SOL 3 = Erde Teil 3 – Der Transponderschwindel

Kapitel 1

Rückkehr zur Erde

Die Ganymed erreichte den Erdorbit. Thomas und Gabi waren auf der Brücke und sahen das gewaltige Bauwerk des terranischen Orbitaldocks auf dem Hauptbildschirm des Kreuzers. Es sah aus wie ein gigantischer Kreisel, bei dem die Spitze nach Süden zeigte und das breite Ende nach Norden wies. Oder wie ein überdimensionaler Pilz, der noch einen zweiten Hut mit etwas geringerem Durchmesser in der Mitte des Stiels hatte. Mit dreißig Kilometer Länge zwischen dem Pilzhut und der Wurzelspitze und einem Durchmesser von fünf Kilometern in der größten Breite der oberen Orbitalstation war das terranische Orbitaldock nicht nur eines der größten in der Föderation, es war auch das modernste – wenn es auch einige nicht ganz so neue Elemente hatte. Die Raumstation MIR der früheren Sowjetunion war in das Dock integriert worden. Im Gegensatz zur früheren irdischen Raumfahrt herrschte jetzt aber in der Station künstliche Schwerkraft. Das Dock umkreiste die Erde geostationär über dem nördlichen Afrika. Das Schauspiel der wirbelnden Wolkenmassen war von der Raumstation aus besonders schön sichtbar. Gerade bildete sich über dem Atlantik, etwas südlich von Island, ein neues Tief. Der Tiefdruckwirbel war eine riesige Spirale, deren Enden von Kanada bis nach Südspanien reichten.

„Wie ich diesen Anblick vermisst habe!“, seufzte Gabi. „Megara ist richtig langweilig mit seinen einförmigen Wetterlagen. Norddeutsche Stürme habe ich schon lange nicht mehr im Gesicht gehabt.“

„Darauf kann ich immer noch gut verzichten. Hoffentlich hat mein Dach in den letzten zwei Jahren gehalten“, erwiderte Thomas, ebenfalls seufzend. Sie sahen sich lächelnd an. Aus ihrer Liebe machten sie kein Geheimnis, und die Besatzung der Ganymed war von Hugh Fowler schonend darauf vorbereitet worden, dass Françoise Debussy sich sehr verändern würde – nicht nur namentlich.

Fowler grinste und drehte sich zu seinem Kommunikationsoffizier um.

„Ryan, einen Kanal zum Dock“, wies er den Leutnant an.

„Verbindung steht, Sir.“

„Kreuzer Ganymed unter Commander Fowler erbittet Einflugkoordinaten für Erdorbitaldock“, meldete sich der Kommandant.

„Hier Orbitaldock SOL3. Wir haben Sie im Leitstrahl für das Dock 14. Schalten Sie die Antriebsenergie ab und gehen Sie auf Automatik.“

„Danke, Orbitdock. Antriebsenergie ist aus, Steuerung ist auf Automatik. Holt uns sauber ‘rein!“, gab der Kapitän zurück. Auf der Steuerkonsole erlosch die Kontrolllampe für die Impulstriebwerke, dafür leuchtete die Automatikkontrolle auf. Der Steuermann lehnte sich entspannt in seinem Sessel zurück.

„Ich beneide dich, Tommy“, seufzte er. „Drei Monate Urlaub! Hältst du das überhaupt aus?“

„Von wegen Urlaub!“, spottete Thomas. „Die meiste Zeit werden wir wohl im Krankenhaus und in Reha-Kliniken verbringen, fürchte ich. Gabi wegen der Gesichtsoperation und ich wegen der verdammten Plasmis. Schon die Vorbereitungen in Sachen Gesichtsoperation werden ein paar Wochen komplett ausfüllen. Von der ganzen Zeit werden uns vielleicht drei Wochen echte Erholung bleiben“, orakelte er düster. „Vor allem muss endlich geklärt werden, wer uns eigentlich im Rat vertritt. Die Arbeit kann schließlich nicht so lange liegen blieben.“

„Wohin wollt ihr zuerst?“, erkundigte sich Fowler.

„Nach New York, zum Chef“, erwiderte Gabi. Hugh sah sie nachdenklich an.

„Lass es“, sagte er dann. „Ich habe vernommen, dass die UNO mit Butros Butros-Ghali einen neuen Generalsekretär hat. Vielleicht wäre es besser, wenn er gar nicht mehr Françoise Debussy kennen lernt, sondern gleich Gabriele Hansen – mitsamt neuem Gesicht“, empfahl er dann.

Einige Stunden später saßen Thomas und Gabriele dann doch im Büro des UN-Generalsekretärs.

„Danke, dass Sie gleich nach Ihrer Ankunft auf der Erde hergekommen sind“, begrüßte der Ägypter sie. „Mein Vorgänger Perez de Cuellar hat mir Ihre Berichte weitergegeben. Ich bin sehr dankbar, dass wir ein so erfolgreiches Duo im Raum haben.“

„Eigentlich war von einem Quartett die Rede, Mr. Secretary“, lächelte Thomas freundlich. „Wir sollten eigentlich jeder einen Stellvertreter haben. Uns ist bekannt, dass die ursprünglich dafür vorgesehenen Personen wegen anderer Verpflichtungen die Aufgabe nicht übernommen haben. Wer vertritt uns nun?“

„Ja, die UN haben sich die Sache nicht einfach gemacht. Aber nun kann ich Ihnen Ihre Stellvertreter vorstellen. Es handelt sich um einen britischen Parlamentsabgeordneten, Mr. Theodore Jordan von der Conservative Party und um eine senegalesische Menschenrechtlerin, Madame Sarouna Adougou. Es hat uns viel Mühe gekostet, eine geeignete Mischung zu finden, ohne eine Bevorzugung bestimmter Völker vorzunehmen.“

„Der Proporzgedanke ist einfach nicht auszutreiben!“, seufzte Thomas. „Na schön. Wir werden sie instruieren, damit sie einen entsprechenden Wissensstand über die derzeitige politische Lage in der Föderation haben. Wie ist die allgemeine Weltlage?“, fragte er dann. Butros-Ghali seufzte tief und winkte ab.

„Fragen Sie lieber nicht! Es gibt zwar keine Nationalstaaten mehr, aber der Weg bis zu einer wirklich geeinten Welt ist weit. Ich bin nur froh, dass es Ihnen gelungen ist, die Drohung der Vernichtungsflotte von uns zu nehmen. Noch haben wir nicht alle Vorbehalte beseitigt, die die Völker untereinander haben – siehe Mischung der Ratsvertretung. Die Vereinigung der einzelnen Staaten hat große wirtschaftliche Probleme geschaffen, weil sich die Wirtschaft früher fast blind darauf verlassen konnte, dass, wenn ein Staat ihrer Ansicht nach zu viel Steuern nahm, sie in den nächsten wandern konnte. Jetzt bauen wir eine einheitliche Wirtschaftsstruktur auf, die zu einer gewissen Nivellierung der Weltwirtschaft führen wird. Heißt im Klartext: Die einst superreichen Staaten müssen abgeben, die ärmeren Staaten stellen keine Billiglohnländer mehr dar. Gewisse Produkte, die früher in Taiwan oder in der Volksrepublik China äußerst billig hergestellt wurden, haben jetzt einen Preis, den das Produkt auch im früheren Italien gekostet hätte. Sie sind dadurch zwar erheblich teurer geworden, gleichzeitig aber entfallen Transportkosten, weil nun im Lande selbst hergestellt wird. Ausnahmen gibt es natürlich immer noch – wie zum Beispiel die Chipherstellung, die heute nahezu ausschließlich auf das Silicon-Valley in Kalifornien beschränkt ist, einfach, weil dort die Materialien und das Know-how zur Verfügung stehen.

Was es zum Glück nicht mehr gibt, sind Ressourcen-Streitereien. Sämtliche Bodenschätze dieser Welt wurden unter die direkte Aufsicht der UN gestellt, damit nie wieder um solche Dinge ein Streit unter Völkern entstehen kann und damit nie wieder einzelne Konzerne in der Lage sind, ganze Völkerstämme zu erpressen. Schürfkonzessionen werden nur noch an Firmen vergeben, die nachweisen, dass sie Arbeitsplätze schaffen, Einheimische einstellen und die Umweltschutzvorschriften genauestens beachten. Auf diese Weise haben wir schon eine Menge Regenwald retten können, der sonst Brandrodungen zum Opfer gefallen wäre.

Es wird sicher noch einige Jahre dauern, bis alle Verwerfungen der Umbruchszeit bereinigt sind, aber dann werden wir auf der Erde das haben, was sich schon viele, als größenwahnsinnig verschriene Politiker vorgestellt haben: Eine Welt, in der für alle die gleichen Rahmenbedingungen herrschen.

Aber es wird noch viel Nerven und in manchen Regionen auch soziale Sicherheit kosten – dafür werden andere erstmals erfahren, was soziale Absicherung überhaupt bedeutet und wie wichtig sie für einen Menschen ist. Positiv wirkt sich aus, dass nunmehr überall gleichermaßen scharfe gesetzliche Bestimmungen hinsichtlich des Umweltschutzes bestehen, die auch in gleichem Maße überwacht werden. Das war vor allem für die Staaten der früheren Dritten Welt eine große Umstellung.

Ein Weiteres haben die Außerirdischen erreicht: Technologischer Fortschritt wirft nicht immer nur den Verdacht einer neuen Gefährdung auf. Dank deren Errungenschaften gibt es endlich sichere Kernkraftwerke, womit die Energieversorgung von Millionen von Menschen über lange Zeiträume gesichert ist. Unsere malagrivischen Freunde konnten uns mit einer Fusionstechnologie ausstatten, die wirklich nur für eine normale Energiegewinnung taugt, nicht waffenfähig ist und in der Plutonium einfach nicht anfällt. Sogar für die Endlagerung der bisher angefallenen Kernabfälle hat sich eine Lösung gefunden. Sie werden jetzt auf einem Marsmond in ungefährliche Stoffe zerlegt und können dann in anderen Technologien gefahrlos weiterverarbeitet werden.

Was gewisse Sorgen bereitet, ist die immer mehr ausufernde Roboterproduktion. Das kostet menschliche Arbeitsplätze in ungeheuren Ausmaßen. Die Industrie reibt sich natürlich die Hände, denn Maschinen – speziell solche mit künstlicher Intelligenz – kosten nur die Anfangsinvestition und später nur geringe Wartungskosten, brauchen weder Urlaub noch Wochenende, können vierundzwanzig Stunden am Tag und sieben Tage die Woche arbeiten. Es gibt natürlich auch Militärs, die meinen, man könnte auch auf der Erde gut Kampfroboter einsetzen. Das hat die UN-Vollversammlung – Gott sei Dank – verhindern können. Aber die Industriebosse picken immer weiter und hoffen, die Regionalchefs – früher Staatschefs – doch noch mürbe zu machen“, erklärte Butros-Ghali. Ein leiser Seufzer mischte sich hinein. Leicht hatte der Mann als Chef der Weltregierung es gewiss nicht. Thomas und Gabi nahmen die Ausführungen des Regierungschefs dennoch mit einiger Freude zur Kenntnis, bedeutete eine Einheit der Erde doch endlich, dass Krieg auf der Erde – hoffentlich – ausgestorben war.

Wenig später hatten Thomas und Gabi ihre Vertreter über die Lage der Föderation aufgeklärt und sie mit der derzeitigen politischen Situation vertraut gemacht, dann flogen sie nach Hamburg weiter.

Schon aus der Luft war erkennbar, dass der Flughafen sich sehr verändert hatte. Neben den Flugsteigen für die herkömmlichen Flugzeuge gab es auch ein Landefeld für Raumschiffe, die klein genug waren, um auf einem Planeten wie der Erde zu landen. Auf dem Raumhafen herrschte fast größerer Betrieb als auf dem eigentlichen Flughafen. Transporterfähren in unterschiedlichen Größen, von staatlichen wie von privaten Gesellschaften bewegten sich dort in großer Zahl.

Thomas sah das Treiben beim Landeanflug mit einem melancholischen Lächeln. Hätte er das, was er dort unten auf dem Hamburger Raumhafen sah, vor drei Jahren in der Öffentlichkeit behauptet, wäre er ohne langes Federlesen in der psychiatrischen Klinik Ochsenzoll* gelandet. Und jetzt tummelten sich dort unten Raumschiffe, wie er es sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt hatte. Kontrollen gab es am Flughafen weiterhin, auch wenn der die früheren irdischen Staaten einer Zollunion vereinigt waren. Zollpflichtig blieben aber bestimmte Güter aus dem Raum, ganz besonders solche, deren Wirkung auf die Bewohner der Erde noch nicht ganz bekannt war. Diese Dinge wurde einstweilen in Quarantänekammern am Flughafen verschlossen, bis ihre Ungefährlichkeit nachgewiesen war.

Eine der größten Änderungen bekamen die Hansens zu sehen, als sie einen Mietwagen nehmen wollten. Kraftfahrzeuge, so wie sie sie gekannt hatten, gab es kaum mehr. Auf der Erde hatte sich der Gleiter durchgesetzt. Zugegebenermaßen hatten die irdischen Gleiter sehr viel Ähnlichkeit mit den alten Kraftfahrzeugen, basierten sie doch auf den alten Karosserien, die einfach nur kein Fahrgestell mehr hatten. Dank der technologischen Entwicklung der Deneber gab es so gute Energiezellen, dass man auf der Erde ein umfassendes Netz von Magnetstraßen hatte bauen können. Bereits fertige Asphaltstraßen waren umgerüstet worden.

Thomas mietete also einen zweisitzigen Gleiter der Firma Volkswagen und steuerte in Richtung Autobahn A 7, um in sein Haus in der Heide zu fahren. Als er den Gleiter dort auf seinem alten, immer noch ölfleckigen Parkplatz abstellte und er und Gabi ausstiegen, bemerkten sie, was ihnen bisher gefehlt hatte, ohne dass sie recht wussten, was es gewesen war: Der früher allgegenwärtige Geruch von Benzin, Abgasen und Öl. Damals hatte man diesen Geruch gar nicht wahrgenommen, aber jetzt, wo es praktisch keine Verbrennungsmotoren mehr gab, fiel er in der geringen Konzentration, in der er um das alte Heidehaus vorhanden war, doch auf.

Gabi lächelte.

„Es riecht nach zu Hause“, sagte sie. „Komisch, früher hätte ich immer gesagt, dass in der Heide eine viel bessere Luft ist als in Hamburg.“

Thomas schloss den Gleiter ab, kam um das Fahrzeug herum und umarmte Gabi.

„Willkommen zu Hause“, lächelte er und küsste sie.

„Ich werd’ bestimmt eine ganze Woche schlafen!“, lachte sie auf. „Diese Zeitunterschiede kann ich immer noch nicht verknusen*.“

„Moin, moin*, Herr Hansen!“, kam es von der anderen Seite des Zaunes. Thomas drehte sich um und sah seine Nachbarin, Frau Möller, dort stehen.

„Moin, moin, Frau Möller. All’ns kloor*? „

„Ich hab’n büschen*für Sie eingeholt, Herr Hansen. Woll’n Sie das gleich abholen?“

„Ja, ich komm’ gleich ‘rüber, danke“, rief Thomas zurück. „Packen wir aus, dann hole ich die Lebensmittel ab“, wandte er sich an Gabi. Sie nickte.

Etwas später hatte Thomas den Einkauf von Frau Möller abgeholt, sie hatten sich in seinem Haus wieder eingerichtet. Obwohl es erst früher Nachmittag war, waren sie beide von der langen Reise doch so müde, dass sie sich erst gründlich ausschlafen wollten, bevor sie daran gingen, ihre weiteren Schritte zu planen.

Am folgenden Tag begann Thomas mit diversen Telefonaten bei Behörden und Ärzten, um Termine zu bekommen. Der erste Termin musste notwendigerweise beim Gehirnspezialisten sein, denn ohne den Nachweis, dass Gabi unter Amnesie gelitten hatte, konnte sie kaum zu ihrer früheren Identität zurückkehren. Thomas fand einen Eintrag, der auf einen sulukanischen Arzt hinwies. Dr. Zerno hatte seine Praxis am Herwardeshuder* Weg, ganz in der Nachbarschaft ihrer früheren gemeinsamen Arbeitsstelle.

„Praxis Dr. Zerno, Maas, guten Morgen“, meldete sich die Sprechstundenhilfe.

„Guten Morgen, Frau Maas, Hansen ist mein Name. Ich bräuchte einen Untersuchungstermin wegen einer Amnesieanalyse.“

„Für Sie selbst?“

„Nein, für meine Frau. Gabriele Hansen.“

„War sie schon einmal bei uns?“

„Nein.“

„Passt Ihnen morgen Vormittag? Oder wollen Sie lieber am Nachmittag?“, fragte die Sprechstundenhilfe.

„Vormittag passt gut. Welche Uhrzeit?“

„Halb elf?“

„In Ordnung. Wir sind da.“

„Wir brauchen eine Überweisung vom Hausarzt. Haben Sie die?“

„Ja, bringen wir mit.“

„Gut, bis morgen.“

„Danke, wiederhören.“

Thomas legte auf.

