dann aufgrund der zahlreichen Zeugenaussagen verurteilt und hingerichtet werden.“
„Aber eine Scheidung … ist doch nicht möglich“, wunderte sich Balian, für den eine vor Gott geschlossene Ehe ein von Menschen nicht lösbarer Bund war.
„Sie ist möglich, wenn der Patriarch zustimmt. Und es ist hier im Osten schon öfter vorgekommen, als du ahnst“, erwiderte Balduin.
„Dann erlaubt mir noch die Frage, weshalb Sibylla nicht schlicht von Guy geschieden wird, wenn das auf diese Weise möglich ist?“
„Ich habe nicht mehr viel Zeit, Balian“, erwiderte der König. „Bevor ich sterbe, sollte die Scheidung erfolgt und Guy gehängt sein, aber Sibylla auch wieder verheiratet sein. Sie soll nicht allein bleiben. Sie kann nicht allein bleiben. Nach unseren Bräuchen kann eine Königin nicht allein herrschen, sie kann nicht einmal Bailli für ein minderjähriges Kind sein. Deshalb muss sie umgehend wieder heiraten. Du hast bewiesen, dass du ein treuer Ritter Jerusalems bist. Du kannst führen, du kannst kämpfen, du hast dein Land in einer Weise verbessert, dass ich fest daran glaube, dass du das ganze Land so verbessern könntest, wenn man dich nur lässt. Du hast eine gute Beziehung zu den Sarazenen. Du denkst wie dein Vater. Das macht dich zum idealen Bailli dieses Königreiches. Und Sibylla liebt dich. Nach allem, was ich weiß, liebst auch du sie. Deshalb wäre es mein Wunsch, dass du Sibylla heiratest, wenn sie von Guy geschieden ist und er verurteilt und hingerichtet ist.“
Balian sah aus dem Fenster. Sein König war tatsächlich im Begriff, ihm sein Reich zu überlassen … Womit hatte er diese Gunst verdient? Sein Blick kehrte zu dem abwartend dasitzenden Balduin IV. zurück.
„Nun, so, wie Ihr es mir jetzt erklärt, soll Guy nicht meinetwegen gehängt werden. Das setzt die Angelegenheit in ein anderes Licht“, sagte er. Seine braunen Augen strahlten. Sibylla wäre glücklich, er wäre glücklich – und Prinz Balduin auch.
„Also, bist du bereit, Sibylla zu ehelichen, wenn sie von Guy befreit wäre? Bist du bereit, meinen Neffen zu beschützen, wenn ich nicht mehr bin?“, stellte der sterbenskranke König dieselbe Frage wie am Abend zuvor. Balian stand auf und hob die rechte Hand zum Schwur.
„Ja, mein König. Ich danke Euch für diese hohe Ehre. Ich schwöre, dass ich Euren Neffen mit meinem Leben beschützen werde. Was ich tun kann, um das Königreich Jerusalem zu erhalten, werde ich tun“, versprach er.
Balduin hatte das Gefühl, ein ganzes Gebirge rolle ihm vom Herzen, als er dieses Versprechen von dem Vasallen hörte, der der treueste von allen war. Tränen der Erleichterung stiegen dem Todkranken in die Augen.
„Danke, Balian, danke!“, schluchzte er. „Du bist der Retter meines Reiches! Ich werde deinem Vater sagen, was aus dir geworden ist, wenn ich ihm begegne.“
Er läutete nach seinem Diener, der auch umgehend erschien.
„Bitte meine Schwester und meinen Neffen zu mir“, wies er ihn an. Der Mann verbeugte sich und verschwand.
Wenig später waren Sibylla und ihr Sohn in den Gemächern des Königs.
„Sibylla, du hattest mich gebeten, dich von Guy zu befreien. Es ist nun möglich. Balian ist bereit, dich nach der Auflösung deiner jetzigen Ehe zu heiraten, damit du nach meinem Tod nicht ohne Gemahl bist“, sagte ihr Bruder.
„Du nimmst mir eine große Last, Bruder“, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln, das ihrem Geliebten galt, der sich mit einem sanften Lächeln leicht verbeugte.
„Bist du dann mein neuer Papa?“, fragte Prinz Balduin mit großen Augen.
„Wenn Eure Maman vor dem Altar nicht nein sagt, ja“, lächelte der Baron den Thronfolger an. Der König ließ ein Lachen hören, das etwas hohl aus seiner Maske klang.
„Balian, du solltest dich bald daran gewöhnen, mit deinem künftigen Stiefsohn einen etwas vertrauteren Ton zu pflegen“, sagte er lachend.
„Das werde ich“, versprach Godfreys Sohn mit einem glücklichen Lächeln. Er würde bald wieder eine Familie haben – und zwar ganz offiziell …
Der König läutete und beauftragte den Diener, Graf Tiberias zu rufen.
„Ich habe nochmals mit Balian gesprochen, Raymond. Nach etwas genauerer Erklärung hat er erkannt, dass seine Bedenken von gestern Abend unnötig waren. Sobald Sibylla von Guy geschieden ist, könnt Ihr die Beschuldigten verhaften“, erklärte Balduin. Tiberias verbeugte sich mit einem Lächeln, das sowohl seine Erleichterung als auch eine gewisse Schadenfreude ausdrückte. Endlich konnte er gegen die notorischen Unruhestifter vorgehen.
„Das werde ich“, versprach auch er. Balduin händigte ihm eine Urkunde aus.
„Kümmert Euch inzwischen schon um Reynald. Hier ist die Urkunde, die ihm sein Lehen Kerak entzieht und mein Urteil über ihn schriftlich festhält. Fragt ihn nach seinen Wünschen bezüglich der Henkersmahlzeit und bietet ihm geistlichen Beistand an. Ich wünsche, dass er so bald wie möglich hingerichtet wird. Gebt Salahadin Nachricht über die Hinrichtung. Er soll wissen, dass ich mein Wort halte.“
„Es wird so geschehen, Mylord“, erwiderte Raymond mit einem Kopfnicken und verließ die königlichen Gemächer.
Im Morgengrauen des folgenden Tages – es war der 27. Februar des Jahres 1185 – läutete die Armesünder-Glocke für Reynald de Châtillon. Der ehemalige Fürst von Antiochia hatte den Kaplan der Tempelritter der Ballei Jerusalem als seinen geistlichen Beistand gewählt, hatte ihm gegenüber die Beichte abgelegt und die Lossprechung von seinen im Dienste des Ordens begangenen Sünden erhalten. Er war stolz genug, im vor Jahren ehrenhalber verliehenen Wappenrock der Templer den Gang zum Schafott anzutreten.
Anders als bei den Hinrichtungen, die Balian bei seinem ersten Treffen mit Raymond von Tiberias in Jerusalem gesehen hatte, wurde Reynald nicht aus einem Fenster der Kasematten der Festungsmauer gehenkt, sondern an einem Galgen auf dem Marktplatz beim Jaffator.
Der Graf von Tiberias verlas in seiner Eigenschaft als Konstabler Jerusalems das Urteil des Königs, das Reynald zum Tod durch Erhängen verdammte. Dann wandte er sich an den grimmigen Berufskrieger:
„Reynald, Ihr habt das Urteil gehört. Das letzte Wort gebührt Euch.“
De Châtillon straffte sich. Er war auch ohne Rüstung und nur mit dem lose über dem nackten Körper hängenden Templerrock eine beeindruckende Erscheinung.
„Was ich getan habe, musste ich tun. Ich habe die Weisung des Papstes erfüllt, die Ungläubigen zu bekämpfen. Gott will es! Ihr werdet in der Hölle schmoren, Tiberias! Ihr und alle, die das Heilige Land besudeln, indem Ihr mit den Heiden lebt, statt sie zu vernichten! Ein Reich, das in die Hände eines Bastards gegeben wird, kann keinen Bestand haben. Gott will es nicht!“, versetzte Reynald. Raymond biss sich von innen auf die Wangen. Mehr als töten konnte man de Châtillon nicht … Er nickte dem Henker zu.
„Richte ihn!“, befahl er. Der Henker stieß das Fass weg, auf dem Reynald stand. Der schwere Ritter fiel, vom Strick um den Hals so hart gebremst, dass ihm das Genick brach und er auf der Stelle tot war.
Almaric, der mit Balian und den übrigen Männern im Dienste Ibelins die Hinrichtung von der Baustelle auf dem Wehrgang der Mauer am Jaffator beobachtet hatte, machte ein verdrießliches Gesicht.
„Er hätte gern noch etwas zappeln dürfen. Für das, was er angerichtet hat, war das ein zu leichter Tod“, sagte er.
„Er wird sich wundern, wo er im Jenseits ankommt“, warf Michel, sein Stellvertreter ein. „Ich kann nicht glauben, dass Reynalds Verbrechen ihn auch noch in den Himmel führen. Was meint Ihr, Mylord?“
Balian zuckte mit den Schultern.
„Wer kennt schon Gottes Gedanken? Doch mir fällt es ebenso schwer, zu glauben, dass Gott will, dass sich Juden, Muslime und Christen gegenseitig ausrotten. Er hat uns doch alle geschaffen“, sagte er. „Machen wir weiter.“
Guy de Lusignan hatte sich – auch auf Anraten des Templergroßmeisters – nach der letzten Auseinandersetzung mit Sibylla auf seinen Grafensitz nach Jaffa zurückgezogen. Er hatte – wie er ihr gesagt hatte – mit seinen Nagelkreuzrittern zwar die größte Streitmacht im Königreich und die Unterstützung der Templer, doch nach Reynalds Verhaftung und dem Todesurteil gegen ihn, seinen besten Ratgeber und willigsten Provokateur, wusste Guy nicht, was er nun tun sollte. Zu sehr hatte er sich auf Reynalds Einflüsterungen verlassen, um nun eine Entscheidung ohne dessen Rat oder Zustimmung zu treffen.
An diesem Tag, es war der 27. Februar 1185, erreichte am Nachmittag ein Bote aus Jerusalem die Stadt am Meer, der dem Hausherrn einen Brief des Königs übergab.
„Danke“, sagte Guy und nahm die gesiegelte Rolle entgegen. „Gibt es etwas Neues in Jerusalem?“, fragte er, mehr beiläufig.
„Ja, Mylord. Heute Morgen ist Herr de Châtillon hingerichtet worden“, erklärte der Bote. Guy hatte das Gefühl, vom ausschlagenden Huf seines Pferdes in der Magengrube getroffen zu werden, als er diese Nachricht vernahm. Der zweite Schlag traf ihn, als er das Siegel aufbrach und den schriftlichen Befehl des Königs in der Hand hielt, sich zur Anhörung bezüglich der Auflösung der Ehe mit Prinzessin Sibylla im Palast einzufinden. Es gelang ihm gerade noch, den Boten halbwegs gefasst zu entlassen, um den Brief in Ruhe zu lesen, wie er ihm sagte.
Erst, als die Tür geschlossen war und er allein war, erlaubte er sich ein verzweifeltes Aufstöhnen. Eine Eheauflösung war möglich – unter der Voraussetzung, dass die Ehe unter Zwang zustande gekommen und nicht vollzogen war. Guy wusste nur zu gut, dass Sibylla von ihrer Mutter zu der Ehe gedrängt worden war und keinesfalls freiwillig seine Gattin geworden war. Der Lateinische Patriarch Heraclius, der als geistliches Oberhaupt der Christen im Heiligen Land diese Entscheidung zu fällen hatte, war zudem dafür bekannt, bestechlich zu sein. Das Königshaus war reich genug, um sich die Unterstützung des Patriarchen zu erkaufen, wenn es sein musste. Aber wie wollte seine Gemahlin eigentlich beweisen, dass es keinen Ehevollzug gegeben hatte? Es gab doch die Heiratsurkunde, auf der die Trauzeugen Bertrand de Cormier und Reynald de Châtillon bestätigt hatten, dass die Ehe vollzogen war … Er sandte umgehend einen seiner Diener ins gräfliche Archiv, um diese Urkunde zu holen.
