Vorwort
Diese Geschichte stammt inhaltlich aus dem Jahr 2004, wurde also lange vor der Veröffentlichung von Fluch der Karibik 2 geschrieben.
Insofern sind natürlich die Ereignisse von Fluch der Karibik 2 und Pirates of the Caribbean – Am Ende der Welt hier nicht berücksichtigt, auch die in diesen beiden Teilen hinzugekommenen Personen und deren Darsteller sind hier – abgesehen von „Stiefelriemen Bill“ Turner – nicht berücksichtigt.
„Stiefelriemen Bill“ Turner steht hier nicht nur im Zentrum des Interesses seines Sohnes, die ganze Geschichte fußt auf ihm. Ich habe mich bei der Personalie „Stiefelriemen Bill“ Turner an den Aussagen orientiert, die in Fluch der Karibik über ihn gemacht wurden – und da sagen sowohl Captain Jack Sparrow als auch Ragetti, dass Will jr. seinem Vater Stiefelriemen wie aus dem Gesicht geschnitten sei. Folglich hat Will also verblüffende Ähnlichkeit mit seinem Vater.
Erst mit der Veröffentlichung von Fluch der Karibik 2 und dem Auftreten von Stellan Skarsgård in der Rolle des „Stiefelriemen Bill“ Turner wurde dann klar, dass die Ähnlichkeit von Vater und Sohn Turner eher in Persönlichkeit und Charakter liegt, äußerlich aber nur wenig Ähnlichkeit besteht. Ob man dazu gegriffen hat, weil es keinen Schauspieler im passenden Alter gab oder gibt, der Orlando Bloom genügend ähnlich sieht, um diese Aussage wahrzumachen oder ob es andere Gründe gab, auf die in Fluch der Karibik immer wieder betonte äußere Ähnlichkeit zu verzichten, ist unklar; man kann es nur als gegeben hinnehmen.
Als ich diese Geschichte schrieb, war auch davon auszugehen, dass Jack Sparrow nach dem Ende von Fluch der Karibik als guter Freund von Will Turner zu gelten hatte. Sein Verhalten gegenüber Will in Fluch der Karibik 2 hat mich seinerzeit so sehr erschreckt, dass ich lange nicht in der Lage war, Geschichten zu Fluch der Karibik zu schreiben. Zum einen, weil ich den Eindruck hatte, mich zu weit von den Grundideen der Autoren zu entfernen, zum anderen, weil mir die scheinbare Absicht der Autoren, Elizabeth mit Jack zusammenzuspannen, regelrecht gegen den Strich ging. Ich bin nun mal bekennender Will-Turner-Fan … Jack Sparrow ist in dieser Reihe deshalb nicht unbedingt identisch mit dem Jack Sparrow, der aus den beiden letzten Dritteln der Trilogie bekannt ist.
Inzwischen habe ich mich dank Pirates of the Caribbean – Am Ende der Welt von diesem Schreck erholt. Durch den anderen Ablauf in den veröffentlichten Filmen ergeben sich bei mir zwei Wege: Einerseits, Geschichten auf der Basis aller drei Filme zu schreiben; andererseits die 2004 begonnene Linie, die allein den ersten Film als vorangegangene Handlung berücksichtigt.
Die vorliegende Geschichte Der Gefangene von Cayenne steht insofern nicht allein. Gegenwärtig existieren drei bereits fertige und in gleicher Ausstattung erhältliche Nachfolgegeschichten, nämlich Die Pyramide von Cozumel, Die Diamanten von San Cristobal sowie Lady Elaines Rachedurst. Ein fünfter Teil, der möglicherweise den Titel Die Truhe der Pandora tragen wird, befindet sich gegenwärtig noch in der Planungsphase.
Alle Nachfolgegeschichten basieren auf Der Gefangene von Cayenne. Es ist empfehlenswert, zunächst diesen Band zu lesen, bevor eine der Fortsetzungen in Angriff genommen wird, auch wenn es sich um eine in sich abgeschlossene Geschichte handelt.
Dem Einfluss der Fortsetzungen in der Filmtrilogie konnte und wollte ich mich nicht mit aller Gewalt entziehen. Die Fortsetzungen aus der Cayenne-Linie enthalten deshalb in zunehmendem Maß auch Motive aus den Filmsequels.
Eine Anmerkung noch zu der wohlgemeinten Kritik, die mich bezüglich der wiederholten Erwähnung der äußeren Ähnlichkeit von Vater und Sohn Turner, der wiederholten Erzählung von „Stiefelriemen Bill“ Turner zu seiner Piratenkarriere und der historisch falschen Darstellung von Cayenne als Strafkolonie erreicht hat: Es stimmt. Ich habe die Ähnlichkeit recht oft erwähnt. Die dreimalige Erzählung der Geschichte des „Stiefelriemen Bill“ Turner ist nicht das, was man sich als Leser erträumt, und historische Fehler dürfen einfach nicht gemacht werden. Letzteres erst recht nicht, wenn jemand wie ich an der Historie mehr als nur interessiert ist.
Was die Erwähnung der Ähnlichkeit betrifft, habe ich mich mit Terry Rossio und Ted Elliott eigentlich in bester Gesellschaft gewähnt. Im ersten Teil der Filmtrilogie wird mindestens dreimal erwähnt, wie ähnlich sich Vater und Sohn sein sollen. Wenn diese Worte wiederholt aus Jacks Mund kommen, geht das eher als running gag durch. Ich halte es auch nicht für falsch oder überflüssig, wenn Will und Stiefelriemen jeweils selbst erkennen, dass sie sich sehr ähnlich sind; dass Jack gerade unter diesem Aspekt Will davon abhält, selbst zu erkunden, wo sein Vater festgehalten wird; dass Elizabeth sich angesichts ihres Schwiegervaters bildhaft vorstellen kann, wie Will einmal aussehen wird; dass der Ex-Gouverneur von Nassau in Will ob der Ähnlichkeit den Sohn seines Retters erkennt; dass Gillette auch schon glaubt, beinahe doppelt zu sehen, als er Vater und Sohn Turner auf der Black Pearl antrifft.
Ich habe im Zuge der Überarbeitung durchaus überlegt, die wiederholte Erwähnung zu streichen und habe es an manchen Stellen auch getan; wenn ich es meist doch gelassen habe, dann deshalb, weil es nach meiner Überzeugung für jede einzelne Person, die zu dieser Erkenntnis kommt, keinesfalls überflüssig ist. Jeder erkennt es für sich persönlich und das halte ich auch für erwähnenswert.
Was den von Stiefelriemen selbst berichteten Werdegang vom braven Handelsmariner zum Piraten und Meuterer wider Willen betrifft: Um einen ausführlichen Bericht dazu kommt man einfach nicht herum, weil es naturgemäß Sohn und ehemaligen Captain interessiert – und zwar unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten. Jack will wissen, ob Stiefelriemen an der Meuterei beteiligt war, Will ist daran interessiert zu erfahren, weshalb sein Vater diesen Weg eingeschlagen hat. Der Bericht an Will im Kapitel 11 ist der ausführlichste und umfasst fast 3 Seiten in der großformatigen Fassung, nahezu 6 in der Buchfassung. Die früheren Berichte gegenüber Elizabeth und Jack umfassen im Kapitel 9 etwa 3 Seiten in der Buchfassung. Ich habe diese beiden so weit verändert, dass sie die wirklich mehrfach dargestellten Teile nicht mehr enthalten. Es wird nur noch erwähnt, dass Bill entsprechend berichtet.
Zum historischen Fehler bezüglich der Strafkolonie: Diesen Umstand zu ändern hätte der Geschichte die Grundlage entzogen. Ich habe dafür eine Lösung gefunden, die es mir ermöglicht, dabei zu bleiben ohne die Historie völlig auf den Kopf zu stellen.
Ein weiterer Kritikpunkt bezog sich auf das Verhalten von James Norrington am Ende der Geschichte. Ich gebe zu: In der Person Norrington habe ich mich mächtig geirrt. Nachdem ich das Handbuch Fluch der Karibik fertig gestellt hatte, war mir dann endgültig klar, dass James so nicht handeln würde. Insofern darf sich nun Gillette die Finger schmutzig machen …
Bei der ersten Veröffentlichung 2004 bin ich auch darauf hingewiesen worden, dass in dieser Geschichte eine Menge „Seemannskauderwelsch“ enthalten ist. Da es sich dabei wirklich um Fachausdrücke handelt, ohne die ein Geschehen in der Seefahrt meines Erachtens nicht angemessen beschrieben werden kann, habe ich – wie inzwischen bei mir üblich – am Ende ein Glossar angefügt, in dem entsprechende Erläuterungen zu finden sind.
Im Rahmen dieses Glossars habe ich auch diverse andere Ausdrücke erklärt, von denen ich annehme, dass sie nicht jedem Leser bekannt sind. Näheres bitte ich, der Vorbemerkung zum Glossar zu entnehmen.
Eine weitere Veränderung gegenüber der 2004 veröffentlichten Version ist das Handlungsjahr. Im Zuge der weiteren Teile und der Fertigung des Handbuches hat sich für Der Gefangene von Cayenne 1755 als passenderes Handlungsjahr herausgestellt. Die Geschichte ist damit um 30 Jahre verschoben, was sich auf die genannten Daten natürlich entsprechend auswirkt.
Noch eine Veränderung hat die Schiffsbezeichnung der Black Pearl erfahren. Weil es sich um ein Dreimast-Vollschiff handelt, bin ich ursprünglich davon ausgegangen, dass es als Fregatte zu bezeichnen ist. Ich habe erst im Laufe der weiteren Geschichten erfahren dürfen, dass diese Dreimaster als Galeonen oder Ostindienfahrer vom Stapel liefen. Die Galeone war im 17. Jh. der Standardtyp sowohl des Handels- als auch des Kriegsschiffs. Im 18. Jh. bildete sich die Unterscheidung zwischen der zivilen und der militärischen Version heraus, wobei die militärische Variante als Fregatte bezeichnet wurde.
Die erst sehr viel später bekannt gewordene Hintergrundgeschichte der Black Pearl, nach der sie als Wicked Wench, für die East India Trading Company gebaut wurde, lässt sie als ehemaligen Ostindienfahrer erscheinen, also eine Galeone. Deshalb habe ich in der überarbeiteten Version die bislang als Fregatte bezeichnete Black Pearl nun in Galeone umgezeichnet.
Bei Militärschiffen wie der HMS Dauntless oder französischen Kriegsschiffen bleibt es dann natürlich bei Fregatte für diese Schiffsklasse.
Tornesch im Juli 2014
Kapitel 1
Das Erbe des Meisters
Es war Frühling auf Jamaica – nun ja, wenigstens dem Datum nach, denn die klimatischen Bedingungen der Karibik schufen eher einen Dauersommer. Hier herrschten das ganze Jahr über sommerliche Temperaturen und selbst die Nächte waren so warm, dass man zum Schlafen außer dem unabdingbaren Moskitonetz allenfalls ein dünnes Baumwolllaken benötigte, aber ganz gewiss kein Federbett. Die Kolonisten, die seit der Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus hierhergekommen waren, hatte durchaus auch die chronische Wärme angezogen. Auf jeden Fall galt das für die, die aus dem ewig verregneten und kalten England den Weg in die tiefblauen, glasklaren Gewässer der Karibik gefunden hatten.
Jamaica war eine englische Kolonie und vor noch nicht allzu langer Zeit eine Hochburg der karibischen Piraten, die die Gewässer hier nach wie vor unsicher machten. Doch seit Sir Henry Morgan Vizegouverneur von Jamaica gewesen war, war es mit der Piratenherrlichkeit auf dieser Insel vorüber. Gesetz und Ordnung regierten hier und das zu dieser Zeit in Gestalt von Weatherby Swann. Er war ein Mann der von großen Festen nicht unbedingt etwas hielt, der aber auch nicht abgeneigt war, ein solches zu geben, wenn der Anlass entsprechend war.
Ein solcher Anlass war gerade vier Wochen her und er betraf die Hochzeit seiner einzigen Tochter Elizabeth. Elizabeth hatte nach etlichen Schwierigkeiten, die auch die Entführung ihrer Person durch Piraten einschlossen, endlich ihren langjährigen Freund und kurzzeitigen Geliebten William Turner heiraten können. Die Hochzeit war ein rauschendes Fest gewesen, bei dem der Gouverneur wirklich nicht gespart hatte. Wohl hatte er gewisses Magendrücken angesichts des Bräutigams gehabt, schließlich war William Turner jr. kein reicher Plantagenbesitzer, sondern der Geselle des örtlichen Waffenschmiedes; ein ehrbarer Handwerker, wenngleich sein Vater Pirat gewesen war. Dass Will, wie der junge Mann allgemein genannt wurde, gewisse Anteile von Piratenblut hatte, hatte sich während der letzten Monate zwar gezeigt, doch Will war nach diesen Abenteuern wieder in die Schmiede und zu seinem bürgerlichen Leben zurückgekehrt – und das beruhigte seinen nunmehrigen Schwiegervater doch. Zudem hatte Will gute Manieren, verstand es trotz seiner einfachen Herkunft, sich recht gewählt auszudrücken und er hatte ein mehr als nur ansprechendes Äußeres.
Der Nachmittag war heiß, auch für karibische Verhältnisse. Im Schatten betrug die Temperatur wenigstens 100° F** und obendrein war es feucht. In der Schmiede war es noch heißer. Will und sein Meister hatten am Oberkörper nur noch die ledernen Schürzen, die sie vor den sprühenden Funken der Schmiedestücke schützen sollten. Jeder arbeitete an einem Marinedegen, denn in den nächsten Tagen erwartete Port Royal wieder eine festliche Zeremonie. Commodore Norringtons Blitzkarriere setzte sich fort. Nach nur gut einem halben Jahr als Commodore sollte er zum Rear-Admiral befördert werden und Lieutenant Gillette sollte den Rang eines Lieutenant-Commander erhalten. Für beide hatte Gouverneur Swann neue Degen bestellt. Norrington musste bald eine ganze Sammlung haben, wenn er für jeden Dienstgrad, den er befördert wurde, einen neuen Degen bekam, mutmaßte Will, während er an dem neuen Stück arbeitete. War schon der vorhergehende Degen aus gefaltetem Stahl und exakt ausgewogen, hatte Will in diesen Ehrendegen eine Wolkendamaszierung eingearbeitet, in die unmittelbar unter der Fehlschärfe ein vollgetakeltes Segelschiff eingeätzt werden sollte, das der HMS Dauntless mehr als nur ähnlich sah – so jedenfalls sah es die Zeichnung vor, die Will sich als Vorlage gemacht hatte. Die Fehlschärfe selbst war vergoldet, der Griffkorb sollte in drei geschwungenen Stangen zum Knauf hin auslaufen, die wahrhaftig aus purem Gold bestanden.
Sein Chef mühte sich mit dem neuen Stück für Gillette ab, das wesentlich weniger prächtig ausfallen würde. Meister Brown, gut einen Kopf kleiner als sein Geselle, dafür aber doppelt so breit, schnaufte schon seit dem Vormittag wie ein überanstrengtes Pferd. Er schob den Degen wieder in die Esse und setzte sich erschöpft auf seinen Stuhl.
„Will, meine Flasche ist leer“, schnaufte er. „Ich brauch’ was zu trinken.“
Will war mit der Damaszierung der von ihm bearbeiteten Klinge noch nicht zufrieden und schob sie ebenfalls wieder in die Esse.
„Meister, wenn Ihr mir einen Rat erlaubt, solltet Ihr bei dieser Hitze besser keinen Rum mehr trinken. Soll ich Euch Wasser holen?“
Brown sah seinen jungen Gesellen mit rotunterlaufenen Triefaugen an.
„Ich bin durstig, mein Junge, nicht schmutzig!“, wies er Will zurecht. Will zog skeptisch die linke Augenbraue hoch. Sie schwitzten beide, dass ihnen der Schweiß in Bächen über den Körper rann. Wenn jemand jetzt in die Schmiede kam, stolperte er rückwärts wieder heraus vor dem Mief aus Schweiß, Alkoholdunst, glühender Holzkohle und heißem Metall, dessen war Will sicher.
„Na schön, Ihr müsst es wissen. Ich habe Euch gewarnt“, seufzte er und verließ die Schmiede, um Wasser für sich und Rum für den Meister zu holen.
Als er unten im Keller war, wo Meister Browns Rumvorräte lagerten, hörte er einen dumpfen Aufprall. Besorgt sprang er die Stufen in die Schmiede hinauf. Meister Brown war vom Stuhl gestürzt und rührte sich nicht mehr. Will klopfte ihm an die Wangen, rief ihn – keine Reaktion. Eilig rannte er in den Hof hinaus, schöpfte Wasser aus dem tiefen Brunnen, schüttete seinem Meister den halben Eimer direkt ins Gesicht, der schnaubend und prustend wieder hochkam.
„Hey, was soll, das?“, keuchte Brown.
„Ihr seid schlichtweg umgekippt, Meister. Und jetzt trinkt Ihr das hier!“, erwiderte Will mit einem Ton, der keinen Widerspruch duldete und flößte seinem Meister Becher Wasser ein.
„Uuahh, scheußlich! Das Zeug hat wirklich keinen Geschmack!“, fluchte Brown.
„Kommt, trinkt noch eins. Ist wirklich besser als Rum, Meister“, entgegnete Will und hielt seinen immer noch schlappen Meister fest im Arm, damit er nicht wieder umkippte. Brown trank brav und merkte, dass es ihm allmählich besser ging.
„Danke, mein Junge“, sagte er nach einer Weile. „Ich glaub’, ich sollte mich ‘ne Weile hinlegen. Bring’ mich nach oben, Will.“
Will half ihm auf und beförderte ihn in die Wohnung über dem Schmiedenanbau. Mabel, Meister Browns Frau, öffnete auf Wills Klopfen.
„John! Es ist heller Nachmittag, und du bist schon besoffen!“, schalt sie.
„Nee, das is’ nur die Hitze, Schätzchen“, brummte Brown. Seine Frau sah Will an, der nur verlegen, aber vielsagend die Augenbrauen hob.
„Ist wirklich heiß, Madame“, sagte er entschuldigend. Mabel hörte schon am Ton des jungen Mannes, dass er mit Meister Browns Saufeskapaden keineswegs einverstanden war, aber letztlich dagegen ebenso wenig tun konnte wie sie selbst.
„Leg’ ihn in die Hängematte auf der Veranda, Will!“, wies sie ihn an. Will merkte, dass seinem Meister die Beine erneut wegknickten, hob ihn auf seine Arme und trug ihn auf die schattige Veranda, wo im leichten Seewind des Meisters liebste Hängematte baumelte, und beförderte ihn hinein.
Als er wieder gehen wollte, hielt Brown ihn fest.
„Will, warte mal.“
„Meister?“
„Komm, mein Junge, setz’ dich her“, erwiderte Brown und zog den jungen Mann auf den Stuhl, der neben der Matte stand.
„Hör mal, die beiden Degen müssen heute noch fertig werden.“
„Ich weiß, deshalb will ich ja auch wieder ‘runter“, grinste Will. John Brown schüttelte heftig den Kopf.
„Nein, zuerst hörst du mir zu!“, versetzte er. „Mabel, komm du auch her!“, rief er dann nach seiner Frau, die auch sofort kam.
„Will, wie lange bist du jetzt bei uns?“
„Fast neun Jahre, Meister.“
„Wie lange bist du jetzt Schmied?“
„Ich bin doch gleich bei Euch in die Lehre gegangen, Meister“, erinnerte Will verblüfft.
‚Der Alkohol verursacht offensichtlich Gedächtnisschwund’, dachte Will bei sich. Brown grinste leicht.
„Wie lange hast du gelernt?“
„Offiziell vier Jahre, Meister, aber wer lernt schon aus?“, erwiderte Will schmunzelnd.
„Dann bist du jetzt fast fünf Jahre mein Geselle“, stellte Brown fest. Will nickte.
„Als du mal herkamst, warst du ein schmächtiges Kerlchen, aber du warst und bist gelehrig und du hast eine Kraft entwickelt, die bemerkenswert ist, so ‘n schmales Hemd wie du bist. Was … würdest du davon halten …, die Schmiede zu übernehmen, mein Junge?“
„Wie bitte?“
„Sieh mal, ich bin jetzt bald sechzig und schon ‘n bisschen klapprig. Ich hab’ dir alles beigebracht, was ich weiß und was ich kann. Kinder hab’ ich keine, denen ich die Schmiede hinterlassen könnte. Das hier“, Meister Brown wies nach unten, „ist die einzige Waffenschmiede in der ganzen Karibik, aus der wirklich brauchbare Schwerter kommen. Unsere Entwicklung von widerstandsfähigen Metallen, denen auch Salzwasser nix anhaben kann, ist ‘ne tolle Sache, mein Junge. Ich hab’ das Patent drauf.“
Will nickte.
‚Ist ja auch meine Entwicklung gewesen, lieber Meister! Genauso, wie die perfekt ausgewogenen Klingen, die du nie hingekriegt hast!’, dachte er. Den in gewisser Hinsicht resignierten Gesichtsausdruck schien sein Meister nicht zu bemerken.
„Du hast das Patent drauf – aber Will hat sie gemacht, die Spitzenklingen“, warf seine Frau ein, die schon lange nicht mehr damit einverstanden war, dass Will die gute Arbeit machte und ihr Mann dafür die Lorbeeren bekam.
Brown grinste.
„Was meinst du, warum ich Will die Schmiede übergeben will, Mabelchen?“, versetzte er. „Und zwar samt den Patenten, die auf ihn überschrieben werden. Ich stell’ nur ein paar Bedingungen dafür.“
„Und die wären?“, erkundigte sich Will.
„Mabel und ich dürfen hier auf Lebenszeit mietfrei wohnen und der Name der Schmiede bleibt erhalten – natürlich mit dem Zusatz, dass du der Inhaber und Meister bist.“
„Und was verlangt Ihr als Preis?“, fragte Will vorsichtig und dachte an seinen schmalen Beutel. Die Schmiedeeinrichtung war wohl alt, aber durchaus noch richtiges Geld wert; die Materialien, die dort lagerten, waren zum Teil wirklich teuer und die Patente waren ein Vermögen wert. Als Schmiedegeselle verdiente er nicht viel und das, was ihm der Schatz der Isla de Muerta eingetragen hatte, konnte er nicht einfach ausgeben, ohne dass bekannt wurde, dass es sich um Piratengold handelte. Die Folgen malte Will sich lieber nicht aus. Seinen Schwiegervater wollte er nicht um ein Darlehen bitten. Es reichte eigentlich, dass er mit Elizabeth in der Villa des Gouverneurs wohnen durfte. In weitere Abhängigkeit wollte Will sich nicht begeben.
„Ich glaub’ du hast mich falsch verstanden, mein Junge: Du wirst das hier erben. Natürlich müssen Mabel und ich von was leben. Also möchte ich, dass du uns eine Leibrente zahlst. Ich denke an dreißig Prozent der Einnahmen aus der Schmiede.“
Will überschlug schnell, um welche Summen es ging. Seit er Meister Browns Geselle war, machte er nicht nur die Klingen, er führte auch die Bücher und wusste deshalb um Preise, Umsatz und Gewinn der Schmiede. Dreißig Prozent, das war eine Menge; aber wenn er die Kunden halten konnte und noch ein paar dazu gewann, brachte ihm die Schmiede wenigstens das Fünffache dessen ein, was er jetzt als Geselle bekam.
„Der Einnahmen oder des Gewinns, Meister?“, fragte Will noch mal nach, um sicherzugehen, um welche Größenordnung es ging.
„Gewinn, mein Junge, Gewinn“, erwiderte John Brown.
„Einverstanden, Meister“, sagte Will.
„Gut, dann gehen wir morgen früh zum Notar und ab morgen Mittag bist du hier der Chef, Meister Turner“, schlug Brown vor und hielt seinem Gesellen die Hand hin, der mit einem freundlichen Lächeln einschlug.
„Abgemacht“, sagte Mabel und umfasste die Hände ihrer Männer als Zeugin der Verhandlung. Ihre Hartnäckigkeit zeigte endlich Wirkung. Seit wenigstens einem Jahr lag sie ihrem Mann nun schon in den Ohren, dass er Will endlich die Anerkennung zukommen ließ, die ihm eigentlich schon lange zustand; denn was an erstklassigen Klingen aus der Waffenschmiede von Meister John Brown kam, war seit wenigstens zwei Jahren ausschließlich unter William Turners Hammerschlägen entstanden.
„So, und jetzt ab mit dir an den Amboss!“, befahl Brown, wieder ganz der Meister.
„Bin schon weg, Meister!“, rief Will und sprang eilig nach unten in die Schmiede zurück.
Als er in den halbdunklen Raum kam, schlug ihm eine fürchterliche Dunstwolke entgegen. Will öffnete sämtliche Fenster und die Tür der Schmiede, um Luft hereinzulassen und machte sich dann wieder an die Arbeit. Diese beiden Ehrendegen würden noch Meister Browns Marke tragen, aber die nächsten …
„Hey, Will!“, hörte er die Stimme seines Meisters von oben. Will kam samt Schmiedestück und Hammer in den Händen aus der Schmiede.
„Ja, Meister?“
„Die Dinger bekommen deine Marke, klar?“, rief John herunter.
„Aber die sollen doch morgen schon abgeliefert werden“, erinnerte Will. Brown musste lächeln. Wirklich, kaum zu glauben, dass der Junge der Sohn eines Piraten und Schlitzohrs war. Will war so was von grundehrlich, er hätte sogar dem Teufel sein Eigentum zurückgegeben.
„William Turner jr.! Du stellst sie her und du wirst sie für dich stempeln!“, setzte Mabel Brown hinzu.
„Gut, Frau Meisterin!“, grinste Will. Wie konnte er sich dem Willen seines Meisters auch widersetzen? Die beiden Klingen waren ohnehin fast fertig. Bei dem Ehrendegen für Norrington fehlten nur noch der Zusammenbau, die Gravierung und das Portepee**, der Degen für Gillette musste noch einmal überarbeitet werden. Alles andere hatte Zeit.
Die Dunkelheit war längst hereingebrochen, als Will völlig verschwitzt, aber mit zwei fertig gestellten Ehrendegen in Präsentkästen das Haus seines Schwiegervaters durch den Personaleingang betrat. Jenny, eine der Zofen, öffnete ihm die Tür.
„Guten Abend, Master Turner. Eure Frau macht sich schon Sorgen, dass Ihr so lange ausbleibt.“
„Hallo, Jenny. Ist sie oben?“
„Ja, Master Turner. Soll ich Euch ein Bad richten.“
„Oh, das wäre sehr lieb von dir. Danke“, erwiderte Will.
Oben wurde es laut, als Elizabeth die Treppe herunterkam.
„Meine Güte, ich dachte schon, es wären wieder Piraten in Port Royal!“, platzte sie heraus.
„Hallo, Liebling. Warum das?“
„Weil du eigentlich seit zwei Stunden Feierabend hast. Bist du Jack über den Weg gelaufen?“, erwiderte sie. Sie schnüffelte vorsichtig. „Kommst du grad’ aus dem Schweinestall?“
„Wenn du die Schmiede so nennen willst, ja. Ich hab’ die Degen fertig gemacht, weil dein Vater sie morgen schon braucht. Ich wollte nur noch baden und dann einen Happen essen, wenn du nichts dagegen hast.“
„Was, die sind schon fertig?“, fragte seine Frau verblüfft. Will nickte.
„Hier, sieh mal: Gefalteter Stahl mit vergoldetem Griff für Gillette und eine Damaszenerklinge für Norrington.“
Mit einem stolzen Lächeln öffnete er die Präsentkästen.
„Oh, Will! Sie sind einfach schön“, sagte Elizabeth, als sie die glänzenden Schwerter sah. „Vater wird begeistert sein.“
„Das hoffe ich.“
Elizabeth nahm den Ehrendegen für Norrington aus dem Kasten.
„Ziemlich schwer.“
„Gut sechs Pounds. Der Griff ist schlicht und einfach Gold.“
Sie sah die Marke auf der Fehlschärfe. WTJ und zwei gekreuzte Schwerter mit krummen Klingen zeigte die Marke.
„Habt ihr eine neue Hausmarke?“
„Nein, oder ja – wie man’s nimmt. Das ist mein eigenes Firmenzeichen“, lächelte Will. Elizabeth sah ihn verwundert an.
„Heißt das etwa, dass …“
„… Meister Brown mir die Schmiede übergeben hat; genau das, mein Schatz. Morgen gehen wir zum Notar. Ich habe diese Klingen auf seine ausdrückliche Anweisung heute schon mit meiner Marke gezeichnet. Das hab’ ich sogar schriftlich von ihm.“
Elizabeth wollte ihn umarmen, aber er wehrte vorsichtig ab.
„Lass’ mich lieber erst baden, sonst beschwert sich noch der Butler, dass du auch stinkst“, grinste er. Sie beließ es bei einem fast scheuen Kuss auf die Wange.
Will saß in der Badewanne und seifte sich gründlich ab, als der Mond aufging und in die Badestube hinein schien.
‚Seltsam’, dachte Will, ‚ich habe das Medaillon ein paar Jahre besessen, aber der Fluch betraf mich nicht, weil ich es nicht selbst aus der Truhe genommen hatte. Dennoch wird mir bei Mondschein immer so komisch.’
Er betrachtete seine langen Finger, aber es war alles normal. Kopfschüttelnd stieg er aus der Wanne, trocknete sich ab, zog sich einen Hausmantel über und schüttete den Badezuber in den Zulauf der Abflussgrube aus. Jenny, eines der drei Hausmädchen, und nahezu allein für das junge Paar zuständig, hörte das Wasser plätschern und stürmte eilig in die Badestube.
„Lasst nur, Master Turner … Oh“, stockte sie dann, als sie den jungen Herrn bereits beim Auslassen des Bades vorfand.
„Ist schon gut, Jenny. Ich werd’ mich wohl nie dran gewöhnen, dass es hier Diener gibt“, lächelte Will.
„Dann lasst mich wenigstens den Rest machen, Master Turner“, bat die Dienerin, und Will ließ ihr den Vortritt beim Aufräumen.
Noch in Gedanken versunken verließ er die Badestube und sprang eilig nach oben in die zweite Etage der Gouverneursvilla, wo Elizabeth und er eine große Wohnung hatten. Will gewöhnte sich nur schwer an sein neues Zuhause. In England hatte er mit seiner Mutter eine kleine Dachwohnung in Plymouth bewohnt, die gerade ein einziges Fenster gehabt hatte – und das führte auch noch auf einen winzigen Hinterhof. Sie hatten ein bescheidenes Leben geführt, in dem es oftmals nur für eine anständige Mahlzeit am Tag gereicht hatte. Seine schmale Figur hatte durchaus etwas mit diesem Umstand zu tun. Doch seine Mutter hatte gewollt, dass aus ihrem Sohn einmal etwas wurde und hatte ihn in eine für ihre Verhältnisse eigentlich viel zu teure Schule geschickt, in der er mehr gelernt hatte als Lesen, Schreiben und Rechnen. Er hatte eine Grundausbildung in Geografie, Geometrie und Mathematik, verstand etwas Französisch und war schon in der Schule ein geschickter Bastler gewesen, der sich gern mit Metallen beschäftigt hatte.