„Mann, wo schreib’ ich das hin? Ein Arzt, der am nächsten Tag einen Termin frei hat!“, murmelte er verblüfft. „Gabimaus! Es wird ernst!“, rief er dann. „Ich hab’ für morgen einen Termin beim Gehirnklempner!“

Dr. Sika Zerno war eine Ärztin vom Volk der Sulukaner, hatte demzufolge violette Haut und ungefähr die Größe und die Gestalt eines Erdmenschen. Was sie von einem Erdmenschen aber deutlich unterschied, war das dritte Auge über der schmalen und sehr kurzen Nase. Dieses Auge jedoch hatte keine dunkelgrüne Iris, wie sie sonst den Sulukanern eigen war, sondern war vollständig schwarz und glänzte fast übernatürlich. Mit diesem Auge nahm ein Sulukaner nicht visuell, sondern mental wahr, konnte mit diesem Empfänger Gedanken lesen. Sulukanische Ärzte waren deshalb praktisch überall im Bereich der Galaktischen Föderation als Gehirnspezialisten tätig. Das vollständig weiße Haar bedeutete bei einer Sulukanerin, dass sie jung war. Erst mit wenigstens achtzig Erdjahren bekamen Sulukaner den violetten Altersschimmer im Haar.

Dr. Zerno lächelte freundlich, als Thomas und Gabi das Ordinationszimmer betraten. Sie war es gewöhnt, dass jemand, der sich von ihr untersuchen ließ, in der Regel in Begleitung kam. Gabi stellte ihr Anliegen vor.

„Es geht Ihnen also darum, gegebenenfalls den Nachweis zu führen, dass Sie unter einer derartigen Amnesie gelitten haben, dass Sie sich für eine andere Person gehalten haben. Habe ich das so richtig verstanden?“, fasste die Ärztin zusammen. Gabi nickte.

„Ja, das ist so richtig“, bestätigte sie.

„Gut. Da die Sache aber so lange zurückliegt, werde ich sehr lange in ihrer Erinnerung suchen müssen, bis wir den richtigen Zeitpunkt gefunden haben. Das wird mehrere Stunden in Anspruch nehmen.“

„Kann mein Mann hierbleiben? Es wäre mir sehr wichtig“, bat Gabi.

„Nein, ich muss mich vollständig auf Sie konzentrieren, Frau Hansen. Aber ich verspreche Ihnen, dass Ihr Mann hier ist, wenn in die Hypnose fallen und wenn Sie daraus wieder aufwachen. Dazwischen kann er Ihnen ohnehin nicht behilflich sein, würde mich aber in der Konzentration behindern.“

Gabi war unsicher, aber Thomas’ sanfter Händedruck gab ihr wieder die nötige Kraft.

„Ich bleibe auf jeden Fall in der Nähe und nehme den Kommunikator mit. Falls etwas passiert, kann Dr. Zerno mich jederzeit rufen. Gut?“, bot er leise an. Gabi nickte.

Dr. Zerno bat sie auf eine bequeme Liege, setzte selbst eine Kappe mit einer Unzahl von Kabeln auf und verteilte die verschiedenen Elektroden an Gabis Stirn und auf ihrem Kopf.

„Wozu brauchen Sie die Kappe?“, fragte Gabriele besorgt. „Ich dachte, Sie können Gedanken lesen?“

Dr. Zerno lächelte.

„Das kann ich auch. Allerdings nur ihre gegenwärtigen Gedanken. Und ich erkenne in Ihren jetzigen Gedanken, dass Sie große Angst haben. Angst davor, dass ich Ihnen etwas suggeriere, was nicht wahr ist, Angst davor, dass ich Ihnen mit meinem Wissen, das ich aus Ihren Erinnerungen gewinne, schaden könnte. Als Ärztin unterliege ich der Schweigepflicht, darf also nur weitergeben, was Sie mir ausdrücklich erlauben. Und ich verspreche Ihnen, dass ich nie etwas von dem nutzen werde, was ich erfahren werde. Ich werde Ihnen auch nichts suggerieren, Sie werden sich selbst an etwas erinnern; etwas, das wirklich stattgefunden hat; etwas, das Sie als schön und angenehm empfunden haben. Was Ihren Gedächtnisverlust anbelangt, können Sie ebenso unbesorgt sein. Sie werden das auslösende Ereignis nicht nochmals erleben.“

„Irgendwie ist es mir unheimlich, dass Sie in meiner Erinnerung stöbern können, ohne dass ich etwas davon merke“, bemerkte Gabi mit trockener Kehle.

„Das geht nicht nur Ihnen oder anderen Menschen so, das ist jedem Wesen in der Galaxis unheimlich. Aber wir sulukanischen Gehirnspezialisten haben einen besonderen Eid geschworen, der uns verbietet, aus dem, was wir in den Gehirnen unserer Patienten erfahren, einen Nutzen für uns selbst oder für Dritte zu ziehen. Es fiele uns aber auch schwer, weil wir das, was wir im Gehirn lesen, nicht behalten können, sondern nach kurzer Zeit wieder vergessen“, erklärte die Ärztin. „Herr Hansen, setzen Sie sich bitte hierher und halten Sie Ihrer Frau die Hand“, bat sie dann Thomas und wies ihm einen Platz auf einem bequemen Schemel zu. Er setzte sich, nahm Gabis Hand, die die seine fest umkrampfte. Sie hatte schreckliche Angst. Dr. Zerno schloss die beiden Augen mit der sanften, grünen Iris, das schwarze, mentale Auge begann langsam zu pulsieren, als sie sich auf ihre Patientin zu konzentrieren begann. Allmählich wurde aus der tiefen, blanken Schwärze ein leuchtendes, dunkles Violett, dann ein strahlendes Königsblau. Gleichzeitig begannen die Verbindungskabel leicht bläulich zu schimmern.

Thomas spürte eine sanfte Berührung am Arm. Er sah auf. Die Sprechstundenhilfe stand neben ihm.

„Kommen Sie“, sagte sie leise. „Frau Doktor braucht jetzt ihre ganze Konzentration.“

Thomas löste ganz vorsichtig seine Hand aus Gabis, streichelte noch einmal sanft darüber und verließ dann auf Zehenspitzen das Ordinationszimmer.

„Wie lange wird die Untersuchung in etwa dauern?“, fragte er draußen.

„Wie lange liegt der Gedächtnisschaden zurück?“

„Zweieinhalb Jahre.“

„Das kann gut drei bis vier Stunden dauern.“

Thomas sah aus dem Fenster. Es war ein sonniger Maitag, es war um die Mittagszeit – eine gute Zeit, um im Alsterpark spazieren zu gehen. Thomas zog seinen Kommunikator aus der Tasche.

„Ich gehe in den Alsterpark. Falls etwas sein sollte, können Sie mich über die Ratsfrequenz erreichen“, sagte er. Die Sprechstundenhilfe nickte und die Tür klappte hinter Thomas ins Schloss.

Kapitel 2

Alte Bekannte

 

Thomas ging zu dem auf dem Parkplatz des Fährhauses am Herwardeshuder Weg abgestellten Mietgleiter, holte sich sein Lunchpaket und ging zu einer der Bänke am Alsterufer, wo er sich hinsetzte, die Zeitung las und einen Happen aß. Die Sonne war warm, und Thomas genoss es, nach langer Zeit die Strahlen einer Sonne einigermaßen ungefährdet auf sich scheinen zu lassen. Auf Palavor wäre das völlig undenkbar gewesen, er wäre nach wenigen Minuten wie ein Hähnchen gegrillt gewesen. Und auch Deneb hatte seine Tücken, die sich bei Terranern in einer fast chronischen Sonnenallergie niederschlug. Die UV-Strahlung war für Terraner einfach zu stark.

„Tommy? Bist du das wirklich oder hab’ ich Halluzinationen?“, störte ihn plötzlich eine ihm bekannte Stimme aus seinen Überlegungen und Träumen auf. Thomas blinzelte leicht sonnenblind und erkannte seinen früheren Kollegen Frank Eichner.

„Grüß’ dich, Frank. Ist schon Mittagspause?“, fragte er und klopfte einladend auf die Bank. Frank Eichner setzte sich prompt.

„Super, dass du wieder in Hamburg bist. Bleibst du länger?“

„Drei Monate wohl“, gab Thomas zurück. Frank druckste einen Moment.

„Ehrlich: Du und Gabi, ihr fehlt uns. Geht’s dir wieder einigermaßen?“

Thomas grinste.

„Mir ist es selten besser gegangen.“

„Nach Gabis Tod warst du völlig fertig. Hast du’s gepackt?“, erkundigte sich Frank. Thomas überlegte einen Moment, ob er Frank die Wahrheit sagen sollte. Sie kannten sich lange, hatten zusammen bei Sperling Assekuranz gelernt und bis zu Thomas’ Kündigung Tür an Tür gearbeitet.

„Manche Dinge sind nicht so wie sie scheinen, Frank“, sagte er schließlich. „Ich musste erst einen Ausflug zu den Sternen unternehmen, um wieder klar zu werden“, setzte er geheimnisvoll hinzu. Vielleicht war es im Moment besser, auch einem guten Freund wie Frank noch nicht alles zu erzählen. Frank nickte verstehend, obwohl er nicht ganz begriffen hatte, was Thomas meinte.

„Und was machst du, wenn dein Mandat abgelaufen ist? Kommst du wieder unter Papa Sperlings Fittiche?“, fragte er schließlich.

„Lebt unser alter Herr noch?“, erkundigte sich Thomas.

„Ist grad’ fünfundsiebzig geworden. War ‘ne Riesenparty im Haus. Jeder hat unser Firmenzeichen als Anstecknadel oder als Krawattenklammer bekommen. Die meisten haben sich eins gefeixt, aber manche tragen das Ding wie einen Orden.“

„Und wie sieht’s sonst so bei euch aus? Schadenmäßig meine ich.“

„Katastrophe!“, seufzte Frank. „Seit diese Gleiter mit den Prallfeldern in Mode gekommen sind, ist die K-Schaden*-Abteilung praktisch ausgestorben. Nein, grins’ nicht! Ich meine das ernst! Wir waren mal zwanzig Leute mit drei Großkopferten und Registratur. Hat sich was! Jetzt sind’s noch drei: Scheunemännchen als Abteilungsleiterin, Babsi Thomas und ein Azubi. Herr Nattermann ist in Pension, Straßner ist in den Schoß der Justiz zurückgekehrt. Andreas Tams versucht sich als Außendienstler, Sabine und ich sind in Transport-Schaden* umgezogen und so weiter und so weiter. Und was treibst du?“

„Im Moment bin ich noch im Galaktischen Rat, danach habe ich einen Job bei der Raumflotte“, erwiderte Thomas. Eichner grinste.

„Wenn du mir das bei deiner Kündigung gesagt hättest, hätte ich dich ausgelacht.“

„Logisch – wie jeder andere Terraner auch.“

„Und? Wie ist es bei der Flotte? Bundmäßig?“, fragte Eichner neugierig.

„Nein, weniger Brüllaffen“, gab Thomas zurück. „Ich habe es als Ratsmitglied allerdings ein bisschen besser, weil ich gleich als Leutnant eingestiegen bin.“

„Du siehst nicht nach Problemen aus. Gibt’s tatsächlich ‘ne Armee, in der es keine Probleme gibt?“

„Die Raumflotte ist ebenso wenig problemfrei wie andere Armeen – oder Firmen. Die Achte Flotte, zu der ich gehöre, wenn ich nicht beim Rat bin, hat zum Beispiel gewisse Probleme mit Kampfrobots. Die Mistkerle lassen sich auf dem Wüstenplaneten, wo wir stationiert sind, einfach nicht steuern. Wir vermuten zwar, dass ein Defekt der Steuerung Auslöser ist, aber gefunden haben wir bisher nichts“, sagte Thomas. Eichner bekam nachdenkliche Falten auf der Stirn.

„Einer unserer Versicherungsnehmer* – du weißt schon: Harkort AG – produziert Teile von Kampfrobotern. Ich glaube, auch die Steuerung.“

„Unter anderem diese“, gab Thomas zurück. „Aber die fehlerhaften Robots gibt es schon länger als Harkort die Lizenz dafür hat.“

„In der letzten Zeit dürfte er davon wenig produziert haben“, bemerkte Frank.

„Wieso?“

„Na, Harkort hatte einen saftigen Transportschaden. Denen sind ‘ne Menge Transponderchips abhanden gekommen. Stell’ dir vor: Schippert ein Containerfrachter durch den Ärmelkanal, es kommt ein schöner Südwest-Sturm und – schwupp – machen sich ein paar von den Blechdosen selbstständig und versinken einfach vor der Küste von Dover! Hat ‘ne Stange Geld gekostet. ‘Ne viertel Million Stück war nach den Frachtpapieren in dem Container drin, aber irgendwo an der Wattenmeerküste wurden zwei kleine Plastiktütchen mit insgesamt dreitausend Chipsen angeschwemmt. Nun liegen sie bei uns und wir versuchen gelegentlich welche als Provenuen* zu verkaufen. Aber bring’ mal Spezialchips unter die Leute! Der Einzige, der welche kauft, ist unser Hausmeister Hirte. Aber zufrieden ist er nicht damit.“

„Was für Chips sind das?“, hakte Thomas nach. Er war neugierig geworden.

„Transponderchips. So ‘ne Art kleiner Sender.“

„Und wofür verwendet Hirte die Dinger?“

„Harkort stellt nicht nur Roboter her, sondern auch Mobiltelefone und Cityrufempfänger. Hirte hat so einen Piepser, der auch einen solchen Chip hat. Irgendwann ist ihm das Ding im Putzeimer versunken – und das haben verschiedene Teile nicht überlebt. Hirte hat den Empfänger selbst repariert. Du weißt, er ist ein genialer Bastler. Ja, und da hat er sich aus Sperlings Provenuenbeständen Chipsies geholt. Im Prinzip funktionieren die auch. Aber im Sommer ist er trotzdem manchmal nicht erreichbar. Behauptet, der Eumel hat nicht gepiepst.“

Thomas bekam eine dunkle Ahnung, dass er dem Fehler der S 5 auf der Spur sein könnte. Andererseits gab es den Fehler schon viel länger als Harkort für die Flotte produzierte.

„Habt ihr noch welche von den Dingern?“, fragte er.

„Logo. Hirte hat zwanzig Stück gekauft, alle anderen sind noch da.“

„Kannst du mir welche davon zeigen?“

„Klar“, erwiderte Eichner. Er sah auf die Uhr. „Bloß heute nicht. Mittagspause ist um. Ich muss schleunigst zurück. Bist du morgen in der Gegend?“

„Weiß ich noch nicht. Hängt davon ab, wie meine Terminplanung läuft. Ich gehe demnächst noch ins Krankenhaus.“

„Oh, was Ernstes?“

„Ich hatte eine unschöne Begegnung mit einem S-5-Kampfrobot. Seither habe ich einen Plasmaverband, bin aber allergisch dagegen. Der muss operativ ‘runtergeholt werden.“

„Mann, wo?“

„Weiß noch nicht. Vielleicht in Barmbek*.“

Eichner stand auf.

„War schön, dich zu treffen. Meld’ dich mal wieder.“

„Vorsicht! Ich tu das!“, warnte Thomas grinsend. „Welche Durchwahl hast du jetzt?“

„289“, gab Eichner Auskunft. Er winkte noch einmal, dann lief er quer über die Wiese zum Herwardeshuder Weg.

Thomas sah ihm nach und erwischte sich beim Träumen von seinem früheren Job. Schadenbearbeitung war immer ein stressiger Job gewesen; vor allem deshalb, weil das Auto des Deutschen liebstes Spielzeug ist, das er nicht gern in kaputtem Zustand sieht. Aber im Vergleich zu manchen Dingen, die ihm seither begegnet waren, war es ein Kinderspiel, mit mehreren Wochen Postrückstand, hundertfünfzig Akten gestapelt hinter sich und einem Telefon im Dauerklingeln zu leben – und einem Chef, der diesen Rückstand auf maximal eine Woche reduzieren wollte.

Er seufzte leise, als der Kommunikator in seiner Hosentasche zu vibrieren begann.

„Hansen“, meldete er sich.

„Hallo, Herr Hansen. Praxis Dr. Zerno, Maas. Ihre Frau wird in Kürze aus der Trance erwachen. Sie wollten dabei sein.“

„Ja, danke. Ich bin in fünf Minuten da“, antwortete Thomas und eilte zu der sulukanischen Ärztin zurück.

Gabi Hansen wachte langsam auf. Das Erste, was sie spürte, war Thomas’ sanfter Händedruck. Mit einiger Mühe schlug sie die Augen auf und sah ihn lächelnd neben sich sitzen. Wortlos beugte er sich über sie und küsste sie.

„Wie geht’s dir, Schatz?“, fragte er dann sanft.

„Ich hab’ ‘nen ziemlich dicken Kopf. Frau Doktor hat ganz schön gewühlt, habe ich den Eindruck.“

Gabis Blick glitt suchend durch den hellen Raum und blieb schließlich an der Gehirnspezialistin hängen.

„Und? Was haben Sie aus meiner Erinnerung erfahren können?“, fragte sie dann. Dr. Zerno lächelte das Paar freundlich an.

„Erstens, dass Sie immer noch verliebt sind. Zweitens, dass Sie für Ihren Mann fast alles tun würden – bis hin zu einer Art Selbstverleugnung. Sie haben verzweifelt nach einem Ausweg gesucht, um der Scheidung zu entgehen. Diesen Ausweg haben Sie schon vor dem Unfall gesucht, aber nicht gefunden. Dann kam der Unfall, bei dem Ihre Freundin ums Leben kam – und Sie hatten die Idee, sich in Ihre Freundin zu verwandeln, was dann auch geschehen ist.“

Gabi und Thomas sahen die Ärztin betroffen an.

„Also keine Amnesie“, stellte Gabi ernüchtert fest.