Als der Mann zwei Stunden später ohne die Urkunde zurückkehrte und beteuerte, dass sie dort nicht auffindbar war, wurde de Lusignan klar, dass Sibylla die Urkunde bereits aus dem Archiv hatte entfernen lassen. Reynald war hingerichtet worden und konnte nicht mehr als Zeuge der vollzogenen Ehe aussagen. Doch selbst, wenn er noch am Leben gewesen wäre, wenn er vor seiner Hinrichtung hätte befreit werden können, hätte das für Guy nur eingeschränkten Wert gehabt. Als zum Tode verurteilter Verbrecher hatte er nicht mehr den tadellosen Leumund, der von einem glaubwürdigen Zeugen erwartet wurde. Sein Zeugnis wäre deshalb ohnehin nicht anerkannt worden. Bertrand de Cormier, der zweite Trauzeuge, war schon zwei oder drei Jahre zuvor im Kampf gegen die Sarazenen gefallen. Wenn es nicht gelang, die Urkunde zu beschaffen, war diese Ehe schon so gut wie aufgelöst. Und ohne diese Ehe verlor er seinen den Schutz als Mitglied des Hofes. Dann war er ein toter Mann.
Nur mit Mühe bekam er seinen in Panik rasenden Herzschlag unter Kontrolle. Er hatte noch eine kleine Chance, sich dem Unheil zu entziehen. Doch dafür brauchte er ein Druckmittel gegenüber seiner Frau und dem König.
‚Balduin!‘, dachte er. ‚Sie werden gegen mich nichts unternehmen, wenn ich Balduin habe!‘
Er rief nach einem Diener und beauftragte ihn, seinen Hauptmann zu holen. Wenig später stand Enrique de Alonzo vor dem Prinzgemahl. De Alonzo befehligte Guys Nagelkreuzritter. Die Männer mit dem schwarzen Nagelkreuz auf den weißen Wappenröcken stellten die größte einzelne weltliche Streitmacht im Königreich Jerusalem dar. Es war eine bunte Mischung aller christlichen Nationen, die Ritter ins Heilige Land entsandt hatten: Franzosen, Engländer, Spanier, Italiener, Männer aus den deutschen Landen, aus Byzanz, sogar aus Dänemark und den Fürstentümern der Normannen waren Ritter darunter. Enrique de Alonzo selbst war Spanier.
„Mylord Guy?“, meldete er sich mit einer Verbeugung bei seinem Herrn.
„Nimm dir so viele Leute, wie du benötigst, um meinen Stiefsohn in Sicherheit zu bringen. Bei seiner Mutter in Jerusalem droht ihm Gefahr.“
„Vom wem, Mylord?“
„Ibelin, wer sonst?“, seufzte de Lusignan. „Ich habe den Verdacht, dass dieser Bastard den König gegen mich aufgebracht hat und nun danach trachtet, meine Ehe zu zerstören. Solltet ihr Ibeliner in der Nähe meines Stiefsohnes erwischen, macht sie nieder!“
„Das werden wir“, bestätigte de Alonzo. „Soll ich Prinz Balduin hierher nach Jaffa bringen, Mylord?“
„Ja, das wird das Beste sein“, erwiderte Guy. „Und schließt die Tore der Stadt! Nur wer in meiner Begleitung kommt oder wer beweisen kann, dass ich ihn gesandt habe, erhält Zugang nach Jaffa!“
„Wie Ihr wünscht, Mylord“, bestätigte sein Hauptmann und eilte davon, um alles Notwendige zu veranlassen.
Kapitel 3
Entführt
Balian setzte mit seinen Männern die Bauarbeiten an den Mauern Jerusalems fort, als eine große Truppe Ritter im Rock der Nagelkreuzler auf das Jaffator zuritt.
„Mylord!“, rief Michel, der in der Nähe des Tores beschäftigt war. Balian folgte dem Ruf des stellvertretenden Hauptmanns und sah die Truppe kommen.
„Was für Ritter sind das, Michel?“, fragte er.
„Das sind Ritter, die Guy de Lusignan persönlich dienen“, erklärte Michel.
„Ich dachte, er wäre Templer“, wunderte sich der Baron.
„Ja und nein“, mischte sich Almaric in das Gespräch. „Er steht den Templern nahe. So nahe, dass er den Orden mächtig unterstützt und deshalb das Recht erhalten hat, deren Rock zu tragen. Er schmückt sich sehr stolz damit. Doch er unterhält auch eine eigene Streitmacht – diese dort. Sie besteht gegenwärtig aus etwa fünfhundert Rittern, die ihm persönlich die Treue geschworen haben“, erklärte Almaric.
„Und wie verträgt sich das mit der Frage von Graf Tiberias an Guy, ob die Ritter, die er in Frankreich gefunden hatte, dem König die Treue geschworen hätten?“, hakte Balian nach.
„Als Euer Vater und die Templer mit Guy nach Europa aufbrachen, hatten beide den Auftrag, Ritter und Soldaten für den König anzuwerben. Die Ritter, die Guy mitgebracht hat, haben dem König die Treue geschworen und sind bei den Jerusalemrittern untergekommen. Aber jeder Vasall des Königs hat natürlich auch eigene Ritter und Soldaten – so wie Ihr uns habt“, erwiderte der Hauptmann Ibelins. Balian nickte.
„Ich habe diese Ritter hier noch nie gesehen …“, sagte er.
„Kein Wunder. Sie sind eigentlich in Jaffa beheimatet“, sagte Michel.
„So wie ihr eigentlich in Ibelin, hm?“, schmunzelte Balian. Almaric und Michel bekamen rote Köpfe, die mit der Tagestemperatur nur teilweise zu tun hatten.
„Was können sie dann hier wollen? Guy wird uns wohl kaum beim Mauerumbau helfen … Vor allem: Was tun die hier ohne ihren Herrn und Meister? Der ist doch in Jaffa“, sinnierte der Baron. Seine beiden Heerführer zuckten ratlos mit den Schultern.
Die Männer Ibelins fuhren mit den Umbauarbeiten an der Mauer fort. Balian machte mit dem Bauplan in der Hand seine Runde über die Baustelle, griff selbst mit zu, wo es erforderlich war. Doch die fremden Ritter und Soldaten, die er noch nie in Jerusalem gesehen hatte, ließen ihm keine Ruhe. Er wusste, dass Guy nicht in Jerusalem war. Was, bei König Balduins Bart, wollten seine Soldaten ohne ihn in der Hauptstadt? Seine Unruhe wurde immer stärker. Er kehrte zu Michel und Almaric zurück und durfte feststellen, dass es ihnen nicht besser ging.
„Wir stellen die Arbeit an der Mauer für heute ein“, entschied er. Er und seine Männer räumten die Baustelle auf, packten ihre Werkzeuge ein und kehrten in das Stadthaus der Familie Ibelin zurück. Balian nahm ein Bad, zog sich um und ging dann zum königlichen Palast, der nicht weit von seinem Haus entfernt war.
Dort lief alles unruhig durcheinander.
„Was ist denn los?“, fragte der Baron einen von Tiberias‘ Jerusalemsoldaten, der ihm über den Weg rannte.
„Prinz Balduin ist verschwunden, Mylord!“, keuchte der Mann. „Wir suchen ihn!“
Balian bekam ihn gerade noch am Ärmel zu fassen.
„Moment!“, sagte er. „Wohin rennt Ihr jetzt?“
„In den Keller, Mylord“, erwiderte der Soldat.
„Wo ist die Mutter des Prinzen?“
„In ihren Gemächern, Mylord. Lasst mich jetzt meinen Auftrag ausführen.“
Balian nickte und ließ den Mann los, eilte selbst mit schnellen Schritten zu Sibyllas Gemächern. Auf sein Klopfen öffnete Samira, die Leibdienerin der Prinzessin.
„Euch schickt der Himmel, Mylord!“, stieß sie mit einem Seufzer der Erleichterung hervor. „Kommt, Mylord! Meine Herrin ist außer sich vor Sorge!“
Sie führte Balian hastig zu Sibylla.
„Du kannst Gedanken lesen, Liebster!“, keuchte die aufgelöste Mutter. „Balduin ist weg!“
Er nahm sie in die Arme. Sie ließ es nur zu gern geschehen, überließ sich mit einem erlösten Seufzen seinen starken Armen, die ihr so viel Trost boten.
„Ich nehme an, Raymond hat die Suchaktion hier im Palast veranlasst, in die ich gerade geraten bin“, mutmaßte er. Sie nickte nur.
„Ich habe von der Mauer heute einen größeren Trupp Nagelkreuzritter gesehen“, sagte er. „Almaric sagte mir …“
Sie zuckte hoch.
„Nagelkreuzritter?!“, stieß sie hervor.
„Ja“
„Guy!“, zischte sie wütend. Sie machte sich aus Balians Armen frei.
„Samira, eile zu Graf Tiberias! Hier im Palast braucht er nicht mehr zu suchen!“, wies sie die Dienerin mit grantigem Unterton an. „Dieser feige … Bastard!“, fauchte sie.
„Was habe ich ausgefressen?“, fragte Balian verstört. Sibylla zuckte herum.
„Du bist nicht gemeint. Entschuldige bitte meine Wortwahl. Ich meine nicht jemanden, der wie du ohne eigene Schuld unehelich geboren wurde. Guy ist eine wandelnde Beleidigung für die Menschheit. Er ist sogar für ein Schimpfwort eine Beleidigung.“
Sie drehte sich wieder zu ihrem Geliebten um.
„Guy ist in Jaffa. Wenn er seine Ritter nach Jerusalem geschickt hat, kann ich mir nur zu gut vorstellen, wo Balduin ist“, sagte sie.
„Guy hat ihn entführen lassen, meinst du?“, fragte er. Sie nickte.
„Dann werde ich ihn zurückholen!“, erklärte Balian bestimmt. Sibylla sah ihn an. Wusste er wirklich, was er da sagte?
„Balian: In Jaffa ist Guy praktisch unangreifbar!“, keuchte sie. Er kam zu ihr und nahm sanft ihre Hände.
„Michel, Almarics Stellvertreter, ist aus Jaffa. Er kennt die Stadt mindestens so gut wie Ibelin. Und er hat dort Verwandtschaft. Er wird mir gewiss helfen können, an deinen Sohn heranzukommen und ihn aus der Stadt zu bringen oder mir, meinen Männern und Raymonds Jerusalemrittern die Tore zu öffnen. Wir werden ihn finden und heil zu dir zurückbringen. Das bin ich dir, deinem Bruder als meinem König und deinem Sohn als meinem künftigen König schuldig.“
Sibylla fand ihr schelmisches Lächeln wieder.
„Und … welchen Lohn erhoffst du dir, mein Ritter?“, fragte sie.
„Du weißt, dass ich mein Dasein als Ritter und Baron von Ibelin als unverdient betrachte. Ich habe meinen Lohn bereits erhalten“, erwiderte er. Ihr Lächeln wurde noch breiter.
„Nicht mal Bailli willst du sein?“, hakte sie nach.
„Ich strebe nicht nach Ämtern und Ehren.“
„Liebster, wenn du in dieser Schlangengrube, die von anderen das Heilige Land genannt wird, überleben willst, solltest du etwas anspruchsvoller werden. Niemand würde verstehen, dass du eine solche Ehre – und Pflicht – ablehnen würdest“, entgegnete sie. „Bescheidenheit ist unter einfachen Menschen eine Zierde, unter Adligen ist sie es nicht.“
Er seufzte.
„Ich bin nicht wie Guy. Meine Seele verkaufe ich nicht“, versetzte er. Sie sah ihn erschrocken an.
„Doch du solltest wissen, dass ich für dich, für deinen Bruder oder deinen Sohn sterben würde, wenn es nötig ist“, ergänzte er.
„Das … hast du in Kerak sehr deutlich bewiesen, Liebster. Aber du gibst nur und verlangst überhaupt nichts für dich!“, präzisierte sie. Er schüttelte den Kopf.