Nach dem plötzlichen Tod seiner Mutter, die eine simple Erkältung nicht überlebt hatte, weil das Geld für den Arzt fehlte, hatte ihr Cousin dafür gesorgt, dass Will seinem Vater in die Karibik nachreiste – ohne, dass er genau wusste, wo er eigentlich mit der Suche anfangen sollte; denn zu dem Zeitpunkt, als Will sich mit dem Geld seines Onkels in Plymouth auf der Dragonfly nach Jamaica einschiffte, hatte er seit mehr als zwei Jahren von William Turner sen. keine Nachricht mehr gehabt. Das letzte Lebenszeichen seines Vaters war das Aztekenmedaillon gewesen, das er Will zu dessen zwölftem Geburtstag als Geschenk geschickt hatte. Danach hatte Anne Turner von ihrem Mann nichts mehr gehört. Schließlich gab es die Nachricht, dass die Seagull, das Schiff, auf dem Will Turner sen. fuhr, mit Mann und Maus untergegangen war. Dennoch hatten Anne und Will jr. nie wirklich glauben wollen, dass ihr Mann und sein Vater tot war. Davor war William Turner sen. aber auch nur selten daheim in England gewesen. Das letzte Mal, so erinnerte Will sich, hatte er seinen Vater gesehen, als er selbst neun Jahre alt gewesen war – vor dreizehn Jahren. Die Überfahrt nach Jamaica hatte mit dem Überfall der Black Pearl unter Captain Barbossas Kommando ihr Ende gefunden. Will hatte den Überfall nur knapp überlebt – als einziger Mensch an Bord der Dragonfly. Alle anderen waren von Barbossas Piraten massakriert worden oder ertrunken.
Elizabeth, die damals mit der HMS Dauntless zusammen mit ihrem Vater nach Jamaica gesegelt war, hatte Will auf einem Decksrest im Wasser treibend entdeckt und ihn damit gerettet. Weil er für einen Schiffsjungen damals zu schmächtig gewesen war, war er für die Royal Navy kein geeigneter Nachwuchs gewesen. Governor Swann hatte dafür gesorgt, dass der nunmehrige Waisenjunge bei Meister John Brown in die Lehre als Waffenschmied ging. Brown war zwar ein geschickter Handwerker, der Will viel beigebracht hatte, der manches aber mehr theoretisch beherrschte und es weniger selbst praktisch anwenden konnte. Zudem vertrank der Meister einen guten Teil seiner Einnahmen, so dass auch die Behausung und Verköstigung in der Schmiede eher bescheiden gewesen war.
Nachdem Will dann Geselle geworden war und sein Lehrgeld abgearbeitet hatte, hatte er Nachforschungen nach seinem Vater angestellt, die für seinen bescheidenen Lohn teuer waren, aber die Spur verlor sich schnell. Erst durch Jack Sparrow hatte Will erfahren, dass sein Vater Pirat gewesen war und im Laufe der ‚Aktion Aztekengold’ die Information bekommen, dass Will Turner sen. von Barbossa buchstäblich versenkt worden war.
So hatte Will sich nie viel leisten können, weder eine eigene Wohnung noch große Ausstattung. Als er mit Jack auf die Suche nach Elizabeth gegangen war, hatte er kaum mehr besessen als das, was er am Leibe trug. Durch das Gold, was ihm auf der Isla de Muerta zugefallen war, hatte er sich ein paar Kleidungsstücke kaufen können, aber Will war es gewohnt, sein weniges Geld zusammenzuhalten. Er hatte aus bekannten Gründen auch nicht zu sehr mit dem Piratengold gehandelt. Allzu schnell konnte jemand, der Piratengold besaß, selbst zum Piraten gestempelt werden. Will reichte es eigentlich, dass sein Vater Pirat gewesen war. Er musste nicht noch für diesen Umstand hängen und blieb der bescheidene Schmiedegeselle. Er hatte nie den Plan gehabt, reich zu heiraten – doch genau das war geschehen. Noch immer war es ungewohnt für ihn, dass es Diener gab, die sich um seine Sachen kümmerten, ihm ein Bad richteten oder es wegräumten, dass er in einer Wohnung lebte, die eine ganze Etage in einer großen Villa einnahm. Will sah durch das Flurfenster den Vollmond. Diese Gedanken überkamen ihn jedes Mal, wenn Vollmond war. Es war schon seltsam …
Elizabeth nahm ihn mit einer liebevollen Umarmung in Empfang und küsste ihn.
„Komm, Liebling, das Abendessen wartet auf dich“, sagte sie leise. „Du siehst müde aus“, setzte sie hinzu. Will nickte nur. Der Tag war wirklich anstrengend gewesen, aber er hatte das Ergebnis seiner Handwerkskunst buchstäblich greifbar. Die beiden Ehrendegen waren echte Meisterstücke.
Er hatte gerade zu Ende gegessen, als es klopfte und Governor Swann eintrat.
„Jenny hat mir gesagt, du hast die Degen mitgebracht, William“, sagte er. Will nickte.
„Ja, ich hab’ sie heute fertig stellen können. Hier“, erwiderte er und öffnete die Präsentkästen. Swann nahm einen nach dem anderen in die Hand.
„Wieder so wunderbar ausgewogen. Wirklich. Gute Arbeit“, lobte der Gouverneur. Dann sah er die Marke und sah Will fragend an. Der wiederum nahm das Schreiben seines Meisters aus der Tasche und zeigte es seinem Schwiegervater. Swann sah eine Weile darauf, blickte dann Will an.
„Ich bin kein Schmied, mein Sohn, aber … sie haben große Ähnlichkeit mit dem letzten Ehrendegen, den ich bei Meister Brown bestellt habe.“
Will lächelte in seiner unnachahmlich freundlichen Art.
„Das wundert mich nicht. Ich weiß nicht, wer es Norrington gesagt hat, aber der wusste jedenfalls, dass ich sein Schwert gemacht habe“, sagte er.
„Warum hast du mir das nicht gesagt?“, erkundigte sich der Gouverneur. Wills Lächeln wurde noch breiter.
„Ich glaube nicht, dass Ihr es geglaubt hättet, Sir“, entgegnete er.
„Und ab morgen bist du also der Meister … Herzlichen Glückwunsch, mein Junge. Ich habe immer gehofft, dass du es eines Tages sein würdest. Aber dass du es schon jetzt wirst …“, sinnierte Swann. „Ich wäre erfreut, wenn du mich zu der Beförderungszeremonie morgen begleiten würdest.“
„Wann ist sie morgen angesetzt?“
„Für zehn Uhr, wie üblich in solchen Fällen.“
„Dann wird der Notar sich hoffentlich beeilen, denn um neun wollen Meister Brown und ich den Übergabevertrag unterzeichnen.“
Kapitel 2
Heimlicher Besuch
Zwei Monate waren seit der Firmenübergabe vergangen. Es war ein eher trüber Tag, was in der Karibik im August selten genug vorkam, aber es war doch recht bedeckt. Will arbeitete seine laufenden Aufträge ab – nichts Besonderes, aber sie brachten gutes Geld ein. Die Armee brauchte ständig Schwerter und Säbel, kaum ein Handelsfahrer ließ es sich entgehen, in Port Royal einen nicht nur gebrauchsfähigen, sondern auch dekorativen Marinesäbel zu kaufen. Die gute Qualität der Klingen aus Meister John Browns Waffenschmiede hatte sich seit langem herumgesprochen, und wer einen guten Säbel oder ein Entermesser suchte, kam hierher. Es gab sogar Leute, die dafür einen Umweg über Jamaica machten. In diesen ersten zwei Monaten, seit Will die Schmiede übernommen hatte, konnte er ein sattes Umsatzplus verbuchen. Meister Brown musste ein wirklich unersättliches Rumfass sein, wenn er so manche Einnahme offensichtlich direkt nach dem Kassieren beim Kunden in den braunen Zuckerrohrschnaps umgewandelt hatte – also noch bevor Will es jemals hatte verbuchen können.
Das neue Firmenschild in der engen Gasse im Handwerkerviertel fiel auch einem Besucher auf, der seit einem halben Jahr die Insel Jamaica gemieden hatte wie der Teufel das Weihwasser: Jack Sparrow – Verzeihung: Captain Jack Sparrow! – brauchte dringend einen neuen Säbel. Und in einem solchen Fall gab es für Jack nur eine Adresse in der ganzen Karibik: Port Royal, Coal Lane No. 3 – nun, jedenfalls seit er mit Will Turner jr. in dieser Schmiede heftig gefochten hatte und sich dabei sowohl von der Schmiede- als auch der Fechtkunst seines späteren Freundes Will überzeugt hatte.
Jack war verblüfft, dass Tür und Fenster der Schmiede offen standen. So lange hier John Brown regiert hatte, waren Läden und Tür stets geschlossen gewesen. Grundsätzlich war das bei allen Schmieden so, jedenfalls dann, wenn der Schmied ein neues Stück von Grund auf fertigte und an der Glühfarbe des Metalls die Schmiedereife des Stücks erkennen können musste. Sonnenlicht störte dann nur. Doch bei John Brown waren Türen und Fensterläden eben immer geschlossen gewesen, nicht nur in diesen besonderen Fällen.
Sparrow peilte vorsichtig um die Ecke, um sich zu vergewissern, dass er nicht auf Norrington oder Gillette stieß, denn um die Royal Navy schlug er nach wie vor tunlichst einen großen Bogen. Der Amnestie durch den Gouverneur nach dem letzten Abenteuer mit Will mochte der misstrauische Captain Jack Sparrow noch nicht ganz trauen. Die Luft war rein, nur Will war in der Schmiede und offenbar sehr beschäftigt, wie Jack aus den regelmäßigen Hammerschlägen entnahm. Dass sein junger Freund ihm allerdings den Rücken zukehrte, verleitete Jack zu einer Überraschung. Er pirschte vorsichtig in die Schmiede, schlich sich von hinten an Will an.
„Kuckuck!“, rief er dann laut – nur noch zwei Fuß von Will entfernt – und sah plötzlich Sterne, als Will erschrocken herumfuhr und Jack mit dem Hammer erwischte.
Wills Schreck verwandelte sich in ein spöttisches Grinsen, als Jack sich mit Mühe wieder aufrappelte und sich eine gewaltige Beule hielt, die unter seinem Kopftuch wuchs.
„Hoppla, du fichtst nicht nur mit dem Säbel, wie?“, brummte Jack, als er schwankend zum Stehen kam. „Teufel auch, hast du einen Schlag am Leib!“
„Du weißt, was ein Pirat von mir zu erwarten hat. Willkommen in Port Royal, Captain Sparrow“, grinste Will und klopfte dem immer noch benommenen Jack den Dreck aus Metallsplittern, Stroh und Staub aus dem Überrock.
„Sag mal, ist dir wieder ein Schatz in die Hände gefallen? Pass bloß auf den Mond auf!“, warnte Will, als ihm auffiel, dass Sparrow einen nagelneuen Überrock trug. Jack machte eine elegante Bewegung, die wieder den Verdacht aufkommen ließ, er sei schwul, aber Will wusste es besser.
„Nicht gerade einer aus Silber und Gold, aber eine Seekiste mit feinen Klamotten aus Frankreich. Habe Glück gehabt, dass mir davon einiges passte. Klar soweit?“
„Billig eingekauft?“, fragte Will schmunzelnd. Jacks Grinsen sagte eigentlich schon alles, doch er setzte noch
„Pira-a-t!“, hinzu. Will seufzte. Jack war und blieb ein Pirat, daran würde sich nichts ändern, aber auch an ihrer Freundschaft nicht.
„Was führt dich nach Port Royal?“, fragte er dann. Jack zog seinen Säbel – oder besser das, was davon übrig war.
„War zu befürchten, so wie er sich das letzte Mal geschliffen hat“, bemerkte Will. „Hast du den anderen Teil auch noch oder ist der versenkt?“
„Also, aus vierhundert Faden* Tiefe lohnt sich’s nicht, den hoch zu holen“, grinste Jack. „Was verlangst du für einen Säbel?“
„Kommt auf Qualität und Ausstattung an“, erwiderte Will und winkte Jack zu dem Karussell, auf dem die fertigen Stücke hingen.
„Du brauchst eine Klinge, die Salzwasser widersteht, die sich gut schleifen lässt und die nach was aussieht, Captain, stimmt’s?“
„Aye, so könnte man’s beschreiben“, bestätigte Jack. Will nahm drei Säbel aus dem Ständer und legte sie auf den Amboss.
„Hier, das wären solche: Widerstandsfähig gegen Rost, zäh und durchschlagskräftig. Leichte Klinge und massiver Korb“, bot er an. Jack betrachtete die Klingen eine Weile, griff dann zu der in der Mitte: Damaszierte Klinge, leicht gebogen, scharf wie ein Rasiermesser und mit reichlich Goldeinlagen im Griffkorb. Will lächelte leicht. Er hatte Jacks Geschmack und seine Qualitätsansprüche richtig eingeschätzt.
„Was willst du dafür haben?“, fragte Jack.
„Zwanzig Guineas**“, erwiderte der junge Schmied ohne mit der Wimper zu zucken. Dafür prallte Jack zurück.
„Bist du verrückt? Dafür bekomme ich auf Hispaniola fünf von der Sorte!“, versetzte Jack. Will lächelte breiter. Es war klar, dass Jack feilschen wollte. Er selbst hatte nichts anderes vorgehabt
„Fünf Säbel – kann sein; aber die Klingen von Hispaniola sind weder rostfrei noch so ausbalanciert wie meine – von Goldeinlagen im Griff ganz abgesehen“, entgegnete Will.
„Fünf!“
„Neunzehn!“
„Sieben!“
„Siebzehn!“, erwiderte Will hartnäckig. Der normale Preis lag bei etwa zehn Guineas, wenn Will für das Militär lieferte. Nach längerem Feilschen einigten sie sich auf zwölf Guineas und zehn Shilling, was sicher nicht billig, aber der Qualität sehr angemessen war.
„Du bist ein harter Brocken, William Turner jr. – trotz deiner Jugend. Wirklich, du siehst nicht nur genauso aus wie dein Vater und fichtst wie er, du bist auch so hartnäckig beim Feilschen um die Beute“, seufzte Jack und bezahlte den vereinbarten Preis von zweihundertzweiundsechzig Shilling, was zwölf Guineas und zehn Shilling entsprach.
Will ließ sich nicht lumpen und schenkte Jack auf den erfolgreichen Handel einen Rum ein – einen der besten Tropfen, die sich in der Karibik finden ließen.
„Beim Klabautermann! Wo hast du das Zeug her?“, entfuhr es Jack mit einiger Bewunderung. Will lächelte.
„Ich habe eine Frau mit einem ausgesprochen guten Gedächtnis und kenne jemanden, der ein Boot vermietet ohne viele Fragen zu stellen. Es gibt da eine gewisse Insel, auf der an einer Ecke ein paar verbrannte Palmen stehen …“, erklärte er. Jack sah ihn verblüfft an.
„Ich dachte, Elizabeth hätte den Rum damals komplett in Flammen aufgehen lassen.“
„Hatte sie auch – jedenfalls aus dem Depot, das du kanntest. Wir haben aber noch ein zweites gefunden. Daraus bediene ich zuweilen meine Geschäftsfreunde.“
„Scheint so, als hättest du Erfolg mit deinen Klingen“, brummte Jack.
„Seit ich die Schmiede übernommen habe, kann ich mich über Arbeitsmangel jedenfalls nicht beklagen. Elizabeth und ich können wohl bald ein eigenes Haus bauen, ohne uns in ernsthafte Schulden zu stürzen. Noch wohnen wir bei ihrem Vater. Ich verdiene gut dabei, obwohl ich meinem alten Meister und seiner Frau eine Leibrente zahle. Aber es reicht, um meinen Schwiegerpapa zu überzeugen, dass Elizabeth mit einem Schmiedemeister ebenso gut bedient ist wie mit einem Commodore der Royal Navy“, erwiderte Will. Was geschäftlichen Erfolg und persönliches Glück betraf konnte er sich wirklich nicht beschweren.
Jack sah eine Weile in sein Glas.
„Und was ist mit deinem Vater? Hast du’s endgültig aufgegeben, ihn zu suchen?“, fragte er schließlich. Will stellte sein eigenes Glas ab, und sein freundliches Lächeln erlosch.
„Jack, ich bin mal in die Karibik gekommen, um meinen Vater zu suchen; stimmt. Damals hatte ich nicht die Mittel nach ihm zu suchen und war froh, dass ich eine Schmiedelehre machen konnte und das Lehrgeld erst später abarbeiten musste – aber große Sprünge waren wirklich nicht drin. Also lag das ziemlich tief im Laderaum, in der hintersten Ecke, um genau zu sein. Ich habe mich damit abfinden müssen, dass er Pirat war und dass ich gründlich falsche Informationen über ihn hatte. Vielleicht wusste meine Mutter es auch nicht besser. Sie hat mich jedenfalls dazu erzogen, Piraten nicht zu lieben und den Rest gab mir Barbossas Überfall auf die Dragonfly. Vaters Piratenblut hilft mir manchmal, bei Geschäften schlitzohrig zu sein, aber das ist es auch. Zudem muss ich annehmen, dass er von Barbossa umgebracht wurde“, erwiderte Will mit einem fatalistischen Zug, den Jack von seinem jungen Freund nicht gewohnt war. Jack lächelte, dass seine Goldzähne blitzten. Er machte eine ausholende Bewegung mit ausgefahrenen Zeigefingern über dem Tisch, dass Will schon der Verdacht kam, sein Rum sei nicht der erste an diesem Tag.
„Mir ist was eingefallen und das ist wirklich interessant. Denk’ mal darüber nach, dass ich Barbossa erst töten konnte, nachdem der Fluch aufgehoben war – und dass die ganze Meute auf dem Meeresgrund zur Dauntless spaziert ist.“
Nachdenklich sah Will auf das kleine Glas, das er in den schlanken Fingern drehte.
„Du meinst … Barbossa konnte meinen Vater zwar über Bord gehen lassen, aber nicht ersäufen, weil er dem gleichen Fluch unterlag wie die ganze Crew der Black Pearl?“, sagte er langsam. Jack dirigierte erfreut mit den ausgefahrenen Fingern.
„Aye! Klar soweit?“
„Aye“, bestätigte Will. „Worauf willst du hinaus? Dass ich meine Suche fortsetzen sollte? Zum einen bin ich jetzt nicht mehr ganz so vogelfrei wie bei der Suche nach Elizabeth; ich habe Familie und die Schmiede gehört mir. Die kann ich nicht einfach ein paar Wochen oder gar Monate zumachen. Zum anderen: Als wir nach Elizabeth und der Black Pearl gesucht haben, hatte ich dich als Quelle. Du kanntest das Schiff und wusstest, wo du mit der Suche anfangen musstest. Deshalb habe ich mich ja an dich gewandt. Aber jetzt habe ich nicht den leisesten Anhaltspunkt, wo ich mit der Suche beginnen sollte – und die Karibik hat Tausende von Inseln. Oder weißt du etwas? Dann rück’ mit der Sprache heraus“, forderte Will den Captain auf.
„Ganz sicher bin ich mir nicht. Aber du solltest dir das hier mal ansehen“, sagte Jack und griff in die Tasche seines Überrocks und zog ein angelaufenes, silbernes Medaillon heraus, das er Will zeigte. Der junge Mann nahm es an sich und betrachtete es genau. Es war ein rundes Medaillon, das auf der einen Seite den heiligen Nikolaus zeigte, den Schutzpatron der Seeleute. Auf dem Rand fanden sich kleine Rosen und unklare Anker im Wechsel. Auf der Vorder- und der Rückseite war eine Gravierung:
“Meine Mutter hieß Anne und die Jahreszahl käme auch hin. Zu dem Zeitpunkt habe ich meinen Vater zuletzt gesehen. Er blieb immer lange fort. Mutter sagte mir einmal, als ich danach fragte, dass er nur nach Hause fahren könne, wenn sein Schiff genügend Ladung für England hätte. Von dieser Reise ist er nicht mehr zurückgekehrt“, sagte Will. „Die Randverzierung würde auch passen, denn meine Mutter war eine geborene Rosen und ihr Cousin, der mir nach ihrem Tod das Geld für die Überfahrt gab, hatte ein Familienwappen, in dem solche Anker vorkamen. Woher hast du das?“
„Das eben ist mein Problem. Ich weiß es nicht. Anamaria brachte es vor ungefähr einem Monat auf Tortuga in einem Umschlag an Bord, auf dem nichts weiter geschrieben war als mein Name und der nichts weiter enthielt als dieses Medaillon.“
„Tortuga. Nun, das Piratennest in der Karibik. Wohin würde ein Pirat einem anderen etwas schicken, wenn nicht dorthin?“, sinnierte Will leise. „Aber der, der es dir geschickt hat, wusste, dass Anamaria zu deiner Crew gehört. Frauen an Bord sind ja nicht gerade die Regel, oder?“
„Nein, sicher nicht, aber in Tortuga weiß es eigentlich jeder“, grinste Jack.
„Kannte mein Vater Anamaria?“
„Kleiner, Anamaria ist so alt wie du! Ich habe sie erst lange nach der Meuterei kennen gelernt.“
Will drehte das Medaillon nachdenklich in der Hand.
„Ich würde gern mit ihr reden“, sagte er.
„Tut mir Leid, aber sie ist in Tortuga geblieben.“
„Dein Steuermann bleibt auf Tortuga?“, erkundigte Will sich misstrauisch. Jack grinste.
„Es gibt Zeiten, in denen bringt es wirklich Unglück ein Frau an Bord zu haben.“
Will begriff nicht und sah ihn fragend an.
„Bist wirklich noch ein Welpe, mein Junge – und das, obwohl du verheiratet bist. Oder bist du doch Eunuch?“, kicherte Jack vielsagend. Will ging ein Licht auf. Anamaria und Jack waren sich mehr als nur nahe, das wusste er. Es war nahe liegend, dass er und Anamaria nicht nur harmlose Küsse getauscht hatten …
„Ah, ja“, erwiderte er nur.
Eine Weile war Schweigen. Will betrachtete das Medaillon, als ob er das Stück selbst fragen wollte, wie es in Jacks Hände geraten war.
„Ich war neun, als mein Vater fortsegelte und nicht mehr zurückkehrte“, sagte er schließlich leise. „Ich habe nur wenige Erinnerungen an ihn. Er war fünfundzwanzig, als ich geboren wurde, wie Mutter mir sagte. Das letzte Lebenszeichen, das Mutter und ich von ihm überhaupt bekamen, war das Aztekenmedaillon, das er mir schickte. Es war ein Geschenk zu meinem elften Geburtstag. Zwei Jahre später starb meine Mutter. Mein Onkel, ein Cousin meiner Mutter, gab mir Geld für die Überfahrt und ich schiffte mich auf der Dragonfly ein, um meinem Vater in die Karibik nachzureisen und ihn zu suchen. Das Schiff wurde von der Black Pearl überfallen und ich war der einzige Überlebende. Die Royal Navy fischte mich auf, nachdem Elizabeth mich auf einem Holzteil treibend gesehen hatte. Dank Governor Swann konnte ich hier lernen und meinen Lebensunterhalt verdienen.“
„Aber du meinst, das könnte deinem Vater gehören“, beharrte Jack.
„Aye, wäre durchaus möglich. Aber hat er es dir selbst geschickt?“
„Du bist misstrauisch, Junior“, seufzte Jack. Will lächelte.
„Jack, du hast mal von dir selbst gesagt, du seiest unehrlich. Warum sollte ich dir trauen?“
„Will, dein Vater war ein Freund von mir – und ich habe nie wirklich viele Leute gekannt, die ich Freunde genannt habe. Dein Vater gehörte dazu, auch wenn er gegen mich gemeutert hat und nichts unternommen hat, um Barbossa daran zu hindern, mir die Black Pearl wegzunehmen. Dabei hat er mich sogar vor einer drohenden Meuterei gewarnt, aber ich wollte es nicht glauben, bis ich auf der Planke stand, über Bord ging und mit ansehen musste, dass Barbossa mit meinem Schiff davonfuhr. Deinen Vater nenne ich Freund – und dich auch. Ich kann jeden betrügen, sicher, einen Freund nicht.“
Will war nicht ganz überzeugt, dass Jack in diesem Fall nichts als die lautere Wahrheit sagte. Er hatte das dunkle Gefühl, dass Jack ihn nur an Bord haben wollte, ihn ebenfalls zum Piraten machen wollte.
„Jack, möchtest du, dass ich wieder mit dir segle?“, fragte der junge Mann direkt. Jack schluckte. Er hatte eine so direkte Frage von Will nicht erwartet.
„Na ja, du bist ein guter Kämpfer, du hast Mut, Sinn für Gerechtigkeit – und du bist ein guter Seemann geworden. Ich könnte jemanden wie dich, der das vereint und der in der Lage wäre, unsere Waffen instand zu halten, auf der Black Pearl gut gebrauchen“, gab Jack zu. Jetzt war es Will, der ihn verblüfft ansah. Dass Jack zugeben würde, ihn an Bord lotsen zu wollen, hatte er nicht erwartet. Der junge Schmied schüttelte den Kopf.
„Nein, Jack, ich bin kein Pirat, auch wenn Elizabeth das schon mal gemutmaßt hat. Ich bleibe lieber auf dem Boden des Gesetzes. Ich werde dich nicht verpfeifen, du bist mir und Elizabeth jederzeit willkommen – aber ich möchte die Piraterie nicht zu meinem Beruf machen.“
„Dein Vater hatte das auch nicht von Anfang an vor“, erwiderte Jack.
„Das hatte ich aus deiner Bemerkung auf der Interceptor anders verstanden. Du nanntest ihn einen verdammten Piraten, einen Taugenichts.“
Jack grinste golden.
„Aye, war er später auch. Aber anfangs war er durchaus das, was du glaubtest, dass er es immer war – ein braver Handelsmariner. Er war es, bis die Navy ihn hier in Port Royal geschanghait hat. Frag’ mal Joshamee Gibbs, wie Matrosen bei der Navy behandelt werden. Der ist nicht grundlos desertiert – und dein Vater auch nicht. Ein Schiff der Navy griff uns an. Die hatten sich nur in Captain Jack Sparrow verrechnet. Sie hatten auch Gefangene an Bord, die mit uns Piraten zunächst wohl auch nicht viel anzufangen wussten und die sich recht heftig gewehrt haben – unter anderem dein Vater, der sich irgendwie aus seinen Fesseln befreien konnte, einem meiner Leute den Entersäbel abnahm und wie ein Berserker focht. Er hatte übrigens einen sehr ähnlichen Kampfstil wie du. Bei dem Kampf sank das Navy-Schiff und wir haben ein paar Überlebende aufgefischt, denen ich anbot, zu uns zu kommen. Die meisten nahmen an. Dein Vater gehörte dazu. Einige Zeit vor der Meuterei fiel unser Erster Maat und von den seemännischen Qualitäten kamen dein Vater und Barbossa dafür in Frage. Ich machte Barbossa zum Ersten Maat – und das war ein Fehler, wie ich heute weiß…“
Will schüttelte den Kopf.
„Nein, mach’ dir deshalb keine Vorwürfe. Barbossa hätte die Meuterei auch gegen meinen Vater organisiert“, sagte er. „Du hast mir gesagt, ich hätte Ähnlichkeit mit meinem Vater …“
„Ich schwör’: Du siehst genauso aus wie er!“, bekräftigte Jack und schenkte sich noch ein Glas von Wills gutem Rum ein. Will lehnte ein zweites Glas dankend ab.
„Pintel und Ragetti haben’s mir bestätigt, ich weiß“, lächelte der junge Mann. „Jack, wenn ich wirklich meinem Vater so ähnlich bin, ist er wohl nicht viel anders gewesen als ich. Ob ich mich offen gegen die ganze Mannschaft gestellt hätte, weiß ich nicht.“
Jack lehnte sich bequem zurück.
„Du hast dich gegen die ganze Garnison von Port Royal gestellt, um mich vor dem Strick zu retten, falls ich dich daran erinnern muss. Ich schätze, gegen einen Ersten Maat William Turner hätte Barbossa sehr viel schlechtere Karten gehabt als gegen den Maat Stiefelriemen Bill. Dein Vater wagte durchaus Widerworte und hat mir einige Male den Kopf zurechtgesetzt, wenn ich zu risikofreudig war und Schiff und Crew einer zu großen Gefahr aussetzen wollte. Er hat mich gelehrt, dass man mit Verhandlungen oft weiter kommt als mit roher Gewalt. Und genau das war der Punkt, wo ich mit Barbossa nicht übereinstimmte – und wo auch dein Vater wohl nicht mit ihm einer Meinung war“, sagte er.
„Brauchst du jemanden, der dich bremst, Captain Sparrow?“
„Ich möchte jemanden an Bord haben, dem ich trauen kann, William Turner jr.! Jemanden wie dich“, versetzte Jack. „Komm zu uns, Will. Du hast Piratenblut, aber das von der guten Sorte“, warb Jack weiter. Doch Will schüttelte erneut den Kopf.
„Jack – ich habe meine Existenz hier, der Laden läuft gut, ich bin glücklich verheiratet und ich möchte keinen Streit mit den Behörden. Wie gesagt: Ich schmiede euch jederzeit Entersäbel und Beile, mache für euch Enterhaken – kein Problem. Aber ich möchte mein Geld doch lieber ehrlich verdienen“, entgegnete Will.
Jack seufzte.
„Du bist wirklich ein harter Brocken, Will Turner. Na gut. Vielleicht ist es besser für mich und die Crew der Black Pearl, einen Freund zu haben, der uns deckt und eine gutbürgerliche Existenz hat, als dich zu schanghaien, Junge. Du … sollst nur wissen, wir würden euch beide – dich und Elizabeth – jederzeit an Bord der Black Pearl willkommen heißen. Klar soweit?“, bot Jack nochmals an.
„Danke, Jack. Wenn wir darauf zurückkommen müssen, erreichen wir dich in Tortuga, oder?“
Jack grinste.
„Oder so ähnlich. So lange Freund Norrington mit der Dauntless und der Invincible weit weg ist, kann ich ja mal einen Besuch auf Jamaica riskieren …“
Kapitel 3
An Bord, Piraten!
Es war Abend geworden. Elizabeth wartete bei Kerzenschein und mit einem vorbereiteten Abendessen in der kurzen, tropischen Dämmerung auf Will. Der Mond ging auf und zeichnete scharf die Konturen einer Galeone* ab, die unter vollen Segeln auf der Reede östlich des die Hafenbucht begrenzenden Felsens liegen. Wer dort ankerte, wollte vom Hafen möglichst nicht gesehen werden. Piraten? Schmuggler? Elizabeth holte sich ein Fernrohr und peilte zu dem heimlichen Besucher, der nicht einmal von der Festung aus gesehen werden konnte. Nur die zweite Etage der Gouverneursvilla lag hoch genug, um die Reede überhaupt sehen zu können. Und nur das Fenster des Speisezimmers hatte die richtige Blickrichtung, weshalb sie den Besucher bisher noch nicht bemerkt hatte. Der Blick durch das Fernrohr zeigte Elizabeth, dass es die Black Pearl war, die im Schutz der Küste ankerte. Elizabeth lächelte. Jack würde wohl nicht riskieren, den Gouverneurspalast mit seinem Besuch zu beehren, aber vielleicht konnte sie Will überreden, einen Besuch bei Jack zu machen, den sie wenigstens ein halbes Jahr nicht gesehen hatten. Jack und seine Leute mochten Piraten sein, aber die englischen Kolonien hatte er nach dem letzten Abenteuer in Sachen Aztekengold gemieden und sich ausschließlich auf die spanischen Besitzungen konzentriert, wenn die Berichte stimmten, die sie letzthin bei ihrem Vater gesehen hatte.
Unten klopfte es. Jenny, die Zofe des jungen Paares, öffnete.
„Guten Abend, Master Turner“, begrüßte sie Will.
„Hallo, Jenny. Hattest du einen guten Tag?“, fragte Will und überließ der Dienerin Hut und Überrock.