„Nein, genau genommen nicht. Sie können sich sehr gut erinnern, was geschehen ist. Zu gut. Die Erinnerung an den Unfall quält Sie sehr. Sie haben ebenso verzweifelt versucht, das zu verdrängen, wobei Ihnen Ihre neue Identität helfen sollte. Das ist aber nicht ganz gelungen, weil Sie die Identität nie ganz angenommen haben, sondern im Innern immer Gabriele Hansen geblieben sind. Sie sind erst richtig in die Krise geraten, als Sie Ihren Mann wiedergesehen haben. Wenn Sie nicht wieder zu Ihrer Identität zurückkehren können – einschließlich Ihres ursprünglichen Gesichtes – werden Sie immer tiefer in diese Krise geraten. Schon aus diesem Grunde werde ich in meinem Bericht dringend empfehlen, Ihnen bei der Rückkehr zu Ihrer tatsächlichen Identität keine Schwierigkeiten zu machen.

Ich rate Ihnen aber, sich unbedingt anwaltlich beraten zu lassen, welche rechtlichen Folgen der Identitätswechsel haben wird, wenn Sie ohne wenn und aber die Sache rückgängig machen wollen. Der einfachere Weg wäre, wenn Sie Ihren Mann als Françoise Debussy heiraten, einen deutschen Namen annehmen und sich dann bei einem Gesichtschirurgen Ihr ursprüngliches Gesicht wiedergeben lassen. Das hat zwar die Folge, dass Ihre jetzige Identität an Ihren Hacken kleben bleibt, aber möglicherweise hat eine echte Rückkehr schlimmere Folgen familiärer oder rechtlicher Natur. Sie sollten sich das wirklich überlegen“, warnte die Ärztin.

„Gut, ich werde drüber nachdenken“, sagte Gabi langsam.

„Sie sind nicht überzeugt, Frau Hansen“, bemerkte die Ärztin lächelnd. Gabi wurde schamrot.

„Ich sollte dran denken, dass man einem Wesen, das Gedanken lesen kann, nichts vormachen kann, Frau Doktor. Danke für den Rat“, sagte sie schließlich.

Eine Stunde später waren die Hansens wieder in Undeloh. Gabriele war völlig erschöpft.

„Wie wär’s, wenn du schläfst, mein Schatz?“, fragte Thomas.

„Ich weiß gar nicht, ob ich das überhaupt kann“, murmelte sie müde.

„Mit Kwiris Tiefschlafkur geht alles!“, gab er zurück und küsste sie sanft. „Und wenn du wieder aufwachst, gibt’s was Schönes zu essen. Was meinst du?“

Sie nickte nur, war aber nicht in der Lage ein Wort zu sagen. Er löste sich vorsichtig aus ihrer Umarmung, brachte sie ins Schlafzimmer und gab ihr eine von den Kapseln, die er von Kwiri bekommen hatte. Wenig später war sie in tiefen Schlaf gefallen. Er schloss leise die Schlafzimmertür. Zwar war noch eine Menge an Terminplanung zu machen, aber er wollte dies nicht ohne Gabi machen. Sie sollte ihre Termine selbst bestimmen. Von diesen Terminen würde wohl auch seine eigene Krankenhausplanung abhängen, denn er wollte Gabi in der Vorbereitungszeit auf keinen Fall mit ihren Ängsten allein lassen. Aber da war noch die Sache mit den Transpondern …

Thomas sah auf die Uhr. Es war gerade halb drei. Normalerweise musste Frank noch im Büro sein. Er wählte die Telefonnummer von Sperling mit Franks Durchwahl.

„Sperling Assekuranz, Eichner, guten Tag“, meldete sich Frank.

„Hallo, Frank. Thomas Hansen hier.“

„Der erste vernünftige Anruf heute!“, seufzte Frank. „Was kann ich für dich tun?“, fragte er dann, fast geschäftsmäßig.

„Du hast mich neugierig gemacht – diese Harkort-Geschichte, von der du mir heute Mittag erzählt hast. Was ist damit?“

„Hihi, ich hab’ sie mir schon ‘rausgesucht. Hab’ mir doch gedacht, dass dich das interessieren würde. Ich hab’ schon mit dem Chef gesprochen. Wenn du willst, kannst du dir die Akte ansehen“, bot Eichner an.

„Mich würden auch die Transponder selber interessieren. Kannst du mir welche davon zur Untersuchung zur Verfügung stellen?“

„Kein Problem. Wie viele willst du haben?“

„Hopsala! Sonst waren wir immer sehr zugeknöpft, wenn es darum ging, Betriebsfremden unsere Akten und Schadensachen zu zeigen oder zu überlassen“, wunderte sich Thomas.

„Erstens bist du nicht betriebsfremd, zweitens hat sich herumgeschwiegen, was du für diese Welt getan hast und drittens ist sogar ein Herr Baron davon überzeugt, dass du zu so etwas wie zum Detektiv taugst.“

„Wie dick ist das Monster?“

„Ziemlich. Warum fragst du?“

„Könntest du mir die Akte auf das Fax schmeißen?“

„Jesus! Das dauert Stunden. Ich hab’ ‘ne bessere Idee: Ich bring’ sie dir nach Hause. Für uns ist sie abgeschlossen. Revision* ist derzeit nicht in Sicht. Wir brauchen die Akte also im Moment nicht. Es sei denn, du findest noch ‘ne Möglichkeit, dass wir von Harkort die Mäuse zurückfordern können.“

„Bis wann bist du im Büro?“

„Ich hab’ Nachtdienst*. Bis viertel vor fünf bin ich hier.“

„Gut, ich komme vorbei. So in einer Stunde bin ich bei dir“, gab Thomas zurück.

Eine knappe Stunde später saß Thomas im Büro von Herrn Baron, dem Chef der Transport-Abteilung seines alten Arbeitgebers.

„Herr Eichner hat die fixe Idee, dass Harkort gemogelt hat. Ich weiß nicht, woher er das nimmt. Ich kenne die Firma Harkort schon seit zwanzig Jahren. Die haben noch nie den Versuch gemacht, uns zu betrügen“, gab der Abteilungsleiter zu bedenken.

„Ich weiß. Ich habe viele Jahre Harkort AG im K-Bereich bearbeitet“, erwiderte Thomas. „Aber ich kenne auch Herrn Eichner und bin überzeugt, dass er nicht unnötig Alarm schlägt. Zudem habe ich selbst unangenehme Erfahrungen mit Kampfrobots, die Harkort jedenfalls in Lizenz für die Sordana-Robot auf Sarona produziert. Unter bestimmten Bedingungen lassen sich diese Geräte einfach nicht steuern. Meine Kollegen von der Flotte haben die Robots schon völlig auseinander genommen, aber nichts gefunden. Zwar stellt Harkort die Robots, beziehungsweise die Teile, insbesondere die Steuerung, erst seit gut einem halben Erdenjahr her, aber wer weiß …? Möglicherweise sind die Transponderchips der Schlüssel zum Fehler. Und wenn ich nebenbei Sperling helfen kann, bin ich dabei“, erklärte Thomas.

„Ich muss Sie wohl nicht darauf hinweisen, was für ein wichtiger Kunde Harkort für uns ist, Herr Hansen?“erkundigte sich Baron.

„Nein. Was Sie aus dem machen, was ich Ihnen möglicherweise geben kann, das ist Ihre Sache, Herr Baron – oder vielmehr die Ihres Geschäftsführers oder der Konzernleitung. Sollte ich etwas finden, was Schritte gegen die Firma Harkort von Seiten der Föderation möglich macht, wird das so geschehen, dass Sperling nicht in den Verdacht von Geheimnisverrat gerät. Das kann ich Ihnen versichern“, erwiderte Thomas ruhig.

„Gut, dann gebe ich Ihnen die Akte mit, Herr Hansen. Ich bitte um Rückgabe, wenn Sie die Akte durchgearbeitet haben.“

Thomas grinste – etwas, was er sich nie geleistet hätte, wäre er noch Angestellter bei Sperling gewesen – und nahm die Akte und etwa ein Dutzend Transponderchips in einem Plastiktütchen an sich.

„Ich hoffe, Sie erwarten nicht innerhalb der berühmt-berüchtigten Wochenfrist eine komplette Ermittlung über Harkort AG“, sagte er in Anspielung auf die bei Sperling Assekuranz eingeführte Bearbeitungsfrist von einer Woche nach Eingang des Poststücks. Baron bekam einen nervösen Anflug.

„Sie sind kein Mitarbeiter des Hauses, Herr Hansen. Natürlich würde es mich freuen, aber wenn Sie umfangreiche Ermittlungen anstellen müssen …“

„Ich bin drei Monate auf Mutter Erde, von denen ich noch einige Wochen wegen einer länger geplanten Operation im Krankenhaus verbringen werde. Insofern steht mir leider nicht meine gesamte Zeit für Sperling zur Verfügung. Soviel ich weiß, benötigen Sie die Akte nicht unbedingt in der nächste Woche, oder?“

„Nein, aber Sie wissen doch, wie die Revision reagiert, wenn Regresse* nicht sofort eingeleitet werden“, gab Baron zu bedenken.

„Natürlich weiß ich das, Herr Baron. Aber in dem Falle bestellen Sie den Herrschaften einen freundlichen Gruß und teilen Sie Ihnen mit, dass dieser Regress – so er zu realisieren ist – ohne ein zufälliges Gespräch zwischen Herrn Eichner und mir gar nicht in Betracht gekommen wäre. Aber ich will sehen, was ich tun kann“, gab Thomas zurück und dachte bei sich, wie sehr er sich früher gewünscht hatte, kleine Spitzen in dieser Form verteilen zu können. Er hatte sich nie getraut. Zu groß waren der Respekt vor den Vorgesetzten und die Angst um den Arbeitsplatz gewesen. Er verabschiedete sich und verließ das Haus. Frank brachte ihn bis zur Tür.

„Ich hoffe, du findest etwas. Sonst sehe ich für meine berufliche Zukunft bei Sperling ziemlich schwarz.“

„Ich verspreche nichts, was ich nicht halten kann. Ich seh’ mir den Kram an – melden tue ich mich dann auf jeden Fall bei dir.“

„Danke, Tommy.“

Kapitel 3

Verblüffender Fund

 

Als Thomas nach Undeloh zurückkam, schlief Gabi noch immer. Er sah auf die Uhr. Sie würde noch weitere drei Stunden schlafen. Er kochte sich einen Kaffee, setzte sich mit der Akte auf das Sofa im Wohnzimmer und begann, die Akte durchzulesen.

Daraus ergab sich nur, dass Harkort – ein internationaler Konzern, der in nahezu jedem ehemaligen Land der Erde Niederlassungen hatte – eine Ladung Transponderchips auf der Reise von San Francisco nach Aberdeen im Ärmelkanal als Inhalt eines Normcontainers untergegangen war und dass eben zwei Tüten mit je eintausendfünfhundert Stück Inhalt an der ostfriesischen Nordseeküste in Höhe Norden angeschwemmt worden war. Aus der Akte ergab sich nichts, was die Firma Harkort verdächtig erschienen ließ.

Er legte die Akte weg und nahm sich die Tüte mit den Transpondern vor. Unter dem Mikroskop sah der Chip zunächst ganz normal aus – bis auf einen hauchfeinen Haarriss, der sich senkrecht durch den ganzen Chip zog. Thomas nahm einen anderen Chip. Er wies den gleichen Fehler auf. Nach und nach prüfte Thomas alle Chips, die Baron ihm mitgegeben hatte. Alle hatten den gleichen, wenn auch kleinen Fehler – einen durchgehenden Haarriss auf der Hauptplatine. Thomas verstellte die Vergrößerung und rieb sich verblüfft die Augen: Das war kein Haarriss – das war ein winzig kleiner Spalt unterhalb des Nanometerbereiches. Der Chip war offensichtlich so geätzt worden. Wiederum prüfte Thomas die Chips durch. Sie hatten alle den gleichen Ätzfehler! Eine elektrische Prüfung ergab dennoch eine normale Funktion des Chips.

Er lehnte sich zurück und dachte nach. Unter normalen Bedingungen hatten die Robots immer funktioniert. Ausnahme Amazonia, wo allerdings der Verdacht bestand, dass dieser Robot von außerhalb des Planeten ferngesteuert worden war. Speziell auf Palavor, in der Hitze der Tagseite, wo nicht selten Temperaturen von fünfzig Grad Celsius und mehr herrschen konnten, spielten die Robots nicht mit – genauso wie der Cityrufempfänger von Hausmeister Hirte, wenn er zu lange in der Sonne lag.

Thomas beschloss, die Probe aufs Exempel zu machen, legte die Transponder in den Backofen und stellte eine Temperatur von fünfzig Grad ein. Nachdem die Kontrolllampe erloschen war ließ er die Chips noch etwa eine Viertelstunde im Ofen und nahm dann den Ersten heraus. Unter dem Mikroskop sah er, dass sich der Spalt deutlich vergrößert hatte. Die elektrische Prüfung ergab, dass der Chip nicht funktionierte. Nicht nur einer – alle funktionierten unter dieser Bedingung nicht!

Womit der Fehler der Robots vermutlich gefunden ist’, dachte er. ‚Aber damit ist immer noch nicht klar, warum die Robots spinnen, die nicht mit Teilen von Harkort hergestellt wurden.

Er lehnte sich zurück und drehte einen der defekten Chips in den Fingern. Ein Geräusch störte ihn aus seinen Gedanken auf. Er sah zur Tür. Gabi stand dort, wirkte noch ein wenig verschlafen.

„Hallo, Schatz. Schön geschlafen?“, fragte er. Sie nickte und kam zu ihm.

„Ja, sehr schön. Was hast du da?“

„Ein ziemlich großes Rätsel, das mir sozusagen im Alsterpark begegnet ist.“

„Und worin besteht das Rätsel?“

Er machte eine ausholende Handbewegung.

„Das hier auf dem Tisch sind Transponderchips, die von der Firma Harkort Scotland bei einer amerikanischen Tochterfirma im Silicon-Valley in Kalifornien bestellt wurden. Sie befanden sich in einem Container, der im Ärmelkanal über Bord gegangen ist und von denen lediglich dreitausend Stück an der Nordseeküste angeschwemmt wurden, die sich als Schadengut im Eigentum unseres alten Arbeitgebers Sperling Assekuranz befinden. Alle anderen liegen auf dem Grund der Nordsee – laut Schadenakte jedenfalls. Die angeschwemmten Chips weisen alle den gleichen Produktionsfehler auf, einen nanometerbreiten Spalt senkrecht durch die Hauptplatine, der erst bei hohen Temperaturen den Stromfluss unterbricht. Diese Chips werden unter anderem für die Steuerung und die Freund-Feind-Erkennung bei S-5-Robots eingesetzt. Es wäre eine Erklärung, weshalb die Mistdinger auf Palavor nicht steuerbar sind und gerade die Freund-Feind-Erkennung dort noch nie funktioniert hat. Andererseits gibt das erst recht Rätsel auf, weil der Fehler schon länger vorhanden ist, als Harkort diese Teile für die Föderation herstellt. Und wenn Robots von Harkort davon betroffen sind, dann wundert es mich erst recht, denn mit dieser Serie von Chips dürfte kein Fabrikat von Harkort ausgestattet sein, weil sie nun mal abgesoffen sind“, fasste Thomas seine bisherigen Ermittlungen zusammen.

Gabi strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und nahm ihm den Chip ab, den er in der Hand hielt.

„Nun, wenn alle Chips diesen Fehler aufweisen könnte es immerhin sein, dass Harkort California schon immer mit dem gleichen Ätzfehler gearbeitet hat. Und wenn der Fehler nur unter konstant hohen Temperaturen auftritt, könnte es sein, dass er tatsächlich nur auf Palavor auftritt, wo auf der Tagseite ständig mindestens fünfzig Grad Plus herrschen“, gab sie zu bedenken.

„Nicht auszuschließen“, räumte er ein. „Was die Seriennummer betrifft, brauche ich nur Kwiri anzufunken und ich habe in wenigen Stunden den Chip aus dem Robot hier, der mir auf Amazonia freundlichst um die Ohren geflogen ist. Nora hat die Steuerung damals zerschossen, aber den Chip hat sie bergen können – ebenso aus dem zweiten Robot. Bei denen besteht allerdings der Verdacht, dass die Steuerung gar zu gut funktioniert hat und sie aus dem Raum ferngelenkt wurden.“

„Thomas, mein Schatz – du denkst dran, dass wir beide im Moment was anderes vorhaben, als für Sperling Phantome zu jagen?“, erinnerte sie. Er lächelte sanft.

„Nein, das habe ich nicht vergessen. Aber du solltest dich ausschlafen und ich hatte nichts Besseres zu tun, als ein bisschen neugierig zu sein und vielleicht dem gemeinsamen Ex-Kollegen Eichner zu helfen, der nämlich Harkort im Verdacht hat, zu mogeln. Aber ich hab’ Frank und seinem Abteilungsleiter schon gesagt, dass ich derweil noch anderes zu tun habe.“

„Wissen sie von mir?“

Er schüttelte den Kopf.

„Das wollte ich ihnen nicht ohne deine ausdrückliche Zustimmung erzählen.“

„Wie bringen wir das denen bei, die mich kennen und die mich in Ohlsdorf* bei Kapelle 4 vermuten?“fragte sie ängstlich. Er zog sie auf seinen Schoß.

„Ich gebe zu, dass das unser größtes Problem wird. Gerade deshalb meinte Dr. Zerno wohl, dass du dich unbedingt anwaltlich beraten lassen solltest“, sagte er.

„Würde dir ein Anwalt einfallen, der sich auf diesem Gebiet auskennt?“

„Ich hab’ schon an Ralf Meyer gedacht. Er war mal bei uns, als er auf seine Referendarstelle gewartet hat. Ralf müsste inzwischen fertiger Anwalt sein. Soll ich den anrufen?“

Gabi nickte.