„Nein, denn ich habe schon mehr erhalten, als mir zukommt. Bis vor einem halben Jahr habe ich nicht einmal gewusst, dass mein Vater ein Baron Jerusalems ist. Ich bin unehelich. Guy hat Recht, wenn er sagt, dass ich als Bastard in Frankreich kein Erbrecht hätte. Mein Bruder Michel war eigentlich der Erbe meines Ziehvaters. Ich habe bekommen, was eigentlich ihm zustand, schließlich war er tatsächlich der Sohn des Schmiedes. Ich war nur der Kuckuck.“
„Nun, dein Ziehvater hatte offensichtlich mehr Vertrauen in dich, sonst hätte er dich nicht zu dem gemacht, was du in Frankreich warst, Balian. Und dass Godfrey dich als Sohn anerkannt hat, hat er meinem Bruder schriftlich gegeben. Er hat dich zum Ritter geschlagen, hat dir sein Lehen vererbt – und er hat gut daran getan. Ja, ein Ritter zu sein, ist eine Verpflichtung. Du erfüllst sie wie kein anderer; nun, kaum ein anderer. Dein Vater und Raymond von Tiberias gehören auch zu den pflichtbewussten Rittern, die diesen Titel nicht als Privileg ansehen. Aber auch Ritter und Lehensleute haben nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte“, erwiderte sie.
„Wenn du wissen möchtest, ob ich Wünsche habe … Ja, einen habe ich: eine Familie.“
„Nun, da wüsste ich eine …“, sagte sie. „Und ich meine, mich dunkel zu erinnern, dass Balduin dir schon zu Weihnachten eine schenken wollte.“
Er lächelte schief.
„Deshalb wäre ich ja auch bereit, für euch zu sterben, wenn es sein müsste. Erlaube mir, nach Hause zu gehen, damit ich deinen Sohn rasch aus Guys Fängen befreien kann“, sagte er. Sibylla umarmte ihn erneut.
„Ja – und bring Guy doch am besten gleich mit. Tot oder lebendig.“
Er zog die linke Augenbraue fragend hoch.
„Ich nehme an, du bevorzugst tot, so wie du das sagst.“
Sie lächelte nur vielsagend.
Auch wenn Balian wusste, dass Sibylla ihren bisherigen Gemahl lieber jetzt als gleich tot sehen würde – schon um ihn daran zu hindern, sich mithilfe der Templer für die Eheauflösung zu rächen – wollte er dem König das Urteil über dessen Schwager überlassen. Er und seine Männer machten sich eilig auf den Weg nach Jaffa. Da der Weg in die Hafenstadt über die Pilgerstraße führte, an der auch Ibelin lag, war nicht für jeden ersichtlich, dass die Männer unter dem Banner Ibelins Guys Nagelkreuzritter verfolgten. Es würde also unwahrscheinlich sein, dass jemand, der Guy nahestand, ihn vor diesen Verfolgern warnen würde.
Unterwegs trafen sie auf einen Pilger, der auf allen vieren in Richtung Küste kroch. Balian sah ihn verblüfft an und stoppte sein Pferd.
„Gott zum Gruße, Pilger!“, sprach er ihn an. Der Mann hielt in seiner mühsamen Fortbewegung inne.
„Gott zum Gruße, Mylord“, erwiderte er und beugte sich noch etwas tiefer in den Staub.
„Woher kommt Ihr?“, fragte der Baron.
„Aus Jerusalem, Mylord.“
„Und wohin wollt Ihr?“
„Nach Jaffa, Mylord. Und von dort heim nach Frankreich.“
„Wo seid Ihr in Frankreich zuhause, mein Freund?“
„In Chartres, Mylord.“
„Dann bestellt bitte Bischof Guillaume und Vizegraf Hugo du Puiset von Saint-Martin-au-Bois einen schönen Gruß von Balian von Ibelin.“
„Das werde ich, Mylord“, versprach der Pilger.
„Sagt, mein Freund, haben Euch schon andere Ritter überholt? Ritter in weißen Waffenröcken mit einem nach unten spitzen, schwarzen Kreuz?“
„Ja, Mylord.“
„Waren es nur die Ritter oder hatten sie jemanden bei sich, der nicht in ihrer Rüstung war?“
„Ja, Mylord. Ein Knabe war bei ihnen. Ich denke, er war noch nicht einmal zehn Jahre alt“, antwortete der Pilger. Er setzte sich auf die Knie auf.
„Wie lange mag das her sein?“
„Wo bin ich hier?“, fragte der Kriechende.
„Knapp vier Meilen vor Ramleh“, antwortete Balian.
„Ungefähr auf dem halben Weg von hier bis nach Jerusalem, Mylord.“
„Ich danke Euch, mein Freund. Wenn Ihr Euch eine Weile erholen wollt, bevor Ihr nach Frankreich aufbrecht, dann biete ich Euch gern Aufenthalt in Ibelin an.“
„Ich danke Euch, Mylord. Möge Gott Euch beschützen, was immer Ihr auch tut“, sprach der kriechende Pilger einen Segenswunsch aus. Balian winkte grüßend, als er seinem Pferd wieder die Sporen gab.
„Gehabt Euch wohl – und biegt dort vorn nach links ab und nicht nach rechts. Dann kommt Ihr nach Ibelin. Es sind noch etwa vierzehn Meilen“, rief er im Davonreiten. „Sollte ich nicht schon dort sein, wendet Euch an Latif, meinen Verwalter, und bestellt ihm, Ihr seid durch Balian von Ibelin eingeladen.“
Der kriechende Pilger blieb auf seinen Knien sitzen und schaute gen Himmel.
„Vater im Himmel, ich danke dir! Du hast mir den Engel gesandt, auf den ich schon so lange gewartet habe!“, sagte er mit vor Freude tränenerstickter Stimme.
Die Ibeliner ritten weiter in Richtung Jaffa. Von der Weggabelung vor Ramleh waren es noch knappe sechzehn Meilen bis in die Hafenstadt. Ihnen allen war bewusst, dass sie nicht offen nach Jaffa hineinreiten konnten, wenn sie auch heil wieder hinaus wollten. Dafür hatte de Lusignan eine viel zu große Streitmacht, die ihm treu ergeben war – und die ebenso gerüstet war wie die Männer Ibelins. Gegen Imads Reiter hatte die überlegene Wucht des Angriffs schwer gerüsteter Männer und Pferde die zahlenmäßige Unterlegenheit teilweise ausgleichen können. Gegen Guys Nagelkreuzritter hatten sie diesen Vorteil nicht. Sie würden also eher heimlich eindringen müssen …
Die Reiter erreichten die Küste außerhalb der Stadtmauer von Jaffa, als es längst dunkel war. Michel, dessen Vater immer noch als Fischer in Jaffa lebte, ließ die Männer hinter einem Hügel absitzen, der bis auf wenige Klafter an das Meer heranreichte, entledigte sich seiner Rüstung und seiner Kleidung bis auf das leinene Hemd und die Bruche.
„Wenn es klappt, gebe ich in spätestens einer Stunde ein Lichtzeichen von dort“, sagte er und winkte Balian und Almaric an den Rand des Hügels. Von dort wies er auf die erleuchteten Fenster der Sankt-Peters-Kirche, die am Rand der Stadtmauer neben der Zitadelle lag. Die schmale Sichel des abnehmenden Mondes und die Sterne boten zwar nur schwaches Licht, aber weil die Ibeliner über die Dämmerung in die Dunkelheit hineingeritten waren, hatten sich ihre Augen an das wenige Licht gewöhnt.
Michel ging ins Wasser und schwamm mit sicheren Bewegungen in Richtung Hafen. Ein aus Steinen in mühsamer Handarbeit aufgeschichteter Damm mit einer schmalen Durchfahrt, die nur wenig breiter war als eine Galeere samt ausgelegten Riemen, schützte den Hafen vor hohen Wellen. Michel erreichte diese Begrenzung, stieg an diesen Steinen aus dem Wasser. Er kannte sie seit seiner Kindheit und wusste um den Weg, der ohne Gefahr auf diesen Steinen zu den Fischerhütten vor den Mauern der Stadt führte. Vor allem wusste er, dass sein Vater zu dieser Tageszeit üblicherweise seine Netze flickte.
Tatsächlich brannte eine Lampe an der Hütte, die seinem Vater Garnier gehörte. Michel arbeitete sich dorthin.
„Guten Abend, Vater“, sagte er.
„Michel? Michel, bist du es wirklich?“, erkundigte sich der alte Mann.
„Ja, Vater.“
„Du warst lange nicht mehr hier. Wie geht es Jazira und meinen Enkeln?“, erwiderte Garnier und umarmte überglücklich seinen Sohn.
„Ah, du bist ja ganz nass!“, beschwerte er sich dann.
„Na ja, ich bin hergeschwommen, Vater. Es geht ihnen gut. Und wenn du mir jetzt ein wenig hilfst, dann wird es ihnen bald noch besser gehen.“
„Wozu benötigst du Hilfe? Du, ein Soldat?“
„Um meinem Herrn Zugang nach Jaffa zu verschaffen, die Graf Guy ihm niemals gewähren wird.“
„Als du fortgingst, tratest du in die Dienste des Herrn von Ibelin. Ich hörte, er sei tot“, bemerkte der alte Garnier.
„Das stimmt“, bestätigte Michel. „Jetzt diene ich seinem Sohn, Vater.“
„Aha. Und was für ein adliger Tunichtgut ist der?“, hakte der Fischer nach. „Von Beruf Sohn, wie?“
Der arbeitsame alte Mann hielt nicht viel vom Landadel. Seiner Ansicht nach waren die vorgeblich so hohen Herren alle nur Faulpelze, die sich vom einfachen Volk bedienen ließen.
„Du erinnerst dich doch gewiss an Mohammed al-Faes, Vater“, sagte Michel. Garnier bekam große Augen.
„Dieser heidnische Hund, der deine Mutter und deinen älteren Bruder auf dem Gewissen hat? Fluch über ihn!“, grollte er.
„Mein Herr Balian hat ihn getötet“, erklärte Almarics Stellvertreter.
„Schade, das hätte ich gern selbst getan“, sagte Garnier. „Ist das alles, was dein Herr kann?“, fragte er, wobei er das Wort Herr spöttisch betonte.
„Balian ist nicht wie die anderen Adligen, Vater“, wehrte er ab. „Er ist ein Handwerker wie du, er ist ein Schmied. Bitte, frag‘ jetzt nicht, wie er Ritter und Baron von Ibelin geworden ist. Die Zeit drängt, Vater!“
„Schmied? Sieh an. Dann soll mir dein Herr willkommen sein. Wieso will dieser Rüpel im Templergewand deinen Herrn nicht nach Jaffa reinlassen?“
„Weil er unseren Prinzen entführt hat und wir ihn befreien wollen.“
„Dieser Lump! Natürlich helfe ich euch! Los, komm, mein Sohn!“
Kapitel 4
Die Strafe Gottes
Almaric sah zur Stadtmauer. An der Sankt-Peters-Kirche, die die Mauer in Hafennähe überragte, wurde eine Fackel geschwenkt.
„Das ist Michels Zeichen!“, frohlockte er. Im Schutz der Dunkelheit eilten die Ibeliner zur Hafenmauer. Ein stabiles Fischernetz gewährte den Männern Zugang zum Kirchplatz vor der Sankt-Peters-Kirche, die zur Zitadelle Jaffas gehörte. Nur schmale Gassen führten durch die Burganlage. Mit gezogenen Schwertern eilten Balian und seine Männer Michel nach, der sie zum Palas führte.
„Dort oben, wo das Licht ist, liegt Guys Wohnung. Dort wird gewiss auch Prinz Balduin sein“, mutmaßte Almarics Stellvertreter. Balian nickte.
„Almaric – du folgst mir mit der Hälfte der Männer. Michel, du nimmst die andere Hälfte und versuchst, die Räume dort oben von außen her zu erreichen“, verteilte er die Aufgaben.
Während Michel und seine Leute sich leise daran machten, die Fassade des Palas’ zu erklettern, drangen Balian und seine Männer in den Palas durch die Vordertür ein, ohne sich Mühe zu geben, leise zu sein. Enrique de Alonzo, kam gerade aus einem Vorratsraum im Erdgeschoss des Palas, als Balian die Türflügel der Palastür mit solchem Schwung aufstieß, dass sie an die Wand krachten.