„Ja, Master Turner, danke“, erwiderte Jenny mit einem so schmachtenden Unterton, dass Elizabeth genau wusste, wie freundlich Will gerade lächelte. Ob es irgendeine Frau gab, die diesem Lächeln widerstehen konnte? Wills strahlendes Lächeln war ansteckend. Niemand, nicht einmal Jack, der durchaus auch attraktiv war, hatte ein so wundervolles Lächeln. Manchmal fragte Elizabeth sich, ob Will überhaupt um die Wirkung seiner Erscheinung wusste. Acht Jahre hatte sie versucht, ihn zu einer vertraulichen Anrede zu ermuntern, insbesondere, nachdem dieses unglaublich gute Aussehen voll entwickelt war, das sich bei dem schüchternen Dreizehnjährigen, den die Besatzung der HMS Dauntless damals aus dem Atlantik gefischt hatte, nur ganz entfernt angedeutet hatte. Und er war so zurückhaltend und schüchtern geblieben wie der hässlichste, einbeinige Bettler mit Augenklappe und Hakenarm im letzten Gossenwinkel von Port Royal. Nein, er hatte nie versucht, um sie zu werben, wie sie stets gehofft hatte – wobei er es ihr gegenüber nie wirklich nötig gehabt hätte, um sie zu werben, weil sie ihn von Anfang an gemocht hatte, weil sie ihn bereits geliebt hatte, kaum dass ihr bewusst geworden war, dass sie eine Frau war.
Zwei Stufen auf einmal nehmend sprang Will in die zweite Etage hinauf.
„Hallo, mein Schatz!“, begrüßte er Elizabeth, nahm ihre Hände, zog sie an sich und umarmte sie.
„Hallo, Liebling. Hast du gesehen, wer auf Reede liegt?“, fragte sie nach einem zärtlichen Begrüßungskuss.
„Ich schätze, es ist die Black Pearl“, griente er. Elizabeth sah ihn verblüfft an.
„Kannst du hellsehen?“
„Nein, aber Jack war heute bei mir und hat sich einen neuen Säbel gekauft.“
„Was, Jack Sparrow traut sich nach Port Royal ‘rein?“
„Er muss wohl erfahren haben, dass Admiral Norrington mit seinen beiden Schiffen weit genug weg ist, dass er ihn hier nicht schnappen kann. Er wird ewig misstrauisch bleiben und selbst einer Amnestie nicht trauen“, erwiderte er lächelnd, aber in Wills freundlichem Lächeln war ein Schatten.
„Was hast du?“, fragte Elizabeth besorgt und strich ihm sanft über das Gesicht. Er öffnete die linke Hand und zeigte ihr das Medaillon, das Jack ihm gegeben hatte.
„Was ist das?
„Sieht so aus, als wäre es das Medaillon, das meine Mutter meinem Vater als Talisman auf die Reise mitgab, von der er nicht nach Plymouth zurückkehrte“, erwiderte er. Sie nahm es vorsichtig aus seiner Hand und betrachtete es.
„Woran erkennst du das?“
„An den Namen, an der Jahreszahl, am heiligen Nikolaus, an der Randverzierung. Es käme alles hin.“
„1742, das ist lange her …“
„Ja, ist es. Dreizehn Jahre, um genau zu sein. Ich war neun, als mein Vater fortsegelte und nicht mehr zurückkehrte. Er versprach meiner Mutter und mir, dass er entweder bald wiederkäme oder uns nachholen würde, wenn er länger in der Karibik bleiben müsste. Ich erinnere mich, dass meine Mutter so furchtbar geweint hat, als ob sie gewusst hätte, dass sie ihn nie wieder sehen würde. Sie gab ihm ein Medaillon mit dem heiligen Nikolaus und unseren Namen mit. Es sah genauso aus wie dieses, glaub mir“, erwiderte er leise.
„Du hast deinen Vater sehr geliebt, nicht wahr?“, mutmaßte Elizabeth.
„Welcher Sohn würde es nicht tun, wenn er einen Vater hat, der Seemann ist und die tollsten Geschichten erzählen kann – seien sie wahr oder nicht. Mein Vater konnte ellenweise Seemannsgarn spinnen. Er hat mir den ersten Fechtunterricht gegeben, weil er meinte, ein richtiger Seemann müsse das können, schon um sich Piraten vom Leib zu halten. Als ich klein war, wollte ich auch Seemann werden, so wie mein Vater. Sicher, er war selten zu Hause, aber wenn er da war, war es für mich wie Ferien. Er hat sich dann viel Zeit für mich genommen. Vielleicht erinnere ich mich deshalb so gern an ihn.“
„Ragetti hat mal gesagt, du wärst deines Vaters Ebenbild. Stimmt das eigentlich?“, fragte Elizabeth und sah Will an. Er lächelte. Es war dieses wundervolle Lächeln, das ihr so gefiel: Freundlich, ehrlich, liebevoll.
„Vielleicht. Ehrlich, ich weiß es nicht genau. Ich sehe mich ja nur im Spiegel. Allerdings hat Jack das auch schon gesagt.“
„Ich hätte gern gewusst, wie deine Eltern waren“, sagte Elizabeth und strich sanft über das Medaillon.
„Ich kann sie nur beschreiben und weiß nicht, ob sie sich in den letzten Jahren nicht ebenso verändert hätten wie ich. Aber ich bin sicher, du hättest ihnen gefallen – und sie dir wohl auch“, erwiderte Will und streichelte sanft ihre Wange. „Ich liebe dich“, setzte er hinzu, zog sie an sich und küsste sie. Elizabeth erwiderte seinen Kuss ebenso zärtlich wie leidenschaftlich. Es war einfach schön, wenn er sie in die Arme nahm – seine starken, kraftvollen Arme, deren wirkliche Kraft einem uneingeweihten Beobachter bei Wills schlanker Statur so oft verborgen blieb. Kaum jemand, der ihn nicht genau kannte, hätte diesem überaus schlanken Menschen zugetraut, Schmied zu sein. Nur wer seine schwieligen Hände von innen sah, bekam eine schwache Ahnung, welche Kräfte darin steckten. Elizabeth lehnte sich an ihn, genoss seine Wärme und sein sanftes Streicheln und spürte selbst durch Weste und Hemd die von schwerer körperlicher Arbeit gestählte Muskulatur seiner Brust.
„Will, woher hat Jack dieses Medaillon?“, fragte sie nach einer ganzen Weile, die sie ihn einfach schweigend umarmt hatte. Er seufzte leise.
„Jack sagt, Anamaria hat es vor etwa einem Monat in einem an ihn gerichteten Umschlag zu ihm gebracht. Er vermutet, dass mein Vater noch lebt und so auf sich aufmerksam machen will“, sagte er und ließ sie eher zögernd los.
„Aber du glaubst ihm nicht, habe ich Recht?“
„Jack möchte, dass ich bei ihm anheuere. Ich bin mir nicht sicher, ob er das Medaillon nicht schon viel länger hat und versucht, mich damit an Bord zu locken“, erwiderte Will.
„Und wenn du Anamaria fragst?“, schlug Elizabeth vor.
„Sie ist angeblich in Tortuga geblieben. Jack schleicht um den wahren Grund wie die Katze um den heißen Brei, aber das ist bei ihm nicht ungewöhnlich. Er versucht, mir durch einige Rollen Seemannsgarn hindurch zu sagen, dass Anamaria schwanger ist. Ich habe den leisen Verdacht, dass er sofort die Anker lichten lässt, sofern ich die Black Pearl betrete.“
„Aber eigentlich bezeichnest du ihn als Freund, oder?“, hakte sie nach. Wills lächeln wurde breiter.
„Schon – sofern ich festen Boden unter den Füßen und einen Säbel in Griffweite habe. Jack leugnet nicht, ein Pirat zu sein“, gab er zu bedenken.
„Nun, du hast auch einen gewissen Anteil Piratenblut in dir“, erinnerte Elizabeth sanft. „Und du machst als Pirat keine schlechte Figur.“
Will schüttelte den Kopf.
„Nein, Elizabeth. Als ich mit Jack ein Schiff gekapert habe, ging es um dein Leben“, entgegnete er.
„Jetzt geht es vielleicht um das Leben deines Vaters. Ist er dir weniger wert als ich es bin?“, fragte sie leise.
Will fasste ihr sanft unter das Kinn und sah ihr einen langen Moment in die rehbraunen Augen. Abenteuerlust spiegelte sich darin. Zuweilen war seiner Frau ihr Dasein als Hausmütterchen einfach zu langweilig. Es schien wieder so weit zu sein.
„Du bist unglaublich“, flüsterte er. „Scheint, als wäre dein Vater der Pirat und nicht meiner“, setzte er grinsend hinzu.
„Will, nimm doch mal an, Jack sagt die Wahrheit. Ich weiß, dass es schwer ist, aus ihm die volle Wahrheit herauszubekommen, wenn er fürchtet, seine Pläne zu früh offen zu legen. Jack kann sich auf dich verlassen, wenn es ihm an den Kragen geht, ich kann es. Sollte dein Vater sich nicht auf seinen Sohn verlassen können?“, beharrte sie. Will wich ihrem forschenden Blick aus und sah hinaus auf die dunkle See, in der sich der Vollmond spiegelte.
Mitten im Mondlicht lag die Black Pearl jenseits des Hafenfelsens und schien ihn zu locken. Frische Luft, Sonnenschein, tiefblaues Meer und ebenso blauer, unendlich weiter Himmel – das alles versprach eine Reise mit Jack und seiner Crew. Andererseits würde eine solche Reise seine Existenz ernsthaft gefährden. Er konnte Kunden verlieren, wenn er nicht hier war; im Verein mit Jack war es nahe liegend, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten und schneller am Galgen zu enden, als es einem braven britischen Bürger lieb sein konnte.
„Will?“
Er sah sie wieder an, schien aus einer unendlichen Ferne zurück zu kommen.
„Du hast noch mehr Überzeugungskraft als Jack, Liebling“, gestand er. „Und wer führt inzwischen die Schmiede weiter?“, fragte er dann.
„Hast du vorher danach gefragt?“, erinnerte sie ihn.
„Nein, aber da hatte ich auch nur für mich allein die Verantwortung und ich war Geselle. Jetzt gehört die Schmiede mir, ich bestreite unseren Lebensunterhalt und den unserer Hausangestellten davon. Immerhin erstatte ich deinem Vater Jennys Lohn.“
Er hatte ja so Recht, fand Elizabeth. William Turner jr. war sechs Fuß personifizierte Vernunft, seit er eigenverantwortlich arbeitete. Elizabeth fand diesen Charakterzug auch völlig in Ordnung, aber der kühne, kurz entschlossene Kämpfer, der für seine Freunde buchstäblich alles riskierte, der war ihr noch lieber.
„Hast du denn im Moment schwierige Aufträge?“, fragte sie weiter.
„Nein, nur die normalen Sachen.“
„Könnte Meister Brown dich vielleicht einige Zeit vertreten?“, schlug Elizabeth vor. Wills hochgezogene linke Braue bezeugte, dass er von der Schmiedekunst seines alten Meisters nicht wirklich überzeugt war. Brown half gern bei ihm aus, weil er sich als Rentner manchmal sehr langweilte. Mabel Brown war dabei durchaus eine treibende Kraft, denn John neigte dazu, noch mehr zu trinken, wenn er nichts zu tun hatte. Will überließ ihm in der Regel nur die einfachen Schmiedearbeiten und kümmerte sich um die besonders ausbalancierten Degen lieber selbst. Aber wenn derzeit nichts Besonderes anlag, konnte Brown ihn gut ein paar Wochen vertreten … Wills besorgte Züge entspannten sich langsam.
„Ich werde Meister Brown fragen, ob er für ein paar Wochen wieder allein in der Schmiede arbeiten möchte. Hast du Lust, mitzukommen?“
Elizabeth lächelte verschmitzt.
„In die Schmiede oder auf die Black Pearl?“, erkundigte sie sich. Die Verhandlung mit Barbossa hatte sie gelehrt, dass Wünsche präzise ausgesprochen werden mussten.
„Auf die Pearl“, erklärte Will. Statt einer Antwort küsste sie ihn stürmisch und fühlte sich von ihm herumgewirbelt.
Kapitel 4
Tortuga
Jack Sparrow döste auf dem Achterdeck der Black Pearl in der Morgensonne. Wenn Will nicht bis Mittag auf dem Schiff war, hatte er sich in dem Jungen gründlich verschätzt. Ein Plätschern, das sehr nach gepulltem* Boot klang, ließ den Captain vor sich hin grinsen. Richtig geraten. Will hatte zu viel von seinem Vater, als dass dessen Verbleib ihn wirklich so unberührt gelassen hätte, wie er am Tag zuvor getan hatte. Jack Sparrow waren in seinem abenteuerlichen Leben schon viele Menschen begegnet, aber selten solche wie die Turners, denen er fast bis auf den Grund ihres Herzens sehen konnte. Beide waren für ihn wie ein offenes Buch, und es brachte den schlitzohrigen Jack durchaus in die Versuchung, sich diesen Umstand zunutze zu machen. Doch andererseits kannte er Stiefelriemen Bill und seinen Sohn auch gut genug um zu wissen, dass er sich ebenso unversöhnliche Feinde schaffen würde, wenn er sie tatsächlich nur für seine eigenen Interessen auszunutzen versuchte. Bei beiden hatte er es probiert – und damit herbe Strandungen erlebt. Will junior hatte ihn durchschaut, als Jack ihn damals gegen das Schiff hatte austauschen wollen, was Jack nicht nur eine massive Beule am Kopf eingetragen hatte, sondern ihn fast das Leben gekostet hatte. Mit Will senior war es ihm nicht besser ergangen. Seither hatte er es nicht mehr riskiert, die beiden Turners ohne deren wirkliches Einverständnis für seine Interessen einzusetzen.
Jack hob den Dreispitz ein wenig an und wäre fast von seinem Deckstuhl gefallen, als nicht nur Will an Bord kletterte – sondern auch seine Frau.
„Willkommen an Bord der Black Pearl“, grinste Jack und nahm die bequem hochgelegten Füße vom Steuerrad.
„Hallo, Jack. Ausgeschlafen?“, grinste Will. Jack maß die beiden Ankömmlinge mit einem fragenden Blick.
„Ihr seht aus, als wolltet ihr was. Was kann ich für euch tun?“, erkundigte sich Jack gespielt ahnungslos.
„Captain Jack Sparrow, wenn du nicht mindestens mich erwartet hättest, hättest du die Jakobsleiter* nicht hängen lassen!“, versetzte Will und wies mit dem Daumen hinter sich zur Reling.
„Oh, hab’ ich das?“, fragte Jack harmlos, doch sah er schon an Wills Gesichtsausdruck, dass der ihn längst durchschaut hatte.
‚Teufel auch, der kennt dich ebenso gut wie du ihn! Wirklich, Vaters Sohn!’, durchzuckte es Jack.
„Wo ist Anamaria?“, fragte Will.
„In Tortuga, wie ich dir gesagt hab’“, erwiderte Jack. „Sie macht wirklich mal was mit Hand und Fuß“, setzte er grinsend hinzu.
„Jack, lass die Tampen aus Seemannsgarn in der Backskiste*!“, warnte Will. Jack ruderte mit den Händen.
„Aye, is’ ja gut, Sohn! Keine Lügen … Anamaria hat abgemustert. Sie fährt nicht mehr mit, weil sie … na ja, sie … sie is’ schwanger.“
„Anamaria?“, fragte Elizabeth verblüfft nach. Jacks dunkelhäutige Steuerfrau konnte sie sich als Schwangere beim besten Willen nicht vorstellen.
„Aber ja, Liebes!“, kicherte Jack. „Is’ schwierig, mit so ‘m Riesenbauch am Ruder zu stehen.“
„Und du bist der Vater?“, erkundigte sich Will.
„Schon möglich“, verbreiterte sich Jacks Grinsen. „Sagt sie jedenfalls und bestreiten könnt’ ich’s wohl kaum.“
„Glückwunsch, Papa Jack. Schön, du hast mich – uns – neugierig gemacht. Ich hab’ meine Schmiede in Vertretung gegeben und habe Zeit. Spuck’ aus, was du weißt …“, forderte Will ihn auf.
Jack machte eine ausladende Handbewegung, die die beiden jungen Leute aufforderte, sich zu setzen.
„Also, Anamaria war der Meinung, wenn das wirklich von deinem Vater kommt, betrifft es dich als Allerersten, Will. Deshalb hat sie mich davon abgehalten, ohne dich auf die Suche zu gehen. Ich hab’ ‘nen Verdacht, wo er stecken könnte, dein Vater; aber bevor ich darauf losgehe, muss ich das genauer wissen. Klar soweit?“, erklärte Jack. „Schätze, der, von dem die Information kommt, wird sie mir nicht ohne weiteres geben – aber dir … möglicherweise schon … wenn du ihn klug genug ausfragst und … nichts Blödes anstellst. Nur die Frage an dich, wie weit würdest du für deinen Vater gehen?“
„Ich habe für dich das Leben riskiert, Jack – zu einer Zeit, in der ich wirklich nicht genau wusste, wie weit ich dir trauen kann. Für meinen Vater tue ich gewiss nicht weniger. Klar soweit?“, entgegnete Will, Jacks Klarstellung zitierend.
„Klar. Klarer als klar“, erwiderte Jack mit einem schiefen Grinsen.
„Ich hab’ noch was für euch – damit ihr nicht annehmt, es gäbe nichts zu holen auf dieser Reise“, ergänzte Will dann und winkte Joshamee Gibbs, Jacks Erstem Maat, der eine zusammengerollte Decke aus dem Boot hob. Will nahm sie ihm ab und ließ sie vor Jack fallen. Die übrigen Besatzungsmitglieder bekamen große Augen, als sie das metallische Klirren hörten. Will schlug die Decke auf und präsentierte der Mannschaft der Black Pearl zwanzig nagelneue Entersäbel.
„Ich denke, die könnt ihr brauchen, oder?“
„Oh, Mann, der heilige Nikolaus war da!“, entfuhr es Gibbs. „Junge, wo hast du die geklaut?“
„Die?“, fragte Will mit spöttischem Grinsen. „Die sind aus Meister William Turners Waffenschmiede, mein Freund. Scharf wie die Rasiermesser, rostsicher auch auf See und gut ausgewogen. Wollt Ihr probieren, Master Gibbs?“, rief er, warf Gibbs einen der Säbel zu und zog seine eigene Klinge blank. Joshamee Gibbs war ein erfahrener Seebär und altgedienter Matrose, hatte unter Jacks Kommando schon einige Schiffe ausgenommen und konnte mit einem Säbel umgehen.
„Och, warum nicht, Junge?“, griente er und kreuzte mit Will die Klingen – um einige Minuten später entwaffnet zu sein.
„Holla, du verstehst zu fechten, Will!“, schnaufte Gibbs, als er auf die Spitze von Wills Säbel sah, die in bedrohlicher Nähe zu seinem prächtigen Backenbart war. Will entspannte sich, zog Gibbs’ Säbel aus dem Großmast und gab ihn Gibbs zurück.
„Möge Neptun Euch gewogen bleiben, Master Gibbs“, sagte er mit einem freundlichen Lächeln.
Jack sah Wills beeindruckender Vorführung amüsiert zu.
„Glück gehabt, dass Gibbs sich an die Regeln hält, Junge. Lässt du dich von mir noch mal schlagen?“, sagte er schließlich und gab seine lockere Haltung auf, mit der er am Niedergang zum Achterdeck gelehnt hatte. Will zögerte einen Moment – nicht, weil er fürchtete, gegen Jack Sparrow keine Chance zu haben sondern weil er Jacks Autorität als Captain nicht gefährden wollte. Doch plötzlich wurde ihm klar, dass er Jack unbeabsichtigt herausgefordert hatte – durch sein spielerisches Gefecht mit Gibbs. Kein Captain – mochte er bei der Navy, der Handelsmarine oder ein Pirat sein – konnte eine Rauferei an Bord dulden, ohne seine Autorität zu gefährden. Auf Handelsschiffen wurden seit alters her Leute, die ohne Not eine blanke Klinge zogen, mit einem Ohr am Mast festgenagelt. Um sich zu befreien, blieb nur ein schmerzhafter Schnitt ins Ohr, was einen deutlichen Schlitz hinterließ – eben ein Schlitzohr.
„Wenn du es versuchen willst, bitte“, stimmte der junge Mann schließlich zu.
Jack lud Will auf das freie Achterdeck, aber Will war gewarnt, seit er mit Jack in der Schmiede und auf der Interceptor aneinander geraten war. Er wusste, dass Jack sich nicht an die Regeln der Fechtkunst hielt. Captain Sparrow würde ihm andere Qualitäten abverlangen. Hatte Jack etwa vergessen, dass Will sich in der Schatzhöhle der Isla de Muerta auch nicht mehr um die Fechtregeln geschert hatte?
Sie lieferten sich ein ausgeglichenes Gefecht, doch Jack musste häufiger zurückweichen, um Wills harten, präzisen und doch so leicht wirkenden Hieben auszuweichen. Mit einem schnellen Schlag nach unten durchtrennte Jack die Schot*, die den Gaffelbaum* des Besanmastes* hielt, aber Will wich rechtzeitig nach unten aus – und der Baum traf den von seinem eigenen Trick überraschten Jack mit voller Wucht vor der Brust, dass der Captain zu Boden ging und benommen liegen blieb. Als er die Augen wieder aufschlug, sah er auf Wills Säbelspitze, die im Ernstfall seine Kehle im nächsten Moment hätte aufschlitzen können.
„Du mogelst, Jack“, grinste Will. Jack machte eine hilflose Handbewegung.
„Pira-a-t!“, grinste er zurück. Will zog den Säbel zurück und bot Jack die Hand. Jack schlug ein und ließ sich von dem jungen Mann hochziehen.
„Willkommen an Bord der Black Pearl, Master Turner“, lachte er und machte einen formvollendeten Kratzfuß vor Elizabeth.
„Mrs. Turner“, grüßte er sie mit blitzenden Goldzähnen. „Los, Leute! Lichtet den Anker, setzt die Segel, brasst die Rahen! Kurs Tortuga!“, trieb er dann die Crew an. Ein vielstimmiges
„Aye!“, bestätigte seinen Befehl. Jeweils zwei Mann enterten die drei Rahen des Fock- und des Großmastes, ebenfalls je zwei Mann nahmen sich die beiden Rahen des Besanmastes vor und ließen die Segel fallen. Alle übrigen Männer – und eine Frau – holten die Brassen der Rahen und das Gaffelgei* des Besansegels* fest, bis die Rahen sich in den Wind gedreht hatten. Der kräftige Südwind griff in die Segel, blähte sie voll auf. Die Black Pearl nahm Fahrt auf und ging auf einen nordöstlichen Kurs nach Tortuga.
Jack betrachtete Will und Elizabeth als Gäste, weshalb sie keine Hängematten im Mannschaftsquartier unter Deck bekamen, sondern die Gästekajüte unter der Kajüte des Captains. Elizabeth hatte zunächst einen gewissen Widerwillen gegen dieses Quartier, hatte doch Barbossa sie hier einsperren lassen. Doch als sie in dieser Nacht in der breiten Koje nach wundervollen Zärtlichkeiten in Wills Armen einschlief, hatte sich ihr Widerwille bereits aufgelöst wie ein Albtraum an einem friedlichen, sonnigen Morgen.
Die Black Pearl erreichte die kleine Insel der Piraten dreieinhalb Seemeilen nördlich des westlichen Teils von Hispaniola oder der französischen Kolonie Saint Domingue am Abend des auf den Auslauftag folgenden Tages. Mit ihren gut über zehn Knoten gehörte die Black Pearl zu den schnellsten Schiffen in der Karibik. Captain Jack Sparrow verstand es zudem, den letzten Windhauch auszunutzen, so dass seine Pearl es mit ihm am Ruder auf fast zwölf Knoten brachte – günstigen Wind und ruhige See vorausgesetzt. Der südliche Wind, der sie trieb, war ideal gewesen. So hatten sie keine vollen zwei Tage bis an ihr Ziel benötigt.
Auf Tortuga war – wie üblich auf der Insel der Piraten – der Teufel los, doch Jack und Gibbs lotsten Will und Elizabeth auf einigermaßen ruhigen Straßen zu Anamarias Haus am westlichen Rand der Stadt. Jack klopfte und ging schon vorsorglich in Deckung, weil er genau wusste, dass Anamaria ihn mit dem Besen erwartete. Der Streich verfehlte Jack nur knapp und hätte beinahe Elizabeth getroffen, hätte Will sie nicht rechtzeitig beiseite gezogen.
„Hallo, Anamaria!“, grüßte Jack von unten.
„Lässt du Streuner dich auch mal blicken?“, giftete Anamaria.
„Tag“, sagte Will und schob seine Frau vorsichtig aber bestimmt hinter sich. Anamarias Gesicht leuchtete auf.
„Hallo, Will!“, begrüßte sie ihn, nach einem Blick hinter ihn setzte sie hinzu: „Hallo, Elizabeth! Los, kommt rein!“.
Jack atmete sichtlich auf, dass die Anwesenheit von Elizabeth und Will ihn vor einer deftigen Abreibung bewahrt hatte. Mit Anamaria war nicht zu spaßen, seit sie schwanger war. Die hübsche Schwarze zauberte schnell ein paar Happen geräucherten Fisch und harten, selbst gebrannten Rum auf den Tisch und lud die Gäste ein, sich zu setzen.
„Was treibt solch brave Leute wie euch in die verrufenste Gegend der Karibik?“, fragte sie dann, als alle um den Tisch saßen und es sich schmecken ließen. Will putzte sich die Finger vom Fett des geräucherten Rochenflügels ab, zog das Medaillon aus der Tasche und zeigte es Jacks dunkelhäutiger Geliebter.
„Kennst du das?“, fragte er. Anamaria schüttelte den Kopf.
„Nein, was soll das sein?“
„Mit einiger Wahrscheinlichkeit gehörte es meinem Vater. Jack sagte, du hättest es vor ungefähr einem Monat einen Umschlag an Bord der Black Pearl gebracht, auf dem nichts weiter als Jacks Name stand und in dem nichts weiter war als das hier“, erklärte Will. „Wer hat dir den Umschlag gegeben, Anamaria?“
„Ist dir wichtig, oder?“, fragte Anamaria.
Will nickte und ließ das Medaillon wieder verschwinden, bevor es Beine bekam. Dem Metallfachmann hatte sich schnell enthüllt, dass es aus purem Silber bestand.
„Ich bin mal hergekommen, um meinen Vater zu suchen“, erwiderte der junge Mann kühl.
„Den hat Barbossa doch umgelegt“, erinnerte Anamaria.
„Sagen wir: Er hat’s versucht, indem er ihm eine Kanone an die Riemen seiner Stiefel geknüpft hat und ihn damit beschwert über Bord gehen ließ. Aber mein Vater besaß auch mindestens eines dieser verfluchten Aztekenmedaillons und sein Blut – oder meines als sein direkter Nachkomme – war zur Lösung des Fluchs über Barbossa und seine Bande notwendig. Er gehörte zu Barbossas Crew und hat offensichtlich selbst in die Truhe gegriffen, sonst wäre sein Blut nicht zur Erlösung vom Fluch zu gebrauchen gewesen. Er wusste um den Fluch, wie Pintel mir sagte. Wenn er selbst diesem Fluch verfallen war, konnte Barbossa ihn nicht töten, auch nicht ersäufen. Die ganze Bande ist auf dem Meeresgrund zur Dauntless spaziert und es hat ihnen nichts ausgemacht, wie wir wissen“, entgegnete Will. „Wenn es ihm gelungen sein sollte, sich von dem Geschützrohr an den Füßen zu befreien, könnte es doch nahe liegend sein, dass er noch lebt. Er wäre jetzt achtundvierzig. Ich kenne hier ältere Leute.“
„Du bist ‘n schlaues Kerlchen, Will Turner. Und wo willst du anfangen mit der Suche? Die Karibik ist groß und hat Tausende von Inseln, die in keiner Karte verzeichnet sind“, gab Anamaria zu bedenken.
„Eben drum“, versetzte Will. „Deshalb möchte ich ja wissen, von wem du den Umschlag bekommen hast, um den Weg zurückverfolgen zu können.“
Anamaria war – was Schlitzohrigkeit betraf – die passende Partie für Jack Sparrow. Doch wie bei ihm klopfte auch bei ihr das Herz letztlich am richtigen Fleck. Sie hätte wohl jeden in der Karibik betrügen können – den grundehrlichen Will ausgenommen, gestand sie sich ein.
„Weißt du, unter Piraten hat irgendwie alles seinen Preis, aber du bist mir sympathisch, Junge. Doch ich muss dich warnen: Nicht alle Piraten sind so wie Jack oder dein Vater. Die klauen zwar wie die Raben, aber nicht bei jemandem, der ‘s nicht vertragen kann. Das Ding war in der Piratenpost“, erklärte Anamaria.
„Und was heißt das, bitte?“, fragte Will weiter.
„Piratenpost, das sind Dinge, die fallen dir einfach in den Schoß. Ich war in Adrians Kneipe, unten am Hafen. Da hat mir jemand den Umschlag zugesteckt, hat mir aber nichts dazu gesagt.“
„Beschreibung?“, bohrt Will hartnäckig. Anamaria seufzte.
„Ziemlich klein, aber kein Zwerg wie Marty, krumme Beine wie die Entersäbel, linkes Auge unter ‘ner Klappe, linke Hand mit Hakenprothese, weiß, Glatzkopf“, beschrieb Anamaria. Hakenprothesen und Augenklappen waren unter Piraten schier allgegenwärtig, glatzköpfige Piraten mit weißer Hautfarbe gab es auch tonnenweise.
„Kennst du die Handschrift?“, versuchte Will eine andere Methode. Anamaria grinste.
„Ich kann nicht mal lesen“, versetzte sie.
„Wie konntest du den Umschlag dann gezielt an Jack geben, wenn du nicht lesen kannst und er dir auch nichts gesagt hat?“, hakte Will nach. Anamaria schluckte hart. Nein, Will konnte sie nichts vormachen.
„Du hättest Polizist werden sollen“, murmelte sie.
„Ich bin Schmied, aber nicht behämmert. Also, von wem hast du den Umschlag?“
„Will, es ist gefährlich, die Nase da zu tief hineinzustecken“, warnte die Schwarze erneut.
„Es war auch gefährlich, sich mit Barbossa und seinen Untoten anzulegen; auch ohne das Wissen um den Fluch und die Tatsache, dass sie nicht zu töten waren“, erinnerte er.
„Na schön“, seufzte sie. „Was sagt dir der Name Jamie Einauge?“
„Bis jetzt noch nichts, aber ich bin auch nur der Sohn eines Piraten, nicht sein Kompagnon“, entgegnete der junge Mann mit einem freundlichen Lächeln.
„Jamie Einauge ist ein Nachrichtenhändler. Er wohnt unten am Hafen. Er kennt alles und jeden und ist mit jeder Muschel in der Karibik per Du. Aber er ist teuer, das sag’ ich dir.“
„Was verlangt er?“
„Kommt auf die Auskunft an, nein, eher auf dein Interesse an einer Auskunft. Wenn du durchblicken lässt, dass du großes Interesse hast, kann es ein Vermögen kosten. Er verlangt auch schon mal Sicherheiten. Kein normaler Pirat würde auf Jamie einfach zugehen“, warf Jack ein.
„Aha. Und … was tut ein … normaler … Pirat?“, fragte Will grinsend.
„Wie trinkfest bist du?“, fragte Jack.
„Trinkfest?“, fragte der junge Schmied verblüfft.
„Jamie musst du unter den Tisch saufen, Junge!“, erklärte Jack.
„Leih mir Gibbs aus. Der schafft ihn“, erwiderte Will.
„Da is’ ‘n Problem: Gibbs ist trockengelegt, Junge. Und Piraten gehen sich untereinander nicht an die Gurgel, falls du beabsichtigen solltest, es aus ihm ‘raus zu pressen“, warnte Jack.
Will zog fragend eine Braue hoch. Da hatte er irgendwie andere Erinnerungen … Jack hielt seinem fragenden Blick stand und wich von dieser These nicht ab. Will lehnte sich zurück und rieb sich nachdenklich den Kinnbart.
„Jamie ist Nachrichtenhändler“, brummte er. „Also lebt er davon, dass er Informationen bekommt, die er verkaufen kann, seh’ ich das richtig?“
Jack und Anamaria nickten im Takt.
„Man kann ihn ja mal locken … vielleicht wird er noch bettelnd hinter mir herlaufen …“
„Tu bloß nichts Blödes!“, warnte Jack erschrocken.