Thomas wählte die Nummer von Ralf und hatte Glück, ihn schon zu Hause anzutreffen. Ralf Meyer war zuerst völlig überrascht, Thomas am Telefon zu haben und noch überraschter, dass Gabi Hansen sehr wohl lebte. Er war sofort bereit, die Hansens entsprechend zu beraten.

„Wollt ihr in die Kanzlei kommen oder sollen Susanne und ich euch zu Hause besuchen?“, fragte er.

„Kommt her, wenn ihr Zeit habt“, lud Thomas ein. Sie verabredeten sich für den übernächsten Tag, einem Samstag.

Susanne und Ralf kamen am frühen Nachmittag nach Undeloh. Zunächst stutzten sie, weil sie Gabi Hansen anders in Erinnerung hatten, aber nach einer Erklärung von Thomas begrüßten sie Gabi im Leben.

„Mensch, Gabi, was bin ich froh, dass du nicht tot bist. Thomas war ohne dich kein Mensch mehr. Er hatte nicht mal mehr Lust in Urlaub zu fahren. Als ich den Fehler gemacht habe, ihm zu erzählen, dass Susi und ich unsere Hochzeitsreise auch nach Graubünden gemacht haben, ist Thomas völlig verzweifelt ‘raus gerannt“, sagte Ralf lächelnd. Gabi stutzte.

„‘Tschuldigung, Ralf, aber wir waren in Südtirol auf Hochzeitsreise“, bemerkte sie. Er grinste breit.

„Weiß ich. Aber ich wollte sicher sein, dass Thomas nicht einer Betrügerin aufgesessen ist. Und jetzt bin ich sicher, dass du echt bist.“

Thomas gab Ralf die vorhandenen Unterlagen.

„Das ist, was wir haben. Und wir wüssten gern, welche juristischen Probleme auftauchen könnten – zivilrechtlicher wie strafrechtlicher Art“, sagte er. Der befreundete Anwalt studierte das Gutachten von Dr. Zerno und die übrigen Unterlagen.

„Hmm“, brummte er schließlich, „seltsame Geschichte. Aber die Behörden haben es Gabi auch mehr als nur einfach gemacht. Keiner hat Fingerabdrücke verlangt, keine besondere Identifikationshilfe oder so etwas. Insofern sollten die sich nicht auf Betrug oder dergleichen berufen. Was die Arbeitgeber anbelangt, können die sich auch nicht beklagen. Nach den vorhandenen Zeugnissen vom französischen Konsulat und der UNO hat Gabi vorzügliche Arbeit geleistet. Und Sperling hat keinen direkten Verlust. Selbst, wenn sie geltend machen, dass nach deinem Weggang, Thomas, und deinem angeblichen Tod, Gabi, Kosten für Personalsuche getätigt wurden, wäre einzuwenden, dass schon nach Thomas’ Kündigung jemand gesucht werden musste. Im Übrigen haben sie offensichtlich jemand aus den eigenen Reihen auf den einzigen freien Platz gesetzt, sonst gäbe es diesen Brief an Gabi nicht, nach dem ihre Bewerbung am Einspruch des Betriebsrates gescheitert ist. Grundsätzlich müsste Gabis angeblicher Tod aber als Kündigung betrachtet werden, so dass du keine Ansprüche gegen Sperling haben würdest, Gabi – mit Ausnahme der Altersversorgung, weil du deine zehn Jahre voll hattest. Die einzigen Probleme, die definitiv auftreten könnten, wären familiärer Art. Habt ihr Familie?“

„Ich habe noch einen Onkel in Nürnberg, aber ob der überhaupt von meinem vermeintlichen Tod erfahren hat, halte ich für sehr zweifelhaft“, sagte Gabi. „Oder hast du Onkel Bruno informiert?“, wandte sie sich an Thomas. Er schüttelte den Kopf.

„Ich gebe zu, dass ich den gar nicht mehr auf der Rechnung hatte. Und ich selber habe außer Gabi keine Familie mehr gehabt, weil meine Eltern beide nicht mehr leben und zudem zu den zu ihrer Zeit seltenen Einzelkindern gehörten. Geschwister habe ich auch keine“, erwiderte er.

„Also betrifft der Überraschungseffekt nur eure Freunde“, resümierte Ralf.

„Wie viele Freunde hat ein verlachter UFO-Forscher?“, fragte Thomas. „Nein, Ralf, wenn sich Gabi nicht gerade denen an den Hals geschmissen hat, die mich während unserer Ehe lauthals ausgelacht haben, dann gibt es da auch wenig Freunde, die sich wundern könnten. Und Françoise Debussy – Gott hab’ sie selig – lebt nun mal tatsächlich nicht mehr.“

„Schön, bleibt also noch Françoises Familie. Müsste da jemand informiert werden?“

„Kann ich so aus dem Stand nicht sagen“, gab Gabi zu. „Aber ich meine, Françoises Eltern leben auch nicht mehr. Und Geschwister hatte sie meines Wissens nicht.“

Ralf nickte.

„Ich denke, unter diesen Umständen ist eine Rückverwandlung in Gabriele Hansen, geborene Matthiesen mitsamt altem, äh, ursprünglichem, Gesicht, kein Problem; jedenfalls nicht rechtlicher Natur“, sagte er.

„Prima, dann können wir uns die Operationstermine geben lassen“, bemerkte Thomas. „Danke für deine Hilfe, Ralf.“

Am darauf folgenden Montag ließ Gabi sich einen Untersuchungstermin im Allgemeinen Krankenhaus Harburg* in der plastischen Chirurgie geben. Thomas fuhr sie eine Woche darauf dorthin. Der Arzt besah sich das veränderte Gesicht und sah sich den Ursprungszustand auf den Fotos an, die Thomas und Gabi mitgebracht hatten. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf.

„Bedaure, Frau Hansen, das kann ich nicht“, sagte er. „Sie sollten das besser von dem Arzt machen lassen, der Sie seinerzeit operiert hat.“

„Das würde ich vielleicht tun, wenn ich nicht erfahren hätte, dass dieser Arzt zwischenzeitlich verstorben ist“, gab Gabi zurück.

„Oh, das ist natürlich etwas anderes“, seufzte der Chirurg. „Ich kann Sie natürlich operieren, Frau Hansen. Nur ob das Ergebnis das wäre, das Sie sich wünschen, kann ich Ihnen nicht garantieren. Ich bin kein Bildhauer und diese Sache wäre eine Arbeit für einen Bildhauer. Wenn Sie einen Rat von mir annehmen, würde ich Ihnen empfehlen, besser Dr. Leonard McKilroy aufzusuchen. Er gilt als Kapazität auf dem Gebiet plastischer Chirurgie und praktiziert in San Francisco in Kalifornien. Er hat sogar schwer verbrannten Astronauten ihr ursprüngliches Gesicht zurückgegeben. Er betreut seit vielen Jahren die Astronauten der NASA.“

Gabi sah Thomas zweifelnd an.

„Ich fürchte, das können wir uns nicht leisten, Herr Doktor“, sagte sie. Der Krankenhausarzt winkte ab.

„Auch wenn jemand in Kalifornien praktiziert, heißt das nicht zwangsläufig, dass er nur für die NASA oder Hollywoodstars bezahlbar ist.“

„Na schön, dann geben Sie uns doch bitte die genaue Adresse und die Telefonnummer von Dr. McKilroy, damit wir dort einen Termin machen können“, bat Thomas. Der Arzt gab ihnen eine Visitenkarte.

„Haben Sie Erfahrung, wie lange es mit dem Termin dauern könnte?“, fragte Thomas, als er die Karte einsteckte.

„So drei bis vier Wochen sollten Sie einkalkulieren“, empfahl der Arzt. Thomas nickte.

„Ich müsste mich selbst noch einer Operation unterziehen, weil ich gegen einen Plasmaverband allergisch bin, der mir wegen einer Laserverletzung aufgetragen wurde. Könnte das in der Zwischenzeit hier gemacht werden?“

„Fragen Sie am besten bei der Klinikleitung nach. Aber das müsste bis dahin zu machen sein.“

Thomas bekam für seine eigene Operation einen Termin in der darauf folgenden Woche, bei Dr. McKilroy erhielten sie einen Termin vier Wochen später. So ging zunächst Thomas ins Krankenhaus und wurde zehn Tage später ohne die Plasmaten entlassen, fühlte sich bedeutend wohler, wenn auch um eine große Narbe reicher.

Die folgenden Wochen waren angefüllt mit dem Beschaffen der nötigen Papiere. Immerhin konnte für Gabi schon ein neuer Pass gefertigt werden, der ihr künftiges Aussehen als Foto enthielt. Thomas hatte sich nie von dem Foto seiner angeblich toten Frau getrennt.

Neben den notwendigen Papieren beschaffte er sich aber auch noch von Kwiri den fraglichen Transponderchip aus dem explodierten Robot – und einen Gesprächstermin mit dem Geschäftsführer der Harkort Chip Corporation im Silicon-Valley. Gabi würde längere Zeit im Krankenhaus verbringen, so dass er Zeit hatte, sich mit dem mysteriösen Chipfall zu befassen.

Eine Woche, bevor sie nach San Francisco fliegen wollten, hatte Thomas noch einmal Zeit und untersuchte den Chip aus dem Robot.

„Was hast du unter dem Mikroskop?“, fragte Gabi, als sie ihren Mann an dem Gerät sitzen sah.

„Den Chip von dem amazonischen Robot“, erwiderte Thomas, ohne die Augen von den Okularen zu nehmen. Er drehte an der Fokussierung.

„Das gibt’s nicht!“, entfuhr es ihm.

„Was gibt’s nicht?“, hakte sie ein. Er rückte vom Mikroskop weg.

„Sieh es dir an: Der Spalt auf der Hauptplatine und die Seriennummer!“, sagte er mit erschrockenem Ausdruck. Sie sah in die Okulare des Mikroskops. Der Ätzfehler war deutlich zu erkennen, direkt daneben war die Seriennummer.

„Den Spalt sehe ich. Der gleiche wie auf den Chips von Sperling. Aber was soll mit der Nummer sein?“

Er zog einen Ordner aus dem Regal neben dem Schreibtisch, auf dem er das Mikroskop stehen hatte, und nahm eine Liste heraus.

„Hier, das ist die Liste mit den Seriennummern der bei Sperling gelandeten und der abhanden gekommenen Chips. Die Serie ist fortlaufend. Und diese Nummer hier“, er wies auf das Mikroskop, „müsste eigentlich auf dem Grunde der Nordsee ruhen. Dieser Chip gehört nämlich zu denen, die untergegangen sein sollen!“

„Könnte jemand anderes eine andere Tüte von den Dingern gefunden haben und sie bei Harkort abgegeben haben?“, mutmaßte Gabi. Thomas schüttelte den Kopf.

„Glaube ich nicht. Dazu müsste der Finder wissen, dass sie für Harkort Scotland bestimmt waren. Zwar steht die fabrizierende Firma auf den Tüten, aber nicht der Empfänger. Harkort stellt diese Chips aber nicht nur für den eigenen Bedarf her, sondern produziert auch für andere Elektronikkonzerne“, sagte er. „Nein, ich fürchte, Frank hat Recht: Harkort mogelt“, setzte er seufzend hinzu.

„Willst du Frank gleich informieren?“, erkundigte sich Gabi.

„Nein. Ich will mich noch mit Mr. Newman unterhalten. Alan Newman leitet die Harkort Chip Corporation. Ich habe einen Termin bei ihm, wenn wir in den Staaten sind. Silicon-Valley ist nicht weit entfernt, und nach Aussage von Dr. McKilroy kann ich dich drei Tage ohnehin nicht besuchen.“

Kapitel 4

Lichtblicke

 

Eineinhalb Wochen darauf war Gabi Hansen in der Klinik in San Francisco, um sich der Gesichtsoperation zu unterziehen. Die Klinikleitung hatte Thomas versprochen, ihn zu informieren, sobald er seine Frau besuchen könne. So fuhr er ins nahe Palo Alto, wo Harkort Chips Corporation den Hauptsitz hatte. Telefonisch hatte er den Manager, Alan Newman, schon darauf vorbereitet, dass es um die S-5-Chips ginge. Newman empfing den Flottencommander mit freundlicher Aufmerksamkeit.

„Guten Tag, Mr. Hansen. Ich bin Alan Newman, der Manager von Harkort Chips. Sie hatten angedeutet, dass die S-5-Chips nicht in Ordnung seien. Ich habe deshalb unseren Entwicklungschef Kato Morita mit zu diesem Gespräch gebeten. Er kann Ihnen am besten darüber Auskunft geben“, erklärte Newman die Anwesenheit eines Dritten im Raum.

„Mr. Morita, auf dem S-5-Chip ist ein haarfeiner Spalt, knapp unterhalb eines Nanometers. Ist Ihnen das bekannt?“, fragte Thomas nach der Vorstellung. Morita nickte.

„Gewiss. Und dieser Spalt ist unser größtes Problem. So, wie die Chips sind – mitsamt dem Spalt – so ist die uns gelieferte Blaupause von Sordana-Robot von Sarona, für die wir den Chip in Lizenz produzieren. Meine Abteilung hatte von Anfang an Bedenken, dass der Chip so funktionstüchtig wäre, aber Aberdeen wollte nicht, dass wir von der gelieferten Zeichnung abweichen“, erklärte der Ingenieur.

„Haben Sie den Chip mal einer Temperaturprüfung unterzogen?“

„Sicher. Das gehört zu einer Neuentwicklung oder Neueinführung eines Lizenzproduktes einfach dazu. Ich habe Harkort Scotland ausdrücklich gesagt, dass diese Chips nicht für den Einsatz in dauerhaft hoher Temperatur taugen, wenn nicht ein entsprechendes Kühlsystem installiert wird, der den Chip auf jedenfalls unter fünfundvierzig Grad Celsius oder hundertzehn Grad Fahrenheit hält. Da wir den Chip nicht entwickelt haben und den genauen Umfang der Einsatzmöglichkeiten nicht kennen, die die Sordana sich damit vorstellt, wissen wir auch nicht, welche der Lücken unbedingt geschlossen werden müssen, um auch bei höheren Temperaturen konstant die Funktionsfähigkeit zu erhalten“, erklärte Morita.

Der Manager sah den Ingenieur an.

„Haben wir eigentlich schon eine Reaktion aus Aberdeen? Wir haben doch eine Containerladung vor drei Monaten geschickt“, erkundigte er sich.

„Eben, das ist ja das Problem. Mark Honeywell war erst heute Morgen bei mir und hat mir gesagt, dass die Tommies mit den Chipsen nun doch nicht einverstanden sind und uns den Preis um zwanzig Prozent gekürzt haben. Ich bin noch nicht dazu gekommen, Sie zu informieren, Sir.“

„Aber, wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie die Chips auf ausdrücklichen Wunsch von Harkort Scotland nach der Zeichnung hergestellt“, wunderte sich Thomas. „Wie können die jetzt meckern?“

Newman seufzte tief.

„Das ist ein konzerninternes Problem, das Sie als Außenstehenden nicht betrifft, Commander Hansen“, versetzte er nach kurzem Ringen mit sich selbst. Thomas lächelte freundlich. Er hatte nicht erwartet, dass Newman ihm die Konzerninterna verraten würde.

„Haben Sie eigentlich noch mehr als diese eine Ladung versandt?“, fragte er dann. Newman schüttelte den Kopf.

„Nein, wir haben nur eine Serie bislang davon produziert. Wegen des Platinenspaltes wollten wir erst abwarten, ob Aberdeen die Chips in gleicher Art weiter bestellt. Aber wir haben – bis auf die Reaktion, die Mr. Morita eben mitgeteilt hat – noch nichts gehört“, antwortete Newman.

„Haben Sie von den bereits versandten Chips welche zurückbekommen?“

„Nein, die Lieferung ist uns von Aberdeen bestätigt worden. Sie haben sich aber beschwert, dass dreitausend Stück fehlten. Wir haben die Ladepapiere gefaxt. Die Schotten wollten sich daraufhin an den Transportversicherer wenden und den Verlust dort als Schaden melden. Mehr haben wir dann nicht mehr gehört“, gab Morita zur Antwort.

„Sagen Sie, Mr. Morita: Diese Warnung an Aberdeen, die Chips nicht in dauerhaft hohen Temperaturbereichen einzusetzen, existiert die eigentlich schriftlich?“

„Gewiss. Schon als Absicherung für uns selbst. Darf ich fragen, was Sie jetzt vorhaben, Commander?“

„Sie werden sich vorstellen können, dass die Flotte Schadenersatzansprüche stellen wird. Wenn Sie aber die Chips nur in Lizenz produzieren und sich nach einer Zeichnung von Sordana-Robot gerichtet haben, ohne deren volle Einsatzmöglichkeiten zu kennen, wird man Sie kaum dafür belangen können. Sie sollten sich nur umgehend mit Sordana in Verbindung setzen und klären, wie der Chip tatsächlich aussehen sollte. Möglicherweise enthält die Zeichnung einen Fehler, den Sie gar nicht erkennen konnten. Aber wenn Sie Harkort Scotland ausdrücklich davor gewarnt haben, diese Chips in dauerhaft heißen Gebieten einzusetzen, werden wir uns an Harkort Scotland halten“, sagte Thomas. Er wandte sich an den Entwicklungschef:

„Wären Sie gegebenenfalls bereit, dies auch vor Gericht zu wiederholen, Mr. Morita? Oder die schriftliche Warnung eventuell für einen Prozess in Kopie zur Verfügung zu stellen?“

„Ja, sicher.“

„Morita, seien Sie vorsichtig, was Sie da versprechen!“, warnte Newman ihn. „Die in Aberdeen sitzen am längeren Hebel!“

„Sie meinen, Harkort Scotland könnte Ihnen wirtschaftliche Schwierigkeiten machen?“, hakte Thomas ein. Newman machte eine abwehrende Handbewegung, wollte sich offenbar nicht weiter dazu äußern.