„Alarm!“, brüllte er. „Ibelin!“
Almaric griff sich eine große Bodenvase, die in der Nähe der Tür stand, und warf sie mit voller Wucht auf den Spanier, der davon glatt an die Wand geworfen wurde und beinahe im Blumenwasser ertrank, das ihm eimerweise direkt ins Gesicht schoss. Die Masse der Vase schlug ihn bewusstlos. Er blieb in einem kleinen See liegen, die Lilien und Gladiolen, die in der Vase gewesen waren, lagen bunt verteilt über seiner nassen Tunika.
Der Warnruf des spanischen Heerführers riss die Männer aus den Betten, die sich mit dem bewaffneten, was ihnen gerade in die Finger kam, doch die voll gerüsteten Männer Balians waren schneller und überwältigten die überraschten und aus dem Schlaf gerissenen Männer in kürzester Zeit.
Der beginnende Kampflärm schreckte auch Guy auf, der Trost bei einer Dienerin gesucht hatte und sich erst aus der amourösen Leidenschaft lösen musste, bevor er auf de Alonzos Alarm reagieren konnte. Nur mit einem Lendenschurz bekleidet, hastete er aus seinem Schlafgemach, um sich aus dem Wohnraum ein dort befindliches Schwert zu holen – und um den kleinen Prinzen zu holen. Im Wohnraum schnappte er sich das am dortigen Kamin hängende Schwert und den Schild, hinter dem es aufgehängt war, dann rannte er barfuß zu den Gemächern, die in seiner Burg für Sibylla und ihren Sohn reserviert waren. Er stieß die Tür auf und sah gerade noch, dass Balduin ihm eine lange Nase drehte, als ein Soldat im Ibelin-Rock mit dem Jungen auf dem Arm über den Balkon stieg.
„Balduin!“, stieß de Lusignan entsetzt hervor und hetzte zur Balkontür. Michel, der den Prinzen aus dem Zimmer geholt hatte, hatte schon den Boden erreicht. Guy flogen Pfeile der Ibeliner Bogenschützen um die Ohren, dass er sich zurückziehen musste. Halbnackt, wie er war, nur im Lendenschurz und mit dem Schild als Schutz, das Schwert blank in der Hand, rannte er wieder in den Korridor. Dort hörte er wieder den lauter werdenden Kampflärm und jagte zur Treppe. Die von oben links herum gewundene Treppe gab dem Verteidiger einen Vorteil, hatte er doch die Waffenhand frei und links den Schutz durch den Schild und die Wand, während der Angreifer rechts durch die Wand und die dort schmalen Stufen behindert war.
Der Graf von Jaffa hatte die halbe Treppe nach unten hinter sich, als vor ihm sein Lieblingsfeind erschien – Balian von Ibelin. Der Baron war im Gegensatz zum Hausherrn vollständig gerüstet.
„Wofür hältst du dich? Für den vollkommenen Ritter?“, fauchte Guy ihn an. Balian blieb stehen, gedeckt durch den Schild.
„Ich komme im Auftrag des Königs, Mylord“, erwiderte er. „Er befiehlt Euch nach Jerusalem und befiehlt Euch, den Sohn seiner Schwester mir zu übergeben, damit ich ihn zu seiner Mutter zurückbringen kann.“
„Den Jungen bekommst du nur über meine Leiche, Bastard!“, schnauzte Guy und schlug mit dem Schwert zu. Balian fing den Hieb mit dem Schild ab – und drosch Guy mit der flachen Klinge auf den vorwitzig vorgeschobenen rechten Fuß. Der schrie laut auf.
„Lasst es!“, warnte Balian. „Ihr seid nicht gerüstet, Mylord. Ergebt Euch!“
„Das könnte dir so passen, Bastard!“, fauchte der Prinzgemahl, doch er zog den Fuß zurück. Fieberhaft überlegte er, wie er den Günstling des Königs austricksen konnte.
„Ah, Enrique!“, rief er und winkte mit dem Schwertarm. „Hierher!“
Balian lächelte.
„Wenn Ihr damit Herrn de Alonzo meint … der liegt unten unter den Trümmern der Blumenvase“, stellte er mit leiser Süffisanz fest. „Gebt auf! Eure Leute waren völlig überrascht und konnten sich nur unzureichend wehren.“
„Niemals!“, schrie Guy und sprang Balian wütend an. Er hatte offenbar vergessen, in welch schwacher Rüstung er war … Balian duckte sich, das Schwert, das ihn um seinen Kopf erleichtern sollte, krachte funkensprühend in die Wand. Balians Schwert klemmte Guys Schild an der Wand ein, dann trat der Baron ihm heftig auf den erneut vorgeschobenen Fuß, dass Guy mit einem Schmerzensschrei einknickte. Balian verpasste ihm einen fürchterlichen Faustschlag mitten ins Gesicht, dass Guy die Nase brach und er erst einmal vor Schmerz nichts mehr sah. Er sackte auf der Treppe benommen zusammen und rutschte hilflos die Stufen hinunter. Balian trat ihm das Schwert aus der Hand. Der Gemahl der Prinzessin war wehrlos.
„Der König wünscht, Euch lebendig in Jerusalem zu empfangen, Mylord Guy“, sagte Balian und nahm seinem halbnackten Gegner auch den Schild ab. Dann nickte er Almaric und zwei weiteren Männern zu, die zu ihm kamen.
„Die Männer haben sich ergeben“, sagte der hochgewachsene Hauptmann.
„Gut. Begleiten wir Graf Guy, damit er sich etwas anziehen kann“, sagte Balian und machte eine auffordernde Handbewegung zu Guy, der sich mühsam aufrappelte und resigniert vor den Ibelinern die Treppe hinaufging. Zähneknirschend kleidete er sich in Gegenwart Balians und seiner Männer an, während die Dienerin totenbleich im Bett saß und ihre Blöße mit der Bettdecke verbarg.
„Wer seid Ihr?“, fragte Balian und verneigte sich leicht. Guy sprang eilig dazwischen.
„Meine Dienerin!“, grollte er. „Und das geht Euch weniger als nichts an! Ihr seid selbst ein Ehebrecher, Bastard!“
„Wie man es dreht und wendet, Mylord: Ehebruch ist Ehebruch. Und wenn ein Ehepartner die Ehe bricht, gibt es dem anderen noch lange nicht das Recht, es ebenfalls zu tun. Es widert mich schon lange an, dass Männer stets meinen, für sie gälten andere Gesetze als für Frauen. Zieht Euch etwas an, Mylord. Der König wartet auf Euch!“, grollte Balian.
„Halt’ den Mund, Bastard!“, schnauzte Guy. Almaric wollte seinem Herrn assistieren und de Lusignan schlagen, aber Ibelin hielt ihn zurück.
„Nicht nötig, Almaric. Ich bin ein Bastard. Deshalb kann mich das nicht beleidigen. Wenn Herr de Lusignan stolz auf seine eheliche Herkunft ist, vergisst er, dass er dazu nichts aus eigener Kraft beigetragen hat“, sagte er. De Lusignan zog sich zähneknirschend Bruche, Überhose und Hemd an und wollte den Raum verlassen
„Ich empfehle, dass Ihr auch Stiefel und eine Tunika anzieht, Mylord“, riet Balian. „Es ist recht kühl heute Nacht.“
Die Dienerin stand auf und nahm wortlos aus der Truhe eine Tunika und reichte ihrem Herrn auch Schuhe. Guy warf sich das Kleidungsstück über und schlüpfte in die Schuhe.
„Können wir los?“, fragte der Prinzgemahl nervös. Er konnte sich nicht erklären, wie es dem von ihm so gehassten Bastard und dessen Leuten gelungen war, seine wesentlich zahlreicheren Männer so zu überrumpeln. Balian nickte und verneigte sich mit einem sanften Lächeln zu der Dienerin, die ob des schönen Lächelns des Herrn von Ibelin einen geradezu seligen Gesichtsausdruck bekam.
Draußen warteten schon Michel und seine Leute, die die wenigen Posten, die die Burg von Jaffa bewacht hatten, schnell entwaffnet und ohne großes Blutvergießen niedergerungen hatten. Prinz Balduin jubelte laut, als er Balian mit seinem aktuellen Stiefvater aus dem Palas treten sah und stürmte zu der Gruppe hin. Zu de Lusignans blankem Entsetzen sprang der Junge dem Rivalen direkt auf den Arm.
„Danke, Papa!“, jubelte er und umarmte ihn fest.
„Ist dir was passiert, Balduin?“, fragte der Baron besorgt und drückte den Prinzen ebenso erleichtert wie fest an sich.
„Nein. Aber der doofe de Lusignan hat mich eingesperrt“, erwiderte der Junge mit tränenerstickter Stimme. Er weinte vor Freude und Erleichterung.
„Komm“, sagte Balian leise und trug den Prinzen zu seinem eigenen Pferd. Im selben Moment preschte eine große Abteilung Jerusalemritter in den Burghof, angeführt von Raymond von Tiberias. Guy sank endgültig der Mut. Raymond nickte mit zufriedener Miene.
„Wer hätte gedacht, dass sich die Dinge wiederholen?“, schmunzelte er.
„Was meinst du, Raymond?“, fragte Balian, als er auf sein Pferd stieg und Balduin sich dicht an ihn kuschelte.
„Im Jahre des Herrn 1132 verweigerte der Graf von Jaffa dem König die Treue und suchte sogar Schutz vor ihm bei den Sarazenen. Doch sein Konstabler blieb dem König treu und ließ für dessen Truppen die Tore öffnen. Dieser Mann war dein Großonkel Barisan du Puiset, der für seine Treue zum König zum Baron von Ibelin erhoben wurde. So haben es deine Leute heute auch getan, Balian“, erwiderte der Graf von Tiberias. „Du bist deines Vaters Sohn! Du bist Barisans Urgroßneffe! Es lebe Balian von Ibelin, der treue Diener unseres Königs!“, rief er. Der Ruf wurde von den Männern im Ibelin-Rock und den Jerusalem-Rittern aufgenommen und lauthals wiederholt.
Die Ibeliner, verstärkt von den Jerusalem-Rittern, brachten Guy im Morgengrauen des 1. März 1185 aus der Stadt und eskortierten ihn auf der Pilgerstraße in Richtung Jerusalem. Nicht weit von Ibelin zog ein Wintergewitter auf. Im Königreich Jerusalem bedeutete ein winterlicher Sturm zwar nicht unbedingt Schnee, auch wenn es in den judäischen Bergen durchaus schneien konnte, aber es bedeutete Regen, starken Wind und Blitzeinschläge. Balian ließ die Richtung wechseln und die ganze Kolonne von der Straße nach Ibelin abbiegen.
„Wir suchen Schutz in Ibelin!“, rief er durch den stärker werdenden Sturm. Dann setzte sintflutartiger Regen ein, der innerhalb von Augenblicken den Weg in einen Schlammpfad verwandelte. Obwohl es nach Ibelin nur noch eine gute Meile war, waren Reiter und Pferde bis auf die Knochen nass, als sie das Anwesen des Barons erreichten, der trotz des Unwetters von seinen Untertanen begeistert begrüßt wurde.
„Willkommen, Sidi!“, begrüßte Latif seinen Herrn mit einer tiefen Verbeugung.
„Shukran, Latif“, dankte Balian. „Herr de Lusignan muss sicher untergebracht werden.“
„Meint Ihr … eingesperrt, Mylord?“, hakte der Verwalter nach. Balian nickte nur. Latif wies auf den Turm an der Nordostecke des Herrenhauses.
„Dann am besten dort, Sidi“, sagte er. Der Baron nickte und ließ Guy von seinen Männern in den Turm bringen, wo er eingeschlossen wurde.
Oben auf dem Turm stand eine Gestalt, die in den Regenschwaden nur schemenhaft zu erkennen war.
„Wer ist das?“, fragte Balian, während er sich im Schlafraum trockenlegte. Die Hilfe von Dienern dabei hatte er ausdrücklich abgelehnt. Nur Latif war bei ihm und legte ihm trockene Kleidung aus der Truhe bereit.