„Den Versuch ist es wert“, beharrte Will und fuhr sich mit beiden Händen durch das offene, schulterlange Haar. Jack hatte das dunkle Gefühl, „Stiefelriemen Bill“ Turner direkt neben sich sitzen zu haben. Will hatte nicht nur eine vertrackte Ähnlichkeit mit seinem Vater, was das Äußere betraf, er hatte auch dessen Beharrlichkeit und seinen Grips geerbt.
„Und was für Geheimnisse willst du ihm anbieten?“, fragte Jack. Will lächelte hintergründig.
„Och, ich kenne die Grundrisse einiger Gefängnisse, deren Sicherheitseinrichtungen. Als Schmied kommt man weiter herum, als mancher Pirat glauben würde. Ich bin sicher, dass es hier ‘ne Menge Leute gibt, die für das kleine Geheimnis der Gefängnisgitter von Port Royal ‘ne Menge bezahlen würden …“ grinste er.
Elizabeth sah ihn verstört an.
„Du … du willst dafür verurteilten Piraten zur Flucht verhelfen?“
Er lächelte sanft.
„Das haben wir beide schon getan, mein Liebling. Captain Jack Sparrow war absolut ordnungsgemäß zum Tode verurteilt, wie du dich erinnerst. Wir waren nur beide der Meinung, dass Jack so viel Gutes getan hatte – speziell für uns beide – dass wir ihn buchstäblich nicht haben hängen lassen“, sagte er. Elizabeth lächelte ihn an.
„Auf Jack trifft das zu, aber …“
„Und hättest du nicht mit Engelszungen auf deinen lieben Papa eingeredet, hätte ich direkt neben Jack gestanden“, fuhr Will fort. „Ich würde mich mit Händen und Füßen dagegen wehren, Pirat genannt zu werden – außer von dir, aber da weiß ich, von wem ‘s kommt. Nein, Elizabeth, ich hätte beinahe für etwas am Strick gezappelt, was ich nicht wirklich getan habe. Es gibt eine ganze Menge von Leuten, die James Norrington schon in die Festung von Port Royal verfrachtet hat, die dort ebenso viel oder wenig zu suchen haben, wie wir beide. Insofern habe ich kein schlechtes Gewissen, wenn außer einem vielleicht wirklich bösen Piraten zehn andere entlaufen, bestimmt keine sind“, erwiderte Will so ernst, wie es von ihm niemand kannte. Gewiss, Will war ein ernster junger Mann, er hatte keine Flausen im Kopf, war ein fleißiger Arbeiter – besonders, seit er auf eigene Rechnung arbeitete. Im Gegensatz zu Jack hatte er die Aktion Aztekengold nur sehr bedingt als Spiel betrachtet, aber auch in dieser Hinsicht war er Vaters Sohn, wie Jack sich erinnerte.
„Anamaria – könntest du vor Jamies Ohren fallen lassen, dass ich etwas über diese Gitter weiß?“, fragte Will mit einem unternehmungslustigen Funkeln in den braunen Augen.
„Aye“, bestätigte sie. „Aber du weißt, auf was für ‘n gefährliches Spiel du dich einlässt, Will Turner?“
„Ich glaube schon“, erwiderte er.
„Will – wenn sich herausstellt, dass das Geheimnis, was du verkaufen willst, nicht der Wahrheit entspricht, bist du vor Jamie im ganzen Ozean nicht sicher“, warnte Anamaria. Will lächelte.
„Wenn Jamie sich nicht an den Kodex hält, muss ich es ja auch nicht, oder? Außerdem, um es mit Jacks Worten auszudrücken: Es kommt immer auf das richtige Druckmittel an …“
Jack sah ihn verblüfft an. Will hatte seine Unterhaltung mit Gibbs sehr wohl gehört, erkannte er.
‚Ohren wie ein Jaguar!’, durchzuckte es Jack. Schließlich gewann er die Fassung zurück und zeigte ein goldenes Grinsen.
„Anamaria, unser lieber Will ist seinem Vater so ähnlich, dass mir allmählich Zweifel kommen, dass es wirklich sein Sohn ist, der hier sitzt. Mach nur. Jamie wird schon anbeißen.“
Kapitel 5
Jamie Einauge
In den folgenden drei Tagen zeigte Will sich ganz offen in Tortuga. Jack, Gibbs, Marty, der Zwerg, und Ambrose Hammond, Jacks Zweiter Maat, waren ständig in seiner Nähe. Auch jemand anderes war ständig in seiner Nähe und benahm sich so auffällig unauffällig, dass es schon Will selbst auffiel, obwohl er sich noch nie vor jemandem hatte verstecken müssen und daher auch nicht um die Tricks von Verfolgern wusste.
In Adrian’s Bar am Hafen verschwand der Unbekannte dann in einem Hinterzimmer. Nur Minuten später steckte die Bedienung Will mitten im Kampfgetümmel zweier rivalisierender Crews einen Zettel zu.
„He, Kleiner, der da will dich sprechen“, murmelte sie. Bevor sie verschwinden konnte, hatte Will sie an der bedrohlich lockeren Schürze gepackt und hielt sie fest.
„Danke, Süße. Wo ist er?“, fragt er. Sie wies mit dem Kopf zu der Hinterzimmertür, in der der Unbekannte verschwunden und gleich wieder herausgekommen war. Will steckte den Zettel ein und bedeutete Jack und Joshamee, die nicht weit von ihm saßen, wohin er ging. Beide erhoben sich und setzten sich näher an die Hinterzimmertür, um Will im Notfall helfen zu können.
Jamie Einauge entsprach der Beschreibung von Anamaria: Klein, kaum fünf Fuß groß, O-Beine, weiß, glatzköpfig, Augenklappe links und eine Hakenprothese für die fehlende linke Hand.
„Du bist Will, der Schmied?“, fragte der Einäugige.
„Schon möglich. Und wer bist du?“, erkundigte sich Will vorsichtig.
„Hahaha, du scheinst hier der Moses* zu sein, Kleiner, wenn du Jamie Einauge nicht kennst“, griente Jamie mit einem zwar schlechten, aber mit ein paar Goldzähnen ansatzweise reparierten Gebiss.
„Stimmt, ich bin erst ein paar Tage hier“, erwiderte Will.
„Man sagt, du hast Neuigkeiten aus der weiten Welt, mein Junge“, setzte Jamie an und bot Will mit einer Handbewegung Platz an, der sich auch setzte.
„Sagt man das?“, grinste Will. „Und was hast du damit zu tun?“
„Sieh mal, ich bin so was wie ‘ne Zeitung, nur dass ich das mündlich mache. Wer was Neues wissen will, kommt zu Jamie Einauge. Aber ich brauch’ natürlich die Neuigkeiten – und da ist ‘n Neuer hier immer ‘ne gute Quelle.“
„Nachrichten sollen hier teuer sein, hab’ ich gehört …“, lächelte Will.
„Oh, eine Hand wäscht die andere, Junior. Du erzählst mir deine Neuigkeiten und ich kann dir vielleicht auch Informationen geben, die du brauchst … Oder dir anderweitig helfen.“
„Wie, zum Beispiel?“
„Dir zum Beispiel ein richtiges Schiff besorgen …“
„Danke, ich hab’ schon eins.“
„Du segelst mit Jack Sparrow, wie ich weiß. Lass das, Junge, der is’ ‘n Unglücksrabe, hat schon durch Meuterei seinen Kahn verloren.“
„… und wieder zurückbekommen. Danke, kein Interesse“, versetzte Will. „Was kannst du mir sonst bieten?“
„Mäuse“
„Die Beute war gut in letzter Zeit. Ich brauch’ nichts extra.“
„Weiber“
„Ich bin verheiratet – und auch noch glücklich“, griente Will.
„Hmm … vielleicht doch Nachrichten?“, brummte Jamie.
„Und was für Nachrichten hättest du …?“, fragte Will und bemühte sich, sein aufgeregtes Herzklopfen unter Kontrolle zu bringen.
„Du siehst jemand verdammt ähnlich, Junge, weißt du das?“
„Möglich. Wem?“
„Stiefelriemen Bill. Bist ihm wie aus ‘m Gesicht geschnitten.“
„Wer soll das sein?“, fragte Will harmlos und hoffte einerseits, dass Jamie kein zu verräterisches Leuchten in seinen Augen bemerkte und andererseits, dass er nicht zu uninteressiert tat, um den Nachrichtenhändler nicht von der Spur abzubringen.
„Ein Pirat, mein Junge. Aber es wundert mich, dass Sparrow dich noch nicht drauf angesprochen hat. Könntest glatt Stiefelriemens Sohn sein.“
„Der Name sagt mir so nichts, aber nimm mal an, es wäre so. Was könntest du mir Interessantes über ihn sagen?“, hakte Will ein. Eine innere Stimme warnte ihn, aber ganz ohne Risiko konnte er nichts erfahren…
„Du bist doch sein Sohn, oder?“
„Wenn ich ihm denn so ähnlich sehe, kann das vielleicht der Fall sein. Meine Frau Mutter hat mir den Spitznamen meines Erzeugers leider verschwiegen. Vielleicht kannte sie den aber selber nicht“, grinste Will. Das war nicht mal geschwindelt.
„Du musst sein Sohn sein!“
„Na schön, nehmen wir’s mal an. Welche interessanten Neuigkeiten hast du über ihn, dass es sich lohnt, dafür ein kleines Geheimnis auszuplaudern?“
„Du kennst deinen Alten nicht, oder? Würd’ste ihn gern treffen?“, fragte Jamie.
„Tot oder lebendig? Unter Piraten ist das ein Unterschied“, lächelte Will.
„Lebendig! Wofür hältst du mich? Bist du interessiert?“
„Dein Preis?“
„Du weißt was, was ich auch gern wüsste.“
Will lehnte sich bequem zurück. Augenscheinlich hatte es sich gelohnt, den Nachrichtenhöker neugierig zu machen.
„Das, was ich weiß, ist wertvoll, Jamie“, blockte Will. Jamie beugte sich über den Tisch.
„Hör mal, Kleiner: Wenn ich eine Information haben will, bekomme ich sie. Piraten kennen ziemlich fiese Methoden, jemanden auszufragen. Willst du’s riskieren?“, fragte der Einäugige drohend. Will kam ihm entgegen, bis ihre Nasen fast aneinander stießen.
„Jamie, die eigene Nase ist zum Anfassen prima geeignet. Du legst dich ebenfalls mit Piraten an. Gib Acht, Kleiner!“, warnte Will. Jamie prallte zurück. Das hatte schon lange keiner mehr gewagt. Er schnappte einmal nach Luft und wollte Will dann geradewegs an die Gurgel; doch seine Hand, die über den Tisch langte, um den jungen Mann zu packen, landete in einem eisenharten Schraubstock – einer ausgesprochen kräftigen Schmiedhand. Der Einäugige verzog schmerzvoll das Gesicht, so quetschte Will ihm die verbliebene Rechte. In seiner Not schlug Jamie mit der Hakenprothese nach Will, doch fing der den Haken mit der anderen Hand geschickt ab und rammte ihn so heftig in das weiche Palmenholz, aus dem der Tisch bestand, dass der Haken darin stecken blieb. Jamie sah verdutzt auf den bis zum halben Bogen verschwundenen Haken.
„Gut, Jamie, du kannst mein kleines Geheimnis erfahren. Aber bevor ich dazu auch nur ‚piep’ sage, will ich wissen, was du weißt. Spuck ‘s aus!“, knurrte Will. Die grimmige Entschlossenheit in Wills Blick ließ seine haselnussbraunen Augen fast schwarz erscheinen.
Jamie bekam es mit der Angst zu tun. Schon ein paar Mal hatte er auf den verborgenen Alarmknopf getreten, der an seiner Hinterzimmertür mechanisch eine Signalflagge steuerte. Damit rief er in Notfällen seine Schläger zu Hilfe. Jamie war klar, dass er ohne Hilfe seiner Gorillas gegen Will absolut keine Chance hatte. Zudem kannte er Stiefelriemen Bill noch von früher und wusste, dass es nur einen gewissen Spielraum gab, ihn zu reizen. Er hatte ihn hier voll ausgenutzt und war einen Schritt zu weit gegangen. Doch es geschah nichts, so oft er auch auf den mechanischen Knopf trat.
Jamie gab auf. Irgendetwas hinderte seine Männer daran, ihm zu helfen. Der arme Jamie ahnte ja nicht, dass Joshamee Gibbs und Jack Sparrow diesen Mechanismus außer Betrieb gesetzt hatten, sich ganz bequem gegen seine Tür lehnten und niemanden hineinließen. Der allgemeine Tumult im Schankraum war ohnehin so groß, dass die beiden weiteren Fechter vor der Tür des Hinterzimmers gar nicht auffielen.
„J… ja, is’ gut, Will. Ich … ich sag’s dir“, erwiderte Jamie mit zitternder Stimme. Will lockerte seinen harten Griff und der krummbeinige Nachrichtenhöker atmete sichtlich auf.
„Also, das da habe ich am Strand gefunden“, sagte Jamie und wies mit dem Kopf auf ein Regal hinter sich, wo eine leere Flasche stand. Will ließ Einauges Hand los und holte sich die Flasche, der anzusehen war, dass sie längere Zeit im Wasser geschwommen war. Reste von Hanf, Sand und etwas Siegellack klebten noch daran.
„Flaschenpost“, murmelte der junge Mann. „War das hier da drin?“, fragte er und zeigte Jamie das Medaillon. Der Nachrichtenhändler nickte.
„Ja, das Medaillon und dieser Brief hier. Kannst du lesen, Will?“
Will nickte und nahm Jamie den Brief ab. Es war ein geglättetes Palmblatt. Die Tinte konnte ihrer Farbe nach gut und gern getrocknetes Blut sein. Will fand, dass die Buchstaben sehr nach der Handschrift seines Vaters aussahen. Er hatte noch immer den Brief seines Vaters, mit dem er ihm das Aztekenmedaillon geschickt hatte.
Die Nachricht, die Jamie ihm zeigte, lautete:
Cayenne, 21. Juni 1754
Hoffe, dass der Richtige diese Flasche findet. Die Franzosen haben mich geschnappt und in ihre Kolonie Cayenne verfrachtet. Ist eine Strafkolonie. Erbitte Hilfe der Bruderschaft.
Jungs, manchmal ist der Kodex kein Gesetz! Holt mich hier raus!
Stiefelriemen Bill (William Turner)
Will las sie leise vor.
„Juni 1754, das war vor einem Jahr, Jamie. Woher willst du wissen, ob er tatsächlich noch lebt?“, fragte er dann.
„Cayenne ist eine Strafkolonie**, mein Junge. Die Franzosen lassen die Gefangenen im Urwald schuften – aber sie legen sie nicht um. Insofern glaube ich schon, dass der alte Stiefelriemen noch lebt. Ist ‘n zähes Kerlchen, dein Papa. Dabei war Barbossa überzeugt, ihn um die Ecke gebracht zu haben. Wie hat der das bloß überlebt?“
„Barbossa hatte übersehen, dass mein Vater vom gleichen Fluch betroffen war wie die ganze übrige Mannschaft der Black Pearl“, erwiderte Will abwesend.
„Was, den Fluch gab’s wirklich?“, fragte Jamie verblüfft nach.
„Ja, aber er konnte gebrochen werden.“
„Und wie?“
„Barbossa und die Mannschaft der Black Pearl hatten sich einen Aztekenschatz unter den Nagel gerissen, der nicht gesund war. Er bestand aus ein paar hundert identischen Medaillons, die mit einem Fluch belegt waren. Wer auch nur eines davon klaute, auf dem lastete der Fluch. Im Mondlicht wurden sie zu Skeletten und konnten nicht sterben, bis nicht alle Medaillons wieder zusammen waren und jeder Dieb auch etwas Blut geopfert hatte“, erklärte Will.
„Aber dein Vater konnte seine Schuld ja schlecht bezahlen, oder?“, hakte Jamie nach.
„Nein, stimmt. Das Medaillon, das er besaß, hat er mir geschickt. Und da sein Blut auch in meinen Adern fließt, habe ich für ihn bezahlt.“
„Und den Schatz, gibt’s den noch?“, erkundigte sich Jamie fast beiläufig. Doch in seinen Augen war die Gier so unübersehbar, dass Will schaltete.
„Nein, den gibt es nicht mehr. Jedenfalls ist er nicht mehr erreichbar. Wir haben ihn ganz vorsichtig im Meer versenkt, damit die Kiste vollständig blieb und ja keins von den Dingern ‘rausfallen konnte, damit sich nicht wieder jemand diesen Fluch einfangen kann.“
„Und wo?“
Will lächelte.
„Jamie, das wollten wir gar nicht wissen. Es war dicker Nebel und Nacht, als wir das Zeug hoffentlich für immer versenkt haben.“
Es war eine hundertprozentige Lüge, denn die Steintruhe mit den verfluchten Medaillons stand nach wie vor in der Schatzhöhle auf der Isla de Muerta. Aber wenn es sein musste, konnte Will überzeugend lügen. Er wurde nicht mal rot. Zwar hatte Jack gesagt, dass die Insel nicht gefunden werden konnte außer von denen, die schon wussten wo sie war, aber irgendwer musste diese verdammte Insel ja mal versehentlich gefunden haben … Da war es besser, schon die Suche danach zu umschiffen.
Jamie nickte verstehend. Dieser Junge verstand zu schwindeln, dass sich die Deckenbalken bogen, dennoch hatte Jamie, der erfahrene Nachrichtenhöker, die Lüge durchschaut. Er hatte von der Isla de Muerta gehört – damals, als Jack den Schatz gesucht hatte. Er hatte von einer riesigen Steintruhe gehört. Die konnte man doch nicht einfach so abtransportieren und versenken … Es gab nur ganz wenige, die die Position dieser vermaledeiten Insel kannten, aber dafür war der junge Bursche ohnehin nicht die richtige Adresse, das war Jamie Einauge klar. Er musste an Jack Sparrow heran; das würde nicht einfach werden, doch mit dem würde er sich schon noch befassen, durchzuckte es Jamie.
„Gut, Jamie, du hast aus dem Nähkästchen geplaudert. Dann erfülle ich auch meinen Teil des Handels …“ sagte Will, doch Jamie hob die Hand.
„Schon gut, Sohn. Tu mir nur noch den Gefallen, mir den Haken aus dem Holz zu pfriemeln. Das kann ich leider nicht mit einer Hand, so wie du ihn ‘rein gebohrt hast. Dann sind wir quitt.“
Will packte den Haken und zog ihn mit einem Ruck aus dem Tisch.
„Danke für die Information, Jamie“, verabschiedete sich Will und verließ das Hinterzimmer. Dass Jamie ihn einfach so entließ, ohne die von ihm so begehrte Information zu bekommen, machte den jungen Mann stutzig; aber aufdrängen wollte er ihm sein Wissen nun doch nicht.
Im Schankraum war es inzwischen wieder friedlich, nachdem die raufenden Crews sich zu weiteren Duellen am Strand verabschiedet hatten. Der Wirt und seine Bedienungen räumten noch die letzten Hinterlassenschaften der Rauferei fort, Jack und Gibbs saßen wieder an ihrem alten Tisch. Will schloss die Tür. In diesem Moment traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz: Der Schatz, der verfluchte Schatz der Azteken! Hinter dem war Jamie Einauge her! Und Jamie hatte ihm die Lüge nicht abgekauft, dass der Schatz nicht mehr existierte oder doch wenigstens mit den vorhandenen Mitteln nicht mehr erreichbar war.
Die Nacht war dunkel, weil Wolken den nahezu vollen Mond verhüllten. Will konnte nicht schlafen, stand leise auf, verließ die Kajüte im Zwischendeck der Black Pearl und schlich an Deck. Die Galeone lag auf Reede etwa drei Kabellängen* vor dem Hafen von Tortuga. Der Lärm der Piratenstadt drang bis hinaus auf die Reede. Tortuga schien nie zu schlafen. Im Lichtschein, der von Tortuga her auf das ruhige Wasser fiel, bemerkte Will ein Boot, das fast lautlos auf die Black Pearl zu pullte Der junge Schmied arbeitete in seiner Schmiede oft im Halbdunkel, so dass er bei diesen Lichtverhältnissen sehr viel besser sah als andere.
„Schlechtes Gewissen?“, hörte er dicht neben sich und zuckte herum. Neben ihm lehnte Jack Sparrow sich an die Reling. Im Lichtschein der lauten Stadt sah Will die Goldzähne blitzen.
„Ja, durchaus. Tut mir Leid, dass mir das ‘rausgerutscht ist“, erwiderte Will. „Sag mal, wofür würdest du das da halten?“, fragte er dann.
„Was meinst du?“
„Das Boot da!“
Jack peilte über die Reling ins Dunkel.
„Ich seh’ nichts“, brummte er.
„Dann komm hinter die Reling und warte ‘nen Moment“, sagte Will und zog Jack herunter.
Jack sah den jungen Mann verblüfft an, als er leise Ruderschläge hörte. Wieder peilte er vorsichtig hinaus.
„Das gibt’s ja nicht!“, flüsterte Jack. „ Hast du das etwa gesehen?“
Will nickte, was Jack knapp erkennen konnte.
„Ich sollte dich öfter für Nachtwachen einteilen“, kicherte der Captain. Der freundschaftliche Stups, den er von Will bekam, bewies, dass der die Ironie begriffen hatte. Ganz leise pirschten die Freunde an die Reling mittschiffs, wo die beste Möglichkeit zum Entern bestand, wenn keine Jakobsleiter außenbords hing.
Nur wenig später griffen Hände an das Plankenholz, zogen sich drei Männer an Bord der Black Pearl. Sie bemerkten weder Jack noch Will, die sich hinter die Bordwand geduckt hatten und im Schlagschatten verschwanden. Leise zogen alle drei die Entersäbel und strebten flugsen Schrittes der Kapitänskajüte unter dem Achterdeck zu. Will überzeugte sich, dass ihn und Jack niemand mehr überraschen konnte. Aber das Boot war leer und ordentlich an der Bordwand festgemacht. Jack und Will zogen ebenfalls die Säbel und folgten den Eindringlingen gleichfalls sehr leise.
„Verdammt, wo ist Sparrow?“, fluchte einer der Eindringlinge leise, als sie die Tür der Kajüte öffneten und feststellen mussten, dass die Kabine leer war.
„Captain Sparrow, wenn ich bitten darf!“, gluckste Jack und stellte sich in das Licht des Mondes, als der Himmel in diesem Moment aufklarte. „Und ich bin hier, Jungs!“, setzte er hinzu.
Die drei Männer fuhren erschrocken herum, Entersäbel zuckten im fahlen Mondlicht. Zwei Mann warfen sich auf Jack. Der Dritte glaubte, mit Will leichtes Spiel zu haben, doch sah er sich übel getäuscht, als Will schon mit dem vierten Hieb seine Deckung aufriss und er mit einem tödlichen Stich ins Gekröse umkippte. Mit einem weiten Satz war Will neben Jack und lenkte den zweiten Mann ab, der unter Wills geschickten Hieben auch schon nach kurzem Schlagabtausch mit einem satten Kinnhaken versehen über Bord ging. Jack entwaffnete Nummer Drei.
„Sweeny – ich hatte gehofft, dir Ratte nie wieder zu begegnen!“, schnaufte Sparrow, als sein Kontrahent sich ergab. Will packte den Mann grob am Kragen, drehte ihn ins Mondlicht und sah ihn näher an.
„Du bist doch die letzten drei Tage hinter mir hergeschlichen und du hast doch auch Jamie Einauge gesagt, dass ich in Adrian’s Bar sitze, hm?“, fuhr er ihn an. Sweeny nickte, erschrocken über die Eiseskälte in Wills Augen.
„Hast du ‘ne Ahnung, was die wollten?“, erkundigte sich Jack.
„Ich fürchte, Jamie Einauge ist neugierig, wo sich die Isla de Muerta befindet. Der Schwachkopf wollte mir einfach nicht glauben, dass die verfluchten Aztekenmedaillons inzwischen nicht mehr dort sind“, lächelte Will. „Ich nehme an, die wollen aus dir die Information ‘raus prügeln, wo die Insel ist, seh’ ich das richtig, Sweeny?“
Sweeny schluckte hart. Exakt das war ihr Auftrag. Jack drückte Will seinen Säbel in die Hand.
„Halt’ mal“, sagte er, packte Sweeny am Kragen, holte aus und verpasste ihm einen solchen Kinnhaken, dass der Schläger zwei Zähne an Deck ließ, rücklings über die Reling stolperte und mit einem mächtigen Platschen ins Wasser fiel. Eilig schwamm er zum Boot, zog sich hinein, woran ihn niemand hinderte und pullte schleunigst an Land.
„Tut mir Leid, dass mir auch nur ein Wort über den Aztekenschatz herausgerutscht ist“, seufzte Will, als sie dem zurückfahrenden Boot nachsahen und gab Jack den Säbel zurück.
„Aye, ist mir auch schon passiert“, grinste Jack zurück und schob den Säbel in die Scheide. „Jamie hat seine eigene Art, an Informationen zu kommen. Er hat nur den Fehler, zu gierig zu sein.“
„Ob die Sache mit Cayenne stimmt? Oder war das nur ein Lockmittel, um etwas über den Aztekenschatz zu erfahren?“, fragte Will besorgt. Jack peilte auf den weiter aufklarenden Himmel.
„Weißt du“, sagte er dann, „wir … na ja, wir haben alle ‘ne Menge auf dem Kerbholz, klar soweit? Dein Vater war da keine Ausnahme. Jede Kolonialmacht in der Karibik ist hinter uns Piraten her wie der Teufel hinter der armen Seele.“
„Warum, bei allen Teufeln der See, ist Tortuga eigentlich so eine wunderbare Zuflucht für alle, die unter der schwarzen Flagge segeln? Hispaniola ist nur einen Katzensprung entfernt**!“, wunderte sich Will. Jack grinste.
„Oh, nicht nur Tortuga ist ‘ne Pirateninsel. Der westliche Teil von Hispaniola ist seit mehr als hundert Jahren in der Hand französischer Piraten. Vor knapp sechzig Jahren haben die Spanier den Teil offiziell an Frankreich abgetreten, aber so richtig gesetzestreu ist man deshalb in Saint Domingue, wie die Franzosen das nennen, wirklich nicht. Da gibt’s schon lange mehr Piratennester als auf den restlichen Inseln der Karibik zusammen“, erklärte er.
„Also, was ist mit Cayenne?“, fragte Will und steckte gleichfalls den Säbel weg.
„Du wirst es kaum glauben, aber … den Verdacht hatte ich.“
Kapitel 6
Unter dem Wind
Eine steife Brise von Nordosten nötigte Jack, einen Kurs zu steuern, der ihm überhaupt nicht behagte. Seit vier Tagen kreuzte die Black Pearl gegen den schräg von vorn kommenden Nordostpassat. Gibbs maß immer wieder mit dem Jakobsstab* nach.
„Nichts zu machen, Sir“, grunzte der Erste Maat. „Solange der Wind von Nordost kommt, kommen wir nicht voran. Wir machen kaum Fahrt über Grund.“
Jack peilte auf die Masten. Vielleicht waren noch ein paar Zoll herauszuholen, aber viel sicher nicht mehr.
„Brasst die Rahen hart Steuerbord! Stagsegel setzen!“, befahl er und maß den Kurs nochmals mit dem Kompass nach. Mit dem Fernrohr peilte er dann nach Steuerbord. Dort war weder Land noch eine Sandbank in Sicht. Jack korrigierte den Kurs, bis er fast 150° erreicht hatte und Südsüdost steuerte. Der Nordostpassat griff nun fast exakt mittschiffs in die vollen Segel, die Stagsegel entfalteten sich. Doch ein Rahsegler wie die Black Pearl brauchte zum Vorwärtskommen eigentlich achterlichen Wind, also einen Wind, der von hinten in die Segel griff. Mehr als einen Wind querab, also direkt von der Seite, konnte Jack auf einem Kurs, der letztlich nach Südosten führen sollte, nicht erreichen. Im Moment brachten die quer zu den Masten stehenden Stagsegel praktisch den gesamten Vortrieb – und das war nicht eben viel. Jack verstand es meisterlich, den letzten Windhauch zu nutzen und auch mit ungünstigem Wind noch Fahrt herauszuholen, jedenfalls sehr viel besser, als der allergrößte Teil der Captains in der Karibik. Diese Tatsache hatte der Black Pearl den Ruf eingetragen, auch gegen den Wind segeln zu können – auch dies hatte dazu geführt, dass die Black Pearl in der Karibik immer noch als Geisterschiff verschrien war. Gibbs maß nochmals mit dem Log* nach.
„Vier Knoten!“, meldete er. Jack nahm die Geschwindigkeit zur Kenntnis. Mehr war ohne Zuhilfenahme der Riemen beim besten Willen nicht zu machen, so wie der Wind stand. Er überschlug, dass sie bei diesen Bedingungen schon bis Grenada oder Los Testigos knapp elf Tage brauchen würden. Der Proviant und das Wasser würden wohl für vierzehn Tage reichen. Spätestens auf Los Testigos, einer kleinen Insel vor der Küste Spanisch-Südamerikas, mussten sie die Vorräte entsprechend ergänzen.
Die Tage vergingen in einem gewissen Gleichmaß aus Wache und Ruhezeit, Fischen zur Nahrungsergänzung, Kampftraining auf der Back, in das Elizabeth sich durchaus einschließen ließ. Schon seit einiger Zeit gab Will ihr auf ihre eigene Bitte hin Fechtunterricht, so dass sie nicht völlig ahnungslos war, was dies betraf. Die junge Frau ließ es sich auch nicht nehmen, im Vormars* als Ausguck eingesetzt zu werden, beim Segelsetzen und –einholen mit zu schuften. Ihr elegantes Kleid hatte sie gleich, nachdem sie an Bord gekommen war, gegen Hemd und Hose vertauscht, das lange Haar zum Pferdeschwanz zusammengebunden und unter einem schwarzen Kopftuch versteckt, damit es sie nicht behinderte. So, wie sie sich auf dem Schiff bewegte, sah sie sehr viel mehr nach einer waschechten Piratin aus, als nach der Tochter des Gouverneurs von Jamaica.
Will hatte seine Weste schon bald nach Beginn der Fahrt beiseitegelegt, trug das Hemd bis zum Bauch offen und hatte die Ärmel bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt. Nach dem ersten heftigen Sonnenbrand, den er sich nach dem langen Sonnenentzug in der Schmiede an Deck der Black Pearl eingefangen hatte, zeigte sich jetzt wieder dekorative Bräune auf seiner Haut, soweit sie nicht von Hemd, Hose oder Haar bedeckt war. Auch Will vermittelte wieder mehr den Eindruck eines Piraten, als den eines braven Handwerkers. Der junge Mann wechselte sich mit Jack, Gibbs und Ambrose Hammond am Ruder ab und machte als Steuermann wirklich keine schlechte Figur. So, wie er gelernt hatte, erstklassige Klingen zu schmieden, lernte er auch schnell, den Kurs zu halten und mögliche Abweichungen im Steuerrad zu spüren. Jack brauchte keine Sorgen zu haben, wenn Will am Ruder war. Wind und Wellen vermochten es nicht, das Schiff gegen seine kräftigen Schmiedhände aus dem Ruder laufen zu lassen.
Da Will und Elizabeth stets gemeinsam Wache hatten, verbrachten sie auch die Freiwache miteinander und hatten so sehr viel mehr Zeit füreinander als sonst, wenn Will frühmorgens in die Schmiede ging und meist erst nach Einbruch der Dunkelheit zurückkehrte. In der Gästekajüte störte sie niemand, wodurch die Reise wirklich den Charakter einer verspäteten Hochzeitsreise bekam und ihre Liebe zu schönster Blüte brachte. Die Stunden, die sie dort verbrachten, waren erfüllt von Zärtlichkeit und Glück.