„Nein, wehren Sie nicht so ab, Mr. Newman!“, erwiderte Thomas lächelnd. „Sehen Sie, wenn Sie – oder Ihr Entwicklungschef – eine Aussage gegen Harkort Scotland aus falsch verstandener Konzernloyalität nicht machen wollen, könnte der Schuss nach hinten losgehen. Die Flotte wird die Ersatzansprüche gegen Harkort Scotland richten. Und die werden die heiße Kartoffel umgehend an Sie als Produzenten des fehlerhaften Chips weiterreichen. Sie werden zwar die Sordana-Robot dafür haftbar machen wollen, aber wenn Sie Aberdeen bereits vor der Verwendung dieser Chips in entsprechenden Klimazonen gewarnt haben, sind Sie jedenfalls aus der Haftung heraus. Das könnte Ihren Produkthaftpflicht-Versicherer vor sehr hohen Schadenersatzansprüchen bewahren, die sich letztlich auch auf Ihre Prämie* auswirken würden.“

Newman sah Thomas mit einer Mischung aus Verblüffung und Misstrauen an.

„Sie reden wie ein Versicherungsvertreter“, sagte er langsam.

„Liegt an meinem früheren Beruf. Bevor ich die Erde im Galaktischen Rat vertreten habe und zur Flotte ging, habe ich viele Jahre lang Schäden für einen Industrieversicherer in Hamburg bearbeitet. Daher der Sprachgebrauch“, erklärte Thomas mit sanftem Grinsen. „Aus diesem Grunde weiß ich auch, was auf Sie zukommen kann – oder auch nicht. Ihre Auskünfte waren für mich jedenfalls sehr hilfreich“, bedankte sich Hansen dann.

Als er wenige Minuten später das Werkstor von Harkort Chips Corporation in Palo Alto passierte, hatte er das euphorische Hochgefühl eines echten Erfolgserlebnisses. Einen Versicherungsbetrüger derart deutlich zu erwischen, war ihm in seiner Sachbearbeiterzeit nie vergönnt gewesen. Jetzt erhob sich nur noch die Frage, wie Sperling das von Thomas gewonnene Wissen verwerten konnte, ohne dass deutlich wurde, dass ein offiziell Außenstehender über die Schadenakte Kenntnis hatte. Er beschloss, sich darüber im Moment keine Gedanken zu machen. Es war Sache von Sperling, dafür eine Lösung zu finden. Thomas fuhr direkt zum Hotel. Drei Tage war es jetzt her, seit Gabi operiert worden war. Er wollte vom Hotel aus anrufen, ob er sie nicht besuchen konnte.

„Für Sie ist eine Nachricht eingetroffen, Mr. Hansen“, sagte die Dame am Empfang, als er um seinen Schlüssel bat. Er nahm sie dankend entgegen und öffnete sie auf dem Weg zum Fahrstuhl. Es war eine Nachricht von der Klinik, dass er Gabi besuchen konnte. Er vergaß seine Absicht, auf sein Zimmer zu gehen, kehrte um und gab den Schlüssel gleich wieder an der Rezeption ab, war mit wenigen Schritten wieder im Gleiter und fuhr zur Klinik.

„Guten Tag, mein Name ist Hansen. Ich möchte zu Mrs. Gabriele Hansen“, stellte er sich im Empfangsgebäude vor. Die Schwester am Empfang lächelte freundlich und sah in das Stationsbuch.

„Einen Moment, Mr. Hansen. Schwester Conchita wird Sie zu Ihrer Frau begleiten. Sie ist im Garten“, sagte sie. Er erwiderte ihr Lächeln.

„Sagen Sie mir nur, wo es ist. Ich finde sie schon“, gab er zurück. Die Schwester schüttelte den Kopf.

„Ihre Frau ist sehr verändert nach der Operation, Mr. Hansen. Sie würden sie nicht wieder erkennen, fürchte ich“, warnte sie.

„Wenn das alles ist, würde ich sogar mit Ihnen wetten, dass ich sie finde“, lachte Thomas, zog seine Brieftasche und zeigte Gabis altes Foto.

„Trotzdem. Unser Gelände ist sehr weitläufig. Lassen Sie sich lieber führen“, beharrte die Empfangsschwester.

„Na gut“, kapitulierte Thomas und setzte sich in einen der Sessel, die einladend in der Lobby standen. Er saß aber kaum, als eine kleine Krankenschwester mit unverkennbar mexikanischem Äußeren auf ihn zukam.

„Mr. Hansen?“, fragte sie.

„Ja.“

„Ich bin Schwester Conchita. Kommen Sie. Ich bringe Sie zu Ihrer Frau.“

Er folgte der Mexikanerin durch endlose, aber freundlich gestaltete Flure in ein parkähnliches Gartengelände, das sie fast vollständig durchliefen.

„Ich hab’ nichts gegen Wanderungen, aber wie weit ist es eigentlich noch?“, fragte Thomas schließlich. Schwester Conchita lachte auf.

„Meine Kollegin hat mir gesagt, Sie wollten selbst auf die Suche nach Ihrer Frau gehen, Mr. Hansen. Sind Sie überzeugt, dass Sie sie alleine nicht gefunden hätten?“

„In der Tat“, gab Thomas schnaufend zu.

„Aber jetzt sind wir gleich da“, beruhigte die Schwester den ihr folgenden Mann. Dann blieb sie stehen und machte eine hinweisende Handbewegung auf eine einzelne Person, die lesend unter einigen Bäumen saß.

„Ihre Frau, Mr. Hansen.“

„Danke, Schwester“, sagte Thomas. „Gabi!“, rief er.

Gabi sah von ihrem Buch auf, erkannte Thomas, legte das Buch weg und winkte ihm. Er lief mit langen Sätzen zu ihr hin und umarmte sie fest. Sie löste sich von ihm und ließ ihn sich ansehen. Thomas studierte einige sehr lange Sekunden ihr neues und doch so ursprüngliches Gesicht.

„Ich … ich glaub’s einfach nicht!“, stieß er dann hervor, als er in ihr vertrautes, von ihm sehr oft erträumtes Lächeln sah, das er lange Zeit für immer verloren geglaubt hatte.

„Gefällt’s dir, Tommy?“, fragte ihn eine vertraute, warme Stimme.

„Gabi, mein Schatz“, presste er heraus. Ein dicker Kloß saß ihm im Hals. Er umarmte sie wieder, und diesmal machte sie sich nicht wieder frei.

„Es gefällt mir nicht nur, ich bin begeistert! Gott sei Dank! Ich hab’ dich endlich wieder – ich meine richtig, mit deinem eigenen Gesicht. Wie ich dich vermisst habe!“

Thomas’ Schluchzen war nicht zu überhören. Er umarmte sie so fest, als wolle er sie nie wieder aus seinen Armen lassen. Gabi war gleichfalls von dieser zweiten Chance viel zu überwältigt, um noch etwas zu sagen.

Erst ein deutliches Räuspern brachte das Ehepaar Hansen wieder auf den sonnigen Boden Kaliforniens zurück. In gewisser Weise erschrocken sahen sie sich um. Hinter ihnen stand Dr. McKilroy, der Chefarzt.

„Guten Tag, Doktor McKilroy“, begrüßte Thomas ihn.

„Hallo, Mr. Hansen. Sagt Ihnen das Ergebnis zu?“, fragte er und strich sich durch den kurzen Vollbart.

„Ja, absolut“, erwiderte Thomas strahlend. „Aber in der Hauptsache sollte es meiner Frau zusagen. Was meinst du?“

„Von mir weiß er es schon. Ich bin heilfroh, endlich wieder mich selbst im Spiegel zu sehen“, sagte sie mit einem glücklichen Lächeln.

„Das Leben gibt normalerweise keine zweite Chance. Diese ist ein Geschenk Gottes, das er uns durch Ihre Hände gemacht hat, Doktor. Vielen Dank“, bedankte Thomas sich.

McKilroy sah den jungen Mann eine Weile an.

„Sie waren im Raum, oder?“, fragte der Arzt schließlich unvermittelt. Thomas war sichtlich verblüfft.

„Verstehe nicht.“

McKilroy lächelte.

„Ich betreue seit vielen Jahren die Astronauten der NASA und jetzt auch die Soldaten der Raumflotte, soweit sie von der Erde sind. Es erstaunt mich immer wieder, wie gläubig die Menschen werden, wenn sie dieses Juwel von Welt einmal von außen, vom Weltraum aus, gesehen haben“, bemerkte der Arzt. Thomas lächelte, drückte Gabi liebevoll an sich.

„Es war weniger die Raumfahrt, die mir meinen Glauben zurückgegeben hat, als zunächst der Verlust meiner Frau und später die Nachricht, dass sie noch lebt. Erst war es einfach Trost, den ich im Glauben an Gott fand, jetzt grenzenlose Dankbarkeit, dass Gabi noch da ist“, erwiderte er. „Aber ich gebe Ihnen Recht, dass unsere alte Erde sehr einzigartig aussieht, wenn man sie aus dem All betrachtet – auch wenn ich schon früher an Leben auf anderen Planeten geglaubt habe und es heute sicher weiß. Genau so sicher weiß ich aber auch, dass ich es auf Dauer nicht auf einem anderen Planeten aushalten würde.“

McKilroy sah Thomas mit zweifelndem Blick an.

„Na, na, Sie wären der erste Astronaut, der nicht wieder hinaus ins All will“, schmunzelte er.

„Ich habe nicht gesagt, dass ich nicht wieder in den Raum will; nur, dass ich dort nicht für immer bleiben möchte. Ich kenne Palavor. Dagegen ist die Sahara ein Wasserparadies! Ich kenne Megara. Gegen die einförmigen Wetterlagen dort ist es in Südkalifornien geradezu wechselhaftes Wetter. Wenn dort eine Wolke am Himmel auftaucht, ist das eine Wettermeldung wert. Ich kenne Amazonia. Gewiss, die Frauen haben wunderschöne Dinge von ausgeprägter Ästhetik geschaffen, aber gegen Amazonia war die Erde schon zu Zeiten der alten Römer und der Hunnen ein Hort des Friedens“, erklärte Thomas. Gabi sah zu ihm auf. Das klang fast so, als wäre Thomas von seiner Sehnsucht nach fremden Sternen kuriert. Andererseits kannte sie ihn dafür zu gut.

„Wenn Sie schon mal hier sind, Herr Doktor:“, fuhr Thomas dann fort, „Wann wird meine Frau entlassen?“

„Ich möchte sie noch eine Woche zur Beobachtung hierbehalten. Wir wollen sicher gehen, dass die Operationsnarben keine Probleme bereiten. Auf jeden Fall sollte sie sich nach der Entlassung noch einige Wochen wirklich Ruhe gönnen, um sich wieder an das Gesicht zu gewöhnen, um mental wieder ins Lot zu kommen. Ich rate Ihnen daher zu einem längeren Urlaub, wenn Sie das beruflich ermöglichen können – und zwar in einer möglichst ruhigen Gegend. Also nicht gerade Malibu oder Miami Beach. Fahren Sie in die Berge. Die Rockies sind wunderschön. Wenn es nicht oft so schlechtes Wetter wäre, würde ich Ihnen auch noch Schottland empfehlen.“

Gabi spürte, dass Thomas leicht zusammenzuckte, als der Arzt von Schottland sprach. In Gedanken bat sie Gott, dass Thomas nicht wieder verrückte Ideen hatte. Da war doch diese schottische Firma mit den schadhaften Computerchips …

Als er sie eine Woche später abholte, fragte sie nach seinen weiteren Vorhaben.

„Oh, erst mal nach Hause fliegen und die Beine im Liegestuhl auf der Terrasse hochlegen, denke ich“, erwiderte er und küsste sie.

„Was? Kein Ausflug nach Schottland, um Harkort auf die Finger zu hauen?“, versetzte sie ein wenig spitz. Er sah sie verstört an.

„Du hör’ mal: Nur, weil du dein früheres Gesicht wieder hast, musst du nicht wieder anfangen, solche Spitzen zu verteilen!“, sagte er schließlich.

„Komm. So was habe ich dir auch als Françoise Debussy an den Kopf geworfen. Da hast du’s mir nicht übel genommen“, entgegnete sie verblüfft über seine Reaktion. Er schüttelte sich.

„Nein, verdammt!“, fluchte er, wie zu sich selbst. „Nein, ich werde nicht zulassen, dass wir uns wieder streiten, kaum, dass wir wieder zusammen sind!“

Er hielt sich einen Moment am Lenkrad des Gleiters fest.

„Nein, ich habe nicht vor, nach Schottland zu fahren. Erstens ist mir das Wetter dort zu saumäßig, zweitens habe ich Harkort auch so im Sack. Ich muss sie nur noch dazu bringen, ihre Haftpflichtversicherung wegen der defekten Robots einzuschalten“, sagte er dann.

„Es tut mir Leid, Thomas. Entschuldige bitte“, bat sie. Er sah sie an, beugte sich zu ihr und küsste sie.

„Übrigens: Ich liebe dich“, sagte er leise. „Und ich werde dir nicht auf der Nase herumtanzen! Keine verrückten Ideen mehr“, versprach er dann „Äh – hoffentlich“, setzte er dann mit unschuldigem Hundeblick hinzu. Sie umarmte ihn mit einem strahlenden Lächeln.

„Mein Thomas, wie ich ihn kenne! Bleib’ bloß, wie du bist – einschließlich verrückter Ideen. Behalte sie, sie sind geradezu prophetisch“, erwiderte sie. „Und was war das jetzt mit Harkort?“setzte sie mit dem forschenden Ton der gelernten Schadensachbearbeiterin hinzu.

„Also, das ist so …“, begann Thomas und fasste sein Gespräch mit Newman und Morita für Gabi zusammen.

„Solltest du das nicht schnellstens Frank weitergeben?“, fragte sie. Er grinste.

„Hab’ ich schon längst. Und das hier habe ich bekommen“, sagte er und zog ein Telegramm aus der Jackentasche. Es war eine Einladung an Thomas zum jährlichen Sommerfest der Sperling Assekuranz, das in zwei Wochen stattfinden würde.

„Ich finde, wir sollten ganz schnell nach Hause fliegen“, empfahl Gabi verschmitzt lächelnd.

„Will ich doch die ganze Zeit“, grinste Thomas und startete den Gleiter, um zum Hotel zurückzufahren.

 

 

Kapitel 5

Versicherungsprobleme

 

Im marmorgepflasterten Innenhof des quadratischen Marmorgebäudes der Sperling Assekuranz am Herwardeshuder Weg standen zeltartig überdachte Stände, an denen die Mitarbeiter Getränke, Würstchen, Sandwiches und Kuchen verkauften, in den zum Hof vollverglasten Fluren waren andere Stände untergebracht, an denen Bilder angeboten wurden, wo Spiele wie Pfeil- oder Dosenwerfen veranstaltet wurden; eine studiomäßige Stereoanlage beschallte den Innenhof mit den Hits des Sommers. Der sonst verwaist daliegende Innenhof war voller fröhlichem Leben. Nicht nur die Hamburger Mitarbeiter des Unternehmens waren zum Fest eingeladen, sondern auch die, die Sperling in Kiel, Bremen, Lübeck, Rostock, Schwerin und Neubrandenburg vertraten. Dazu kamen diverse Geschäftsfreunde von Maklern und Großkunden, aber auch ehemalige Mitarbeiter. Der Erlös war wie immer für einen guten Zweck bestimmt.

Thomas lehnte mit einem Glas Bier in der Hand am Bierstand gleich neben dem runden Fahrstuhlturm und scherzte mit seinen früheren Kollegen. Gabi hatte wegen befürchteter Komplikationen darauf verzichtet, mitzukommen. Es war vielleicht besser, sich mit dem Personalchef mal unter sechs Augen zu unterhalten. Jemand tippte ihm auf die Schulter. Thomas drehte sich um. Frank stand dort, ebenfalls mit einem vollen Bierglas.

„He, Private Detective!“, grinste er. „Hast du mal Zeit für Freund Töpfer?“

Alwin Töpfer war der Bereichsleiter Industrie und war als solcher zuständig für Probleme, die mit Großkunden aus dem Industriebereich auftraten.

„Was will der von mir?“, fragte Thomas verblüfft.

„Ich habe Baron deinen Bericht gezeigt. Der war der Meinung, das Eisen sei zu heiß für seine Finger und hat den Herrn Bereichsleiter eingeschaltet. Du kannst dich dunkel erinnern, dass Töpfer der Ansprechpartner für Harkort AG ist. Er hat den Vertrag mal an Land gezogen“, gab Frank zurück.

„Gut“, erwiderte Thomas achselzuckend und folgte Frank.

Alwin Töpfer gehörte der Sperling Assekuranz seit mehr als fünfundzwanzig Jahren an, war zeitweise stellvertretender Geschäftsführer gewesen und betreute die größten und bedeutendsten Kunden von Sperling Hamburg. Sein ständiges nervöses Hüsteln verunsicherte seine Mitarbeiter gelegentlich, die nicht immer wussten, ob sich die Hüstelei auf das bezog, was sie ihrem Chef gerade vortrugen oder ob er anderweitig Grund zur Nervosität hatte. Zudem konnte Töpfer recht aufbrausend reagieren, wenn seine Mitarbeiter Fehler machten – oder er den Eindruck hatte, dass sie Fehler machten. Zu Töpfer gerufen zu werden, war deshalb nicht immer das unbedingte Vergnügen. Sich zwanglos mit anderen Mitarbeitern zu unterhalten, fiel Töpfer nicht sehr leicht. Es kam für ihn daher nicht in Betracht, sich in aller Hausöffentlichkeit mit Frank Eichner und Thomas Hansen zu unterhalten. Außerdem war dies eine ausgesprochen dienstliche Sache, die man nicht bei einem Glas Bier im Innenhof besprach. Alwin Töpfer erwartete die beiden Männer daher in seinem Büro im zweiten Obergeschoss.