„Ein Pilger, der behauptete, Ihr hättet ihn eingeladen, Sidi“, gab Latif Auskunft. „Ich habe ihm die Pilgerwohnung oben im Turm gegeben.“
„Danke, mein Freund“, sagte der Baron und wickelte sich das große Handtuch um die Hüften, während er zu dem Festungsturm sah. Ein greller Blitz zuckte über den grauschwarzen Unwetterhimmel. Im selben Moment krachte es so gewaltig, dass Balian und sein Diener unwillkürlich in Deckung gingen. Als sie wieder aus den filigranen Fensterläden schauten, war der innere Festungsturm geradezu pulverisiert. Latif und Balian waren zutiefst erschrocken über den buchstäblich in sich zusammengefallenen Turm. Doch bevor sie beide reagieren konnten, erhob sich aus den Trümmern eine in leuchtendes weiß gekleidete Gestalt, deren Kopf von einem noch helleren Licht umstrahlt wurde. Gleichzeitig tat sich der tiefschwarze Wolkenhimmel auf und machte einem strahlenden Blau Platz. Die finsteren Wolken drehten sich außerhalb von Ibelin wie ein wildgewordener Meeresstrudel.
„Balian!“, rief die Gestalt. Der Gerufene nahm allen Mut zusammen und trat in den Sonnenschein auf die Dachterrasse hinaus. Latif schlotterten die Knie vor Angst – und es ging den anderen, die in Ibelin Zuflucht gefunden hatten, nicht besser. Raymond von Tiberias, der unter dem Eingangstor stand und von dort sah, was sich auf der Dachterrasse tat, glaubte ebenso, seinen Augen nicht trauen zu können, wie alle anderen.
„Hier bin ich!“, erwiderte Balian. Die leuchtende Gestalt schwebte heran. Es war augenscheinlich ein alter Mann – und er hatte eine vertrackte Ähnlichkeit mit dem kriechenden Pilger, den Balian und seine Leute auf der Straße überholt hatten. Mit einem Lächeln hob er die rechte Hand und segnete den jungen Baron.
„Ich bin dein Urgroßonkel Barisan. Du bist mein Urgroßneffe, Balian. Dass du nicht ehelich geboren wurdest, tut nichts zur Sache und ist für Gott unerheblich. Deine Güte und deine Gastfreundschaft haben dir Gottes Gnade gebracht. Hüte dieses Land, so wie ich es einst tat. Beschütze den König, so wie ich es einst tat“, sagte der alte Mann mit einem so sanften Lächeln, dass allen, die es sahen, klarwurde, dass Balian tatsächlich ein Nachkomme dieser Familie war.
„Den hier, den nehme ich mit; doch ich weiß, er wird nicht oben bleiben“, ergänzte der Geist des alten Barisan. Er hob die linke Hand, die Trümmer des eingestürzten Turmes hoben sich und gaben eine dunkle Wolke frei, die die Gestalt eines Menschen mit den Gesichtszügen Guy de Lusignans hatte.
„Gott ist mit dir, mein Sohn. ER hat dich nicht verlassen. ER wird immer bei dir sein; bei dir, bei der Frau, die du liebst und dem Kind, das du liebst, bei deiner Frau und deinem Kind, die er schon zu sich ins Paradies geholt hat. Dieses Land ist SEIN Land, das Königreich der Himmel – und du bist der Hüter dieses Königreichs der Himmel. Führe weiter, was König Balduin auf den Rat deines Vaters, meines Neffen Godfrey, begonnen hat und denke immer daran: Jeder ist in Jerusalem willkommen. Jeder soll dort so beten, wie er will, denn Gott ist jedes Gebet in jeder Sprache willkommen. ER hat die Erde und alles, was darauf ist, geschaffen. Jede Sprache, jede Hautfarbe, jedes Geschlecht und jede Form der Verehrung ist vor Gott gleich, denn ER liebt die Vielfalt, die er schuf. Lebe wohl, Balian.“
Die leuchtende Gestalt schwebte nach oben, eine lange Leine aus purem Licht schlang sich um die dunkle Gestalt und zog sie mit der leuchtenden Gestalt hinauf in das tiefe Blau des Himmels, wo sie sich auflöste und verschwand. Gleichzeitig verging das Unwetter wie Frühnebel, den die Sonne trocknet. Nur einige weiße Wolken, die dekorativ im sanften Wind dahinsegelten, blieben.
Die Lähmung, die die Bewohner des befestigten Herrenhauses gepackt hatte, ließ nur langsam nach. Schließlich waren aber alle Männer an dem eingestürzten Turm und gruben in den Trümmern des Lehmziegelbaus nach Guys Leiche und eventuellen weiteren Opfern. Nach einigen Stunden harter Arbeit hatten sie die sterblichen Überreste Guys und eines Wächters gefunden.
Balduin, der an Balians Seite mit gesucht hatte, klammerte sich regelrecht an seinem Wunschstiefvater fest, als er die schrecklich entstellte Leiche seines bisherigen Stiefvaters sah und verbarg sein Gesicht an Balians Schulter. Balian umarmte den erschrockenen Jungen und winkte Latif heran.
„Kümmere dich um Prinz Balduin!“, wies er ihn an. „Geh mit Latif mit, Balduin. Das ist kein Anblick für dich“, wandte er sich an den künftigen König. Geschockt schweigend ließ der Junge sich von dem älteren Haushofmeister von dem Ort des Schreckens fortbringen. Doch als Latif ihn in der oberen Wohnung des Herrenhauses absetzte, rannte Balduin gleich auf die Dachterrasse hinaus und beobachtete die Aufräumarbeiten an den Turmtrümmern. Latif konnte ihn nur knapp daran hindern, die Brüstung der Terrasse zu übersteigen, um wieder zu Balian zu gelangen.
Als der Baron nach Einbruch der Dunkelheit die Aufräumarbeiten einstweilen einstellen ließ und erschöpft ins Herrenhaus zurückkehrte, war Balduin nicht mehr zu halten. Er rannte die Treppe hinunter und stürmte durch den Anrichteraum zum Hausherrn, sprang ihm direkt auf den Arm.
„Ich hab’ solche Angst gehabt!“, keuchte der Prinz.
„Wovor?“, fragte Balian.
„Dass der doofe Guy wieder aufsteht und dir was tut!“, präzisierte Balduin. Balian drückte ihn ebenso fest wie liebevoll an sich.
„Nein, den hat mein Großonkel schon mitgenommen. Der kommt nicht wieder, ganz bestimmt nicht“, beruhigte er den immer noch zitternden Jungen.
„Und … kannst du jetzt mein Papa werden?“, fragte der kleine Prinz geradezu flehentlich. Der Baron nahm ihn sanft an den Armen und hielt ihn ein kleines Stück von sich weg.
„Ja, jetzt kann ich es – und ich werde es. Das verspreche ich dir“, sagte er und zog ihn wieder an sich, um ihn fest zu umarmen.
Kapitel 5
Freude und Hoffnung
Die Rückkehr des Prinzen nach Jerusalem am folgenden Tag war ein regelrechter Triumphzug. Raymond von Tiberias hatte einen Boten in die Hauptstadt vorausgesandt. Alles, was den kornblumenblauen Rock mit dem Jerusalemer Wappen auf der Brust trug, alles, was sonst noch Beine hatte, säumte die Straßen der heiligen Stadt. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Kunde verbreitet, dass Balian den Prinzen Balduin gerettet hatte, dass Sibyllas ungeliebter Gemahl von Gott selbst gerichtet worden war und vom Begründer der Familie Ibelin persönlich ins Jenseits gebracht worden war.
Prinz Balduin hatte sich ausgebeten, dass Balian ihn zu sich in den Sattel nahm, was der Baron mit väterlicher Selbstverständlichkeit denn auch getan hatte. Fröhlich grüßte der kleine Prinz in die jubelnde Menge.
„Ich bin so froh, dass du jetzt mein Papa wirst!“, seufzte er. „Ich werde Onkel Balduin sagen, dass er dich zu meinem Bailli ernennen soll.“
„Meinst du denn, dass ich das könnte?“, schmunzelte Balian über das wahre kindliche Vertrauen, dass der kleine Thronfolger ihm entgegenbrachte. Der Junge drehte sich halb um und sah ihn an, so gut es ging.
„Ganz bestimmt! Wer denn sonst?“, fragte er verblüfft.
„Raymond von Tiberias, zum Beispiel …“, schlug sein Wunschstiefvater vor. Balduin beäugte den älteren Ritter skeptisch, der neben ihm und Balian ritt.
„Nein, nein, dafür bin ich jetzt schon zu alt, mein Freund!“, wehrte der ab, bevor Sibyllas Sohn sich negativ äußern konnte. „Ich stimme Balduin zu: Du bist der Beste, den er haben kann, Balian.“
„Mal sehen, was Maman dazu sagt, Balduin“, schob der Baron von Ibelin die Entscheidung einstweilen von sich. Beruhigt seufzend kuschelte Balduin sich noch ein bisschen enger an ihn.
„Maman wäre froh, wenn du das machst, Papa. Sie hat dich sehr lieb“, erwiderte er.
„Ich sie auch, Balduin. Wenn ihr beide das möchtet und dein Onkel einverstanden ist, dann werde ich dein Bailli“, versprach er und erntete einen strahlenden Blick seines Stiefsohns in spe.
Als sie das Tor des Palastes erreichten, wartete König Balduin in einer Sänfte auf den Stufen auf seinen Neffen und dessen Befreier. Der todkranke König trug den kornblumenblauen Wappenrock des Königs aus Damaststoff mit dem aus goldenem Faden auf weißer Seide gestickten Jerusalemkreuz über einem strahlend weißen Gewand. Seine silberne Maske war frisch poliert und leuchtete beinahe wie die Sonne selbst. Neben ihm stand seine Schwester, die Prinzessin von Jerusalem in ihrer strahlenden Schönheit, ebenfalls ganz in Weiß gekleidet und mit einem goldenen Diadem auf dem tiefschwarzen Haar geschmückt.
Balian gestand sich ein, sie noch nie in dieser wahrhaft königlichen Pracht gesehen zu haben und spürte, dass sein Herz einen heftigen Sprung machte, als sie ihn verliebt anlächelte.
Mit Mühe erhob sich Balduin IV. von dem Sänftenthron, als Balian zu Pferd den Fuß der Treppe erreicht hatte.
„Willkommen in Jerusalem, Balian von Ibelin, Retter meines Reiches und meines Neffen!“, rief der junge König so laut er konnte.
„Siehe, Volk von Jerusalem, den Beschützer meines Reiches!“, verkündete er dann. Tosender Jubel antwortete dem König, der mit der behandschuhten rechten Hand zu seinem treuen Baron präsentierte.
„Balian von Ibelin soll dieses Reich für meinen Neffen regieren, wenn Gott mich demnächst in sein Reich beruft!“, fuhr er fort. „Leite ihn an, ein guter König zu werden; gib ihm alles weiter, was du weißt; mache einen ritterlichen König aus ihm, der sein Reich auch wieder selbst verteidigen kann, wie ich es einst konnte. Bewahre dieses christliche Reich in Freundschaft mit dem großen Sultan Salahadin, denn alle sind in Jerusalem willkommen! Nicht, weil es dem Zweck dient, sondern, weil es richtig ist. Möge Jerusalem unter deiner Herrschaft ein Reich sein, in dem es nicht nur Christen erlaubt ist, hier zu beten, sondern auch den Juden und den Muslimen, die sich – wie wir – zu einem einzigen Gott bekennen. Wirst du meinen Neffen und mein Reich beschützen, Balian von Ibelin?“
Der junge Baron hob die rechte Hand zu Schwur.
„Das werde ich, mein König“, versprach er.
„Steig ab und knie nieder!“, forderte der König ihn auf. Balian stieg gehorsam vom Pferd und nahm Balduin ebenso vorsichtig wie liebevoll aus dem Sattel und stellte ihn auf den festen Boden. Er folgte der Handbewegung des Königs, die ihn auf die letzte Stufe vor dem Eingang zum Palast beorderte. Dort kniete er vor dem König nieder.
„Balian von Ibelin, ich erhebe dich zum Grafen von Jaffa und Ibelin!“, rief Balduin und legte dem gehorsam vor ihm knienden Mann die behandschuhten und bandagierten Hände auf den Kopf.