Wie von Jack berechnet, erreichte die Black Pearl Los Testigos knapp elf Tage nach dem Auslaufen von Tortuga. Jack steuerte die unbewohnte Insel an, die ihm als passable Quelle für Wasser und Proviant bekannt war. Die Black Pearl blieb auf der Reede, während Will, Gibbs und Cotton zur Insel pullten, um die Vorräte zu ergänzen. Der sonnige Tag, die palmenbewachsene Insel mit dem weißen Strand und das azurblaue Meer ließen Will die dunkle Schmiede nicht gerade vermissen. Mit einigem Geschick kletterte er auf die Kokospalmen, um die Früchte zu ernten, während Cotton nach Wasser suchte, es bald gefunden hatte und die Wasserfässer füllte und Gibbs sich um andere Früchte wie Bananen, Mangos, Papayas und Passionsfrüchte kümmerte. Will war auf der fünften Palme, als sich am Horizont zwei Masten zeigten.
„He, Gibbs, wir sind nicht ganz allein!“, rief er hinunter.
„Wo siehst du was?“, fragte der Maat.
„Dort, am nördlichen Horizont, Josh!“
Gibbs sah in die angegebene Richtung.
„Komm sofort runter, Will! Wir müssen hier verschwinden!“
Die drei Männer beeilten sich, wieder ins Boot zu kommen und pullten eilig zur Black Pearl zurück. Die beiden Masten kamen näher, weiße Segel trieben sie auf dem gleichen Kurs nur mühsam vorwärts, den auch die Black Pearl gelaufen war. Als die Proviantcrew die Galeone erreichte, stand Jack nicht am Ruder, sondern war in den Ausguck des Besanmastes aufgeentert. Gibbs und Cotton holten das Boot ein, während Will und Elizabeth Früchte und Wasser in der Vorratskammer bei der Kombüse verstauten. Die Kombüse der Black Pearl war nicht groß und normalerweise das Chaos pur, aber seit Elizabeth an Bord war, herrschte hier Ordnung. Sie hatte Cotton schneller aus der Kombüse komplimentiert, als dessen Papagei krächzen konnte. Seither regierte jemand in diesem Raum, der – Verzeihung! die – etwas vom Kochen verstand und seitdem gab es auf der Black Pearl vernünftiges Essen, das den Männern auch schmeckte.
Elizabeth mochte als Tochter eines reichen Mannes aufgewachsen sein und mochte es bisher nicht nötig gehabt haben, sich ihr Essen selbst zuzubereiten – das hieß allerdings nicht, dass sie davon nichts verstand. Weatherby Swann hatte dafür gesorgt, dass seine Tochter mit allen Fähigkeiten ausgestattet wurde, die eine richtige Hausfrau brauchte, und dazu gehörte auch Kochen – selbst wenn er nur annehmen musste, dass seine Tochter die Köchin nur zu kontrollieren hatte.
„Was meinst du? Wie lange reicht das?“, fragte Will. Elizabeth besah sich die Ernte.
„Na ja, die Kokosnüsse halten sich recht lange, aber Bananen, Mangos und Passionsfrüchte sind eher leicht verderblich. Wenn’s geht, solltet ihr die Insel noch mal abgrasen.“
„Wir haben ein Schiff gesehen und hielten es für besser, zurück zu kommen“, erwiderte Will.
„Ein Schiff?“
„Ja, eine Brigg*, wie’s aussieht. Wenn die Interceptor nicht gesprengt auf dem Meeresgrund liegen würde, könnte sie es sein.“
„Interceptor?“, stieß Elizabeth hervor und war mit drei Sätzen an Deck, Will folgte ihr.
„Ich hab’ immer gedacht, Gillette erzählt Märchen, wenn er von der Mermaid spricht. Die Interceptor war schon extrem teuer wegen ihres speziellen Rumpfes. Aber die Mermaid war nicht nur noch teurer, sondern soll noch schneller sein. Die Navy hat nur nicht lange was davon gehabt. Sie gilt seit etwa vier Monaten als vermisst. Angeblich sollen Piraten sie gekapert haben“, sagte sie.
Will stieg ebenfalls über die Wanten zum Ausguck des Besanmastes hinauf, wo Jack zu dem fremden Schiff peilte.
„Was hältst du davon, Captain?“, fragte er. Jack gab ihm das Fernrohr.
„Ich hab’s fast befürchtet. Das ist Jamie. Sieh selbst“, sagte er. Will sah durch das Fernglas. Alle Segel einschließlich der Stagsegel waren gesetzt, ein langer, grüner Wimpel mit einer Meerjungfrau als Wappenzeichen wehte im Topp des Großmastes – und an der Flaggleine dahinter eine schwarze Flagge mit einem Totenkopf über gekreuzten Knochen.
„Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen!“, entschied Jack. „Anker lichten! Alle Mann in die Wanten! Setzt die Segel! Brasst die Rahen!“, befahl er, als er an einem Tampen auf Deck glitt. Eine innere Stimme befahl Will, im Ausguck zu bleiben und das fremde Schiff im Auge zu behalten.
„Hey, Will! Lass das Marssegel* fallen!“, hörte er Jack von unten.
„Aye, Captain!“, bestätigte der junge Mann und stieg auf die Marsrah des Besanmastes, das sich nähernde Schiff immer noch im Auge, aber die Bändsel des Marssegels forderten doch mehr Aufmerksamkeit. Will löste die Bändsel und das Besanmarssegel fiel. Die Matrosen verholten die Brassen* der Rahen, die sich in den Wind drehten, der die Segel aufblähte und die Black Pearl vorwärts trieb.
Will konnte sich wieder der Mermaid widmen, die weiter aufkam.
„Jack, die Mermaid luvt* nach Backbord!“, rief er hinunter. Jack nahm Maß.
„Sie wollen uns eine Breitseite verpassen. Aber nicht mit Captain Jack, Sparrow, mein Guter!“, knurrte Jack so laut, dass Will es bis in die Marsrah hören konnte. Der Captain warf das Ruder hart Steuerbord.
„Brasst die Rahen hart Steuerbord! Kanonen klar machen!“, befahl er und die Männer beeilten sich, dem Befehl nachzukommen, um dem fremden Schiff eine möglichst schmale Silhouette und damit eine geringe Angriffsfläche zu bieten und um sich rasch verteidigen zu können.
„Wahrschau*, Captain!“, brüllte Marty, der als Ausguck im Vormars stand. „Sandbank voraus!“
Jack stieß einen lästerlichen Fluch aus.
„Jack! An Backbord ist das Ende der Untiefe näher!“, rief Will vom Besanmast. Jack zögerte einen Moment. Nach Backbord zu steuern hieß, der Mermaid die Flanke zu bieten. Nach Steuerbord schienen ihm die Chancen besser, zu entkommen, bevor die Mermaid selbst die Kanonen klar hatte. Der Blick voraus zeigte dem Captain aber, dass es keinen Sinn hatte, nach Steuerbord auszuweichen. Die kleinen Wellen, die sich auf der Sandbank brachen, verdeutlichten, dass die Black Pearl dort nicht ausweichen konnte. Captain Sparrow riss das Ruder hart Backbord herum. Das unsanfte Kratzen an Steuerbord ließ erahnen, dass die Black Pearl buchstäblich haarscharf an der Strandung vorbeigeschrammt war.
Die Mermaid war nach Jamies Schätzung inzwischen soweit aufgekommen, dass die Black Pearl in Reichweite ihrer Kanonen war. Jamie Einauge grinste vor sich hin. Er war tatsächlich der Erste, dem es gelungen war, Jack Sparrow so kalt zu erwischen und ihm eine Falle zu stellen. Die Black Pearl konnte wegen der Untiefe nur nach Backbord ausweichen – und dazu musste sie der Mermaid die Backbordseite bieten.
„Feuer!“, befahl er. Die Kanonen der Mermaid krachten und spien Granaten aus, doch die Salve war zu kurz. Jamie hatte sich in der Entfernung verschätzt.
Auf der Black Pearl grinste Jack. Typisch Jamie Einauge! Ihm fehlte durch das verdeckte linke Auge das dreidimensionale Sehen und damit die Fähigkeit, eine Entfernung richtig abzuschätzen. Die starken Geschütze der Black Pearl waren denen der Mermaid zudem an Reichweite überlegen. Hammond signalisierte, dass die Kanonen klar waren.
„Feuer!“, befahl Jack. Die Salve war deckend**. Zwei oder drei der Granaten von der Black Pearl durchschlugen das Hauptdeck der Mermaid und lösten einen Brand aus, den Jamies Männer nur schwer unter Kontrolle bekamen. Eingehüllt in Rauch und Pulverdampf drehte die Mermaid nach Backbord ab und zog sich zurück. Vielstimmiger Jubel an Bord der Black Pearl war die Folge. Jack grinste golden
„Meine Pearl ist eben fast unschlagbar!“, seufzte er, sichtlich erleichtert. „Gibbs! Sieh mal nach, ob die Ramming ein Leck hinterlassen hat!“, wies er dann den Ersten Maat an.
„Aye!“, bestätigte der und verschwand unter Deck.
„Marty! Gibt’s noch Hindernisse?“, fragte Jack den Ausguck.
„Nein! Voraus alles klar!“, meldete der Zwerg.
„Dann auf, an den Horizont!“, murmelte der Captain und maß mit dem Kompass den Kurs nach.
Will stieg vom Besanmast und sah Jack interessiert über die Schulter.
„Sag mal, wie, zum Teufel, ermittelst du mit dem Teil den Kurs?“, fragte er.
„Was?“, fragte Jack und klappte den Kompass rasch zu. Will hielt seine Hand vorsichtig, aber bestimmt fest, bevor sie in der Rocktasche verschwinden konnte.
„Hör mal, ich will dir keine Konkurrenz machen; ich bin nur lernwillig.“
Jack sah seinen jungen Freund einen Moment an. Nein, es gab auf dieser Welt kaum einen Menschen, der ehrlicher war als Will. Ehrlich, treu und zuverlässig. Er unterschied sich in dieser Hinsicht in keiner Weise von seinem Vater, der Jacks bester Freund gewesen war – oder immer noch war?
Dem Captain kamen plötzlich Zweifel an Stiefelriemens Freundschaft. Vor seinem geistigen Auge tauchte der Tag der Meuterei wieder auf. Jack erinnerte sich an grobe Fäuste, die ihn aus der Koje rissen, an die brutalen Schläge, die ihm Koehler, Twigg und Bo’sun verpasst hatten, bis er sich nicht mehr gewehrt hatte. Sie hatten ihn an Deck geschleppt. Er sah Barbossas böses Grinsen vor sich, als der ihm verkündete, dass die Black Pearl nun sein Schiff sei. Er sah Stiefelriemen, der direkt neben Barbossa stand – und Jacks Blick auswich. Jack erinnerte sich an den Stich, den ihm dieses Ausweichen versetzt hatte. Stiefelriemen hatte ihm nicht geholfen, hatte nichts gegen die Meuterei unternommen – im Gegenteil, er hatte sie mitgemacht!
„Was ist?“, holte ihn Wills Stimme aus der Erinnerung zurück. Jack antwortete nicht gleich. Sein Blick, der in Wills Augen Verrat suchte, fand nichts darin, was danach aussah. Würde Will ihn verraten? Nein, der nicht. Nie und nimmer! Gut, Will konnte es wissen. Der Rest? Nein! Jack wandte sich um und sah Gibbs auf das Achterdeck kommen.
„Gibbs, nimm das Ruder!“, wies er den Maat an.
„Aye, Captain. Alles klar, kein Leck!“, meldete Gibbs.
„Aye, danke!“, erwiderte Jack und winkte Will, der im Moment nicht wusste, was mit Jack los war. Er folgte ihm in die Kapitänskajüte.
„Also, was ist mit dem Kompass?“, fragte Will direkt, ohne auf Jacks seltsames Verhalten einzugehen. Jack hatte eben manchmal eine merkwürdige Art, das war er inzwischen gewohnt.
„Er zeigt nicht nach Norden. Wie navigierst du damit?“, fragte er weiter.
Er hatte Jacks übliches, leicht tuntenhaftes Grinsen erwartet, aber Jacks Gesichtsausdruck blieb ernst, wie er es bei ihm noch nie gesehen hatte. Er öffnete den Deckel des Kompasses und legte ihn auf den Tisch zwischen sich und Will.
„Will, dieser Kompass ist ein Geschenk deines Vaters. Jedes Mal, wenn ich ihn benutze, denke ich an deinen Vater, der mir ein guter Freund war. Er stand mir sehr nahe, fast, als wären wir Brüder. Du stehst mir ähnlich nahe und deshalb teile ich mit dir das Geheimnis dieses Kompasses. Aber niemand darf davon etwas erfahren – auch Elizabeth nicht“, sagte Jack mit erhobenem Zeigefinger. Es war eine ernsthafte Warnung, nicht wie sonst, wenn er seine Zeigefinger ausfuhr, um Balance zu halten.
„Ich weiß zwar nicht, warum du so geheimniskrämerisch damit bist, aber du sollst mir vertrauen können. Nein, ich werde dein Geheimnis nicht preisgeben“, versprach Will. Jack nickte und nahm den Kompass in die Hand. Will hatte am Stand der Sonne gesehen, dass sie fast genau Südkurs liefen, folglich hätte die Südrichtung der Windrose zur Kajütentür zeigen müssen – doch dort, wo Süden hätte sein sollen, war Osten auf dem Kompass.
„Die Windrose ist im Ruhezustand um neunzig Grad negativ versetzt. Er zeigt neunzig Grad weniger an, als er sollte. Dort, wo Norden sein sollte, ist Westen; Osten ist gleich Norden, Süden entspricht Osten und Westen ist hier drauf Süden. Klar soweit?“, erklärte Jack. Will nickte.
„Jetzt pass’ auf!“, sagte Jack. Er drückte einen verborgenen Knopf – und die Windrose sprang in die richtige Stellung.
„Nicht zu fassen!“, entfuhr es Will. „Ist da ein Spezialmagnet drin?“, fragte er. Jack lächelte. Oh, ja: Vater und Sohn!
„Kluger Junge!“, grinste er und drehte den Kompass auf die Bodenseite. „Sieh mal.“
Der Knopf steuerte einen winzigen Magneten; schwach, aber in unmittelbarer Nähe der Kompassnadel ausreichend, um diese um neunzig Grad ablenken zu können. Wurde der Knopf gedrückt, entfernte sich der kleine Ablenkmagnet und das normale Erdmagnetfeld reichte wieder aus, um die Kompassnadel gen Norden weisen zu lassen. Will rieb sich nachdenklich den Kinnbart.
„Lass’ mich raten: Barbossa hat dir den Kompass gelassen, weil er annahm, dass er nicht funktioniert“, mutmaßte der junge Mann. Jack nickte und grinste auf seine normale, affektierte Art.
„Aye“, sagte er, dann wurde sein Gesichtsausdruck wieder bitterernst. „Du kennst jetzt das Geheimnis dieses Kompasses – und ich hoffe, ich erlebe mit dir nicht den gleichen Reinfall wie mit deinem Vater.“
Will sah Jack verständnislos an.
„Versteh’ ich jetzt nicht“, sagte er. Jack ließ sich in den Sessel fallen, dass es staubte. Er seufzte tief.
„Will, dein Vater und ich waren wirklich gute Freunde. Das war so bis zu dem Tag, an dem auch er mich im Stich ließ. Ich habe ihm immer vertrauen können, bis auf ein Mal, und das habe ich nur knapp überlebt – die Meuterei. Da ist zwischen ihm und mir noch was offen.“
Will bekam das dunkle Gefühl, dass Jack bei der Suche nach seinem Vater nur mitmachte, um sich für die Meuterei auch an ihm zu rächen. Mit einer begütigenden Geste ob er die Hände und setzte sich Jack gegenüber an den Tisch.
„Jack, bitte hör mir zu“, bat Will. „Ist vielleicht der richtige Zeitpunkt, dass du’s erfährst. Ich schätze an, du nimmst an, dass mein Vater mit der Meuterei einverstanden war.“
„Das nehme ich nicht an, Will“, versetzte Jack. „Dein Vater hat sich gegen mich gestellt – wie alle anderen! Und nur deshalb, weil ich ein anderes Schiff nicht in Fetzen schießen wollte, sondern es mit Verhandlung versuchen wollte“, entgegnete Jack bitter.
„Er hat sich gegen dich gewandt …“ wiederholte Will sanft. „Du weißt, dass Barbossa meinen Vater über Bord gehen ließ, oder?“, hakte er nach.
„Aye!“
„Weißt du auch wieso?“, erkundigte sich Will. Jack fuhr die Zeigefinger aus, als ob er sogar im Sessel die Balance zu verlieren drohte.
„Ich war nicht mehr dabei, vergiss das nicht.“
„Nein, sicher nicht. Jack, du sagst, mein Vater war dein bester Freund, dir nahe wie ein Bruder. Ist dir nie der Gedanke gekommen, er hätte noch ein paar Trümpfe in der Hand behalten wollen?“
„Versteh’ nich’.“
„Ich habe Pintel und Ragetti nach meinem Vater befragt, ob sie ihn kannten. Sie bestätigten mir, dass sie ihn gekannt hatten – und dass es deinetwegen zwischen ihm und Barbossa und dem Rest der Crew zum Streit gekommen ist, an dessen Ende mein Vater mit einer Kanone an den Riemen seiner Stiefel über Bord ging. Er war nicht einverstanden mit der Meuterei und mit dem, was mit dir geschehen ist. Es war gegen den Kodex. Das hat er wohl zu laut und zu deutlich gesagt. Jack, ich kann es nicht beweisen, aber aus dem, was mir Pintel gesagt hat, würde ich schließen, dass Vater einen Plan hatte, der vielleicht nicht so geklappt hat, wie er es sich vorgestellt hat“, erklärte Will. Jack stand auf, heftiger, als Will es von ihm gewohnt war.
„Was für einen Plan meinst du?“, fragte er und warf den Kopf in den Nacken.
„Wie gesagt, ich kann es nicht beweisen, aber ich könnte mir vorstellen, dass er eine Art Gegenmeuterei vorhatte. Möglicherweise hat er sich in der Crew verschätzt, vielleicht seinen Einfluss auf die Mannschaft überschätzt. Ich weiß es nicht genau, Jack, aber wenn er dein Freund war, ein guter Freund, dein bester Freund, dann …“
„Das kläre ich mit ihm – und unter vier Augen, William Turner jr.!“, versetzte Jack mit grantigem Unterton, Will harsch unterbrechend. Doch so leicht gab Will Turner jr. nicht auf. Darin war er seinem Vater mindestens so ähnlich wie im Äußeren, auch wenn er es selbst nicht wusste.
„Jack“, sagte er und nahm den Kompass in die Hand, probierte den Mechanismus aus. „Du hast mir gesagt, dieser Kompass sei ein Geschenk meines Vaters.“
Jack nickte.
„Aye!“
„Nach dem, was Gibbs mir über das Aussetzen von Piraten erzählt hat und nach dem, was ich auf diesem Schiff selbst erlebt habe, als es noch in Barbossas Händen war, ist es ja nicht üblich, einem Ausgesetzten einen Kompass mitzugeben, oder?“
„Nein“, bestätigte Jack.
„Schön. Mein Vater schenkt dir diesen Kompass und bei der Meuterei lässt Barbossa ihn dir – obwohl mein Vater dabei mitmacht und weiß, wie das Ding funktioniert? Jack, lichte bitte den Anker im Gehirn!“, versetzte Will. Jack ließ sich wieder in den Sessel fallen und legte die Beine bequem auf den Tisch. Er grinste wieder auf seine gewöhnliche affektiert-tuntenhafte Art. Jugend schloss Scharfsinn nicht aus, bemerkte Sparrow anerkennend.
„Anamaria hat Recht: Du hättest Polizist werden sollen und nicht Schmied. Gut, wir werden ‘s erfahren, wenn wir deinen Vater lebend vorfinden“, schloss er dann. Will lächelte freundlich.
„Jack, ich möchte gern vermeiden, dass du meinen Vater an der Bramrah aufknüpfst, sofern du ihn an Bord hast.“
Jack lächelte nachsichtig.
„Jetzt ist es an dir, den Anker im Oberstübchen zu lichten, Will. Glaubst du, ich würde dich auf dieser Reise mitschleppen, samt deiner Angetrauten, wenn ich deinem Alten ans Leder wollte?“
„Nimm mir das, was ich jetzt sage, nicht übel, Jack: Kommt drauf an, was du mit uns beiden oder dreien vorhast …“, grinste Will hintergründig. „Es wäre ja denkbar, dass du eine mögliche Rache meinerseits von vornherein ausschließen willst und mich gleich daneben hängst. Du bist immerhin Pirat …“
„Weißt du eigentlich, dass du einem die Gedanken im Kopf verdrehen kannst, Will Turner?“, fragte Jack verblüfft. Wills Grinsen wurde noch breiter.
„Nomen est omen, Captain“, griente der junge Mann. Jack stutzte. Will konnte etwas Latein … nun, jedenfalls einen kleinen Brocken. Für einen armen Waisenjungen war so viel Bildung nicht gerade normal, durchfuhr es Jack.
„Ich merke, ich weiß von dir auch nicht zu viel. Wo hast du Latein gelernt?“, bemerkte Jack und zwirbelte den Schnurrbart.
„Ich wollte dir von mir erzählen, als wir mit der Interceptor nach Tortuga gesegelt sind, aber du hattest deine Ohren auf Durchzug gestellt. Ich habe seither angenommen, dass es dich nicht interessiert“, entgegnete Will.
„Na ja, Meinungen kann man ändern. Schätze, dein Vater weiß auch nicht viel von seinem Sohn, he?“, mutmaßte Jack und beließ es einstweilen dabei.
„Ich habe ihn zuletzt vor vierzehn Jahren gesehen, Jack“, erwiderte Will. „Ich habe inzwischen aber gelernt, dass man unter Piraten sehr genau formulieren muss, was man als Verhandlungsergebnis festhalten möchte. Ich möchte also, dass du – so wir meinen Vater lebend finden und es uns möglich ist, ihn aus der Strafkolonie zu befreien – meinen Vater, Elizabeth und mich wieder nach Port Royal, Jamaica, zurück bringst – lebend und gesund versteht sich. Abgemacht?“
Jack lächelte. Will hatte gelernt, oh, das hatte er! So, wie er das Ergebnis formuliert hatte, hätte nicht einmal Barbossa ihm noch einen Strick daraus drehen können. Der Captain nahm die Füße vom Tisch und beugte sich zu Will hinüber.
„William Turner jr., du bist ein kluger Kopf, mein Junge; ein geschickter Handwerker, ein lieber Kerl und mir ein guter Freund. Ich hoffe, dass du mich ebenfalls als Freund betrachtest – na ja, bewiesen hast du ‘s schon, soviel ist sicher. Wirklich, wir beide verdanken uns gegenseitig mehrfach das Leben, so wie dein Vater und ich auch. Ich schwör’ bei meiner Piratenehre, dass ich genau das vorhatte: Euch lebend und gesund nach Port Royal zurück zu bringen und nie etwas anderes wollte. Abgemacht?“, fragte Jack und streckte Will die Hand hin. Will ergriff Jacks Hand und erwiderte den Händedruck mit dem kräftigen Griff eines Schmieds.
„Abgemacht.“
Kapitel 7
Jenseits der Karibik
Die Black Pearl hatte die letzten Inseln der Karibik hinter sich gelassen und segelte nun in Gewässern, die selbst Captain Jack Sparrow nicht wirklich gut bekannt waren. Immerhin hatte er auf Trinidad eine ganz passable Seekarte abstauben können – anders gesagt, geklaut.
Nach dem ernsthaften Gespräch mit Will, vielleicht dem ersten ernsthaften Gespräch, das Jack Sparrow seit vielen Jahren geführt hatte, war ihm klar geworden, dass er in Vater und Sohn Turner und in Elizabeth vielleicht die einzigen wirklichen Freunde hatte, die es wert waren, so genannt zu werden. Das Gespräch mit Will hatte ihm die Augen geöffnet, und er begann zu verstehen, dass er wenigstens Will vertrauen konnte. Für Jack war es schwer, einem anderen Menschen wirklich zu vertrauen, nachdem ihm seine alte Crew so übel mitgespielt hatte. Seit der Meuterei hatte er seine Pläne stets für sich behalten und anderen nur noch so viel gesagt, wie sie unbedingt wissen mussten, um ihren Teil beitragen zu können – manchen sogar weniger, wenn er an das erste Abenteuer mit Will dachte. Er hatte den jungen Mann völlig im Unklaren über das gelassen, was er von ihm wollte. Der Umstand hatte sich beinahe schwer gerächt, als Will ihn niedergeschlagen hatte, um von Jack nicht an Barbossa ausgeliefert zu werden, wie er befürchtet hatte. Jack hatte diese Absicht später gegenüber Elizabeth bestritten und verdeutlicht, dass er gegenüber Barbossa so lange im Vorteil war, wie der nicht wusste, wer Will tatsächlich war; aber nach dem Gespräch mit Will stellte Jack sich die Frage, ob er damals zu Elizabeth eigentlich die Wahrheit gesagt hatte. Bis zu Wills nicht zu verleugnend logischer Spekulation, was Stiefelriemens Beteiligung an der Meuterei betraf, hatte Jack sich gefragt, ob er Stiefelriemen wirklich wiedersehen wollte – und was er dann tun wollte. Die Antwort, die er sich jetzt gab, erschreckte ihn. Will hatte auch damit Recht gehabt: Er hatte Stiefelriemen töten wollen! Und gleichzeitig beruhigte es ihn, dass er das nach dem eindringlichen Gespräch nicht mehr vorhatte, gewiss nicht. Jack lächelte vor sich hin. In seinem Leben gab es zwei Menschen, die es je fertig gebracht hatten, ihn von einem Plan abzubringen: Vater und Sohn Turner!
Es war früh am Morgen, als Jack auf dem Weg in das Mannschaftsquartier war, um Gibbs zu wecken, der ihn am Ruder ablösen sollte. Der Weg führte an der Tür der Gästekajüte vorbei und Jack konnte es sich nicht verkneifen, mal hineinzuschauen. Sei Lächeln wurde noch breiter, als er sah, dass Elizabeth dicht an Will gekuschelt lag, der seinen rechten Arm schützend um ihre Schulter gelegt hatte. Die jungen Leute schliefen noch ruhig, mit einem seligen Lächeln im Gesicht, als ob sie glücklich träumten.
Jack schloss die Tür wieder, lauter als beabsichtigt. Elizabeth schreckte hoch und sah verschlafen zur Tür, doch sie sah nichts und legte sich wieder hin. Neben sich spürte sie Wills vertraute Wärme. Hatte es wirklich je anders sein können? War sie nicht schon immer morgens in seinen Armen aufgewacht? Seit jenem Tag, an dem die Besatzung der Dauntless ihn als Schiffbrüchigen aus dem Meer gefischt hatte, hatte sie davon geträumt, am Morgen neben ihm aufzuwachen – so wie jetzt. Es waren bisher wunderbare Tage und ebenso wundervolle Nächte gewesen. Noch im Halbschlaf glitt ihre Hand sanft über seine muskulöse Brust.
Will war für einen Mann extrem schlank, wirkte eher schmal und brachte bei einer Größe von sechs Fuß nicht einmal hundertfünfundvierzig Pounds auf die Waage. Bei seiner Statur musste er unter einem Wasserfall schon hin und her springen, um überhaupt nass zu werden. Doch so schmal er auch war, er hatte ausgeprägte, kraftvolle Muskeln, die von kaum einem Grain Fett umgeben waren. Dort, wo das Hemd am Tage offen war, zeigte sich ein braunes Dreieck, das von der halben Schulterbreite bis zum Oberbauch reichte. Ebenso waren die Unterarme von der Sonne gebräunt. Sie sah hoch. Er schien noch zu schlafen, hatte die Augen jedenfalls noch geschlossen. Lange, dunkle Wimpern schützten seine braunen Augen vor der südlichen Sonne. Es gab nach Elizabeths Ansicht auf dieser Welt keine schöneren Augen als die von William Turner jr. Ihre Farbe schwankte zwischen dunklem, transparentem Bernstein, wenn er sie liebevoll ansah, bis zu fast völliger Schwärze, wenn er zornig wurde. Elizabeth erinnerte sich an seinen Zorn, als Barbossa sie über die Planke gescheucht hatte. Wills Augen waren wirklich schwarz gewesen.
In seinem Gesicht zeigten sich noch die letzten Spuren von Sonnenbrand auf der Nasenspitze und auf der Haut über den Wangenknochen. Den Bart am Kinn und an der Oberlippe, der ihm während des ersten Abenteuers mit Jack Sparrow gewachsen war, hatte er ebenso wie die langen Koteletten behalten und nun, nach einem halben Jahr intensiver Pflege, wirkte der Bartwuchs auch nicht mehr so flaumig wie damals.
Er lächelte, schien ihren prüfenden Blick zu spüren. Sie konnte nicht anders, als sein ansteckendes Lächeln zu erwidern. Er sah nicht nur unglaublich gut aus; er vereinte Kraft, Geschicklichkeit und Mut. Elizabeth hatte inzwischen auch feststellen dürfen, dass Klugheit ebenfalls zu den Eigenschaften ihres Mannes zählte. Die gewisse Naivität, die er am Beginn des ersten Abenteuers mit Jack noch gehabt hatte, hatte er am Ende jener Reise bereits abgelegt, er hatte sich befreit aus dem Korsett anerzogener und erzwungener Unterwürfigkeit, hatte selbst der Staatsmacht getrotzt und damit Jacks Leben gerettet. Zu all diesen guten Eigenschaften kam noch seine unwiderstehliche Zärtlichkeit ihr gegenüber hinzu – wie dieses wunderbare Streicheln an der Schulter, das Elizabeth sehr genoss.
„Guten Morgen“, sagte er leise und schlug die Augen auf. Dunkle Bernsteine strahlten die junge Frau an und schlossen sich wieder, als sie in einem Kuss versanken, zärtlich, intensiv und voller Liebe. Elizabeth fühlte sich von kräftigen Armen umfangen.
„Guten Morgen, Will“, sagte sie, als sie sich aus dem Kuss lösten. „Hast du schön geschlafen?“
„Ja, du auch?“
Sie nickte und spürte seine Hand durch ihr offenes Haar gleiten.
„Es war wunderschön heute Nacht“, flüsterte sie vertraulich. Er lächelte sanft und richtete sich halb auf. Im selben Moment störte ein lautes Klopfen an der Tür den romantischen Augenblick.
„Will, Elizabeth! Reise, Reise aufsteh’n*!“, rief Gibbs, der die vierte Wache aus den Hängematten und Kojen holte. Will seufzte. Der Moment war wirklich nicht passend.
„Gut, Joshamee! Wir kommen gleich!“, rief er zurück. „Komm, Schatz! Die Pflicht ruft.“
„Ah, ja, soviel zum Thema Hochzeitsreise …“, seufzte Elizabeth und wickelte sich nochmals in die Decke ein, während Will die langen Beine aus dem Bett schwang und aufstand.
Wenig später sprang Will mit langen Sätzen zum Achterdeck hoch, um das Ruder zu übernehmen.
„Morgen, Josh, wo sind wir?“, fragte er. Gibbs lächelte väterlich.
„Hallo, Will. Wir sind querab Orinoco-Delta. Sie macht gute Fahrt. Sieh zu, dass du den Kurs auf Ostsüdost hältst und die Geschwindigkeit auch.“
„Aye, Sir!“, bestätigte Will. „Was machen wir im Moment?“
„Sechs Knoten. Ist nicht berauschend, aber mehr ist nicht drin. Lass es bloß nicht weniger werden, sonst lässt Jack dich kielholen“, grinste der Erste Maat. Will sah nach oben in die Masten.
„Was hältst du von Stagsegeln, Josh?“, fragte er, als er sah, dass nur die Rahsegel gesetzt waren. „Bei dem Wind von Backbord könnten die ganz gut sein, oder?“
Gibbs sah ebenfalls nach oben, dann auf den jungen Mann am Ruder.