Frank Eichner klopfte mit einer fast ehrerbietigen Geste an der Tür seines Vorgesetzten. Auf dessen leise durch die gepolsterte Tür dringende Aufforderung öffnete Frank die Tür.

„Guten Tag, Herr Töpfer. Herr Hansen, der früher mal bei uns gearbeitet hat“, stellte Eichner Thomas vor. Töpfer nickte nur.

„Guten Tag“, begrüßte auch Thomas ihn. Wieder nur ein knappes Nicken.

„Sie kommen wegen Harkort?“, fragte Töpfer knapp.

„Herr Eichner sagte mir, Sie seien in der Angelegenheit von Herrn Baron unterrichtet worden und wollten mich sprechen, Herr Töpfer“, erwiderte Thomas kühl. Töpfer hüstelte.

„Ähem, ja, richtig. Herr Eichner, wie konnte so etwas passieren?“, fuhr Töpfer Eichner an.

Frank erschrak. Thomas konnte es ihm nachfühlen. Jeder, der von Töpfer in diesem Ton angefahren wurde, war erschrocken. Erschrecken, das war die Absicht die dahinter stand, verwehrte dem betreffenden Mitarbeiter zunächst eine plausible Antwort, er begann nach einer Entschuldigung zu suchen, die er unter Umständen gar nicht nötig hatte. Aber so erhält man sich Autorität …

„Wieso sind Sie nicht gleich darauf gekommen, dass Ihnen ein falscher Container gemeldet wurde?“, fauchte Töpfer. Frank suchte immer noch kreidebleich nach einer Antwort auf die erste Frage. Thomas hasste diese Methode, Mitarbeiter unnötig unter Druck zu setzen.

„Weil Herr Eichner des Hellsehens nicht mächtig ist, Herr Töpfer“, versetzte er eisig, wenn auch nicht mit erhobener Stimme.

„Was verstehen Sie denn davon?“, fuhr Töpfer den Besucher an. Thomas zog halb spöttisch eine Augenbraue hoch.

„Herr Töpfer, mit diesem Ton beeindrucken Sie mich nicht mehr“, gab er zurück. „Ich kann mir denken, dass es sehr unangenehm für Sie ist, wenn Sie erfahren müssen, dass einer Ihrer bedeutendsten Kunden Sperling einen mehr als nur großen Schaden zugefügt hat. Aber eines kann ich Ihnen mit absoluter Gewissheit sagen: Herrn Eichner trifft nicht der Hauch von Schuld! Wenn Herr Eichner nach Eingang der Schadenanzeige und der Belege behauptet hätte, dass Harkort betrügen will, hätten Sie ihn hochkant aus Ihrem Büro geworfen, bevor er das Wort Betrug auch nur zu Ende gesprochen hätte. Er hatte auch keinerlei Veranlassung, an Betrug zu glauben. Vielleicht lesen Sie sich die Schadenakte durch, bevor Sie einen Mitarbeiter derartig anfahren!“

Töpfer schluckte und hüstelte wieder nervös.

„Wie sind Sie zu der Einschätzung gekommen, dass hier ein manipulierter Schadenfall vorliegen könnte, Herr Eichner?“, fragte Töpfer dann – in einem völlig anderen Ton, einem, den Thomas immer von einem fragenden Vorgesetzten erwartet hätte, der aber – jedenfalls ab einer bestimmten hierarchischen Position bei Sperling – nicht mehr für den normalen Mitarbeiter galt.

„Im Grunde war es Zufall, Herr Töpfer. Aus den Unterlagen werden Sie ersehen, dass sich daraus keine Anhaltspunkte für einen dubiosen Fall ergeben. Es war ein ganz normaler Transportschaden“, antwortete Eichner. Die Anwesenheit von Thomas, der ohne Sorge vor beruflichen Nachteilen einen Alwin Töpfer zurechtweisen konnte, half ihm, einigermaßen selbstsicher zu werden. „Ich möchte Ihnen das kurz zusammenfassen, wenn Sie erlauben.“

Töpfer nickte, nervös hüstelnd.

„Wir erhielten die Meldung von Firma Harkort, dass ein für die Muttergesellschaft in Aberdeen bestimmter Container bei Sturm im Kanal über Bord gegangen war. Nach den Ladepapieren enthielt der Container rund zweihundertfünfzigtausend S-5-Transponderchips, das Stück zu einem Einstandspreis von zehn Mark achtzig plus Mehrwertsteuer. Die Chips waren verpackt in insgesamt einhundert sechsundsechzig Plastiktüten á eintausendfünfhundert Stück. Zwei von diesen Tüten wurden bei Norden angeschwemmt und wurden uns als Provenuen übergeben. Am Schadentag war Sturm, wie die Auskunft vom Seewetteramt zeigt; das Schiff, die Liverpool, ist in der fraglichen Zeit am fraglichen Ort gewesen. Die Papiere waren – soweit für uns überprüfbar – in Ordnung. Ich wäre nie auf den Gedanken verfallen, dass uns ein so guter Kunde wie Harkort beschummeln könnte.“

„Und wie sind Sie darauf gekommen?“, erkundigte sich Töpfer.

„Daran bin ich wohl nicht ganz unschuldig“, warf Thomas ein. „Ich habe Herrn Eichner zufällig getroffen, wir kamen ins Gespräch und ich erzählte ihm von Robots, die zum Teil von Harkort hergestellt werden und mit denen wir große Probleme haben. Herr Eichner wunderte sich, dass diese Robots überhaupt mit Transponderchips von Harkort Chip Corporation ausgestattet sein konnten, weil nämlich die fragliche Ladung gar nicht hätte vorhanden sein dürfen. Ich zeigte Herrn Eichner einen von den Chips und er meinte, er hätte die Nummer schon mal gesehen – und siehe da – diese Nummer gehörte zu denen, die eigentlich auf dem Grunde der Nordsee, vielmehr des Kanals ruhen müssten“, erklärte Thomas. Es war gelogen, aber er wollte Töpfer nicht verraten, dass Frank von Anfang an Harkort im Verdacht gehabt hatte, gemogelt zu haben.

„Aha, ähem, und was hat Kommissar Zufall noch herausgefunden?“, fragte Töpfer spitz.

Thomas lächelte. Der Mann vor ihm war zutiefst verunsichert, das spürte er.

„Ich habe mir die Mühe gemacht, die Chips zu untersuchen. Durch einen Zeichenfehler auf der Blaupause des Lizenzgebers enthalten sämtliche Chips dieser Serie einen winzigen Spalt senkrecht durch die Hauptplatine, der in normalem Klima nicht störend ist, bei Dauertemperaturen von mindestens fünfzig Grad Celsius jedoch den Strom unterbricht und die benutzten Geräte unbrauchbar beziehungsweise unsteuerbar macht. Mit diesen Chips wurden – entgegen einer schriftlichen Warnung aus Palo Alto, wo Harkort Chips Corporation die Dinger herstellt – S-5-Kampfrobots bestückt. Diese Robots sind nach der Einsatzbeschreibung der Föderation – und darauf beruht die Konstruktion des S 5 – für Gebiete vorgesehen, in denen die Lebewesen der Mitgliedsplaneten nicht existieren können.

Zum Beispiel für den Planeten Palavor, der für Lebewesen mit einem Metabolismus, der dem eines Terraners entspricht, nur in einer Zwielichtzone bewohnbar ist. Die Überwachung der ständigen Tagseite müssen Kampfrobots übernehmen, weil diese Gebiete für ein Lebewesen auf Kohlenstoffbasis nach etwa zwei Stunden tödlich sind, wenn sie sich nicht entsprechend schützen.

Wegen der mangelnden Zuverlässigkeit der S 5 sind seit der Einführung dieser Robotserie mindestens fünfzig Personen verschiedener galaktischer Rassen verletzt oder getötet worden und diverse, recht teure Maschinen der Föderation erheblich beschädigt worden. Die Ansprüche sind also recht hoch, die mein jetziger Arbeitgeber an Harkort – und die Sordana-Robot als unmittelbaren Konstrukteur – stellen wird. Harkort Scotland wusste sehr genau, dass die gelieferten Chips für den Einsatzzweck nicht taugten, haben aber die Kalifornier nicht nur ausdrücklich angewiesen, die Chips nach der Zeichnung zu produzieren, sondern die Dinger auch noch verwendet.

Dazu kommt, dass Harkort Ihnen gegenüber angegeben hat, die Chips seien im Ärmelkanal versunken, womit sie eine Versicherungssumme von mehr als zweieinhalb Millionen Mark geltend gemacht und bekommen haben. Wegen der Fehlerhaftigkeit der Chips hat Harkort Aberdeen den Kaliforniern zwanzig Prozent vom Kaufpreis abgezogen, was fast eine halbe Million ausmacht. Und der Föderation haben sie die Robots zu einem Stückpreis von zweihundertfünfzigtausend Galaxonen verkauft, was etwa einer Million Mark entspricht, wobei die Transponderchips als Ersatzteil mit dreißig Galaxonen, also hundertzwanzig Mark zu Buche schlagen.

Selbst, wenn Harkort Scotland einen Teil der Chips in anderen Geräten wie Telekommunikation oder Fernbedienungen für Fernseher und dergleichen eingesetzt hat, gehe ich von wenigstens hunderttausend von Harkort produzierten und an die Föderation verkauften Robots aus. Macht – summa summarum – einen Gewinn von rund vierzehn Millionen nur in Sachen Chips statt elf Millionen, wenn die Chips einwandfrei produziert und offiziell angekommen wären. Ich hab’ nichts gegen kaufmännisches Gewinnstreben, aber das geht mir zu weit.“

„Wenn die Föderation die Ansprüche bei Harkort anmeldet, würden wir uns als zuständiger Haftpflichtversicherer auf Vorsatz* berufen, wenn zutrifft, was Sie gerade ausgeführt haben, Herr Hansen. Was wollen Sie erreichen? Dass Harkort pleitegeht? Sie würden uns einen Großkunden nehmen!“, warnte Töpfer.

„Herr Töpfer“, bemerkte Thomas kühl, „ich bin kein Mitarbeiter dieses Hauses mehr. Insofern brauche ich keine entsprechenden Rücksichten zu nehmen. Davon jedoch abgesehen, frage ich mich, ob ein Kunde für Sie wirklich wertvoll ist, der Ihnen zwar fünfzigtausend Mark Prämie im Jahr einbringt, der Sie aber zweieinhalb Millionen kostet, der also fünftausend Prozent Schadenquote* hat.“

Töpfer machte eine wegwerfende Handbewegung.

Ihnen muss ich doch wohl den Versicherungsbegriff nicht erläutern, Herr Hansen!“, versetzte er spöttisch.

„Nein, gewiss nicht, aber Sie werden mir nicht erzählen wollen, dass derartige Schadenquoten dem Deckungsbeitragsprinzip* entsprechen. Zu meiner Zeit ging man davon aus, dass ein Kunde, der mehr als siebenundsiebzig Prozent Schadenquote hat, unrentabel ist. Mit einem solchen Schaden wird Harkort für die nächsten fünfzig Jahre unrentabel sein“, erwiderte er.

„Herr Eichner – wie ist die Schadenquote von Harkort über die letzten Jahre gewesen?“

„Sie war passabel. Mehr als fünfzig Prozent waren es bislang nicht“, antwortete Frank. „Aber hier geht es um Betrug, Herr Töpfer, nicht nur um eine hohen Schaden“, gab er dann zu bedenken.

Töpfer sah die beiden jungen Männer an, die ihm gegenüber saßen.

„Wenn Sie nicht mit Herrn Hansen über den Schaden geplaudert hätten, wäre davon nichts ruchbar geworden. Wie sollen wir einen Regress gegen die Versicherungsnehmerin realisieren, wenn wir diesen Umstand nicht erwähnen können, ohne den Makel von Plaudertaschen zu bekommen? Haben Sie sich das mal überlegt, Herr Eichner?“, knurrte der Bereichsleiter.

„Nun, im Moment können wir den Beweis nicht führen, ohne dass bekannt wird, dass wir einem Kunden nachspioniert haben“, räumte Eichner ein. Töpfer nickte und hüstelte wieder einmal. Er setzte zu einer Standpauke an, unterließ sie aber, als er eine zwar nur leichte, aber sehr deutliche Handbewegung von Thomas bemerkte.

„Herr Töpfer, diese Chips könnten doch gar nicht verbaut worden sein, wenn Harkort in dieser Schadenanzeige hier die Wahrheit geschrieben hat“, sagte Thomas und tippte auf die Schadenakte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag.

„Natürlich nicht!“, schnaufte Töpfer.

„Gut“, stimmte Thomas zufrieden brummend zu. „Wenn sie also nicht verbaut worden sein können, wie würde dann Sperling verfahren, wenn man aus einem anderen Schadenfall, etwa einem Produkthaftpflichtfall, erführe, dass sie eben doch benutzt wurden?“, fragte er dann weiter.

„Wir würden ihn aus besagten Gründen doch nicht regulieren!“, gab Töpfer zu bedenken.

„Nun, mangelnder Versicherungsschutz muss doch eine Nachforschung nicht zwangsläufig verhindern. Außerdem muss der Vorsatz von Ihnen bewiesen werden, wozu Sie die schriftliche Erklärung von Harkort Chip Corporation brauchen, oder sehe ich das falsch?“

„Worauf wollen Sie hinaus, Herr Hansen?“

„Auf folgendes: Die Föderation wird an Harkort Scotland ganz offiziell wegen der defekten Robots Schadenersatzansprüche stellen. Entweder wird Harkort Sie einschalten – dann haben Sie ihn am Wickel, denn er wird Farbe bekennen müssen, wie es kommt, dass man Transponder eingebaut hat, die gar nicht existieren dürften. Oder Harkort begleicht den Schaden direkt, dann entfiele der Beweis, dass die Chips nur durch einen Betrug zum Nachteil der Versicherung benutzt werden konnten. Das aber wird so teuer, dass Harkort damit wenigstens an den Rand der Pleite getrieben wird. Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit. Ich lasse die Presse auf die Sache los …“

Töpfer hob abwehrend die Hände.

„Himmel, nein! Herr Hansen, haben Sie schon vergessen, was es heißt, einem Versicherer die Presse auf den Hals zu hetzen?“

„Habe ich gesagt, dass ich die Journalisten auf Sie hetzen will?“, grinste Thomas maliziös. „Nein, ich dachte mehr an die Firma Harkort, Herr Töpfer. Ich lanciere an die Presse die Meldung, dass mit den S 5 was nicht stimmt und dass die Dinger bei Harkort produziert werden. Harkort wird das sicher nicht gefallen, aber Sie könnten, wenn Sie via Presse davon Wind bekommen, Ihr Schadeninstitut loslassen. Das Sperling-Institut ist schließlich dafür da, Kunden in Sachen Schadenverhütung zu beraten, oder täusche ich mich? Ein Kunde würde doch erwarten, dass sein Versicherer ihn berät.“

Töpfer hüstelte und knetete seine Hände.

„Sie wissen doch, wie die Konzernzentrale auf unsere Absichten reagiert hat, mutmaßliche Betrüger anzuzeigen“, warnte er.

„Natürlich weiß ich das, Herr Töpfer. Aber einen Betrüger anzuzeigen oder von ihm Regress zu fordern, ist zweierlei. Und eine Gesellschaft wie Sperling Assekuranz sollte es nicht nötig haben, sich von Versicherungsnehmern ernähren zu wollen, die nur die Schadenzahlungen hochtreiben, statt dass sie wirklich was einbringen. Letzteres sollte aber Unternehmensziel sein.“

„Nun, bisher sind wir von Harkort noch nicht betrogen worden“, versetzte Töpfer bissig.

„Ganz sicher?“, fragte Thomas. „Dieser Fall ist herausgekommen, weil Herr Eichner zufällig mit mir gesprochen hat. Wie viele Fälle mag es geben, in denen nur deshalb nichts bekannt geworden ist, weil kein Kontakt zu Personen bestand, die darüber etwas hätten berichten können?“

„Das werden wir nie wissen, Herr Hansen.“

„Mag sein. Aber Sie sollten sich nicht der Gefahr aussetzen, dass Ihnen noch mehr dubiose Schadenfälle untergejubelt werden. Auf jeden Fall sollte Harkort so einen Schuss vor den Bug bekommen, dass denen das nie wieder einfällt.“

„Na gut. Mag die Föderation ihre Ansprüche geltend machen oder die Presse Harkort aufscheuchen. Dieses Gespräch hat nicht stattgefunden!“, sagte Töpfer. Der Tonfall allein war bereits Abschluss, die auf die Tischplatte fallende breite Hand des Bereichsleiters unterstrich seine Absicht, das Gespräch zu beenden, nur. Thomas grinste breit.

„Ich bin Herrn Eichner nie begegnet, seit ich aus Sperlings Diensten ausgeschieden bin – und ich habe keine Ahnung von versunkenen Transpondern. Darf ich Sie noch zu einem Bier einladen?“

Töpfer hüstelte wieder nervös.

„Ach ja, das Sommerfest. Gehen Sie nur und amüsieren Sie sich. Ich habe leider noch zu tun. Vielleicht komme ich später noch nach unten“, wehrte er ab.

Thomas und Frank verabschiedeten sich, verließen das Büro und gingen wieder in den Innenhof.

„Wenn der was unternimmt, bin ich Dracula persönlich!“, unkte Frank. Thomas grinste.