„Ich danke Euch und bete, dass ich Eure Erwartungen erfülle, mein König“, erwiderte Balian demütig, aber ebenso hocherfreut über die Ehre, die ihm sein König in aller Öffentlichkeit erwies.
„Das wirst du, da bin ich sicher“, erwiderte Balduin. Sein freundliches Lächeln bei diesen Worten war durch die silberne Maske geradezu zu hören. „Und deshalb vertraue ich dir noch einen ganz besonderen Schatz an: Die Hand meiner geliebten Schwester Sibylla, die dir eigentlich schon lange gehört, aber ebenso von einem Unwürdigen gefangen gehalten wurde wie mein lieber Neffe. Erhebe dich als Graf von Jaffa und Ibelin und als mein Bruder vor dem Herrn, mein lieber, lieber Balian. Ich kann Gott nicht genug dafür danken, dass er dich in sein eigenes Reich gesandt hat, du Engel der Ritterlichkeit.“
Balian stand auf, ließ es nur zu gerne zu, dass der König seine und Sibyllas Hand zusammenführte. Er umarmte sie und küsste sie mit einer Leidenschaft, die die Prinzessin trotz der ebenso leidenschaftlichen Liebesnächte in Ibelin nicht erwartet hatte. Sie gab sich dem Kuss unter dem Jubel der Menge vollkommen hin.
„Mein Ritter!“, flüsterte sie, als sie sich voneinander lösten.
„Volk von Jerusalem“, rief der König und hob den rechten Arm. Der Jubel legte sich.
„Ich verkünde die Verlobung meines lieben Grafen von Jaffa, Balian, mit meiner geliebten Schwester Sibylla. Ihr werdet ein edles Prinzenpaar haben, das euren neuen König Balduin V. anleiten und zu einem großen Herrscher erziehen wird. Die Hochzeit wird in drei Tagen stattfinden!“
Der ebenfalls am Palasttor anwesende Patriarch Heraclius zuckte ob dieser Ankündigung herum.
„Mylord! Dann ist Aschermittwoch!“, erinnerte er erschrocken.
„Nein, Fastnacht, Eure Heiligkeit“, korrigierte König Balduin kühl. „Der Tag, an dem die Christenheit ein letztes Mal gründlich feiert, um sich am Tag danach mit Asche an die Vergänglichkeit des irdischen Lebens gemahnen zu lassen.“
Er wandte sich an Sibylla:
„Oder wollt ihr früher heiraten?“
„Wenn du mich so fragst, Bruder: von mir aus auf der Stelle!“, lachte sie erleichtert.
„Moment!“, bremste Balian. „Ich bin noch verschwitzt und schmutzig. So trete ich nicht vor den Traualtar, auch wenn mir die Hochzeit eher jetzt als gleich gefallen wollte. Eure Heiligkeit: Könntet Ihr eine Trauung morgen im Hochamt einrichten?“, wandte er sich an den Patriarchen. Der sah ihn zunächst verblüfft an, bevor er zögernd nickte.
„Nein, du reißt mir heute nicht zu dir nach Hause aus!“, hielt Sibylla ihren Verlobten zurück, als er wenig später den Palast verlassen wollte, um in seinem Stadthaus ein Bad zu nehmen. „Baden kannst du hier auch – und hier bist du ab morgen ohnehin zu Hause.“
„Wenn ich hierbleibe, kann ich nicht dafür garantieren, dass ich dir nicht einen Besuch abstatte …“, warnte er. Sie seufzte.
„Was glaubst du, weshalb ich will, dass du hierbleibst? Du hast noch ein bisschen mehr Lohn verdient als eine Grafenkrone und das Versprechen, dass du Bailli werden wirst, wenn mein Sohn König wird.“
„Wie meine Prinzessin wünscht“, lächelte Balian in seiner unnachahmlichen Art, die Sibylla dahin schmelzen ließ.
„Ich will auch, dass du bleibst, Papa!“, meldete sich Prinz Balduin zu Wort. Das Lächeln des neuen Grafen verstärkte sich.
„Wer bin ich, dass ich dem Wunsch meines künftigen Königs widersprechen würde?“, grinste er und nahm Balduin auf den Arm, um ihn fest an sich zu drücken.
„Hab’ keine Angst, mein Prinz. Ich bleibe hier bei euch beiden. Bei dir und Maman.“
„Duuuu, Papa?“
„Ja?“
„Machst du, dass ich noch Geschwister bekomme?“
„Geschwister?“
„Ich hätte sooo gerne noch ein Brüderchen und ein Schwesterchen.“
Balian sah zu Sibylla, die ebenso schelmisch lächelte.
„Dann werden Maman und ich sehen, was wir da für dich tun können“, versprach er.
König Balduin IV. lächelte selig hinter seiner silbernen Maske, als Balian Sibylla und ihren Sohn in deren Gemächer begleitete und er nicht allzu lange darauf die unverkennbaren Geräusche der Leidenschaft hörte. Sein treuer Graf und seine geliebte Schwester kamen dem Wunsch des künftigen Königs nach, die Basis des königlichen Hauses zu verbreitern.
Die Hochzeit in der Grabeskirche zu Jerusalem war eine wundervolle Zeremonie, in der Balian von Ibelin und Sibylla von Jerusalem sich nicht nur lebenslange Treue versprachen, sondern in der eine neue Ära in der Geschichte des Königreichs Jerusalem eingeläutet wurde: Die Zeit der Ibelin-Dynastie im Königreich Jerusalem brach an. Es war Balduin, der der fünfte König dieses Namens in Jerusalem werden sollte, der nach der Trauungszeremonie ohne jede Absprache mit seiner Mutter auf die oberste Stufe des Altars trat und mit lauter Stimme verkündete:
„Graf Balian ist von jetzt an mein Vater. Nicht mein Stiefvater, nein! Meinen … leiblichen … Vater habe ich nie gekannt, weil er schon tot war, bevor ich geboren wurde. Mein Stiefvater wurde mir von meiner Großmama befohlen. Diesen hier“,
er trat zu Balian und nahm ihn bei der Hand,
„habe ich mir mit Maman selber ausgesucht. Ich will seinen Namen tragen und von diesem Moment an nicht mehr Balduin von Montferrat, sondern Balduin von Ibelin sein!“
Nicht nur König Balduin spürte Tränen puren Glücks über diese Worte seines Neffen. Auch Sibylla, ihr Bräutigam Balian, Raymond von Tiberias, Bruder Jean und sehr viele andere, die der Hochzeit der Prinzessin und ihres geliebten Grafen beiwohnten, bekamen feuchte Augen. Nicht zuletzt auch Balian und Balduin von Ibelin, Barisans Söhne, jeweils Onkel zweiten Grades des Bräutigams, hatten Tränen in den Augen. Die Gründe waren durchaus unterschiedlich.
Balian, Barisans Sohn, auch Balian II. von Ibelin genannt, war mit Maria Komnena verheiratet, der Mutter von Sibyllas Halbschwester Isabella. Er war damit Sibyllas Stiefvater und wurde mit dieser Ehe auch Stiefschwiegervater seines Neffen zweiten Grades.
Sein Bruder Balduin hatte einst selbst um Sibylla geworben, doch hatte Sibyllas Mutter Agnes de Courtenay die Zeit seiner sarazenischen Gefangenschaft genutzt, um ihrer Tochter Guy de Lusignan halbwegs schmackhaft zu machen. Bei ihm kam einerseits Stolz auf, dass Sibylla von Jerusalem nun endlich zur Familie Ibelin gehörte, andererseits der Schmerz, dass sein Neffe zweiten Grades die Frau bekam, die er selbst begehrt hatte.
„Sibylla?“, fragte König Balduin. Seine Schwester nickte nur wortlos, den Blick auf ihren glücklichen Bräutigam und ihren strahlenden Sohn gerichtet. Balian bückte sich, nahm Sibyllas Sohn auf den Arm und gab ihm einen väterlichen Kuss.
„Dann soll es so sein. Ab heute bist du mein Sohn“, sagte er. Balduin umarmte ihn fest.
„Mein Papa!“, flüsterte er voller Glück.
Gleich am folgenden Tag ließ König Balduin seinen neuen Schwager zu sich rufen. Ein glückstrahlender Balian von Ibelin erschien in den Gemächern des Königs.
„Guten Morgen, mein König“, grüßte er und verneigte sich leicht. Er trug wieder die ebenso elegante wie edle dunkelblaue Tunika mit den eingewebten goldenen Efeublättern, in der er bei seinem ersten Besuch im Palast erschienen war. Balduin seufzte hörbar.
„Guten Morgen, Balian. Möchtest du dich nicht entschließen, mich beim Vornamen zu nennen?“
„Ich bin der Gemahl Eurer Schwester, mein König, aber immer noch Eurer Lehnsmann. Ich bin nicht als Fürst geboren, sondern als gemeiner Mann“, erwiderte der Graf zurückhaltend.
„Du bist mein Graf, ja. Aber eben auch mein Schwager, mein Bruder vor dem Herrn. Bitte betrachte mich auch als deinen Bruder und sprich mich so an.“
Balian lächelte sanft und neigte leicht den Kopf.
„Wie du wünschst“, sagte er und hatte das Gefühl, dass sein König hinter seiner Maske strahlte.
„Hat das gedauert …“, erwiderte Balduin. Der Tonfall verriet, dass er regelrecht grinste.
„Ich habe eine Bitte an dich“, ergänzte er.
„Welche?“
„Ich habe gleich nach eurer Rückkehr einen Boten nach Damaskus gesandt und Salahadin Verhandlungen für einen dauerhaften Frieden angeboten. Jetzt, da Reynald und Guy ihn nicht mehr gefährden können, erscheint mir ein wirklicher Frieden in greifbarer Nähe. Es wäre mein Wunsch, dass du bei diesen Verhandlungen dabei bist.“
„Das werde ich“, versprach Balian. Balduin seufzte erneut, doch klang es diesmal eher erleichtert.
„Ich danke Gott, dass ich es noch erleben darf, dass mein Nachfolger einen solchen neuen Vater hat“, sagte er. „Weißt du, dass es dein neuer Sohn war, der seine Mutter angestiftet hat, dir einen schönen, langen Besuch in Ibelin abzustatten?“
„Nein, bisher war ich der Meinung, dass du und Sibylla das ausgemacht hattet“, erwiderte Balian und folgte der einladenden Handbewegung seines Schwagers, sich an den Tisch zu setzen. Zwischen ihm und König Balduin stand ein Schachbrett mit aufgestellten Figuren. Ein Diener erschien und schenkte beiden Wein ein, was Balian mit einem freundlichen Nicken quittierte.
„Spielen wir eine Partie?“, fragte Balduin.
„Ja“, erwiderte Balian wortkarg und wartete auf den ersten Zug Balduins, der vor den weißen Figuren saß. Seit ihrer ersten Begegnung fast neun Monate zuvor hatte Balduin den Sohn seines besten Lehrers so oft es möglich war zu einem Schachspiel gebeten und ihm dieses Spiel der Könige beigebracht.
Schweigsam taten sie ihre Züge. Balian verhielt sich eher abwartend als attackierend, wie Balduin feststellte, hatte seine Figuren aber stets so positioniert, dass sein schwarzer König gedeckt war. Selbst die Züge mit der Dame, dieser fast allmächtigen Figur, stellten Abwehrhandlungen dar, nur sehr selten aktive Angriffe. Selbst diese erfolgten nur, um Gefahr von einer anderen Figur abzuwenden.
„Wenn du so verhandelst wie du Schach spielst, kann das zweierlei Folgen haben: Erstens, dein Gegenüber wird es als Schwäche interpretieren und dir noch mehr zusetzen. Zweitens, er wird sich an dir die Zähne ausbeißen. Wieso greifst du meinen König nicht an?“
„Das Ziel des Spiels ist mir wohl bewusst, Balduin. Doch ich möchte nicht aggressiv agieren. Das wäre eine Provokation. Eine Provokation löst nur eine harsche Gegenreaktion aus“, erwiderte Balian. Der König von Jerusalem lehnte sich zurück, ohne einen neuen Zug zu tun.
„Wie wirst du Salahadin gegenübertreten?“, fragte er direkt.