„Hoppla, guckst du immer zuerst in die Masten, Junge?“
Will grinste.
„Jedenfalls dann, wenn mir solches Übel angedroht wird, falls ich die Geschwindigkeit nicht halten kann.“
Gibbs klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.
„Du bist nicht zu täuschen“, griente er. „Alle Stagsegel setzen!“, befahl der Maat dann. Die Matrosen beeilten sich, den Befehl auszuführen und wenig später trieben die Stagsegel zwischen den Groß- und Besanmast die Black Pearl vorwärts.
Der Tag wurde heiß, trotz des starken Windes, der die Wellen hoch auflaufen ließ. Will schwitzte, aber das Hemd unter der im Zenit stehenden gleißenden Sonne auszuziehen, hielt er nicht für klug angesichts des Sonnenbrandes, den er sich in den ersten drei Tagen der Reise eingefangen hatte. Gegen Mittag kam auch Jack wieder an Deck, nachdem er ein paar Stunden geschlafen hatte.
„Komisch“, sagte Will, als Jack auf das Achterdeck kam und den Kurs per Kompass prüfte. „Hast du eine Ahnung, warum die Mermaid so schnell aufgegeben hat – außer dem Umstand, dass du Captain Jack Sparrow bist?“
„Eigentlich brauchen die keinen weiteren Grund“, grinste Jack. „Aber es ist nun mal Tatsache, dass Jamie Einauge nicht der beste Geschützführer unter uns Piraten ist. Außerdem haben unsere Geschütze eine größere Reichweite. Nachdem wir sie entdeckt hatten, hatten sie keine Chance mehr. Jamie weiß zum Glück, wann er aufhören muss“, erklärte er. „Hör mal, hast du schon einen Plan, wie wir in die Strafkolonie ‘reinkommen?“, fragte er dann.
„Dazu müsste ich noch ein paar Einzelheiten wissen“, erwiderte Will. Jack fuhr herum.
„Und dann fährst du einfach los?“, griente er. Will brauchte seine ganze Beherrschung, um sich den Schrecken nicht anmerken zu lassen. Jack wollte ihn mal wieder vorführen. War wohl so was Ähnliches wie die eingeholten Stagsegel am Morgen …
„Och, ich hab’ mich ganz auf deine perfekte Kenntnis der Welt verlassen, Captain“, grinste Will zurück. „Und wenn du so wenig Ahnung hast wie ich, was die örtlichen Verhältnisse betrifft, dann müssen wir uns wohl vor Ort was einfallen lassen.“
„Du bist schlagfertig geworden, mein Guter, soviel ist sicher“, erwiderte Jack. „So leicht bist du nicht zu erschrecken, das muss ich dir lassen. Aber auf den alten Jack ist Verlass. Hast du Hunger?“
„Nach fünf Stunden am Ruder sicher.“
Jack rief Cotton ans Ruder und verließ mit Will das Deck.
In seiner Kajüte breitete Jack eine recht genaue Karte der französischen Kolonie Guayana aus, deren Hauptstadt Cayenne war. Woher er sie hatte, wollte Will lieber gar nicht wissen …
„Hier, das ist das Straflager, wie ich in Trinidad erfahren konnte. Scheint so, als gäbe es keine Mauern oder Zäune, dafür aber ‘ne Menge praktisch undurchdringlichen Urwald. Das Lager liegt etwa vier Meilen landeinwärts, nicht direkt am Hafen“, erklärte der Captain und zeigte auf einen Fleck südwestlich der Stadt Cayenne.
„Wir müssen also erst feststellen, wo Vater steckt, seh’ ich das richtig?“, brummte Will.
„Aye“, bestätigte Jack.
Elizabeth kam herein und brachte das Essen mit: Bananenomelette mit Mangomus und Honigmelone. Einige Stücke gekochtes Pökelfleisch lagen auf einem gesonderten Teller.
„Danke, Liebes“, sagte Jack und bediente sich mit einer einladenden Geste zu Will, der ebenfalls zugriff.
„Kannst du Französisch?“, fragte Jack kauend.
„Etwas, ein paar Brocken. Meine Mutter hatte schon eine gute Schule ausgesucht, in der ich nicht nur lesen, schreiben und rechnen gelernt habe, sondern auch ein bisschen Geografie und Geometrie und eben etwas Französisch und ‘n bisschen Latein. Für mehr langte das Schulgeld leider nicht“, erwiderte Will.
„Ich kann Französisch“, warf Elizabeth ein. „Wozu braucht ihr das?“
„Cayenne ist eine französische Kolonie“, grinste Jack. „Ist nahe liegend, dass die da Französisch sprechen, klar soweit?“
„Klar soweit“, erwiderte die junge Frau, Jacks stete Verständnisfrage genüsslich zitierend. „Und wozu braucht ihr das nun genau?“
„Wir müssen wissen, wo die Gefangenen untergebracht sind – und vor allem wie“, erklärte Will. Elizabeth sah überlegend auf die Karte.
„Ich hätte da eine Idee …“, sagte sie schließlich.
„Und?“, fragte Jack und schleckte sich die Finger nach einer Scheibe Honigmelone ab.
„Nördlich von Cayenne liegt Paramaribo, der Hauptort der holländischen Kolonie Guyana. Mein Vater kennt den dortigen englischen Gesandten Charles Montrose. England und die Niederlande unterhalten gute Beziehungen, seit König William III., der aus dem Hause Oranien und damit aus den Niederlanden war –, einschließlich des Austauschs von Gesandten. Ich reise nie ohne einen Pass meines Vaters. Ich könnte ihn also ganz offiziell besuchen“, erwiderte Elizabeth.
„Mit welchem Ziel?“, fragte Jack weiter.
„Erstens ein reiner Freundschaftsbesuch. Zweitens: England plant selbst eine Art Strafkolonie, wie ich gehört habe. Da kann ein hochoffizieller Informationsbesuch nicht schaden, oder? Soviel ich weiß, unterhalten der Gesandte Montrose und der Gouverneur von Cayenne gute persönliche Beziehungen. Ich denke, er wird etwas über Cayenne wissen“, schlug Elizabeth vor.
„Du übersiehst, dass du dich auf einem Piratenschiff befindest, Liebes“, grinste Jack.
„Seit wann ist ein braver Handelsmariner ein Pirat?“, grinste Elizabeth zurück. „Du bist Captain Jack Sparrow, Eigner und Reeder der Black Pearl. Du bist auf Trampfahrt, um legale Ladung zum Transport nach England zu bekommen.“
Jack lächelte und schüttelte den Kopf.
„Muss doch mal prüfen, ob dein Vater wirklich nur ein braver Staatsdiener ist … Hört sich verdammt nach Piratenidee an, was du da vorschlägst“, kicherte er.
Im Hafen von Paramaribo, der etwa zwölf Seemeilen flussaufwärts am Fluss Surinam lag, war geschäftiges Treiben. Die Black Pearl war in der Karibik zwar bekannt wie ein bunter Hund, dort auch immer noch als Geisterschiff verschrien und gefürchtet, wobei Jack sich alle Mühe gab, den guten, schlechten Ruf aufrecht zu erhalten. Doch außerhalb der Karibik hatte er noch nie etwas angestellt, was außerhalb der Legalität war. Folglich kannte man hier keinen Piraten Jack Sparrow. Jack vergaß manchmal, dass er eben nicht in der ganzen Welt der gefürchtete Pirat war … Er lächelte. Wenn Elizabeth und Will sich fein machten – und damit hatten sie wirklich kein Problem – war ein normales Handelsschiff die beste Tarnung, noch dazu als Hochzeitsreise eines verliebten, jungen Paares – und das mussten die beiden nicht einmal spielen …
Captain Sparrow konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal unter britischer Handelsflagge absolut legal und ohne Tricks in einen ganz normalen Hafen eingelaufen war. Es war so lange her, dass es schier nicht mehr wahr war. Die Black Pearl bekam einen Liegeplatz zugewiesen, Will sorgte für die Bezahlung der Hafengebühren, Gibbs und Cotton machten sich auf die Suche nach Proviant, Wasser, Segeltuch und Planken – Dinge, die sie sonst … nun ja … besorgen mussten. Und das bedeutete in der Regel illegal heranzukommen, also rauben oder stehlen. Gibbs konnte nicht verhehlen, dass durchaus etwas Positives hatte, Segeltuche einmal ohne Sorge vor Entdeckung auszusuchen, um Preise und Qualitäten zu feilschen und dennoch mit dem Gefühl aus dem Laden zu gehen, jederzeit ein willkommener Kunde zu sein.
Elizabeth und Will machten sich landfein, nahmen eine Mietkutsche am Hafen und ließen sich zu Charles Montrose fahren, dem Elizabeth angekündigt hatte, ihm ihre Aufwartung machen zu wollen. Der Bote, den sie am Hafen mit der Nachricht beauftragt hatte, kam keine volle Stunde später mit einer Einladung des Gesandten zum Kai zurück.
Mr. Montrose lebte in einer entsprechenden Villa außerhalb des Hafens und der kleinen Stadt, der von einem tropischen Garten umgeben war. Palmen wuchsen dort ebenso wie hier völlig exotisch wirkende englische Eichen und Weiden. Der Butler erwartete das junge Paar schon an der Tür und bat die jungen Leute in den Salon im Erdgeschoss. Es dauerte keine volle Minute, bis Charles Montrose erschien. Er war ein älterer Herr, etwa im Alter von Elizabeths Vater. Tatsächlich waren er und Governor Swann Kommilitonen, die sich in Oxford kennen gelernt hatten und die gemeinsam eine Karriere in der Politik angestrebt hatten. Verblüfft sah er die junge Frau an.
„Miss Elizabeth?“, fragte er. „Nein, das ist doch nicht die kleine Elizabeth aus Port Royal? Was seid Ihr für eine Schönheit geworden, Miss Elizabeth! Willkommen in Paramaribo!“, begrüßte Montrose sie und gab ihr einen eleganten Handkuss.
„Guten Tag, Minister Resident Montrose. Ich übermittle Euch Grüße meines Vaters“, erwiderte Elizabeth den Gruß des Gesandten.
„Meinen ergebenen Dank, Miss Elizabeth. Was führt Euch her?“
„Oh, mein Mann und ich sind auf Hochzeitsreise und Südamerika erschien uns passend. Da nutze ich die Gelegenheit, bei Euch vorbeizuschauen“, erklärte Elizabeth mit ihrem süßesten Lächeln.
Der Gesandte sah Will an und stutzte.
„Willkommen in Paramaribo, Mr. …?“
„Turner, Sir. William Turner“, stellte Will sich mit einer artigen Verbeugung vor. Der Gesandte sah ihn immer noch verwirrt an.
„Wart Ihr schon mal in Nassau?“, fragte Montrose.
„Nein, Sir. Ich bin seinerzeit als Junge von England nach Jamaica gekommen, das ich bisher nur selten verlassen habe. In Nassau war ich noch nie“, erwiderte Will mit seinem freundlichen Lächeln, das so ansteckend war.
„Dann seht Ihr jemandem unglaublich ähnlich, junger Mann.“
„So? Wem denn?“
„Ach, vielleicht ist es ein Irrtum, aber … Nun, seht, bevor ich hier in Paramaribo Gesandter des englischen Königs wurde, war ich einige Jahre Gouverneur in Nassau auf den Bahamas gewesen, bis die Stadt eines schönen, nein, grausigen Tages von Piraten geplündert wurde. Das ist in der Karibik seit gut dreißig Jahren zwar fast an der Tagesordnung, aber dass es unter Piraten auch anständige Menschen gibt, weniger. Nun, was soll ich Euch sagen? Der Palast wurde gestürmt, aber ein paar Minuten nach der plündernden Horde platzte noch ein zweites Piratenschiff in den Hafen – unübersehbar mit schwarzer Flagge als Piratenschiff gekennzeichnet – und bekämpfte die ersten Angreifer! Einer von denen räumte im Palast auf, ein Fechter, wie ich noch keinen zweiten gesehen habe. Der hat wohl zehn von den Piraten allein aufgespießt. Und ich sage Euch: Wär’ das nicht schon zwölf Jahre her, würde ich glauben, der steht leibhaftig vor mir!“
„Vor zwölf Jahren? Habt Ihr eine Ahnung, wie der Mann hieß?“, erkundigte sich Will mit klopfendem Herzen.
„Nun, seinen richtigen Namen habe ich nie erfahren, aber er wurde von anderen, die später hinzukamen, Stiefelriemen genannt. Seltsamer Name, nicht?“, erwiderte Montrose. „Er war ebenso schlank wie Ihr und hatte so dünne Beine, dass er wohl seine Stulpenstiefel mit Riemen zusammenschnüren musste. So sah es jedenfalls aus. Ein Pirat, zweifellos, aber ich verdanke ihm mein Leben, Mr. Turner.“
„Gesetzt den Fall, Ihr würdet ihm noch einmal begegnen, was würdet Ihr ihm sagen?“, fragte Will weiter.
„Ich würde ihm geben, was er verdient“, erwiderte Montrose.
„Ihr sagt, er sei Pirat gewesen … Für gewöhnlich wünschen unsere Landsleute Piraten an den Galgen oder doch wenigstens an die Bramrah“, erinnerte Will vorsichtig. Montrose lächelte.
„Also, da gehört der bestimmt nicht hin!“, entfuhr es Montrose. „Er hat damals etwas bei mir verloren, wohl im Kampfgetümmel, schätze ich. Das würde ich ihm gern zurückgeben.“
„Und was?“, fragte Elizabeth.
„Moment“, sagte der Gesandte.
Er ging zu seinem Schreibtisch und nahm eine Taschenuhr heraus, die an einer goldenen Kette hing und zeigte sie Will. Die Uhr hatte einen Sprungdeckel mit einem vorbereiteten Wappenschild, der aber ohne Wappen war. Will öffnete ihn – und erstarrte. Im Innendeckel war ein kleines Ölbild, das unverkennbar seine Mutter zeigte. Montrose bemerkte seine Reaktion.
„Was habt Ihr?“, erkundigte er sich.
Will fing sich einigermaßen schnell.
„Mir ist es eben ähnlich gegangen wie Euch, Sir. Ich meine, dieses Bild schon einmal gesehen zu haben.“
„Kennt Ihr den Mann, mein Freund? Wirklich, Ihr seid ihm so ähnlich, Ihr könntet sein Sohn sein. Ich schätze, er wird etwa zwanzig Jahre älter sein als Ihr, Mr. Turner.“
Will bemerkte seinen Fehler. Er hatte sich bereits verraten. Elizabeth sah ihn besorgt an. Er atmete tiefer durch als normal.
„Ich will es nicht ausschließen, dass es so ist, Sir. Allerdings – ich kenne meinen Vater kaum. Meine Mutter, die vor Gott und dem Gesetz seine angetraute Ehefrau war, erhielt eines Tages die Nachricht, dass sein Schiff mit Mann und Maus gesunken war und wohl niemand überlebt hatte. Als meine Mutter dann starb, gab ihr Cousin mir das Geld, um in die Karibik zu reisen, um nachzuforschen, ob mein Vater wirklich tot war – und die Nachrichten, die ich bekam, sprachen sehr dafür“, erklärte Will. Es entsprach durchaus der Wahrheit, was er sagte.
„Wann ungefähr wurde Euer Vater als verschollen gemeldet?“
„Meine Mutter erhielt die Nachricht, als ich etwa elf Jahre alt war, vor etwa zwölf Jahren. Ungefähr zwei Jahre danach starb meine Mutter und ich reiste in die Karibik, um nach meinem Vater zu suchen. Aber alle Nachrichten, die ich bekommen konnte, sprachen eher dafür, dass er tot war.“
„Ihr seid noch jung, Mr. Turner. Meine Bewunderung. Wenn Ihr schon seit knapp zehn Jahren ohne Eltern seid, habt Ihr Euch gut durchgeschlagen. Ihr arbeitet gewiss für meinen alten Freund Swann, oder?“
„Ja, recht häufig“, lächelte Will. Es war in keiner Weise geschwindelt, denn der größte Teil seiner Produktion ging an die Armee oder die Royal Navy – im Auftrag des Gouverneurs.
„Wenn dieser Mann tatsächlich Euer Vater war und ich ihm den Dank nicht abstatten kann, weil er wohl leider nicht mehr lebt, dann äußert einen Wunsch, mein Freund.“
Will und Elizabeth sahen sich verblüfft an. Montrose meinte offensichtlich völlig ehrlich und ernst, dass er sich bedanken wollte – ohne Hintergedanken.
„Dann bitte ich Euch um diese Uhr, Sir“, erwiderte Will.
„Sie sei Euer. Doch ist das für das, was Euer Vater für mich getan hat, sehr wenig, junger Freund. Solltet Ihr in Schwierigkeiten sein, kommt nach Paramaribo. Es wird Euch stets offen stehen. Ihr sollt jegliche Hilfe bekommen, die Ihr benötigt. Kann ich sonst noch etwas für Euch tun?“
„Oh, wir wollten noch weiter südlich reisen und auch die französischen Kolonien besuchen. Kennt Ihr eigentlich Cayenne?“, fragte Will.
„Ja, eine hübsche, kleine Hafenstadt, wenngleich mit etwas düsterer Nachbarschaft“, erwiderte Montrose.
„So?“, erkundigte sich Elizabeth.
„Nun, die Franzosen haben in der Nähe von Cayenne ein großes Straflager eingerichtet. Nach allem, was ich höre, soll die Kolonie als Strafkolonie ausgebaut werden.“
„Was meinst du, Will? Wäre es nicht aufregend, wenn wir uns das mal ansehen?“
„Gute Idee, Liebling. Äh, kann man das eigentlich?“
Montrose lächelte.
„Normalerweise nicht. Aber für die Tochter eines Freundes und den Sohn meines Retters will ich gern ein Empfehlungsschreiben für meinen französischen Nachbarn mitgeben. Zum Glück vertragen wir uns persönlich sehr gut – unabhängig von der tatsächlichen politischen Situation zwischen Frankreich und Großbritannien“, erklärte der Gesandte.
„Das wäre wirklich sehr liebenswürdig, Sir“, lächelte Will gewinnend.
„Doch ich muss Euch warnen“, setzte der Gesandte hinzu. „Die Spannungen zwischen Großbritannien und Frankreich nehmen zu. Monsieur de Lusac und ich halten es für denkbar, dass sich beide Länder bald im Kriegszustand befinden werden. Es geht das Gerücht um, Großbritannien werde sich auf Seiten Preußens in Europa engagieren. Vielleicht ist es sogar schon geschehen. Bis Nachrichten aus Europa hier in der Neuen Welt bekannt werden, vergehen oft Monate. Solltet Ihr dort sein, wenn entsprechende Nachrichten über ausgebrochene Feinseligkeiten zwischen unseren Staaten eintreffen, kann es sein, dass de Lusac Euch ebenfalls verhaften lassen muss. Eigentlich ist er ein Gentleman, aber er ist seinem König auch gehorsam.“
„Wir werden uns beeilen, Sir“, erwiderte Will. Innerlich betete er darum, dass der Gouverneur von Französisch-Guayana sie im Zweifel laufen ließ, doch gleichzeitig war ihm klar, dass es sie allesamt den Kopf kosten konnte, wenn der französische Gouverneur zur Unzeit die falsche Nachricht bekam.
Es war Abend geworden und die Crew der Black Pearl saß bei einem gemeinsamen Abendessen. Elizabeth hatte aus den frischen Vorräten, die Cotton und Gibbs mitgebracht hatten, einen anständigen Braten zubereitet – ein wahres Festmahl an Bord, nachdem es längere Zeit nur Fisch und Früchte gegeben hatte.
„Jack – was müssen wir bezahlen, damit Elizabeth an Bord bleibt?“, fragte Marty, der Zwerg, anzüglich.
„Sorry, Marty, das wird zu teuer für euch“, grinste Will zurück. Marty schnippte mit den Fingern.
„Ich hab’s! Wir lassen euch einfach nicht mehr von Bord!“, griente der Zwerg.
„Geht schlecht“, kicherte Jack. „Ich hab’s schon versprochen.“
„Och, versprechen kann sich doch jeder mal, Captain!“, lachte Marty laut. Elizabeth trat hinter den Zwerg.
„Was meinst du, Will? Nehmen wir Marty mit nach Hause? Der kann uns schön den Garten umgraben. Nahe genug dran ist er jedenfalls“, lachte die junge Frau und die dröhnende Lachsalve ging auf Martys Kosten, der tapfer mit lachte.
Jack lehnte sich genüsslich zurück und nahm einen tiefen Schluck von dem guten Rum, den Gibbs aufgetrieben hatte.
„Marty hat schon Recht: Ihr zwei passt gut in die Mannschaft. Elizabeth hat’s sowieso mit Piraten und einen zäheren Steuermann als Will kann ich mir nicht vorstellen – und das bei meiner Fantasie!“, lachte Jack. Will schüttelte den Kopf, aber Jack ließ ihn nicht zu Wort kommen.
„Komm, Junge, dein Vater war Pirat und du hast’s auch im Blut. Ist nun mal so. Sieh es ein, es ist deine Bestimmung!“, lockte der Captain. Doch Will blieb bei seiner Ablehnung.
„Nein, Jack, das ist es nicht und du wirst es mir nicht in hundert Jahren einreden“, erwiderte er. Als Jack eine neue Flasche Rum öffnete, grinste Will über das ganze Gesicht.
„Gib Acht, sonst hast du morgen alkoholbedingten Haarwurzelkatarrh!“, warnte er.
„Ja, und einen neuen Steuermann!“, johlte Jack.
„Dann pass besser auf, sonst suche ich die nächste Untiefe und lass’ die Pearl auflaufen“, warnte Will weiter. Mit dröhnendem Lachen löste sich die abendliche Gesellschaft auf.
Die Sonne versank hinter dem Dschungel, als Elizabeth Will nachdenklich, ja verträumt, an der Backbordreling an Deck fand, von wo er einen schönen Blick auf den Hafen und den Sonnenuntergang hatte.
„Woran denkst du?“, fragte sie leise und trat nahe zu ihm. Er seufzte leise und zog sie nahe an sich.
„Ich glaube, ich kann es kaum erwarten, meinen Vater wiederzusehen“, sagte er. Elizabeth sah auf. Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen, in seinen Augen spiegelten sich Wärme und Zärtlichkeit, als er ihr sanft durch das Haar strich.
„Wann hast du ihn zuletzt gesehen?“, erkundigte sie sich, als sie sich aus dem Kuss lösten.
„Vor etwa vierzehn Jahren, als er von Plymouth auslief und nicht mehr zurückkehrte.“
„Als Mr. Montrose heute von deinem Vater sprach – ich habe fast gemeint, er redet von dir. Du und dein Vater, ihr müsst euch wirklich sehr ähnlich sein. Ich meine nicht nur dem Aussehen nach, auch im Charakter.“
Will zuckte eher verlegen mit den Schultern.
„Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht“, erwiderte er, zog sie wieder nahe an sich, umarmte sie und küsste sie erneut.
„Schönes Paar, hm?“, grinste Jack. Die Verliebten zuckten herum.
„Oh, Verzeihung, ich wollte euch nicht stören. Ist ja schließlich eure Hochzeitsreise“, griente er dann schwankend. Will griff in die Tasche seiner Weste und zog das Empfehlungsschreiben des englischen Gesandten heraus, das er Jack unter die Nase hielt.
„Ihr könnt einen glatt dazu verleiten, ehrlich zu werden. Wie macht ihr das?“, fragte Jack verblüfft. Will grinste frech.
„Es ist von Vorteil, die Tochter eines Gouverneurs zu heiraten, der offenbar nicht nur sämtliche Gouverneure der Karibik kennt, sondern auch mindestens einen britischen Gesandten, mein Guter.“
„Und es hat gewisse Vorteile, mit einem mehr als nur gut aussehenden Schmied verheiratet zu sein, der nicht nur gute Manieren hat, sondern auch einen Edelpiraten zum Vater“, setzte Elizabeth mit einem glücklichen Blick zu Will hinzu.
„Edelpirat?“, wunderte sich Jack.
„Montrose erzählte, dass mein Vater ihn persönlich vor einer anderen Piratenhorde gerettet hat – vor zwölf Jahren in Nassau“, erklärte Will. Jack lachte laut auf.
„Aye! Ich hab’s dir doch gesagt: Dein Vater war ein Pirat und ein guter Mann“, kicherte Jack. „Das ist kein zwangsläufiger Ausschluss, wie du siehst.“
„Jack, wann habt ihr Nassau geplündert?“, fragte Elizabeth. Jack grinste breit, fuhr die Zeigefinger aus und ruderte mit beiden Armen, als er sagte:
„An eben jenem Tag, Liebes. Und ganz wie du gelesen hast: Ohne einen einzigen Schuss! Das haben nämlich Ara Goldbart und seine Bande von Missgeburten erledigt. Wir mussten nur noch einsammeln.“
„Hmm, erklärst du mir, warum ihr Goldbarts Leute angegriffen habt?“, bat Will. Jacks Goldzähne blitzten im letzten Tageslicht, so grinste er.
„Ja, sieh mal“, sagte er mit einer schwungvollen Bewegung des linken Arms, „Piraten gehen sich zwar in der Regel nicht an die Gurgel, aber Ara Goldbart ist ‘ne echte Ausnahme. Wir waren in Tortuga gewesen und einem von uns – ich meine Twigg oder Koehler konnte die Schnauze nicht halten – rutschte in Goldbarts Gegenwart heraus, dass wir planten Nassau auszunehmen. Goldbart hatte zwei kleine Briggs, aber sie waren verdammt schnell. Obendrein meinte er, die Ruderkette der Black Pearl beschädigen zu müssen und auch noch so blöd zu sein, darauf hinzuweisen, wer meine Pearl beschädigt hatte. Wenn mir einer an die Pearl geht, verstehe ich keinen Spaß. Also, wir haben das schleunigst repariert und sind hinter ihm her. Die größere seiner Briggs haben wir noch vor Nassau abgefangen, da fingen die doch ein Geschützduell mit uns an! Die waren schneller unter Wasser als Commodore Norrington seine langen Neuner ausfahren kann, sag’ ich euch! Die zweite Brigg hatte sich schon über den Hafen hergemacht, als wir nach Nassau kamen. Die hatten sich schon ganz nett verteilt und wir haben sie mehr oder weniger einzeln gejagt. Dein Vater rannte gleich zum Gouverneurspalast durch, und holte da welche raus. Bis ich mit Barbossa und Bo’sun hinterher war, hatte er schon alles erledigt, einiges an Wertsachen eingesteckt und wir anderen haben dann in aller Ruhe das eingesammelt, was wir uns holen wollten – und nebenbei hatten wir gleich die Rechnung für die Pearl beglichen. Und seither hat man von Ara Goldbart nichts mehr gehört, hehehe!“
Jack garnierte seine Erzählung mit reichlich Unterstützung seiner ebenso redegewandten Hände. Elizabeth und Will sahen sich an und fragten sich, wie viel Seemannsgarn in der Erzählung steckte.
„Wie lange brauchen wir bis Cayenne?“, fragte Will schließlich. Jack legte den Kopf schief, als wollte er ihn sich abschrauben.
„Kommt drauf an, wie gut du den Kurs halten kannst, Junge. Es sind noch etwa zweihundert Seemeilen. Ein bis zwei Tage, je nachdem, ob du geradeaus steuerst oder der Seeschlange nachfährst.“
Will wedelte mit dem Empfehlungsschreiben.
„Wie du siehst, können Elizabeth und ich Cayenne hochoffiziell besichtigen.“
Jack machte einen langen Hals und spähte auf die Pier, dann winkte er dem Paar, ihm in seine Kajüte zu folgen.
„Was ist denn?“, fragte Will, als Jack die Kajütentür schloss.
„Ich weiß nicht, da waren mir zu lange Ohren am Kai. So was besprechen wir lieber hier“, entgegnete Jack. „Also, was hast du vor?“, fragte der Captain dann. Will sah ihn an und war verblüfft, wie der stets zu Scherzen und zu exzentrischem bis tuntenhaften Verhalten aufgelegte Jack innerhalb von Augenblicken zum absolut ernsthaften Planer werden konnte. Diesen ernsten Gesichtsausdruck, den Jack jetzt hatte, hatte Will noch nicht wirklich oft bei dem Piraten gesehen. Das erste Mal, so erinnerte sich der junge Mann, als Jack in der Höhle auf der Isla de Muerta Barbossa erschossen hatte. Will rollte die Karte auf, die Jack ihm gezeigt hatte.
„Also, nach der Beschreibung des Gesandten Montrose ist das Straflager hier, vier Meilen von der Küste entfernt, mitten im Dschungel, wie du schon weißt. Hier, etwa fünfhundert Yards östlich davon, ist ein Militärlager. Elizabeth und ich werden, fein in Schale, ganz offiziell den Gouverneur de Lusac besuchen, ihm dieses Schreiben präsentieren und um eine Besichtigung des Lagers bitten. Ich hoffe, wir finden meinen Vater …“
„Das hoffe ich ganz und gar nicht, Junge!“, unterbrach Jack ihn. Will sah ihn verwirrt an.
„Und warum nicht?“
„Das wäre nicht der … passende … Moment. Für den hast du etwas wenig Gefühl, Sohn. Streng bitte mal dein Gehirn an. Du hast so eine Ähnlichkeit mit Stiefelriemen Bill, dass auch der blödeste Wachmann eine Verbindung herstellt, wenn plötzlich ausgerechnet William Turner senior, dein angemoostes Ebenbild, aus dem Lager verschwindet!“, warnte Jack. Will spürte Röte aufsteigen. Jack hatte Recht.
„Was schlägst du vor?“, fragte der junge Mann mit belegter Stimme. Jack grinste in seiner üblichen Art.
„Wenn du erlaubst, mein lieber Freund, werde ich mich in Schale werfen und mit deiner Angetrauten spionieren gehen“, erklärte er mit goldenem Lächeln.
Kapitel 8
Cayenne
Der Umstand, dass Jack Sparrow exzentrische Aufmachungen liebte, bedeutete nicht, dass er nicht in der Lage war, sich zu tarnen. Zu diesem Zweck hatte Captain Sparrow eine Truhe, in der er Beutestücke verstaut hatte, die er in solchen Fällen benutzte. Elizabeth gab sich alle Mühe, Jacks Dreadlocks vorsichtig zu entwirren, den Bart zu stutzen und die Perlen zu entfernen, während Will sich der Beutewaffen annahm, einen zivilen Degen aussuchte und diesen für einen noblen Gentleman zurechtmachte.
Als die Black Pearl immer noch unter britischer Handelsflagge zwei Tage darauf im Hafen von Cayenne einlief und Elizabeth an Jacks Arm eine gute Stunde nach dem Festmachen die Galeone verließ, erinnerte bei Jack nichts mehr an den wilden Piraten. Ein ziviler Dreispitz aus feinem Filz ersetzte Jacks Kopftuch, der Bart an Oberlippe und Kinn hatte fast die gleiche, sauber gestutzte Länge wie der von Will, die verbliebenen langen, schwarzen Haare hatte Elizabeth mit viel Mühe zu ordentlichen Locken aufgedreht und die Stulpenstiefel waren schnallenverzierten Schuhen gewichen. Eine dunkelrote Brokatweste unter einem dunkelgrünen Samtgehrock sowie ein spitzenbesetztes, wirklich weißes Hemd und eine schwarze Kniehose mit schwarzen Strümpfen machten aus Captain Jack Sparrow einen geradezu perfekten Gentleman. Will hatte ihm ein unauffälliges Ledergehänge für den Degen gemacht, das unter der Weste verschwand. Gibbs betrachtete die elegante Erscheinung des Captains, der in dieser Gestalt auch für einen Adligen durchgegangen wäre. Elizabeth hatte sich ein dunkelgrünes Seidenkleid mit Reifrock, tiefem, aber mit weißer Spitze dezent kaschiertem Ausschnitt angezogen und trug standesgemäß einen weißen Sonnenschirm, der ihr hochgestecktes goldbraunes Haar und ihr Gesicht vor der sengenden Sonne schützte. Sie passte damit ausgezeichnet zu Jack, was Will ein leises Seufzen abnötigte. Er war beinahe eifersüchtig, dass Jack mit Elizabeth in dieser wunderschönen Robe davon schritt. Nie zuvor war Elizabeth ihm schöner erschienen als an diesem Tag
„Wirst noch mal ‘n feiner Mann, Captain“, griente Maat Gibbs, als der Captain und die Gouverneurstochter vom Schiff gingen.