„Er wird müssen, fürchte ich. Sieh mal, mit der Robotindustrie sind neue Arbeitsplätze wie Pilze aus dem Boden gewachsen. Wenn durch diese S-5-Geschichte Misstrauen in die Robots gesät wird, haben wir wieder massenweise Bürgerinitiativen gegen die Robots. Seit Robots auch auf der Erde in großem Umfang in Industriezweigen eingesetzt werden, in denen Menschen stark gefährdet wären, sind sie zu einer bedeutsamen Kraft der Wirtschaft geworden. Würde man die Industrie dazu zwingen, die Robots wegen mangelnder Zuverlässigkeit aus dem Verkehr zu ziehen, wäre das der Zusammenbruch für eine ganze Reihe von Betrieben, insbesondere in der Bergbautechnik. Sperling als Industrieversicherer muss zusehen, dass seine Kundschaft lebt. Wenn Töpfer nicht das Institut einschaltet, könnte das das Aus für die irdische Robotindustrie bedeuten – wahrlich nicht nur für Harkort. Davon seid ihr zu abhängig, solange euch die Privatkunden nicht gut genug sind.“

„Du hältst die Konzernpolitik für einen Fehler?“, erkundigte sich Frank.

„Großkunden, lieber Frank, drücken grundsätzlich den Preis unter die Schmerzgrenze, fordern aber eine Großzügigkeit in der Schadenregulierung, die selbst den Kalifen von Bagdad an den Rand des Ruins brächte oder Kroisos von Lydien* verarmen ließe. Nein, nein. Ich hab’ zu lange mit den Forderungen von Harkort im K-Bereich gelebt. Ich weiß, wie geierig gerade die sind! Erinnerst du dich, wie der Geschäftsführer von Harkort Deutschland mal besoffen über den Kantstein gehoppelt ist und nicht glauben wollte, dass er mit Null-komma-acht Promille genauso grob fahrlässig* den Schaden herbeigeführt hat, wie jeder andere Kunde auch? Erst rückte mir der Vermittler auf die Pelle, damit Abteilungsleiter Holz einen Kulanzantrag* für die Direktion unterschrieb. Die billigten Harkort fünfzig Prozent des Schadens über uns zu. Der Lümmel wendet sich direkt an die Direktion und heult ihnen die Ohren voll, dass er alle Verträge kündigen will, die kriegen kalte Füße und bezahlen den Rest auch noch. Und dann erfahre ich so nebenbei, dass der Lump zum Unfallzeitpunkt schon drei Monate gekündigt hatte! Seitdem habe ich den Ex-Geschäftsführer samt seiner Firma gefressen wie zehn Pfund grüne Seife!“

„Oh, daher die Rachsucht!“, griente Frank.

 

 

Kapitel 6

Reaktionen

Thomas ließ sich mit der Umsetzung seines Plans nicht lange Zeit. Schon am Tag darauf schrieb er einen Brief an Harkort Scotland, in dem er die Ansprüche der Föderation anmeldete und um Bekanntgabe des Haftpflichtversicherers bat.

Es dauerte recht lange, bis er Antwort erhielt – und darin war kein Haftpflichtversicherer genannt, sondern lediglich ein pauschales Bestreiten, dass die Robots der Firma Harkort irgendwelche Fehler hatten. Thomas grinste spitzbübisch. Das hatte er erwartet. Harkort konnte den Versicherer nicht preisgeben, ohne sich selbst ein Bein zu stellen. Er rief bei der Pressestelle der Föderation in New York an und bat darum, die Notiz, die er gefaxt hatte, jetzt an sämtliche Nachrichtenagenturen zu geben. Es war lediglich eine dürre Information des Inhalts, dass einige S-5-Robots der Firma Harkort, die in Lizenz für Sordana-Robot gebaut wurden, explodiert seien und dabei einige Föderationssoldaten verletzt worden seien. Thomas rechnete damit, dass die Journaille diese Information nicht einfach zur Kenntnis nehmen würde, sondern dass etwas geschehen würde.

Die Pressenotiz erschien in den seriösen Zeitungen als kurze Notiz im Wirtschaftsteil unter den Sicherheitsaspekten. Die Boulevardzeitungen hatten eine etwas größere Nachricht im politischen Teil. Gabi, die die Zeitung für gewöhnlich intensiver las als Thomas, entdeckte sie.

„Tom, hast du das gelesen? Robots von Harkort unsicher! Kommen die auch schon drauf?“

Thomas kam mit einer Kanne Kaffee aus der Küche und grinste von einem Ohr zum anderen, als er Gabi eine Tasse einschenkte.

„Von wem, meinst du, wissen die Pressefredis das wohl?“, fragte er und goss sich selbst eine Tasse Kaffee ein.

„Hast du …? Tommy, das ist nicht fair!“

„Was heißt nicht fair? Zugegeben: Mein Loch im Fell verdanke ich nicht dem Umstand, dass sich einer von den verdammten Robbis nicht steuern ließ. Aber auf Palavor sind diverse Menschen und Wesen anderer galaktischer Rassen schwer verletzt worden oder auch ums Leben gekommen, weil Harkort ein bisschen arg gierig gewesen ist. Und nicht nur das. Harkort hat unbrauchbare Transponder benutzt, obwohl die Firma aus Kalifornien ausdrücklich davor gewarnt hat, diese Transponder in dauerhaft hohen Temperaturen zu nutzen.“

„Und wozu das an die Presse geben?“

„Genau genommen, um Harkort elegant ein Bein zu stellen“, erwiderte Thomas. „Frank Eichner und ich gehen davon aus, dass sich die Journalisten – speziell der technikkritischen Presse – auf diese unsicheren Robots stürzen werden wie ein Hai auf eine Robbe. Folglich werden die Berichte größer werden. Damit kann das Sperling-Schadeninstitut tätig werden, genauer: Herr Baron oder Herr Töpfer von unserem allseits geliebten Ex-Arbeitgeber können durch die Pressenotizen alarmiert werden und Harkort das Schadeninstitut auf den Hals hetzen.“

Gabi trank einen Schluck Kaffee.

„Auf diese Weise könnte Sperling von dem Betrug Wind bekommen, ohne dass herauskommen würde, dass die Entdeckung der Geschichte auf einem Gespräch zwischen dir und Frank beruht, sehe ich das richtig?“

„Genau“, bestätigte Thomas lächelnd.

„Ist natürlich gemein, aber Betrüger konnte ich schon als Schädling* nicht ab“, erwiderte Gabi und wärmte sich die Hände an der heißen Tasse.

„Sag mal, wollten wir nicht noch mal die Frage der Betriebsrente in die richtige Spur setzen? Es wäre die letzte offene Sache mit dem Identitätswechsel“, erinnerte sie ihn dann. Thomas lächelte.

„Klingt komisch, wenn jemand im zarten Alter von nicht mal dreißig schon an die Rente denkt. Sicher, ich hab’ schon dran gedacht, das noch zu erledigen, solange wir für einige Zeit auf der Erde sind. Aber ich wollte das nicht gerade auf dem Sommerfest tun. Soll ich mit dem Personalchef einen Termin machen?“

„Was der wohl sagen würde, wenn ich ihn selbst anrufe?“, mutmaßte Gabi mit schelmischem Grinsen.

„Schätze, der fällt in Ohnmacht. Bring’ ihm das nur schonend bei.“

Vor dem Firmengelände der Harkort Scotland standen die Journalisten Schlange. Gerald Harkort, der Firmenchef und alleiniger Aktionär der Holding, ließ den wartenden Pressemitarbeitern ausrichten, er habe nicht die Absicht, zu dem Zeitungsartikel Stellung zu nehmen. Wenn er gemeint hatte, die Wogen damit zu glätten, sah er sich getäuscht. Am Tag darauf waren die angeblich defekten Roboter von Harkort nicht nur auf den Titelseiten der Presse, sondern drei Tage später sogar in den Abendnachrichten. Der Hinweis darauf, dass Harkort selbst eine Stellungnahme verweigerte, ließ die Fantasie natürlich Blüten treiben. Doch so viel auch über die fehlerhaften Kampfrobots geschrieben wurde – niemand erwähnte das Wort Transponder in diesem Zusammenhang.

Zwei Wochen danach, als sich die Presse wegen der Robots bereits völlig überschlug und diese Nachricht nahezu alle anderen Ereignisse abgelöst hatten, kamen Thomas und Gabi zu Sperling, um ausstehende Fragen des Arbeitsvertrages zu klären. Frau Krieg, die in der marmorgeschmückten Halle die Besucher in Empfang nahm, glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als sie außer Thomas auch die längst tot geglaubte Kollegin Gabi Hansen zur Glastür hereinkommen sah.

„Ja, … da… das gibt’s doch nicht! Frau Hansen!“, rief sie erschrocken.

„Tag, Frau Krieg. Mein Mann und ich haben einen Termin bei Herrn Rickert“, begrüßte Gabi die ehemalige Kollegin. Frau Krieg sah sie skeptisch an.

„Mir war so, als wäre ich auf Ihrer Beerdigung gewesen, Frau Hansen.“

„Das ist Ihnen nicht allein so gegangen. Sie hätten Thomas’ Gesicht sehen sollen, als wir uns wiedergesehen haben und er der festen Überzeugung war, ich wär’ in Ohlsdorf.“

„Und? Was ist passiert? Wo waren Sie?“, fragte Frau Krieg neugierig.

„Nun, ich hatte einen schweren Unfall – und habe schlichtweg das Gedächtnis verloren. Thomas hat viel Mühe aufgewendet, um mir zu helfen“, erwiderte Gabi. Das war zwar geschwindelt, doch manche Kollegen konnten alles essen – aber sie brauchten längst nicht alles zu wissen. Noch ganz verwirrt holte Frau Krieg den Fahrstuhl und rief den Personalchef Rickert an.

Rickert hörte sich die Sache an.

„Sie haben uns damals in arge Verlegenheit gebracht, Frau Hansen“, bemerkte er dann. „Durch Ihre Kündigung“, er nickte Thomas zu, „und Ihren angeblichen Tod fehlten plötzlich zwei Leute in der Schadenabteilung.“

„Das ist uns bekannt, Herr Rickert. Aber drei Monate wäre ich wegen des Unfalls ohnehin ausgefallen. Ich hatte mich dann unmittelbar nach meiner Genesung unter meinem falschen Namen für die Schadenabteilung beworben. Sie haben mir geantwortet, dass der Betriebsrat Einspruch erhoben hat, weil sich jemand aus dem Hause beworben hat. Lange gesucht haben Sie also nicht. Zudem habe ich noch bis zu meinem Unfall gerade einen Auszubildenden gehabt, der kurz vor der Prüfung stand und bei dem noch nicht klar war, ob er im Außendienst oder in K-Schaden eingesetzt werden sollte. Ich bin im Dezember verunfallt, Herr Bernhard hatte im Januar mündliche Prüfung und war an K-Schaden interessiert. Er hätte meinen Platz ausfüllen können. Insofern haben Sie vermutlich nicht mal Kosten für eine Aushilfe gehabt und haben darüber hinaus noch meine Lohnfortzahlung gespart zuzüglich der Differenz, die Sperling mir zum Krankengeld zugezahlt hätte. In echte Verlegenheit dürften Sie nicht gekommen sein. War es eigentlich Herr Bernhard, der meinen Platz übernommen hat? Thomas’ Platz ist ja nicht neu ausgeschrieben worden, wie ich weiß.“

„Nun, es ist immer ein Unterschied, ob eine erfahrene Sachbearbeiterin wie Sie einen Schaden bearbeitet oder ob ein ehemaliger Azubi das tut.“

„Och, als ich hier noch gearbeitet habe, fand man diesen Unterschied gelegentlich nicht, Herr Rickert. Besonders dann, wenn es darum ging, ob unsereins in die Gehaltsstufe VI eingeordnet werden sollte. Ich habe einige Jahre in der Schadenabteilung gearbeitet, aber mehr als Gruppe V wollte man mir nicht geben. Das haben manche Azubis schon nach einem halben Jahr bekommen“, versetzte Gabi. „Mir geht es übrigens nicht darum, auf meinen alten Arbeitsplatz zurückzukehren, Herr Rickert. Ich weiß, dass K-Schaden so gut wie inexistent ist. Ich hatte damals nur meine zehn Jahre voll und mir geht es um die Betriebsrente.“

„Ja, das erwähnten Sie bereits am Telefon“, bemerkte Rickert. „Nun, Tatsache ist, Sie sind nicht tot. Wenn Sie auf Ihren alten Platz keinen Anspruch mehr erheben, können wir Ihren Identitätswechsel mit einer stillschweigenden Kündigung gleichsetzen. Zum Unfallzeitpunkt waren die zehn Jahre erfüllt. Demzufolge haben Sie bei Eintritt ins Rentenalter Anspruch auf Ihre Betriebsrente oder auf eine Auszahlung Ihrer Beiträge. Keine Frage. Aber – wenn ich ehrlich bin – mir wär’s lieber, Sie beide wieder im Hause zu haben. Ihre Erfahrungen im Raum könnten für unsere neuen Versicherungszweige wertvoll sein.“

Thomas und Gabi sahen sich an.

„Was meinen Sie genau, Herr Rickert?“, erkundigte sich Thomas.

„Nun, wir hatten schon immer im Rahmen der Transportversicherung Luft- und Raumfahrtpolicen* angesiedelt. Durch die sprunghafte Zunahme von Raumfahrt eröffnet sich ein neuer Horizont – auch im Schadenbereich. Wir müssen diese Sparte ausgliedern. Frau Scheunemann baut derzeit eine neue Schadenabteilung auf, die sich ausschließlich mit Raumfahrtschäden befassen wird. So, wie es bisher aussieht, werden wir eine erkleckliche Anzahl von Schäden haben, benötigen also dringend Sachbearbeiter – vor allem solche, die sich im Raum auskennen. Und Sie beide sind nun zwei Jahre im Raum gewesen – und Erfahrung in der Schadensachbearbeitung haben Sie ebenfalls. Hätten Sie nicht Interesse daran?“

Thomas beherrschte sich rechtzeitig, bevor er spontan nicken konnte.

„Nun, derzeit sind Gabi und ich noch die Vertreter der Erde im Galaktischen Rat. Wenn unsere Amtszeit abgelaufen ist – das sind noch zwei Jahre – werde ich endgültig zur Raumflotte wechseln. Gabi hatte noch keine genauen Pläne über ihre berufliche Zukunft. Ich könnte mir aber nicht vorstellen, dass Sie einen Arbeitsplatz zwei Jahre lang offen halten. In zwei Jahren kann viel passieren.“

„Ist richtig“, räumte Rickert ein. „Wir haben aber seit dem Beitritt der Erde zur Föderation eine Ausschreibung für fünfzehn Stellen in der neuen Schadenabteilung. Bisher haben wir aber nur Frau Scheunemann selbst, Frau Thomas und Herrn Bernhard gewinnen können. Raumschaden, das ist nun mal auch mit Reisen in den Raum verbunden. Dafür eignet sich nicht jeder, der eigentlich auch Schäden bearbeiten könnte“, lockte Rickert. „Bestünde eventuell die Möglichkeit, dass Sie nebenbei für uns Schäden regulieren?“

Thomas und Gabi sahen sich vielsagend an. Da brauchte jemand Hilfe. Meistens ließ sich ein Arbeitgeber in Nöten solcherlei auch was kosten.

„Nun, wir haben im Moment nur Urlaub und der ist in einer Woche beendet. Wir fliegen dann nach Megara zurück. Unser Abgeordnetendasein ist ein Fulltimejob, wie wir feststellen durften. Meine Frau ist daneben noch im Raumordnungsausschuss, ich selber bin beurlaubter Flottencommander und außerdem im Sicherheitsausschuss. Das ist naturgemäß mit einiger Reiserei im Raum verbunden. Viel Zeit bleibt da nicht mal für private Dinge – von Nebenjob zu schweigen“, übertrieb Thomas ihre Aufgaben. „Wir könnten jedenfalls nicht das betreiben, was mir Herr Eichner als offensive Schadenregulierung vorgestellt hat und eine Frist von einer Woche zur Bearbeitung von Posteingängen fiele mit Sicherheit ins Wasser.“

„Aber Sie wären im Prinzip nicht abgeneigt, oder?“, hakte Rickert nach.

„Nun, wenn Sie uns als eine Art freie Mitarbeiter betrachten, wäre ich jedenfalls durchaus interessiert“, sagte Gabi. „Aber ich hasse es, wenn mich jemand jeden Montag, den der Herrgott werden lässt, nach meinen Rückständen befragt und es am Monatsende auch noch schriftlich tut. Frau Scheunemann ist sehr genau in dieser Frage und sie kann es überhaupt nicht leiden, wenn man mehr als eine Woche im Rückstand ist, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Und wenn ich da vierhundert Lichtjahre von der Erde entfernt im Wesentlichen mit Aufgaben beschäftigt bin, an denen die Existenz der Föderation hängen kann, dann kann ich keinen gebrauchen, der – oder die – mir mit Schadenterminen im Nacken hängt.“

Rickert überlegte einen Moment.

„Wir hatten zwar an eine normale Integration in die Schadenabteilung gedacht, aber wenn Sie uns helfen können und wollen, wird sich eine Lösung finden lassen. Ich werde mit Frau Scheunemann und der Direktion in Köln sprechen. Sobald ich was weiß, rufe ich Sie an.“

Auf Rickerts Schreibtisch klingelte das Telefon.

„Entschuldigung“, sagte er und hob ab. „Rickert? Ja, … ja, der ist hier. Moment.“

Mit verstörtem Blick reichte er Thomas den Hörer.

„Für Sie, Herr Hansen.“

Thomas nahm ihm den Hörer ab.