„Die Frage ist doch: Was wollen wir? Was will er? Was können wir erreichen und welche Zugeständnisse wollen und müssen wir dafür machen? Was können wir ihm abhandeln, ohne dass er das Gesicht verliert? Was können und müssen wir tun, um selbst das Gesicht zu wahren?“, stellte der Graf seine Gedanken vor. Balduin nickte, durchaus beeindruckt, dass jemand, der bisher nie in die Verlegenheit gekommen war, Politik zu machen, davon augenscheinlich genug verstand, um mit verhandlungsgeübten Orientalen schachern zu können.
„Sehr gut“, sagte er. „Wer hat dich diese Strategie gelehrt?“
„Raymond und Imad“, antwortete Balian.
„Du hast die richtigen Freunde“, erkannte der König und tat einen neuen Zug. „Handle so. Schach!“
Balian nickte und schlug die seinen König bedrohende Dame mit dem Springer. Balduin betrachtete die Figurenstellung und musste feststellen, dass die nächsten möglichen Felder, auf denen seine Figuren Balians König Schach bieten konnten, von schwarzen Figuren bedroht waren, die seinem eigenen König Schach bieten würden, wenn sie die gezogene Figur schlügen.
„Alle Achtung!“, murmelte Balduin. „Erlaubst du, dass ich Remis erkläre oder bestehst du darauf, mich mit dem nächsten Zug mattzusetzen?“
Mit einem freundlichen Lächeln schüttelte sein Schwager den Kopf.
„Ich akzeptiere ein Remis“, sagte er. Balduin nickte.
„Du wirst mit Salahadin verhandeln. Ich vertraue dir diesen Frieden an, Balian.“
Kapitel 6
Vertrauter Feind
Trompetenschall kündigte hohen Besuch an. Balian trat auf den Söller seines geliebten Anwesens in Ibelin. Seit einer Woche war er mit Sibylla von Jerusalem verheiratet, seit einer Woche war er Vater eines knapp achtjährigen Sohnes, der völlig in seinen Wunschvater vernarrt war. Seit einer Woche war er Graf von Jaffa und Verhandlungsbevollmächtigter des Königs von Jerusalem. Nun erwartete er den Verhandlungsführer des Sultans Saladin. Um eine vertrautere Atmosphäre zu bieten, hatte er ihn nicht in die Königsburg eingeladen, sondern in dieses private Anwesen.
Balian empfing seinen Freund Imad mit herzlicher Umarmung – und staunte nicht schlecht, als Latif, der Haushofmeister Ibelins, sich dem muslimischen General zu Füßen warf und auf Arabisch beteuerte, er habe ihm alles mitgeteilt, was es Wissenswertes gebe. Imad konnte nicht verhindern, dass seine ohnehin etwas dunklere Hautfarbe ein tiefes Rotbraun annahm, als ihm das Blut der Beschämung ins Gesicht schoss. Doch zu seiner noch größeren Verblüffung grinste sein Gastgeber. Balian hatte Latifs Wortschwall verstanden und wusste nun definitiv, dass sein Haushofmeister nicht gar so verschwiegen war, wie es von einem loyalen Diener zu erwarten gewesen wäre.
„Komm hoch, Latif!“, befahl er ohne jede Schärfe. „Wenn ich nicht gewollt hätte, dass du Imad berichtest, hätte ich es verhindert.“
Latif stand aus dem Staub auf und zog sich unter zahllosen Verbeugungen aus der Reichweite Balians zurück.
„Willkommen, mein Freund“, sagte der christliche Baron. „Ich denke, du weißt durch Latif so gut wie alles über mich. Was immer er dir gesagt haben mag, kann mir nicht gefährlich werden. Weder meine uneheliche Herkunft noch mein Verhältnis zu Sibylla. Sie ist mit königlichem Einverständnis und kirchlichem Segen meine Frau, Balduin aus eigenem Wunsch mein Sohn. Mangelnde Loyalität gegenüber seinem Onkel kann er dir nicht berichtet haben, denn ich bin dem König von Jerusalem treu.“
Imad lächelte scheu.
„Latif hat mir berichtet, dass du Sibylla geheiratet hast, dass Balduin sich als deinen Sohn betrachtet und du deinem König treu wie kein zweiter Ritter bist“, erwiderte er. „Dass du ein angenehmer Herr bist, der alle seine Untertanen gleich gut behandelt, der ihnen ihren Glauben lässt und sogar für Gebetsräume für Muslime und Juden gesorgt hat, ist in Damaskus auch ohne Latifs Mitteilungen bekannt.“
Balians Grinsen wurde noch breiter.
„Yussuf erhält also auch Lohn von dir“, stellte er fest. Das Rot in Imads Gesicht wurde noch dunkler.
„Sie sind Muslime, mein Freund. Die Loyalität eines Mohammedaners ist geteilt zwischen dem Propheten Allahs und dessen irdischem Vertreter und dem jeweiligen Herrn anderen Glaubens. Die Predigten der Imame in den Gebetsräumen hier und in Jerusalem sind mir bekannt“, schmunzelte Balian. „Und da du schon so viel weißt, werden wir sicher eine Vereinbarung treffen können, die deinem Sultan ebenso gefällt wie meinem König. Komm! Du wirst dich staubig fühlen nach der Reise.“
Imad nahm Balians Angebot zu einem Bad gern an und erschien frisch gebadet in schwarzer Hose und einem hellen Baumwollhemd, dessen vorderer Schlitz mit zwei gleichfarbigen Posamentenknöpfen zu verschließen war, bei seinem Gastgeber. Darüber trug er einen dunkelblauen Kaftan, der an den vorderen Kanten mit schmaler, goldgewirkter Borte verziert war. Den Kopf bedeckte sein gewohnter rotbrauner Turban.
Balian, der zu schwarzer Hose und weißem Leinenhemd seine dunkelblaue Tunika mit der orientalischen Silberstickerei an den Ausschnittecken trug, die mit einer dunkelroten seidenen Leibbinde gegürtet war, bot seinem Gast Platz auf einer der Klinen auf der Dachterrasse an. Die Klinen standen unter einem großen Sonnensegel. Zwischen ihnen hatten die fleißigen Diener Platten mit appetitlichen Häppchen von Huhn und Lamm sowie Fladenbrote und eine Kanne des berühmten Ibeliner Orangentees auf einem niedrigen Tisch aus getriebenem Messing drapiert.
Imad setzte sich auf die dem Turmzugang nähere Kline, Balian auf die andere Seite des Tisches. Der Hausherr bat den Diener, Tee in Gläser einzuschenken, der auch umgehend zunächst den Gast und dann seinen Herrn bediente.
„Ich hoffe, du hattest eine gute Reise“, begann Balian das Gespräch und nahm sich eines der Lammhäppchen, ohne hinzusehen. Imad bediente sich ebenfalls von den Lammhäppchen, nachdem Balian von seinem Häppchen abgebissen und den Bissen verschluckt hatte.
„Ja, hatte ich“, erwiderte der General. „Danke für die Begleitung durch deine Männer. Selten habe ich mich auf dieser Seite der Grenze so sicher gefühlt wie dieses Mal.“
„Gern geschehen. Die größten Feinde des von unseren Königen beschworenen Friedens sind tot. Sie waren diejenigen, die diesen Frieden weder gewollt noch anerkannt haben und ihn ständig zu brechen trachteten“, erklärte Balian. „Damit dürften die Karawanenrouten wieder sicher geworden sein. Gleichwohl biete ich an, eure Karawanen durch unsere Gebiete von unseren Rittern eskortieren zu lassen.“
„Ich verstehe dich so, dass die Gebiete, die ihr seit dem ersten Eindringen von euch Kreuzrittern erobert habt, für euch behalten wollt. Ist das so?“, halte Imad nach.
„Das stimmt. Die Gebiete – das Fürstentum Antiochia, die Grafschaft Tripolis und das Königreich Jerusalem – sollen als christliche Herrschaftsgebiete bestehen bleiben. Noch besser wäre es, wenn die Grafschaft Edessa auch wieder christlich werden würde“, erwiderte Balian und nahm sich ein Stück Huhn, erneut ohne hinzusehen.
„Nun, wir hätten gern alles zurück, was ihr erobert habt. Ich habt das Land zu verlassen und zu schwören, dass ihr nie wieder zurückkehrt“, gab Imad die Vorstellung des Sultans wieder.
„Das heißt, ihr wollt behalten, was ihr ebenso gewaltsam erobert habt“, stellte Balian fest. Imad nickte.
„Dann frage ich: Mit welchem Recht beansprucht ihr dieses Land?“
„Allah hat es uns gegeben“, erwiderte Imad.
„Wenn es danach ginge, wären wohl die Juden die einzig rechtmäßigen Herren dieses Landes“, bemerkte Balian.
„Die Juden? Wieso gerade sie?“
„Weil dieses Land ihnen von Gott persönlich versprochen wurde. So steht es in der Schrift.“
„Nun, Allah hat zugelassen, dass es uns zufiel“, erwiderte Imad.
„Er hat auch zugelassen, dass wir es erobern konnten“, schmunzelte Balian. „Wieso sollten wir es also hergeben?“
„Weil wir vor euch hier waren“, behauptete Imad.
„Als ich dich besucht habe, haben wir schon mal über das Thema gesprochen. Juden und Christen haben hier schon gelebt, als es den Islam noch gar nicht gab, mein Freund. Ihr habt das Land erobert und die seinerzeitigen Herren verjagt. Wir haben es zurückerobert. Also gehört es nun wieder uns. Welchen Grund sollten wir haben, euch das Land zu überlassen, auf dem unser eigener Glaube entstand?“, entgegnete Balian.
„Allah hat uns den Auftrag gegeben, den Islam überall in der Welt zu verbreiten. Und er hat uns den Auftrag und das Recht gegeben, über alle zu herrschen. Juden und Christen dürfen hier leben, aber nicht herrschen. Dieses ist allein das Recht der Muslime“, erwiderte Imad bestimmt. Balian sah ihn eine Weile an und suchte nach einer Antwort auf diese kühne Forderung.
„Wenn ihr auf einem allumfassenden Herrschaftsanspruch besteht und eine jüdische oder christliche Herrschaft hier keinesfalls akzeptieren könnt, dann wird es einen Frieden nicht geben“, sagte er schließlich. „Wir werden den bestehenden Frieden nicht brechen und haben jene, die Krieg wollten, dafür bestraft. Ich würde es bedauern, wenn wir erneut gegeneinander kämpfen müssen, weil ihr dieses Land erobern wollt, denn freiwillig werden wir es nicht hergeben. Auch wir Christen haben den Auftrag Gottes, unseren Glauben über alle Welt zu verbreiten. Du weißt auch, dass hier keine erzwungenen Christianisierungen gegeben hat, nachdem wir das Land erobert hatten. Dier ersten Kreuzritter haben in Jerusalem ein entsetzliches Blutbad angerichtet, aber diese Leute sind längst ebenso tot wie ihre damaligen Opfer und die Überlebenden jenes Massakers. Die Christen, die heute hier leben, haben euch nichts weggenommen und lassen euch euren Glauben.“
„Die al-Aqsa-Moschee und der Felsendom sind von den Templerhorden entweiht worden. Das eine ist ein Pferdestall, das andere eine Kirche geworden. Nennst du das uns unseren Glauben lassen?“, entfuhr es Imad bissig. Balian lächelte sanft. Er schenkte sich und Imad noch Tee nach und nahm ein Stück Lamm.
„An der Stelle, an der der Felsendom und die al-Aqsa-Moschee stehen, stand bis zum Jahr 70 unserer Zeitrechnung der jüdische Tempel“, begann Balian, als er den Bissen heruntergeschluckt und mit einem Schluck Tee nachgespült hatte. „Dann wurde der Tempel von den Römern zerstört. Aber es blieb eine jüdische Kultstätte, auch wenn ihnen nie erlaubt wurde, wieder einen Tempel zu bauen. Eigentlich haben weder eine Kirche noch eine Moschee dort oben etwas zu suchen.“
„Aber von dort aus zeigte Allah Mohammed in der Nachtreise die ganze Welt“, widersprach Imad.