Elizabeth und Jack machten dem Gouverneur von Cayenne ihre Aufwartung. Alain de Lusac war hoch erfreut, Briten zu treffen, die mit ihm in seiner Sprache kommunizieren konnten. Nichts ließ darauf schließen, dass de Lusac bereits Informationen über bevorstehende oder bereits ausgebrochene Feindseligkeiten zwischen Briten und Franzosen hatte. Stolz präsentierte der Gouverneur die Strafkolonie und pries das geplante neue französische Strafsystem der Verbannung, das dem Verbrecher immerhin die Möglichkeit ließ, sich für die Gesellschaft noch nützlich zu machen, statt gehängt oder geköpft zu werden oder als Galeerensklave Militärschiffe zu bewegen.
De Lusac ließ eine Kutsche kommen und bereiste mit den Gästen aus England das Lager und auch eine Baustelle im Dschungel; ein Straßenbauprojekt, bei dem wenigstens dreißig Gefangene mit schweren Eisenkugeln an den Beinen schufteten – als Steineklopfer, Planierer, Steinsetzer und Wasserträger. Die feineren technischen Arbeiten wie Vermessung und Planung machten französische Ingenieure, die Aufsicht über die Gefangenen hatten französische Infanteristen.
Unter den Steinsetzern entdeckte Elizabeth einen Mann, der abgesehen von dem angegrauten, verfilzten Haar und der abgerissenen Sträflingskleidung Will Turner mehr als nur ähnlich sah. Sie gab Jack einen leichten Stoß und wies unauffällig in die Richtung. Er folgte ihrem Blick und erschrak, als er seinen alten Freund Stiefelriemen und dessen Zustand erkannte. Will jr. war schon ein schmales Hemd, aber sein Vater war jetzt noch dünner – kaum halb so breit, wie Jack ihn in Erinnerung hatte. Er kannte William Turner senior als einen zwar schlanken, aber muskulösen, kräftigen Mann. Viel war davon nicht übrig.
„Monsieur le Gouverneur, sagt, wie bringt Ihr diese Gefangenen unter?“, fragte Elizabeth.
„Oh, Madame, der Dschungel hier ist nahezu undurchdringlich. Eine bessere Unterbringung gibt es einfach nicht“, antwortete de Lusac. Jack sah sich unauffällig um und prägte sich die Möglichkeiten ein, Gefangene zu befreien – und das waren nicht viele.
„Also, diese Gefangenen kommen abends nicht zurück in die Festung in Cayenne?“, hakte Jack nach.
„Non, mon Capitaine, das wäre zu weit, sie jeden Tag erst hin- und herzufahren. Das offene Lager neben dem Lager der bewachenden Soldaten reicht völlig aus, um diesen Abschaum angemessen unterzubringen“, erklärte der Gouverneur. Jack ertappte sich beim Aufatmen. Er hatte befürchtet, dass sie erst in die Festung eindringen mussten, um an die Gefangenen heranzukommen.
Auf der Rückfahrt zum Hafen war Jack ungewöhnlich still und in sich gekehrt. Elizabeth sah ihn eine Weile an.
„Es tut dir weh, nicht wahr?“, erkundigte sie sich und erwischte sich dabei, ihm tröstend eine Hand auf den Arm zu legen. Jack nickte schweigend, stur aus dem Kutschenfenster zur Seite sehend. Im Abendlicht bemerkte Elizabeth, dass in seinen dunklen Augen Tränen zu glitzern schienen.
„Ja“, sagte er nach einer ganzen Weile. „Und noch schlimmer ist, dass über unseren Besuch erst ein paar Mal Ebbe und Flut laufen muss, wenn wir ungeschoren bleiben wollen.“
Die Kutsche fuhr bereits in Sichtweite des Hafens. Jack winkte Elizabeth zu sich herüber und wies auf die anderen Schiffe, die dort vertäut lagen.
„Sieh sie dir an, Liebes: Das sind schnelle Fregatten*. Sie sind von fast gleicher Bauart wie die Pearl und verdammt gut bewaffnet. Ich möchte William keine Stunde länger dort lassen, aber wir müssen ein paar Tage warten und ihn über Land ‘rausholen“, sagte er seufzend. Es war ein Geräusch, das Elizabeth bisher nur ein einziges Mal von Jack gehört hatte: Als sie damals aus der Höhle auf der Isla de Muerta gekommen waren und die Black Pearl verschwunden war.
Mit der Flut am folgenden Morgen lief die Black Pearl aus dem Hafen von Cayenne aus. Cayenne selbst lag auf einer Halbinsel, die sich zwischen den Flüssen Cayenne und Mahury befand. Jack wollte zur Flussmündung des Mahury fahren, die tief und gebogen genug schien, um die Black Pearl dort einige Tage ungesehen vor Anker gehen zu lassen. Problematisch war jedoch ein französisches Fort, das die Einmündung bewachte. Bei Tag konnten sie die Mündung keinesfalls ansteuern, wollten sie unentdeckt bleiben. Jack steuerte also zunächst hinaus auf die offene See, um hinter dem Horizont zu verschwinden. Auf See ließ er die weißen Segel, die die Black Pearl als Handelsschiff führte, gegen die schwarzen Segel tauschen, die die Black Pearl sonst als Piratenschiff vorwärts trieben. Die Stimmung an Bord schwankte zwischen Tatendrang und Bedrücktheit, was besonders Jack und William jr. betraf.
Bei Einbruch der Dunkelheit wendete Jack seine schwarze Galeone und steuerte wieder die Küste an. Die Beleuchtung des Forts wirkte wie ein Leuchtturm, während die Black Pearl mit ihrem nachtschwarzen Rumpf und den ebenso schwarzen Segeln in der Dunkelheit praktisch unsichtbar war. Als sie das Fort ungesehen passiert hatten, ließ Will auf Jacks Anweisung an der Backbordseite eine Laterne herunter, mit deren Hilfe sie zu der Bucht fahren konnten, die Jack sich ausgesucht hatte. Gegen Mitternacht erreichten sie die tief eingeschnittene Bucht und Jack war mehr als nur erfreut, dass die Karte zutraf. Der Bewuchs rund um die Bucht war hoch genug, dass die Masten der Galeone von See erst entdeckt werden konnten, wenn ein Schiff mindestens in die halbe Bucht eingefahren war. Der Weg über Land war nach der Karte etwa zehn Meilen bis nach Cayenne selbst, doch das offene Dschungellager lag näher an der Bucht, als an Cayenne selbst.
Am Mittag des folgenden Tages machten sich Jack, Will, Gibbs, Cotton und Marty zu Fuß durch den Urwald auf den Weg zum Gefangenenlager. Will hatte in der Waffenkammer der Black Pearl einige Macheten gefunden, die er fachmännisch bearbeitet hatte, während Jack und Elizabeth Bills Aufenthalt ermittelt hatten. Jacks Kompass half ihnen, auf dem richtigen Weg zu bleiben.
Währenddessen baute die übrige Mannschaft der Black Pearl den Besanmast ab, um das Schiff zu tarnen. Die schwarzen Segel ließen die Männer an den Rahen und Stagen*. Nach Möglichkeit sollten die Franzosen nicht den Besuch des weißbesegelten britischen Dreimasters mit der Flucht von Gefangenen verbinden. Gaffel und Baum des Besanmastes wurden am Großmast angeschlagen*, um wenigstens diese Segelfläche zu erhalten. Allen war klar, dass ein fehlender Mast Geschwindigkeit kosten würde; es blieb auch ein Risiko, ob man dann den französischen Fregatten entkommen konnte, aber den Versuch war es wert.
Die feuchte Hitze des tropischen Regenwaldes trieb den Männern den Schweiß aus jeder einzelnen Pore. Die Lianenranken zu zerschlagen war harte Arbeit – auch für einen kräftigen Schmied und ausdauernden Fechter wie Will und einen zähen Piratencaptain und ebenfalls guten Fechter wie Jack Sparrow. Aber auch Gibbs, Cotton und Marty waren schon eine halbe Stunde nach dem Aufbruch komplett durchgeschwitzt. Das Gefangenlager lag in der Vogelfluglinie nur drei Meilen von ihrem Landeplatz entfernt im Dschungel. An sich war diese Strecke fast völlig eben, aber sie war durchzogen von ungezählten Bachläufen und Sumpflöchern, die die Männer immer wieder zu Umwegen nötigten.
Als die Dunkelheit hereinbrach, waren die fünf Männer müde und erschöpft, doch sie hatten eine weitere Strecke geschafft, als sie zunächst angenommen hatten. An ihrem Lagerplatz fanden sie einige Bäume, die mit daran wachsenden Bromelien übersät waren. In den Blattherzen der Bromelien sammelte sich Regenwasser, das die Männer in ihre Becher umfüllten und durstig schlürften. Gibbs spuckte erschrocken ein paar Ameisen aus, die in einem der Bromelienteiche untergegangen waren.
„Es bringt Unglück, Ameisen zu speisen!“, hustete der abergläubische Seemann. Jack grinste golden.
„Irgendwie bringt für dich alles Unglück, Gibbs“, kicherte er. Gibbs erwiderte seinen Blick mit einem beleidigten Ausdruck, wenngleich er grinste.
Am folgenden Tag kämpften sie sich weiter durch den Urwald in Richtung Norden und wurden gleich mehrfach komplett nass, als die Gewitter der Regenzeit sie überschütteten. Das aufgefangene Regenwasser löschte aber wenigstens den Durst, den das ständige Schwitzen verursachte. Gegen Nachmittag lichtete sich der Regenwald etwas. Jack hob die Hand und die Männer gingen in der dichten Vegetation in Deckung.
„Dort drüben, das ist die Lagerlichtung“, sagte Jack leise und wies in nordwestliche Richtung. „Die eigentliche Baustelle ist weiter dort hinten. Wir warten, bis es dunkel ist.“
Sie suchten sich einen gut versteckten Platz und warteten.
Mitten in einem erneuten Guss kurz vor Sonnenuntergang brachten die Wachen die Gefangenen zu dem offenen Lagerplatz zurück. Vorsichtig schoben sich Will und Jack zu Stiefelriemen hin, der völlig erschöpft am Rand des Lagers lag. Der Posten, der ihn zurückgebracht hatte, schloss die Beinkugel an einen massiven Pfosten an.
„Was meinst du? Kriegst du das Ding auf?“, flüsterte Jack. Will beäugte die Sicherung und zog dann seine Werkzeugtasche hervor.
„Im schlimmsten Fall muss ich die Kette durchfeilen. Ich hoffe, mein Dietrich passt“, erwiderte der junge Schmied, ebenfalls flüsternd.
Der Posten kontrollierte nochmals die Ketten der Gefangenen, die hier die Nacht verbringen sollten und machte dann eine Runde um den etwa zwanzig Yards durchmessenden freien Platz. Dabei passierte er das Versteck der Fluchthelfer in einem Abstand von nicht einmal zwei Yards. Er war kaum an ihnen vorbei, als Jack Will am Ärmel zog. Sie robbten aus dem schützenden Unterholz zu Stiefelriemen hin. Marty und Gibbs nahmen ihre vorigen Positionen ein und gaben mit schussbereiten Gewehren Deckung. Jack hoffte, dass die Befreiungsaktion ohne Lärm vonstattengehen konnte und hatte Gibbs und Marty angewiesen, nur im absoluten Notfall zu schießen.
Knapp über dem Boden kriechend erreichten die Freunde den angeketteten Gefangenen.
„Pst! Bill!“, tippte Jack den ausgemergelten Mann an.
„Was?“
„Pst! Leise! Reicht der Pfosten tief?“, fragte Jack.
„Jack? Bist du das?“
„Aye, verdammt! Brüll nicht so“, zischte Jack. „Ist der Pfosten tief?“
„Wie ‘n Mast im Schiff! Hey, wer is ‘n das?“
„Halt’ die Klappe, Bill, dazu kommen wir später. Komm, Meister Schmied, walte deines Amtes!“, forderte Jack Will auf, der sich eilig an den Fußfesseln zu schaffen machte. Der Dietrich passte. Gerade wollte er die zweite Kettenschelle aufschließen, als sich eine Kette hart um seinen Hals legte.
„Non! Jerôme, laissez tomber! (Nein! Jerôme, lass’ das bleiben!)“, zischte Bill.
„Et moi, mon ami? (Und ich, mein Freund?)“, fragte eine Stimme hinter Will.
„Hey, stell ja nichts Blödes an!“, fuhr Will den Mann hinter sich an. „Je ne sui pas votre ennemi, compris? (Ich bin nicht Euer Feind, verstanden?)“, setzte er französisch hinzu.
„Emmenez moi! (Nehmt mich mit!)“, forderte der. Will hob die Hände.
„Lâchez! (Lasst los!)“, knurrte er, drehte sich um und packte seinen Gegner am mageren Hals. Zögernd lockerte der Franzose die Kette, als er den harten Griff an seinem eigenen Hals spürte.
„Bill, wir können uns keine Extratouren leisten!“, warnte Jack.
„Wenn wir Jerôme nicht mitnehmen, haben wir gleich die ganze Garnison auf dem Hals!“, erwiderte der.
„He, Bursche, das is ‘n feiner Kerl!“, rief Stiefelriemen Will zu. Nickend, aber ohne etwas zu sagen griff Will nach dem rechten Fuß des Franzosen und öffnete die Kettenschelle.
„Wer immer du auch bist: Keiner verdient es, hier zu verschimmeln, mon ami“, sagte er dann, als der Franzose ihn verblüfft ansah.
„Merci beaucoup, Monsieur. Merci, mon ami. (Danke, mein Herr. Danke, mein Freund.)“
„De rien (Keine Ursache)“, lächelte Will, wandte sich wieder seinem Vater zu und öffnete auch die zweite Fußfessel.
„Kommt jetzt!“, knurrte Jack und zog Stiefelriemen in das tarnende Gebüsch, Will schleppte Jerôme ab.
„Wir müssen noch die Spuren verwischen“, flüsterte Jack Bill zu.
„Lass’ nur, gleich wird es wieder schütten als ob im Himmel die Badezuber ausgelaufen sind. Das verwischt alle Spuren, Jack. Außerdem wird ‘s stockduster“, wehrte der ab. Wie zur Bestätigung schoben sich dicke Wolken vor die schmale Sichel des wieder zunehmenden Mondes und den strahlenden Sternenhimmel. Das wenige Licht, das der dünne Mond und die Sterne gaben, verlosch auf der Stelle, und es wurde stockfinster.
Der Posten kam wieder vorbei. Die Blendlaterne, die der Mann trug, durchbrach die totale Dunkelheit der Tropennacht. Im Gebüsch hockten Ausreißer und Fluchthelfer wie erstarrt.
„Bitte! Bemerk’ einfach nichts!“, flüsterte Jack flehend. Doch der Posten bemerkte den freien Pfosten und die fachmännisch geöffneten Kettenschellen.
„Alarme! Évasion! (Flucht!)“, brüllte der Posten.
„Verdammt!“, zischte Jack. „Weg hier!“
Eilig zogen sie sich von der Lichtung zurück.
Schnell, viel zu schnell, hatten sich wenigstens zwanzig französische Soldaten mit Laternen versammelt und begannen, die Umgebung abzusuchen. Als sie auf der Lichtung nichts fanden, drangen sie in den umgebenden Urwald ein, schauten unter jedes Blatt, jeden Stein, leuchteten bis Mannshöhe auch die Bäume ab – aber sie kamen nicht auf die Idee, weiter oben an den Lianen zu suchen, wohin sich Gefangene und Fluchthelfer verzogen hatten. Jerôme verließen zusehends die Kräfte, aber Will hielt ihn sicher fest.
„Qui sont ces hommes, Guillaume? (Wer sind diese Männer, William?)“, fragte er.
„Corsaires anglais, mon ami (Englische Piraten, mein Freund)“, erwiderte Bill.
„William, ich glaube, außer dir, mir und deinem Welpen versteht nur noch dein Freund Jerôme Französisch“, grinste Jack.
„He? Welpe?“
„Dein Sohn, du blöder Hund!“, kicherte Jack. „Will, siehst du sie noch?“, fragte er dann den jungen Schmied.
„Die Laternen sind wieder zum Lager zurück“, meldete Will leise. „Sieht aus, als suchten sie auf der anderen Seite.“
„Los, ‘runter und weg hier!“, kommandierte Jack.
Der folgende Morgen fand Ausreißer und Fluchthelfer schon wieder zwei Meilen südlich des Dschungelcamps. Zu ihrem Glück war es nur ein kurzer Schauer gewesen, danach war das Licht der Sterne und des Mondes wieder ausreichend gewesen, um den Weg nach Süden zu finden. Jack und Will hatten die beiden erschöpften Flüchtlinge fast die ganze Nacht hindurch schlafend getragen. Gut versteckt hatten sie kurz vor dem Morgengrauen einen Lagerplatz gefunden, wo sie sich selbst eine Weile ausruhen wollten, bevor sie zum Schiff zurückkehrten. Das Morgengrauen dauerte nur Minuten, dann tauchte die aufgehende Sonne den Urwald in grün-goldenes Licht. Die Sonne schien Stiefelriemen direkt ins Gesicht und weckte ihn aus dem Schlaf der Erschöpfung.
„Gott im Himmel, ich verdurste gleich“, murmelte er. Eine kräftige Hand schob sich unter seinen Kopf und hob ihn vorsichtig hoch. Noch verschlafen schlug Bill die Augen auf – und glaubte in einen Spiegel zu sehen, in einen lächelnden Spiegel.
„Guten Morgen, Paps“, begrüßte Will ihn und reichte ihm einen Becher Wasser. Sprachlos sah Bill seinen Sohn an, während er gierig das Wasser schlürfte und gleich noch einen zweiten Becher von ihm bekam.
„Das ist unmöglich …“, flüsterte der Vater schließlich.
„Warum?“, fragte Will. Ohne den Blick von seinem Sohn zu wenden, sprach Bill Jack an:
„Jack – hast du schon mal so eine Ähnlichkeit gesehen?“
„Nein“, erwiderte Jack grinsend. „Und deshalb war mir auch gleich klar, wer der junge Mann ist, Bill.“
„William?“, fragte Stiefelriemen, um ganz sicher zu sein. „Mein Sohn William?“
„Ja, Vater“, bestätigte Will. Vater und Sohn umarmten sich, vor Freude weinend.
„Ich dachte, du wärst tot, mein Junge. Als ich von der Dragon-fly hörte, dachte ich, ich hätte auch dich verloren“, brachte Bill mühsam heraus, als er sich wieder etwas beruhigt hatte.
„Ich dachte auch, du wärst tot – umgebracht von Barbossa“, erwiderte Will. Bill rang sich ein schiefes Lächeln ab.
„Ich habe auch alles getan, um Barbossa in dem Glauben zu lassen. Ich bin zwar aus dem Meer wieder aufgetaucht, aber in Santo Domingo gleich wieder auf Tauchstation gegangen, wenn auch im übertragenen Sinne. Der Fluch verhinderte zwar, dass ich starb, aber Schmerzen kann man sehr wohl empfinden. Also wollte ich Barbossa nicht wieder in die Finger geraten“, erklärte Bill. Mit einem scheelen Blick auf Jack fuhr er fort: „Aber wie bist du an Jack Sparrow, diesen Tunichtgut, geraten. Ich hab’ doch nie …“
Will lächelte.
„Sagen wir ‘s so: Wir haben uns gegenseitig aufgegabelt. Ich brauchte Jack, um die Frau, die ich liebe, aus Barbossas Fängen zu befreien und er brauchte mich, um die Black Pearl zurück zu bekommen“, erwiderte er. Bill grinste Jack an.
„Du bist auch noch nicht schlauer geworden, was? Hab’ ich dir nicht gesagt, du sollst die Klappe halten?“
„Oh, Jack versteht es grandios, sich zu tarnen, Paps. Der hat mir kein Sterbenswörtchen gesagt, weshalb er mit meiner Fluchthilfe so plötzlich einverstanden war“, kicherte Will.
„Weißer Klabautermann! Weißer Klabautermann!“, krächzte Cottons Papagei, der sich für die Nacht einen Platz oben im Geäst gesucht hatte. Der blaue Ara flatterte zurück auf die Schulter seines Herrn. Jack machte eine herrische Handbewegung.
„Still!“, befahl er. Alle schwiegen. Aus der Ferne war das Gebell von Hunden zu hören – und es schien näher zu kommen.
„Verdammt, das sind die Franzosen! Die Hunde sind uns auf der Spur“, knurrte Jack.
„Die brauchen nicht mal Hunde, wenn du mich fragst“, seufzte Will und zeigte Jack eine durchgehackte Liane.
„Los, vorwärts! Wir müssen weiter!“, befahl Jack. Gibbs half Jerôme auf, Will seinem Vater.
„Geht ‘s schon?“, fragte der junge Mann besorgt. Sein älteres Ebenbild nickte. Jack lief mit dem Kompass voran, Gibbs, Marty und Cotton sicherten die Seiten. Will gab sich alle Mühe, die Spuren zu verwischen.
William Turner sen. hatte seine volle Kraft noch längst nicht wieder, aber er hatte lange Beine und schloss zu Jack auf.
„Jack, du denkst hoffentlich nicht an den Kodex, oder?“, fragte Stiefelriemen hechelnd, als er versuchte, mit Jack Schritt zu halten
„Was meinst du?“, erkundigte sich der Captain.
„Spuren verwischen kostet Zeit, mein Guter. Will bleibt zurück.“
„Es geht um dein und Jerômes Leben, Bill“, erinnerte Jack.
„Um das meines Sohnes, deins oder deiner Leute etwa nicht? Die Franzosen lassen keinen ungeschoren, der anderen zur Flucht verhilft“, warnte Bill. Jack sah ihn an. Der Sinn für Solidarität war eine weitere Gemeinsamkeit von Vater und Sohn Turner. Jack erinnerte sich, dass Will schon einmal bereit gewesen war, für Elizabeth, die Mannschaft der Black Pearl und Jack selbst sein Leben aufs Spiel zu setzen. Wenn er jetzt die Flucht deckte, war das ebenfalls seinem Mut und seinem Hang zu einsamem Heldentum zuzuschreiben, wenngleich Will das nie bewusst für sich akzeptiert hätte.
‚Keine Helden unter Piraten, was?’, durchzuckte Jack Wills bissige Bemerkung, als er ihm den Piratenkodex erklärt hatte. Er drückte Bill den Kompass in die Hand.
„Immer nach Südosten. Du kennst das Ding ja. Gib auf die Sumpflöcher Acht!“, wies Jack Bill an und rannte dann zurück, um Will nicht allein zu lassen.
„Jack, sieh zu, dass du die anderen führst!“, knurrte Will.
„Du hast noch was bei mir gut, Kleiner!“, erwiderte Jack. „Ohne dich hätte dein Schwiegerpapa mir den Hals länger gezogen, als gesund ist.“
Sie verwischten die Spuren, wohl wissend, damit allenfalls die Spurenlesekunst der Soldaten auszutricksen. Dem Geruchssinn der Hunde hatten sie nichts entgegenzusetzen, das war ihnen klar. Jack sah sich um und bemerkte die Lichtung der Bucht, in der die Black Pearl auf sie wartete.
„Los, komm, Will! Wir sind fast durch“, trieb er Will an. Die anderen hatten die Bucht schon erreicht und das Boot klargemacht, das sie am Strand deponiert hatten. Durch den dichten Urwald waren schon die weißen Uniformen der französischen Soldaten zu erkennen. Sie folgten jetzt nicht mehr den Hunden, sie sahen die Flüchtenden schon. Will und Jack drehten sich um und rannten die letzten paar hundert Yards durch den lichter werdenden Dschungel und erreichten den Strand.
Hinter ihnen peitschten schon die ersten Schüsse durch den Regenwald, als die beiden Männer auf den breiten Strand der Bucht hetzten. Gibbs winkte ihnen hektisch, damit sie sich beeilten. Die Franzosen waren schnell durch den Urwald gekommen und erreichten den Rand des Urwaldes. Schon knieten sich die vordersten hin und zielten auf das Boot und dessen Insassen. Von der in der Bucht liegenden Black Pearl dröhnte eine volle Breitseite der Backbordgeschütze, die über das Boot wegging und den Rand des Urwaldes mit Pulverdampf, aufspritzendem Matsch und Wasser einnebelte. Eilig schoben die Männer das Boot ins Wasser und pullten schon fort, als das Boot auf einem Felsen auflief. Will, der am Heck des Bootes saß, sprang wieder ins Wasser und schob es mit einiger Mühe von dem Felsen herunter. Das Boot freizubekommen kostete wertvolle Zeit.
Noch bevor die Kanoniere auf der Black Pearl nachgeladen hatten, um den Verfolgern eine zweite Breitseite zu verpassen, hatten sich zwei der Franzosen durch den dicken Nebel der Granatexplosionen durchgearbeitet. Einer von ihnen kniete sich hin, zielte sorgfältig, als Will sich gerade in das freigeschobene Boot zog. Ein Schuss krachte – und der junge Mann brach getroffen zusammen. An seiner rechten Seite breitete sich rasch ein roter Fleck in der grauen Futterseide seiner Weste aus. Er schnappte heftig nach Luft, als sich ein rasender Schmerz seiner bemächtigte.
„Will, was …?“
Gibbs’ erschrockener Ausruf war das letzte, was er noch hörte, bevor er das Bewusstsein verlor. Cotton und Gibbs konnten ihn gerade noch packen, bevor er ins Wasser fiel und zogen ihn ins Boot, während Jack und Marty schon lospullten, als sei der Klabautermann erschienen.
„Verdammt!“, grollte Gibbs. „Der Weißfrack nietet einfach Master Will um!“
Der Maat und der Matrose legten Will vorsichtig im Boot ab, Jerôme knöpfte dem jungen Mann die Weste auf, zog das Hemd an der rechte Seite aus der Hose und besah sich die Wunde.
„Cette blessure est dangereuse (Diese Wunde ist gefährlich)“, flüsterte der Franzose. Cotton und Gibbs verstanden kein Französisch, aber der Ton und der erschrockene Blick des Franzosen sagten alles.
Eine zweite Breitseite von der Black Pearl vertrieb die französischen Soldaten vom Strand, während die Männer im Boot aus Leibeskräften pullten, um das Schiff schnell zu erreichen. Auf Jacks scharfen Pfiff halfen Hammond und noch einige andere, Will an Deck zu hieven und das Boot wieder einzuholen.
„Los, weg hier! Anker lichten, Segel setzen! Ran an die Brassen!“, befahl Jack. Die Crew beeilte sich, den Anweisungen des Captains nachzukommen.
Vom unteren Deck kam Elizabeth, wo sie nach Hammonds Anweisungen die Kanonen ausgerichtet hatte. Ihr Blick fiel auf ihren Mann, der blutend und bewusstlos an Deck lag.
„Will!“, rief sie erschrocken und eilte mit schnellen Schritten zu ihm, doch Jack hielt sie zurück und befahl Gibbs und Cotton, Will in die Gästekajüte zu bringen. Der Franzose folgte ihnen.
„Was ist passiert?“, fragte die junge Frau, die das Geschehen an Land nicht gesehen hatte.
„Einer der Verfolger ist durch euer Sperrfeuer durchgekommen und hat Will niedergeschossen“, erklärte Jack. „Bill, darf ich dir deine Schwiegertochter vorstellen?“, grinste er dann an Stiefelriemen gewandt. Elizabeth sah den abgerissenen, verdreckten Mann hinter Jack an und bekam große Augen. Sah sie vom Dreck und der zerrissenen Kleidung ab, bekam sie eine präzise Vorstellung, wie Will in fünfundzwanzig Jahren aussehen würde.
„Mr. Turner?“, fragte sie dennoch vorsichtig. Will senior lächelte – und das war von ein paar Falten und den ergrauten Haaren abgesehen Wills schönes Lächeln.
„Nenn’ mich Bill, Mädchen“, sagte er. „Und wie heißt du?“
„Elizabeth.“
„Schöner Name. Bist du auch Pirat?“
„Jein“, versetzte Elizabeth, „nur zeitweilig, wie Euer Sohn.“
Bill nahm ihre Aussage zur Kenntnis und wandte sich dann an Jack:
„Jack, lass’ Jerôme sich um Wills Wunde kümmern. Der Junge ist Arzt“, schlug er vor.
„Arzt?“, fragte Jack verblüfft nach. „Wie kommt ein Arzt in ein Straflager?“
„Hatte das Pech, Leibarzt von König Louis XV. zu sein. Weil er dessen Tochter nicht vor den Pocken retten konnte, hat man ihn nach Cayenne deportiert.“
„Klar soweit“, seufzte Jack. „Du badest erst einmal, ziehst dir ein paar ordentliche Sachen an und übernimmst das Ruder, Stiefelriemen!“, wies Jack ihn dann an.
„Aye, Captain!“, bestätigte William senior mit einem echten Turner-Lächeln.
Jack und Elizabeth folgten den anderen in die Gästekajüte. Der Arzt ließ sich heißes Wasser kommen, wusch sich zunächst sorgfältig die Hände in einem Extragefäß, während Gibbs Will aus Weste und Hemd schälte. Dann säuberte er vorsichtig die große Wunde, die die Kugel in Wills rechte Leibseite gerissen hatte.
„Habt Ihr Nadel und Faden, mon Capitaine?“, fragte Jerôme mit deutlichem Akzent. Elizabeth gab ihm, was er benötigte. Jerôme nähte die Wunde zu und verband sie dann.
„Ich befürchte das Schlimmste, mon Capitaine. Ich habe keine Medikamente hier – und ohne die wird der junge Monsieur die blessure nicht überleben.“
Kapitel 9
Flucht nach Norden
Als Jack wieder an Deck kam, warnte Hammond: „Captain, wir machen schlecht Fahrt. Ohne den Besanmast kommen wir nicht richtig voran.“
„Es muss erst einmal so gehen. Wir laufen die nächste Bucht an, die tief genug ist, um die Pearl wieder umzubauen. Hauptsache, die Franzosen kriegen nicht mit, wer ihnen die Gefangenen geklaut hat.“
„Schiff in Sicht!“, meldete Marty, der als Ausguck im Vormars stand. Jack sprang auf das Achterdeck und griff nach seinem Fernrohr. Eine französische Fregatte kam ihnen entgegen, als sie gerade das Fort an der Mündung ohne Probleme passiert hatten. Es war eine von denen, die er im Hafen von Cayenne gesehen hatte. Wirklich, die Franzosen hatten keine Zeit verloren!
„Wo kriegt man Nebel her, wenn man welchen braucht?“, knurrte er. Ohne den dritten Mast hatte die Black Pearl keine Chance, einem Treffen mit der französischen Fregatte auszuweichen, soviel war Jack klar. Er ging ans Ruder.
„Lass’ mich ran, Bill, übernimm du die Kanonen!“
Bill Turner nickte nur. Captain Jack Sparrow hatte genug Gefühl in den Händen, um eine Kursabweichung von nur einem Grad schon im Ruder zu fühlen. Gibbs maß die Geschwindigkeit mit dem Log* nach.
„Sechs Knoten“, meldete er.
„Verdammt, das reicht nicht!“, fluchte Jack. „Setzt die Piratenflagge! Macht sofort die Geschütze klar! Die Black Pearl reißt nicht aus! Klar zur Wende, Männer!“
Die Geschütze klar zu machen, dauerte auf der Black Pearl mit ihrer eingespielten Crew nicht lange, aber doch lange genug, dass die französische Fregatte inzwischen schon fast auf gleicher Höhe mit der Black Pearl war. Die Geschützpforten des französischen Schiffes öffneten sich.