„Hansen, guten Tag.“

„Töpfer hier. Ich habe gehört, Sie sind im Hause. Haben Sie in Sachen Harkort ein bisschen Zeit für mich?“

„Ja, wir sind hier gerade fertig. Ich bin in fünf Minuten bei Ihnen“, gab Thomas zurück. Er gab Rickert den Hörer zurück, der auflegte.

„Wundern tue ich mich später. Herr Töpfer wollte mich wegen der Harkort-Geschichte sprechen. Er hat nicht mal gehustet“, bemerkte Thomas. „Kommst du mit?“, fragte er Gabi. Sie nickte.

Wenige Minuten später waren sie im Zimmer von Töpfer, der Gabi mit zusammengekniffenen Augen ansah und nervös hüstelte.

„Sie kommen mir bekannt vor …“

„Meine Frau, Gabriele Hansen. Wie ich ehemals in diesem Hause tätig, Herr Töpfer“, stellte Thomas vor. Töpfer zeigte keine genau erkennbare Reaktion.

„Sie haben was Neues zu Harkort?“, fragte Thomas dann.

„Ja, aber was hat Ihre Frau …?“

Thomas lächelte verbindlich.

„Meine Frau hat mir dabei geholfen, Harkort auf die Schliche zu kommen“, erklärte er. „Also, was gibt’s?“

„Dass Sie mitten ins Schwarze getroffen haben, das gibt’s“, erwiderte Töpfer anerkennend. „Als ich die Notizen in der Zeitung gelesen habe, habe ich ein paar Tage abgewartet, bis mehr in der Presse war. Dann habe ich in Aberdeen angerufen und Mr. Harkort gefragt, ob wir ihm helfen können – etwa mit dem Institut. Und was sagt er mir? Er wisse von nichts, die Flotte hätte sich wegen fehlerhafter Transponder noch nicht bei ihm beschwert. Das sei eine Erfindung der Presse.“

„Haben Sie von Schadenursachen gesprochen?“, erkundigte sich Thomas. Töpfer schüttelte den Kopf.

„Nein. Harkort muss ein mächtig schlechtes Gewissen haben.“

„Und ein schlechtes Gedächtnis. In den Pressemitteilungen stand bis heute nichts von den Transpondern. Ich habe die Kollegen von der Pressestelle extra gebeten, nichts von den Transpondern verlauten zu lassen. Wenn Mr. Harkort von sich aus auf die Transponder zu sprechen kam, weiß er, dass die Biester nicht in Ordnung sind.“

„Was meinen Sie? Sollen wir zuschlagen?“, fragte Töpfer.

„Herr Töpfer, ich kann Ihnen dazu nichts raten. Das ist eine Entscheidung, die Sperling-Assekuranz treffen muss. Umstand ist, dass Harkort Sperling um diverse Millionen betrogen hat, dass Harkort seine eigene Tochterfirma in Palo Alto ruinieren will, dass der Föderation für einige Millionen unbrauchbare Robots angedreht wurden. Die Föderation wird ihre Ansprüche verfolgen – ob Sperling als Haftpflichtversicherer eintritt oder nicht. Wenn Harkort nicht innerhalb der nächsten zwei Wochen seine Bereitschaft bekundet, den Schaden zu zahlen und brauchbaren Ersatz zu liefern, wird die Föderation Strafanzeige erstatten. Wir werden uns dabei nur auf die objektiv nicht einsatzfähigen Transponder beschränken. Das ist leicht festzustellen. Außerdem wird der Hersteller direkt auf den Chips genannt. Unsere Informationen haben wir also selbst gesammelt – offiziell jedenfalls. Sperling käme dadurch nicht in den Verdacht, über seine Kunden geplaudert zu haben. Aber was Sie tun …“, Thomas zuckte mit den Schultern, „… ich kenne die Abneigung von Sperling, einen Versicherungsnehmer grob anzufassen“, setzte er dann hinzu.

„Meinen Sie, man sollte dem härter auf die Finger schlagen?“

„Ich habe Ihnen neulich vorgerechnet, wie rentabel, besser unrentabel die Verbindung ist. Wenn nicht wirklich eine Menge lukratives Geschäft dranhängt, sollten Sie etwas unternehmen, Herr Töpfer. Ich weiß, dass es schwer ist, die Direktion von einer Strafanzeige zu überzeugen. Aber man kann die Banditen nicht immer laufen lassen. Und Harkort ist ein Bandit!“

„Danke. Ich spreche mit den Kölnern“, erwiderte Töpfer, unsicher und nervös hüstelnd.

„Nun, eines können Sie auch tun, ohne den Kölnern einen Heidenschreck zu versetzen“, bemerkte Gabi. „Sie können den Regress gegen Harkort einleiten. Der damalige Transportschaden war immerhin so groß, dass Ihre Unterschrift für die Zahlung nötig war. Sie wissen also offiziell von dem Schaden – und jetzt von seinem Nichtvorhandensein.“

Töpfer sah die junge Frau zunächst verblüfft an, dann hüstelte er wieder nervös. So, wie die Hansens vor ihm saßen und ihm dezidiert darlegten, was er tun konnte, kamen sie ihm wie Revisoren vor – und Revisoren fürchtete Alwin Töpfer mehr als alles andere auf der Welt.

„Ja, wir werden sehen, was wir tun können“, sagte Töpfer zerstreut. Er fürchtete die Folgen eines Regresses gegen den bedeutenden Kunden Harkort – aber nach den jetzt aufgetauchten Pressemeldungen und der nun nicht mehr zu leugnenden Tatsache, dass Harkort Transponder benutzt hatte, die wider besseren Wissens dem Versicherer als verloren gemeldet waren, konnte er gar nicht anders. Thomas und Gabi verabschiedeten sich.

Auf dem halben Weg durch den verglasten Treppenturm kam ihnen Frank Eichner entgegen, der im Gegensatz zu seinem wochenendlichen Besuch bei den Hansens jetzt recht gehetzt wirkte und eine Schadenakte unter dem Arm hatte. Thomas winkte und schnappte Frank gerade noch am Arm.

„Du bist auf dem Weg zu Töpfer“, stellte er fest. Frank nickte.

„Er hat dich wegen Harkort angerufen und du sollst die Schadenakte mitbringen.“

Wieder nickte Frank.

„Bringt Raumfahrt die Fähigkeit des Hellsehens mit sich?“, fragte er. Thomas lachte auf.

„Nicht unbedingt, aber nach dem Gespräch, das Gabi und ich eben mit Töpfer hatten, kann es nur der Regress gegen Harkort sein.“

„Genau das.“

„Ich würde zu gern Mäuschen spielen bei dem Gespräch“, gab Thomas zu. „Hältst du uns auf dem Laufenden?“

„Und wenn ich bis ans Ende der Galaxis telefonieren müsste! Auf Gespräche mit Vorgesetzten freut man sich als Normalmensch selten, aber auf dieses warte ich seit Monaten. Danke für eure Hilfe, ihr beiden. Ohne euch hätte keiner Töpfer soweit bekommen, Harkort in Regress nehmen zu wollen. Wann fliegt ihr eigentlich?“

„In einer Woche sind wir wieder im Raum – aber wir hören voneinander. Gabi und ich regulieren wieder Schäden für Sperling, wenn auch von der Außenstelle Megara, lieber Kollege.“

„Megara? Seit wann gibt’s da ‘ne Außenstelle?“

„Seit in zwei Wochen“, grinste Thomas. „Dann machen wir sie nämlich auf. Und das hier“, er zog einen Kommunikator aus der Tasche und drückte ihn Eichner in die Hand, „wird dir helfen, Telefonkosten zu sparen. Aber ich schneide dir die Ohren ab, wenn dieses Ding in die Hände von Frau Scheunemann fällt! Die ruft uns sonst noch nachts um drei an.“

„Versprochen. Besucht uns bald wieder. Oder bleibt wieder hier. Sperling hat ohne euch einfach keinen Pfeffer“, verabschiedete sich Frank und sprang eilig die Treppen nach oben.

„Was meinst du? Versagen die wirklich den Versicherungsschutz?“, fragte Gabi, als sie aus dem Haus traten.

„Ach, Gabilein, du kennst doch unseren Ex-Arbeitgeber!“, seufzte Thomas. „Nur soll es uns nicht stören. Wir haben ihnen die Mittel an die Hand gegeben. Wenn sie sie nicht nutzen, ist es nicht unser Problem. Komm, mein Schatz, wir müssen unser Diplomatengepäck wieder schnüren.“

Gabi blieb auf der halben Treppe zur Straße hinunter stehen.

„Und was werden unsere Kollegen sagen? Ich meine die auf Megara und auf der Ganymed?“

„Wozu?“

„Nun, zu mir. Ich muss ihnen etwas fremd erscheinen“, bemerkte Gabi unsicher. Thomas lächelte breit.

„Hugh ist gewarnt, Kwiri war schon bei uns. Und ansonsten …“ Thomas kam die Treppe wieder hoch, nahm Gabi einfach auf den Arm, gab ihr einen Kuss und trug sie zum Auto.

„… werden sie begeistert sein und dich zur Königin des Weltalls erheben.“

 

 

Glossar

In dieser speziellen Geschichte sind zahlreiche Begriffe aus der Fachsprache der Versicherungskaufleute enthalten, die wahrlich nicht jeder kennt. Zudem kommen einige Insidersprüche vor, die in Hamburg zwar bekannt sind, außerhalb aber unbekannt sind.

Zum besseren Verständnis von Versicherungslaien und Nichthamburgern habe ich diese Spezifika und Hamburgensien daher hier erklärt. Ein ↑ ist ein Querverweis auf einen anderen erläuterten Begriff.

All’ns kloor?: Niederdeutsch für alles klar

Barmbek: Stadtteil im nördlichen Hamburg, in dem sich auch ein großes Krankenhaus befindet. Die Krankenhäuser, die in den verschiedenen Stadtteilen Hamburgs sind, werden oftmals ohne den Zusatz Krankenhaus einfach mit dem Stadtteilnamen bezeichnet. Ich bin in Barmbek geboren … buchstäblich … Klar soweit?

büschen: Niederdeutsch für bisschen

Deckungsbeitragsprinzip: Das Verhältnis von Prämien↑ zu Betriebskosten und ausgezahlten Schäden soll mindestens so ausgewogen sein, dass nach Abzug der anteiligen Betriebskosten und der Schäden je Vertrag entweder beide Beträge gleich sind (kostendeckend) oder noch was übrig bleibt (Gewinn). Sind Kosten und Schäden höher als die eingenommene Prämie, ergibt sich für den betreffenden Vertrag ein Verlust. Siehe auch Schadenquote↑.

Grobe Fahrlässigkeit: Im Bürgerlichen Gesetzbuch definiert als Außerachtlassung der im Verkehr [hier auf das allgemeine Leben bezogen, nicht nur auf den Autoverkehr!] erforderlichen Sorgfalt in besonderem Maße. Zu Deutsch: Man stellt sich so dämlich an, dass es mit Worten fast nicht mehr zu beschreiben ist. Betrunken ein Auto zu fahren oder über eine rote Ampel zu brettern und dabei einen Verkehrsunfall verursachen gilt als grob fahrlässig. In der Sachversicherung (z.B. Gebäudeversicherung, Fahrzeugversicherung [Kaskoversicherung]) ist grobe Fahrlässigkeit ein Ausschlusstatbestand. Grob fahrlässig verursachte Schäden werden hier nicht bezahlt.

Harburg: Hamburger Stadtteil südlich der Elbe.

Herwardeshuder Weg: An die Hamburger: Nein, die Straße gibt’s nicht! Gar nicht erst im Straßenatlas suchen … Ich habe meine Gründe für die Umbenennung …

Kroisos von Lydien: Weder Hamburgensie noch Versicherungschinesisch … Sagenhafter König im antiken Griechenland, galt als unermesslich reich. Auch bekannt als Krösus

K-Schaden: Kraftfahrt-Schaden, jene Abteilung bei Versicherungen, in der die Schäden bearbeitet werden, die von oder an Kraftfahrzeugen verursacht werden. Bei der Liebe der Deutschen zu ihren Autos eine ziemlich wichtige Abteilung, die aber von den Vorständen meist nur mit Widerwillen betrachtet wird, weil dort richtiges Geld ausgegeben wird …

Kulanz: Der Versicherer zahlt, obwohl er das bedingungsgemäß nicht muss. Für Kulanzgewährung sind in der Regel sehr hoch gestellte Leute zuständig, an die ein normaler Sachbearbeiter nicht herankommt …

Moin, moin: In Norddeutschland üblicher Gruß, korrekt übersetzt (guten) Morgen, (guten) Morgen, aber gerade unter Nordlichtern den ganzen Tag über gebräuchlich.

Nachtdienst: Zugegeben, etwas übertrieben, aber wer morgens um sieben mit der Arbeit beginnt, empfindet es zuweilen als verdammt lange und spät, wenn er bis 16.45 Uhr im Büro schmoren muss … Ich habe meine Erfahrungen …

Ochsenzoll: Nördlicher Stadtteil von Hamburg, in dem sich die bekannteste Nervenklinik Hamburgs befindet. Schnappt in Hamburg jemand über (sorry, das ist das Hamburgische schon mit mir durchgegangen … Wird jemand verrückt, soll’s heißen …), wird er in diese Klinik überwiesen oder eingeliefert. Im Volksmund nennt man das in Hamburg: nach Ochsenzoll kommen.

Ohlsdorf: Stadtteil im nördlichen Hamburg. Dort befindet sich der größte der Hamburger Friedhöfe, der Friedhof Ohlsdorf. Es ist der größte Waldfriedhof Europas, eine wunderschöne Anlage, in der die Gräber unter Bäumen angelegt sind. Wie groß er eigentlich ist, lässt sich zwanglos daraus erkennen, dass über diesen Friedhof 13 Kapellen für die Bestattungsfeiern verteilt sind und zwei Buslinien mit den in Hamburg üblichen Omnibussen auf dem Friedhofsgelände verkehren. Zudem befindet sich dort die größte geschlossene Ansammlung von Rhododendren (eigentlich in Südamerika beheimatet) in Europa. Besonders im Mai, zur Blütezeit des Rhododendrons, ist der Friedhof Ohlsdorf ein wunderschönes Fleckchen Erde, von dem man nicht annimmt, dass es sich mitten in der Millionenstadt Hamburg befindet. In Ohlsdorf sein ist in Hamburg  ähnlich sprichwörtlich wie im Fall Ochsenzoll↑ …

Police: Versicherungsvertrag. Nicht zu verwechseln mit dem englischen Begriff für Polizei!

Prämie: Der Preis, der für Versicherungsschutz bezahlt wird. Nicht zu verwechseln mit einer Belohnung!

Provenuen: Schadengut. Besonders im Bereich der Transportversicherung üblich. Erleidet transportierte Ware einen Schaden, bezahlt der Transportversicherer dem Versicherungsnehmer↑ den Wert der beschädigten Ware und bekommt dafür die (noch vorhandene) Ware und kann sie dann – soweit noch brauchbar – in eigener Regie verkaufen und damit den Schadenaufwand mindern.

Regress: Rückforderung von Versicherungsleistungen, sei es vom Versicherungsnehmer↑, von anderen Versicherern oder von Dritten (d.h. von Personen, die außerhalb des Vertragsverhältnisses Versicherer – Versicherungsnehmer stehen). Vom VN (Kurzform für Versicherungsnehmer) geschieht das dann, wenn er Leistungen des Versicherers zu Unrecht in Anspruch genommen hat oder aus bestimmten, in den Versicherungsbedingungen und im Versicherungsvertragsgesetz genau definierten Gründen keinen Versicherungsschutz hat; von anderen Versicherern, wenn deren VN für einen Schaden (mit)verantwortlich ist; von Dritten, wenn sie für einen regulierten (bezahlten) Schaden (mit)verantwortlich sind und ihr Versicherer dafür nicht aufkommt. Gewichtiger Prüfpunkt der Revision↑.

Revision: Eigene Abteilung einer Versicherung, die Schäden und Verträge auf korrekte Bearbeitung prüft. Üblicherweise werden alle Abteilungen in Abständen von drei bis vier Jahren von der Revision geprüft. Schreckgespenst jedes Sachbearbeiters und Abteilungsleiters …

Schadenquote: Das Verhältnis von eingenommener Prämie↑ zu ausgezahlten Schäden, bezogen auf einen bestimmten Vertrag oder einen Kunden. 100% Schadenquote bedeutet, dass die eingenommene Prämie vollständig für Schäden ausgegeben wurde. Da eine Versicherungsgesellschaft aber auch laufende Betriebskosten hat, die von den Prämien ebenfalls bezahlt werden müssen, ist eine Schadenquote von 100% ein schlichtes Verlustgeschäft.

Schädling: Spitzname für Schadensachbearbeiter.

Transport: Versicherungszweig, der sich mit den Gefahren des Warentransportes befasst. Hierzu gehören Schiffsversicherung sowohl hinsichtlich der Schiffe selbst (so genannte Kaskoversicherung [casco: italienisch für Körper]) als auch dessen, was Schiffe anrichten können, wenn Kapitän, Steuermann oder Lotse einen Fehler machen (Haftpflichtversicherung), die Versicherung der transportierten Ware, sowie diverser Nebensparten, die hier aber keine Rolle spielen.

verknusen: Hamburgisch für etwas vertragen

Versicherungsnehmer: Wer sich bei einer Versicherung versichert, nimmt eine Versicherung. Vertragspartner des Versicherers.

Vorsatz: Absichtliche Herbeiführung des Versicherungsfalls, als Begriff übernommen aus dem Strafrecht; Ausschlusstatbestand in allen Versicherungszweigen, führt zum Verlust des Versicherungsschutzes, muss vom Versicherer aber bewiesen werden – und das ist nicht immer einfach …

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