„Woher wisst ihr das? Im Koran wird Jerusalem nicht ausdrücklich als Ort der Nachtreise erwähnt“, gab Balian zu bedenken.
„Das ist auch schwerlich möglich, weil der Koran eher entstand als Mohammed die Nachtreise unternahm. Nein, das ergibt sich aus unserer Überlieferung“, erklärte Imad.
„Und diese Überlieferung ist unumstößlich wahr?“, hakte der christliche Graf nach.
„Was lässt dich glauben, sie könnte unwahr sein?“
„Menschen erzählen Überlieferungen, schreiben sie irgendwann auf. Menschen können irren oder auch bewusst lügen, um mit der Überlieferung Ansprüche zu begründen. Eine Überlieferung kann wahr sein, muss es aber nicht. Wir haben heute keine Möglichkeit zu überprüfen, ob das, was in der Überlieferung gesagt oder geschrieben ist, tatsächlich stattgefunden hat oder ob es erfunden ist. Wir können es heute nur glauben oder eben nicht“, erwiderte Balian.
„Und du glaubst es nicht?“, fragte Imad.
„Euer Glaube ist im Süden Arabiens entstanden, nicht in Palästina. Es gibt eine Menge Berge zwischen Jerusalem und Mekka, die auch höher sind als der Tempelberg. Wenn Gott Mohammed die ganze Welt zeigen wollte, hätte er das auch von jedem anderen Berg tun können. Wieso ausgerechnet vom Tempelberg, wenn der Berg Sinai Mekka deutlich näher ist – oder irgendein anderer hoher Berg dort in der Nähe? Nein, mein Freund, mit kommt der Verdacht, eure Überlieferung will damit Anspruch auf dieses Land begründen, weil es fruchtbarer ist, als die Wüste, in der euer Glaube entstand. Weil sich hier Handelswege kreuzen und das Meer mit seinen Schifffahrtswegen nach Europa recht nahe ist.“
„Aber auf dem Tempelberg befindet sich im Fels der Fußabdruck des Propheten, den er am Beginn der Nachtreise dort hinterließ“, beharrte Imad.
„Ich war in der Kirche dort. Da ist kein Fußabdruck.“
„Er befindet sich unter dem Stein, den ihr dort über dem Abdruck errichtet habt, um ihn zu verstecken“, hielt der Muslim dem Christen vor.
„Man sagte mir, der Altar – so nennen wir diesen Stein – sei an der Stelle errichtet worden, an dem Abraham seinen Sohn Isaak opfern sollte. Das ist auch der Grund, weshalb Salomon den Tempel dort errichten ließ.“
Imad grinste nun seinerseits.
„Das behaupten die jüdischen Schriften aber nicht. Jedenfalls nicht ausdrücklich. Und die sind die Grundlagen des jüdischen Glaubens“, versetzte er.
„Gut, auch das ist Überlieferung“, räumte Balian ein. „Kann also wahr sein, muss aber nicht. Wahr ist aber, dass an dieser Stelle der jüdische Tempel stand. Und ob ein Prophet so hart auf einen Felsen treten kann, dass er seinen Fußabdruck hinterlässt, wage ich zu bezweifeln. Dass Gott selbst so hart treten kann, könnte ich glauben, aber ein Mensch – und das war Mohammed – kann das nicht“, entgegnete er.
Imad wusste darauf zunächst keine Antwort, also herrschte eine Weile Schweigen.
„Und ihr? Womit begründet ihr euren Herrschaftsanspruch über Palästina?“, fragte Imad schließlich.
„Zum einen mit der Tatsache, dass wir schon vor euch hier gelebt haben, zum anderen damit, dass unsere heiligen Stätten hier liegen und Christen sie offenbar nur ungestört aufsuchen können, wenn wir selbst die Herren dieses Landes sind“, erwiderte Balian.
„Nun, wenn wir es ganz genau nehmen, habt auch ihr dieses Land gewaltsam erobert – in Gestalt der Römer, die die Griechen unterwarfen, die zuvor die Perser unterworfen hatten. Und die hatten davor die Babylonier besiegt, die ihrerseits die Juden besiegt und verschleppt hatten. Und die Juden? Die haben gegen die Philister und die Kanaaniter Krieg geführt, die hier zuvor lebten. Wenn also nur jene herrschaftsberechtigt sein sollen, die ursprünglich hier gesiedelt haben, dann sind es doch wohl Kanaaniter und Philister“, gab Imad zu bedenken. Balian schmunzelte.
„Also weder ihr noch wir“, stellte er fest. „Dann sollten wir hier alle verschwinden und das Land den Kanaanitern und Philistern überlassen, Kennst du welche?“
„Äh, nein. Du?“
„Nein, ich kenne ebenfalls keine. Aber wenn sie die Einzigen sind, die hier Land beanspruchen können, sind es weder wir noch ihr oder die Juden, die seit über zweitausend Jahren hier gelebt haben“, konstatierte Balian. „Ich denke, mit religiösen oder geschichtlichen Begründungen werden wir zu keinem für deinen oder meinen König annehmbaren Ergebnis kommen. Wir sind hier, ihr wollt hier hin. Wie können wir uns dieses Land in Frieden teilen?“
„Eine pragmatische Lösung?“, fragte Imad. „Was schlägst du vor?“
„Ich werden den König bitten, die Templer vom Tempelberg zu vertreiben. Da der Berg sowohl für Juden als auch Muslime heilig ist, werde ich ihn ferner darum bitten, euch die al-Aqsa-Moschee zurückzugeben und den Felsendom den Juden zu überlassen. Unsere wesentlichen Heiligtümer sind die Grabeskirche und der Berg Golgota. Am Tempelberg haben wir also kein religiöses Interesse. Ihr bekommt ebenso wie die Juden uneingeschränkten Zugang zum Tempelberg und damit natürlich nach Jerusalem. Ich werde ihn ferner bitten, dass ihr im Hafen von Jaffa eigene Verladeplätze erhaltet, damit ihr wieder Handel über das Mittelmeer treiben könnt. Dazu will ich euch ein Wegerecht von der Grenze über Jerusalem bis nach Jaffa erbitten. Den Schutz der Karawanen übernehme ich mit den Jerusalemrittern und meinen Ibelinern. Meine Karawanserei steht euch natürlich zur Verfügung. Meinen Onkel in Nablus könnte ich vielleicht überreden, seine Karawanserei ebenfalls für eure Transitkarawanen zu öffnen. Für meine Lehen kann ich garantieren, dass Muslime und Juden dort ihren Glauben frei ausüben dürfen und auch Gebetsräume errichten dürfen, sofern noch keine existieren“, bot Balian an.
„Sag, mein Freund: Dein König ist todkrank. Er wird nicht mehr lange leben. Dein neuer Sohn wird ihn beerben, aber er wird von seiner Mutter oder von dir vertreten. Weshalb musst du deinen König dann noch fragen?“, wunderte sich Imad.
„Nehmen wir mal an, der König setzt mich zu seinem Bailli ein. Dann könnte ich – in Absprache mit Sibylla als Mutter des künftigen Königs – diese Vorschläge auch durchführen. Wäre das eine Grundlage für einen dauerhaften Frieden zwischen uns?“
Imad sah seinen christlichen Freund verblüfft an.
„Und … könntest du auch Muslime oder Juden mit einem Lehen versehen?“, fragte er. Balian lächelte sanft.
„Nach eurer Auffassung hätten weder Juden noch Christen ein Herrschaftsrecht. Das Königreich Jerusalem ist ein christliches Reich und soll es auch bleiben. Ich selbst hätte mit einem muslimischen oder jüdischen Baron kein Problem. Aber ich weiß nicht, ob die Versammlung aller Grafen und Barone Jerusalems das mittragen würde. Derr Herr über Jerusalem ist kein so absoluter Herr wie dein Sultan“, erklärte Balian. Imad seufzte.
„Auch der Sultan von Damaskus und Ägypten ist kein absoluter Herrscher. Saladin ist ebenfalls von der Zustimmung seiner Emire und der Imame abhängig“, sagte er. „Die Imame wollen Jerusalem – und zwar ganz und gar. Salahadin hat ihnen versprochen, Jerusalem zurückzuerobern. Sie werden ihn nicht aus diesem Versprechen entlassen. Sie wollen die Herrschaft des Islam und werden davon nicht abrücken.“
„Das heißt doch eigentlich: Egal, was Saladin zusagt, sie werden sich daran nicht halten. Verstehe ich dich richtig?“
„Genau.“
„Dann sage deinem Sultan, er möge seine Fanatiker ebenso bestrafen, wie wir es schon getan haben. Ohne diese religiösen Fanatiker ist dieses Land besser dran. Dann können wir es uns wirklich in Frieden teilen“, sagte Balian. „Das Fürstentum Antiochia, die Grafschaft Tripolis und das Königreich Jerusalem bleiben in ihren jetzigen Grenzen christliches Land. Ihr behaltet Syrien, erhaltet Zugang zu euren heiligen Stätten in diesen Landen, wir verzichten auf Edessa. Ich sage euch die Nutzung von Jaffa als Handelshafen am Mittelmeer zu, einschließlich der Garantie, eure Karawanen in beide Richtungen sicher passieren zu lassen. Ihr eurerseits richtet Verladeplätze für christliche Schiffe in Eilat am Roten Meer ein und garantiert unseren Karawanen, sicher dorthin und wieder zurück zu gelangen. Ihr lasst unsere Schiffe Mekka und Medina unbehelligt passieren, wir garantieren, dass unsere Schiffe keine arabischen Häfen anlaufen und deren Besatzungen eure heiligen Städte nicht betreten.“
„Ich will es ihm so bestellen“, versprach Imad.
Am folgenden Tag verließ er Ibelin. Zwei Wochen später kehrte er zurück und brachte eine Urkunde des Sultans mit, in der Salahadin die Angebote und Forderungen Balians bestätigte und mitteilte, dass er unter den angebotenen Voraussetzungen das Königreich Jerusalem, das Fürstentum Antiochia und die Grafschaft Tripolis als christliche Reiche anerkenne und seine Nachfolger verpflichten werde, diesen Vertrag zu achten, wenn auch die christlichen Herrscher die jetzigen Grenzen als endgültige Grenzen akzeptierten.
Der Urkundentext war arabisch – sowohl von der Sprache als auch der Schrift, in der er verfasst war. Dennoch konnte König Balduin IV. ihn lesen und verstehen, als Balian ihm die Urkunde übergab. Der König sah seinen Schwager lange an.
„Knie nieder!“, befahl er. Gehorsam kniete der Graf von Jaffa vor dem königlichen Thron nieder.
„Balian von Ibelin und Jaffa, du sollst mein Thronerbe sein. Wenn ich sterbe, wirst du der König von Jerusalem sein. Erhebe dich als Kronprinz von Jerusalem!“, sagte der König voller Freude und Stolz, seinem Reich einen so würdigen Nachfolger geben zu können.
Der Thronsaal, in dem Balian, Sibylla, Balduin junior, Raymond von Tiberias und der Lateinische Patriarch von Jerusalem standen, löste sich vor den Augen des Königs auf. Er nahm einen roten Nebel wahr, der sich nur zögernd lichtete, als der todkranke König die Augen aufschlug und sich in seinem Bett wiederfand.
Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er – vom zweiten Gespräch mit Balian bis zu dessen Erhebung zum Kronprinzen Jerusalems – alles nur geträumt hatte. Dann fiel ihm ein, dass er noch einen heftigen Wortwechsel zwischen Raymond und Balian gehört hatte, dass Balian nur einem Königreich des Gewissens dienen wollte – oder gar keinem. Balduin wusste plötzlich, dass sein Traum nicht mehr Realität werden konnte, weil Balian Jerusalem längst verlassen hatte. Der sterbenskranke König wusste, dass seine Zeit ablief und Balian nicht mehr rechtzeitig zurückkehren könnte, um nochmals mit ihm zu reden. Instinktiv wusste, er, dass Jerusalems Schicksal als christliches Königreich damit besiegelt war. Ihn verließ der Rest von Lebensmut.
Wenige Tage danach, am 16. März 1185, schloss Balduin IV. von Jerusalem für immer die Augen und ging auf den Pfad in den Himmel.
Ende
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