„Feuer!“, befahl Bill, die Breitseite krachte und sandte eine deckende Salve zu dem anderen Schiff. Jack riss das Ruder hart Steuerbord. Für eine Galeone wendete die Black Pearl ziemlich zügig und bot der Breitseite, die die Franzosen abfeuerten, nicht mehr die erwartete Angriffsfläche. Dafür brach auf dem französischen Schiff der Fockmast, zwei oder drei Geschosse der Black Pearl durchbrachen die Beplankung der Franzosen direkt an der Wasserlinie, Großmars und Großsegel hatten riesige Löcher. Der französische Capitaine bekam das Wendemanöver nicht so flott hin wie die Black Pearl, der Jack nach der Rückeroberung von Barbossa ein neues Ruder mit größerem Blatt verpasst hatte, was die Galeone erheblich wendiger machte. Im eigenen Pulverdampf eingenebelt drehte die französische Fregatte ab und verschwand.
„Die haben genug!“, grinste Bill, als vom unteren Deck kam. Jack lächelte seinen alten Freund golden an.
„Mit dir ist die Black Pearl endlich wieder komplett, Bill. Dein Welpe ist ein prima Kerl, aber ein Pirat ist er nicht wirklich – trotz der unglaublichen Ähnlichkeit, die er mit dir hat.“
Bill Turner sah kurz zu Boden, dann direkt in Jacks dunkle Augen.
„Jack, du weißt, dass ich gewisse Gründe hatte, Pirat zu werden. Mein Sohn hatte diese Gründe nicht, oder sehe ich das falsch?“
„Nein, ganz und gar nicht. Als ich ihm gesagt hab’, dass du Pirat bist, warst, was auch immer, hätte er mich beinahe aufgespießt“, erwiderte Jack.
„Und was macht er, wenn er sich nicht auf Kapertour mit dir zusammenschießen lässt?“
Jack wies auf den Säbel, der in Bill Turners Gürtel steckte.
„Das da“, grinste er.
„Was?“
„Dein Welpe ist Schmied – noch dazu der beste, den ich zwischen Florida, der Nordküste Südamerikas, den Antillen und Mexiko kenne.“
„Und das Mädchen? Sieht für einen Kahn wie deinen eigentlich zu fein aus.“
„Aye. Ist die Tochter des Gouverneurs von Jamaica“, erklärte Jack mit einem Gesichtsausdruck, der Bill Turner diese Aussage nicht für wahr halten ließ.
„Jack, du weißt, dass ich es nicht schätze, wenn du mich veräppeln willst“, sagte er mit drohendem Unterton.
„Frag’ sie und du weißt, dass ich auch gut die Wahrheit sagen kann, William Turner.“
„Heißt das, dass ich gehen kann, Captain?“
„Aye“, grinste Jack.
Bill Turner ging unter Deck, während Jack wieder nach Norden wendete, um eine Bucht zu suchen, in der die Black Pearl sich wieder in einen braven Handelssegler verwandeln konnte. Jerôme kam aus der Gästekajüte.
„Wie geht’s dem jungen Mann?“, erkundigte sich Bill.
„Nicht gut. Er hat viel Blut verloren und ob das Auswaschen der Wunde nur mit Wasser ausreichend war, weiß ich nicht. Ich muss unbedingt an die Kräuter kommen, von denen ich dir erzählt habe, mon ami, sonst wird er am Wundfieber sterben“, erklärte der Arzt. Bill nickte und wollte weitergehen, doch Jerôme hielt ihn am Arm fest.
„Er ist dein Sohn, n’ est-ce pas?“
Bill nickte schweigend.
„Warum hast du mir nie von ihm erzählt?“, fragte der Franzose.
„Es gibt vieles, Jerôme, über das ich nicht gern rede.“
„Auf so einen Sohn kann jeder Vater doch nur stolz sein, mon ami“, wunderte Jerôme sich kopfschüttelnd.
„Vielleicht. Aber so ein Sohn nicht unbedingt auf seinen Vater“, erwiderte Bill mit einem Seufzen und betrat die Kajüte.
Elizabeth saß an Wills Koje und hielt seine linke Hand sanft umschlossen. Er war weiterhin ohne Bewusstsein, hatte die Augen geschlossen.
„Elizabeth“, sprach Bill sie leise an. Erschrocken fuhr sie herum.
„Oh, Ihr seid es!“, keuchte sie dann. Bill lächelte seine hübsche Schwiegertochter freundlich an.
„Habe ich dich so erschreckt, Mädchen?“
Sie lächelte gequält.
„Ja und nein, Master Turner. Ihr habt fast die gleiche Stimme wie Euer Sohn, nicht nur eine verblüffende Ähnlichkeit, was das Äußere betrifft. Ich habe beinahe angenommen, Will hätte gesprochen.“
„Wie geht es ihm?“
Elizabeth wandte sich Will zu und strich ihm behutsam über das Gesicht.
„Nicht gut, Master Turner. Doktor Savigny glaubt nicht, dass er leben wird“, presste sie mühsam heraus. Dreieinhalb Monate waren sie jetzt verheiratet – viel zu kurz, um ihn jetzt schon wieder zu verlieren. Elizabeth war zum Heulen zumute.
„Jerôme ist ein guter Arzt“, beruhigte Bill sie.
„Das habe ich wohl gesehen, Master Turner. Umso mehr bedrückt es mich, dass er Will keine Chance gibt“, erwiderte die junge Frau.
„Habt ihr Kinder?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, noch nicht. Wir sind erst gut drei Monate verheiratet.“
„Er ist wohl nicht sehr fleißig in dieser Hinsicht, hm?“
Elizabeth sah ihren Schwiegervater errötend an.
„So indiskret bin ich nicht, Sir!“, wehrte sie ab.
„Oh, Vergebung, junge Dame. Ich wollte damit nur sagen, dass ich meine Frau einen Monat nach unserer Hochzeit mit unserem Sohn beglückt hatte“, grinste Bill.
„Euer Sohn, Master Turner, ist mir in jeder Hinsicht ein liebevoller Ehemann, dem ich nichts vorenthalte – und er mir nicht. Reicht Euch das?“
William senior lächelte.
„Oh, vollkommen! Was macht ihr zwei, wenn ihr nicht mit Jack Sparrow auf Kaperfahrt seid?“, fragte er.
„Will ist Waffenschmied. Er macht einfach perfekte Schwerter. Ich glaube, bei der Royal Navy, soweit sie auf Jamaica stationiert ist, gibt es keine anderen Blankwaffen als die aus Meister Browns Schmiede.“
„Brown?“
„Ja, Will hat die Schmiede erst vor kurzem von seinem alten Meister übernommen.“
„Und du? Was machst du?“
„Ich bin seine Frau“, gab Elizabeth lächelnd zurück. Bill Turner runzelte die Stirn und ließ sich in einen Sessel an der Fensterfront der Kajüte fallen, damit Elizabeth sich nicht so verdrehen musste und musterte die schöne, junge Frau.
„Ich hab’ gar nicht gewusst, dass man als Waffenschmied so viel Geld verdienen kann, dass man davon so schöne Sachen kaufen kann“, schmunzelte er mit einem Blick auf ein Kleid, das an einem Haken an der Kajütenwand hing.
„Master Turner …“
Turner senior hob abwehrend die Hand.
„Bill, Kind, von mir aus auch Stiefelriemen oder Papa – und bitte keine Förmlichkeiten. Ich bin ein ziemlich gewöhnlicher Pirat, Mädchen.“
„Will hat mir einmal gesagt, es sei der Schreck seines Lebens gewesen, als Jack ihm erzählte, du seiest Pirat, Vater.“
„Kann ich mir denken“, grinste Bill.
„Warum?“
„Na ja, Will ist von seiner Mutter erzogen worden – und zwar praktisch allein. Ich war immer Seemann und nur selten in Plymouth, wo Anne, meine Frau, mit Will lebte. Meine Heuer war nicht schlecht, auch wenn man damit keine großen Sprünge machen konnte. Ich war Maat auf der Seagull, einem Schiff der Handelsmarine und habe Anne regelmäßig den größten Teil meiner Heuer geschickt, damit sie mit Will einigermaßen durchkam. Mein Reeder erlaubte eine Rückkehr nach England allerdings nur, wenn wir genügend Fracht hatten, um wenigstens drei Monate nicht auslaufen zu müssen. Bei aller guten Ware in der Karibik kam das verdammt selten vor – eigentlich allenfalls einmal im Jahr. Die Laderäume mussten schon fast mit Gold gefüllt sein, um das überhaupt in Erwägung ziehen zu dürfen. Und gierig, wie mein Reeder war, scheuchte er uns wieder auf See, kaum dass die Ladung gelöscht war. Wenn ich in England war, habe ich immer nur wenige Tage bei meiner Familie verbringen können, bevor ich wieder für sehr lange Zeit fortmusste. Und gesehen habe ich Frau und Sohn zuletzt vor vierzehn Jahren“, erklärte Bill.
„Und Wills Mutter hatte was gegen Piraten?“
„Aye, das hatte sie. Weißt du, Plymouth ist eine Hafenstadt, in der die meisten Menschen von der Seefahrt leben. In Annes Familie gab es Leute, die mit Piraten sehr unangenehme Bekanntschaft gemacht hatten, es waren auch welche ums Leben gekommen. Das hat sie Piraten nicht gerade lieben lassen. Ich habe lange überlegt, ob ich ihr die Wahrheit schreiben sollte – aber ich war zu feige dazu.“
„Welche Wahrheit?“
„Dass ich Pirat war.“
„Aber das warst du doch offenbar nicht immer, oder?“
„Nein“, erwiderte Bill. „Ich würde das gern ausführlich erzählen, wenn Will wieder wach ist“, bremste er vorsichtig.
Elizabeth sah ihn eine Weile an.
„Meinst du, deine Frau hätte deine Beweggründe nicht verstanden?“, hakte Elizabeth nach. Bill lachte kurz auf.
„Nein, das hätte sie nicht. Sie hätte schon nicht verstanden, wie jemand aus der Navy fliehen konnte. Um ehrlich zu sein, hat sie immer wieder versucht, mich zu überreden, in die Navy einzutreten; aber ich wollte nicht noch unfreier sein, als ich es als angestellter Maat schon war. Einerseits hoffte sie, dass ich dann entweder öfter zu Hause gewesen wäre, andererseits hätte ich mich mit meiner seemännischen Erfahrung auch hocharbeiten können und hätte das Recht gehabt, meine Frau und meinen Sohn an den Ort meiner Stationierung nachzuholen. Ich glaube, das war der einzige Streitpunkt, den Anne und ich hatten“, erwiderte Bill, sah seine Schwiegertochter einige Zeit an und fragte sich, weshalb er ihr das alles so frank und frei erzählte, obwohl er von ihr kaum mehr als den Vornamen wusste. Es war wohl an der Zeit dass er mehr über die junge Frau erfuhr.
„Sag mal, Jack hat mir erzählt, du wärst die Tochter des Gouverneurs von Jamaica … Der veräppelt mich, oder?“, fragte er schließlich. Sie lächelte.
„Nein, Bill, das stimmt.“
„Aha. Und wie kommt ein Junge wie meiner, der aus einfachen Verhältnissen ist, zu so einer Frau?“
Elizabeth erzählte Wills Vater also die Geschichte, wie sie ihn als Schiffbrüchigen kennen gelernt, sich schon als Backfisch** in den hübschen Jungen verliebt hatte und erst recht in ihn verknallt war, als dieses unglaublich gute Aussehen komplett entwickelt war; dass Barbossa sie wegen des Medaillons entführt hatte und dass Will sie im Verein mit Jack schließlich gerettet hatte. Bill Turner wurde bleich, als sie von der Aufhebung des Fluchs berichtete.
„Was hast du?“, fragte sie besorgt, als sie sein kreidebleiches Gesicht sah.
„Das heißt, wenn ich mich von der Kanone nicht hätte befreien können, wäre ich in dem Moment ertrunken, als der Fluch aufgehoben wurde…“, erwiderte er tonlos. „Haben die beiden darüber eigentlich nachgedacht?“, fragte er dann.
„Es gab nicht viel andere Möglichkeiten, Bill“, kam eine Stimme von der Tür. Bill und Elizabeth zuckten herum. Sie hatten Jack nicht kommen hören und fragten sich, wie lange er schon dort stand und ihnen einfach zuhörte.
„Was meinst du damit, Jack?“
„Wir mussten den Fluch aufheben, um Barbossa und seine Bande zu besiegen. Es gab nur die Wahl, dass dein Sohn und seine Freundin dran glauben mussten oder Barbossa und seine Crew von Missgeburten. Wir haben uns für die letztere Möglichkeit entschieden“, erklärte Jack.
„Und ich, mein Freund?“, versetzte Bill. Jack kam näher und setzte sich ebenfalls in einen Sessel.
„Es gibt Momente, da ist einem das Hemd näher als die Weste, mein Guter. Ob dein Welpe drüber nachgedacht hat, weiß ich nicht. Er war sehr auf Elizabeth fixiert und alles andere drumherum hat ihn weniger interessiert. Was uns beide betrifft:“, sagte Jack und wies im Wechsel auf sich und auf Bill. „Da ist noch was offen. Du hast nicht viel dazu getan, die Meuterei zu verhindern! Du hast mich sang- und klanglos im Stich gelassen, William Turner!“, hielt Jack ihm vor. Bill versteifte sich.
„Warum glaubst du das eigentlich?“, fragte Bill.
„Bill, ich weiß, was ich gesehen habe, als Barbossa mich über die Planke gehen ließ!“
„Ich glaube, mich zu erinnern, dass ich dir einmal geraten habe, deine Pläne nicht jedem mitzuteilen, oder?“, versetzte Bill. Jetzt war es Jack, der ihn verständnislos ansah.
„Versteh’ nich’.“
„Das glaube ich!“, knurrte Bill. „Ich gebe ja zu, dass die Geschichte mit der Meuterei nicht gerade meine Sternstunde war, aber sei sicher, Jack Sparrow: Ich habe dich nicht im Stich gelassen! Es war jedenfalls nicht meine Absicht. Aber so, wie du mich ansiehst, könnte ich dir jetzt erzählen, was ich will. Du würdest es mir nicht glauben.“
Jack wollte Bill scharf anfahren, aber sein Blick fiel auf Will, der schmerzvoll das Gesicht verzog. Elizabeth streichelte ihn beruhigend und küsste ihn sanft auf die Stirn. Der junge Mann entspannte sich wieder. Captain Sparrow fiel das Gespräch mit Will ein. Wie lange war das her? Eine Woche, vielleicht eineinhalb. Er hatte Will doch versprochen … Jack seufzte.
„Sprich dich aus“, sagte er schließlich. Bill rang noch einen Moment mit sich, knetete die Hände und schien nicht zu wissen, wo er anfangen sollte.
„Ich hab’ dich damals gewarnt, nicht jedem alles zu erzählen, aber du konntest die Klappe ja nicht halten, Jack, und musstest Barbossa ja unbedingt unter die Nase reiben, wo sich der Schatz befand. Ist dir eigentlich nicht klar gewesen, dass Barbossa dich längst buchstäblich ausbooten wollte?“, zischte Bill.
„Inzwischen ist es mir klar, Bill. Und du kannst die junge Dame hier gern fragen, ob ich heute noch so mitteilsam bin wie in jenen Tagen, als du mein Maat warst“, erwiderte Jack. „Aber das ist noch lange kein Beweis, dass du nicht mitgespielt hast“, versetzte der Captain dann.
„Na schön, ich hoffe, du wirst mir glauben …“, seufzte Bill. „Also: Du wusstest die genaue Position der Isla de Muerta, ich wusste von dem Fluch. Ich hatte es dir gesagt, aber du hast mir das nicht glauben wollen und hast es als Geistergeschichte abgetan, wie du dich erinnerst. Nachdem du Barbossa die Position genannt hattest, brauchte er dich für diesen Beutezug nicht mehr. Hätte ich mich auf deine Seite gestellt, als Barbossa dich über Bord gehen ließ, hätte er nicht gezögert, uns beide auszusetzen. Klar soweit?“
Jack nickte.
„Mein Fehler war, dass ich mich in mir selbst und meinem Einfluss auf die Mannschaft gründlich verschätzt habe“, fuhr Bill fort und erzählte dann von seiner gescheiterten Gegenmeuterei. „Da der Fluch bestehen blieb, konnte Barbossa aber weder das Medaillon noch Will in die Hände bekommen haben, was mich einerseits beruhigte, mir aber andererseits klarmachte, dass ich nicht damit rechnen konnte, meinen Sohn je wieder zu sehen. Und dann treffe ich ihn unter diesen Umständen … Und falls dir das noch nicht reicht, Jack Sparrow, dann sieh bitte mal auf den Kompass, den du hast. Du hattest ihn von mir und ich weiß wie er funktioniert, kenne sein kleines Geheimnis. Glaubst du wirklich, Jack, ich hätte dir den Kompass gelassen, wenn ich wirklich mit Barbossa unter einer Decke gesteckt hätte?“, schloss Bill Turner.
Jack stutzte und lehnte sich dann in den Sessel zurück.
„Elizabeth, war Will schon wach?“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf und hatte keine Vorstellung, was Jacks Frage mit Bills Bericht zu tun haben konnte.
„Nein“, sagte sie.
„Eins muss ich euch lassen – dir und deinem Sohn: Ihr scheint euch so ähnlich zu sein, dass ihr sogar die gleichen Gedanken habt. Genau das, was du mir gerade gesagt hast, hat Will mir erst vor einer guten Woche als Spekulation um die Ohren geschlagen. Dann ist das Thema für mich erledigt. Bill, es tut mir Leid, dass ich deine Freundschaft in Zweifel gezogen habe“, erklärte Jack. Bill sah ihn mit einem Blick an, den Jack sonst nur von Will kannte. Es war dieser treue Hundeblick.
„Jack, du weißt, dass ich für dich sterben würde – wenn es Sinn macht.“
„Aye, auch darin seid ihr euch gleich. Will würde es jedenfalls für Elizabeth tun und war schon mal nahe daran, sein Versprechen einlösen zu müssen.“
„So?“
„Nun, es gibt etwas, das euch beide unterscheidet – und das ist die Frage, ob jemand den Mund halten kann oder nicht. Dein Welpe hat damit ein gewisses Problem. So hat er Barbossa leider gesagt, wer er ist“, grinste Jack. Elizabeth wollte aufbegehren, aber Jack legte ihr eine Hand auf den Arm.
„Er hat es ja in bester Absicht getan, klar soweit! War auch mein Fehler, ich hätte ihn in meinen Plan einweihen sollen, dann hätte er nicht so was Blödes angestellt. Er hat sich Barbossa ausgeliefert, um Elizabeth zu retten. Barbossa wollte ihm die Kehle aufschlitzen, um den Fluch loszuwerden. Bill, an dem Tag wäre der Fluch aufgehoben worden – ob mit dem Willen deines Sohnes oder ohne ihn. Wäre es uns – Will, Elizabeth und mir – nicht gelungen, Barbossa und seine verbliebenen Leute zu überrumpeln und wäre dein Welpe nicht ein Fechter, wie man ihn mit der Laterne suchen kann, wären an diesem Tag mindestens dein Sohn und Elizabeth gestorben, mein Guter. Barbossa hätte deinen Welpen nicht am Leben gelassen.“
„Und warum wärst du nicht unbedingt gestorben?“, erkundigte sich Bill. Jack grinste, dass seine Goldzähne blitzten.
„Diese Medaillons sind überaus verführerisch. Ich konnte einfach nicht widerstehen. Außerdem … Es gibt Fälle, in denen so was Ähnliches wie Unsterblichkeit ganz wertvoll sein kann“, setzte er hinzu.
Einen Moment war Schweigen, das nur von Wills schwerer werdendem Atem durchbrochen wurde. Elizabeth legte ihm besorgt eine Hand auf die Stirn.
„Er bekommt Fieber“, flüsterte sie. Bill wurde wieder bleich.
„Jack, Jerôme meint, dass Will an dem Wundfieber sterben wird, wenn er nicht an heilende Kräuter herankommt“, sagte er. Jack nickte.
„Ich weiß, er hat es mir gesagt. Deshalb habe ich Gibbs das Ruder in die Hand gedrückt und bin hergekommen, um mit euch die weiteren Pläne zu besprechen.“
„Ich hole Jerôme“, erwiderte Bill und verließ die Kajüte.
„Na, was sagst du zu deinem Schwiegervater, hm?“, erkundigte sich Jack.
„Sie sind sich wirklich ähnlich. Ich mag ihn“, erwiderte sie und streichelte Will, der zunehmend unruhiger wurde.
„Kaufst du ihm die Geschichte mit der Meuterei ab?“, fragte Jack. Er hatte immer noch Zweifel, das war deutlich.
„Wenn Will dir schon vor einer Woche etwas Ähnliches als Vermutung erzählt hat, verstehe ich deine Zweifel nicht, Jack“, wunderte sich Elizabeth.
Sparrow nickte, aber seine Zweifel blieben. So gut er sich und seine Pläne sonst hinter extrovertiertem bis exzentrischem, ja zuweilen tuntenhaftem Verhalten tarnen konnte: Zweifel konnte er nur schlecht verbergen. Zögernd ließ Elizabeth Wills Hand los und stand auf. Sie trat zu Jack und berührte ihn sanft an der Schulter.
„Jack, mir ist nicht entgangen, wie sehr du dieses Schiff liebst. Es muss für dich wie die Entführung einer geliebten Frau gewesen sein, als Barbossa sie dir wegnahm – beide Male. Als er uns auf dieser Insel ausgesetzt hat, habe ich es dir angesehen.“
Wieder nickte der Captain. Im Moment war der exotische Mensch ganz weit weg, nur ein einsamer und sehr ernster Mann saß in dem Sessel, fand Elizabeth. Einsam, ernst, besorgt, fast verzweifelt.
„Was hast du?“, fragte Elizabeth sanft. Jack sah zu ihr hoch.
„Das wirst du nicht verstehen, Liebes“, wehrte er ab.
„Was werde ich nicht verstehen?“
„Es geht um Will.“
„Du machst dir Sorgen, nicht wahr?“
Wieder Nicken.
„Ich mir auch, Jack“, seufzte sie. „Ich liebe ihn, Jack. Ich bin seine Frau und hätte gern länger etwas von und mit ihm.“
Jack seufzte tief und tätschelte Elizabeths Hand, die leicht auf seiner Schulter lag.
„Ich liebe ihn auch“, sagte er leise.
Die junge Frau hätte kaum erschrockener sein können, so wie Jack es sagte. Doch als sie ihn ansah, entdeckte sie in dem mühsamen Lächeln, das sich in seinem attraktiven Gesicht zeigte, einen schalkhaften Zug.
„Nein, nicht so …“, grinste er dann in seiner gewohnten Art. „Eher so, wie ein Vater seinen Sohn liebt. Ich bin zwar einige Jahre jünger als Stiefelriemen, aber immer noch fast zwanzig Jahre älter als sein Welpe. Bis Bill wieder unter die Lebenden zu zählen war, wollte ich Will den Vater ersetzen, Schätzchen, klar soweit?“
Elizabeth grinste zurück. Irgendwie verstand Jack es, in jeder Situation seinen manchmal schrägen Humor zu verbreiten.
„Und nun ist der wieder aufgetaucht und du verlierst deinen Adoptivsohn“, mutmaßte Elizabeth.
„So ähnlich“, bestätigte Jack. „Und außerdem geht’s ihm wirklich nicht gut.“
Wie zur Bestätigung regte Will sich unruhig im stärker werdenden Fieber. Elizabeth setzte sich wieder zu ihm, nahm seine Hand und streichelte ihn beruhigend. Mit viel Mühe schlug er die Augen auf.
„Elizabeth“, flüsterte er matt. Sie lächelte und strich ihm sanft über das schweißnasse Gesicht.
„Ich passe auf dich auf“, versprach sie. Ihre Blicke versanken ineinander.
„Das hast du schon einmal zu mir gesagt“, erinnerte er sich.
„Und ich werde es ebenso tun wie damals auf der Dauntless“, erwiderte sie. Nach seiner Rettung aus den Trümmern der versenkten Dragonfly hatte der Schiffsarzt der Dauntless nicht nur einige Verletzungen bei dem schiffbrüchigen Will versorgen müssen; der Junge war auch stark unterkühlt gewesen. Elizabeth hatte die Anweisung ihres Vaters sehr ernst genommen, für Will verantwortlich zu sein und sich um ihn zu kümmern. Tagelang hatte sie bei ihm gesessen, war ihm nicht von der Seite gewichen, hatte seine Hand gehalten, war für ihn da gewesen. Will schloss erschöpft die Augen und überließ sich ihrer streichelnden Hand.
„Ich liebe dich“, flüsterte er. Sie beugte sich über ihn und küsste ihn sanft auf die heiße Stirn. In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie sich schon am Tag seiner Rettung von der Dragonfly in ihn verliebt hatte.
„Ich bleibe bei dir, hab’ keine Angst.“
Elizabeths Versprechen war das letzte, was Will noch hörte, bevor er wieder das Bewusstsein verlor. Sie registrierte erschrocken, dass sein Händedruck plötzlich nachließ, atmete aber auf, als sie bemerkte, dass er weiterhin atmete, wenn auch schwer und mit Mühe.
„Jack, ich habe Angst um ihn“, sagte sie, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Elizabeth sah auf und blickte in Bill Turners dunkle Augen. Er lächelte schief, aber sehr sympathisch.
„Jerôme ist hier“, sagte er.
Zögernd räumte Elizabeth den Platz für den Arzt, der Will gründlich untersuchte. Sein Gesichtsausdruck war alles andere als zuversichtlich.
„Das Fieber ist ein Problem, mes amis“, sagte er. „Eigentlich müsste ich die Wunde nochmals öffnen, sie gründlich reinigen und dann mit heilenden Kräutern oder Salbe behandeln, aber ich habe weder chirurgisches Besteck noch die nötigen Medikamente.“
„Was brauchst du genau?“, erkundigte sich Jack.
„Mindestens ein richtig scharfes Messer, dann heißes Wasser, das wenigstens zehn Minuten sprudelnd gekocht hat. Das Wichtigste aber ist hier an Bord nicht zu bekommen, fürchte ich.“
Jack rieb sich den Kinnbart.
„Das mit dem Messer wäre das geringste Problem, so wie unser Junior die Messer hier gewetzt hat. Heißes Wasser ist auch hinzukriegen. Und was fehlt dir sonst noch?“
„Nun, es gibt in Guayana noch ein paar Ureinwohner, die eine wirklich gute Kräutermedizin entwickelt haben. Aber nach Cayenne zurück, das kostet mich den Kopf. Bei aller Sympathie für den jungen Monsieur und bei dem hippokratischen Eid, den ich als Arzt geschworen habe – nein, dahin gehe ich nicht zurück!“
„Wachsen diese Kräuter denn nur dort?“, fragte Elizabeth. Jerôme zuckte mit den Schultern.
„Je ne sais pas (ich weiß es nicht), Mademoiselle. Es kann sein, dass sie tatsächlich nur dort wachsen; es kann aber sein, dass sie auch woanders vorkommen.“
Nachdenklich sah die junge Frau aus dem Heckfenster auf die tiefblaue See hinaus.
„Jack, Paramaribo ist nur zwei Tagereisen entfernt“, sagte sie plötzlich.
„Und was sollen wir in Paramaribo, Liebes?“
„Dort ist ein sehr ähnlicher Urwald wie in Cayenne, nachdem, was ich so gesehen habe. Es wäre doch wahrscheinlich, dass dort die gleichen Pflanzen wachsen wie in Cayenne, oder? Außerdem hat der englische Gesandte in Paramaribo Will Hilfe angeboten – eingedenk der Tatsache, dass Stiefelriemen Bill ihm mal das Leben gerettet hat“, schlug Elizabeth vor.
„Wann sollte ich dem englischen Gesandten in Paramaribo mal das Leben gerettet haben?“, fragte Bill verständnislos. „Dort war ich noch nie.“
„Es war auch nicht dort. Ihr habt den Hafen von Nassau geplündert. Damals hast du ein Haus fast im Alleingang gegen Ara Goldbarts Piraten geschützt und dabei deine Taschenuhr verloren, Schwiegerpapa. Es war das Haus von Mr. Montrose, der jetzt britischer Gesandter in Paramaribo ist, und das hat er dir nicht vergessen. Mr. Montrose hat sie Will gegeben und ihm gleich dazu gesagt, dass er ihm jegliche Hilfe zukommen lassen will, falls er Hilfe braucht. Ich denke, es wäre … der passende Augenblick … dieses Versprechen einzulösen.“
Jack musste über Elizabeths treffendes Zitat eines seiner Standardsprüche grinsen, aber sie hatte Recht.
„Wir laufen Paramaribo an“, entschied Captain Sparrow.
Kapitel 10
Urwaldmedizin
Knapp zwei Tage darauf legte die Black Pearl wieder im Hafen von Paramaribo an, wiederum völlig legal unter britischer Handelsflagge. Dennoch blieb Jack unruhig. Von Elizabeth wusste er, dass der Gouverneur von Cayenne und Charles Montrose persönliche Freunde waren. Jack hatte deshalb erhebliche Zweifel, dass Montrose ihnen behilflich sein würde, wenn herauskam, dass Wills Verwundung Folge einer Gefangenenbefreiung aus der Strafkolonie Cayenne war. Der vorsichtige Jack ließ deshalb die Black Pearl so vertäuen, dass sie im Notfall mit drei Handgriffen ablegen konnte – im schlimmsten Falle auch ohne an Land befindliche Besatzungsmitglieder, getreu dem Piratenkodex, nach dem jeder zurückgelassen wurde, der zurückblieb. Schon aus diesem Grund wollte Jack nichts davon wissen, dass Will von Bord gebracht wurde, damit er sich in einem festen Haus an Land erholen konnte, wie Mr. Montrose bei einem Besuch an Bord empfahl. Es fiel ihm schon schwer genug, Stiefelriemen von Bord zu lassen, damit er zusammen mit Jerôme Savigny auf Kräutersuche im Dschungel gehen konnte; aber Jerôme hatte nur zu Bill das nötige Vertrauen, zudem verstanden außer Bill nur noch Elizabeth, Will und Jack selbst Französisch, so dass sich kein anderer aus der Crew mit Savigny überhaupt verständigen konnte.
Während Bill Turner und Jerôme Savigny im Regenwald nach den Heilkräutern suchten, kam Charles Montrose nochmals an Bord, während dort gerade der Besanmast wieder aufgebaut wurde.
„Nanu, was ist mir Eurem Schiff passiert, Captain Sparrow?“, fragte der Gesandte.
„Wir hatten einen Zusammenstoß mit Piraten, Minister Resident. Scheint so, als triebe sich die Mermaid von Captain Jamie Einauge hier herum. Wir konnten sie zwar vertreiben und zwei Gefangene aus ihrer Gewalt befreien, aber sie haben uns leider den Mast gekappt“, log Jack ungeniert.
„Ah, ja“, erwiderte Montrose mit einem hintergründigen Lächeln. „Ihr braucht nicht zu schwindeln, Captain Sparrow“, sagte er dann. „Ich habe eine Depesche aus London erhalten, dass sich Frankreich und Großbritannien im Krieg befinden. Es ist nicht verwunderlich, wenn die Franzosen Euch angegriffen haben sollten … Es grenzt an ein Wunder, dass Ihr es geschafft habt, ihnen zu entkommen. Ist der junge Gentleman dabei verletzt worden?“
„Aye.“
„Kann ich zu ihm?“
„Aye. Folgt mir bitte, Sir“, erwiderte Jack und führte Montrose in die Gästekajüte.
Elizabeth saß bei Will und tupfte dem Fiebernden sanft den Schweiß vom Gesicht. Der junge Mann atmete schwer und stoßweise. Montrose sah ihn betroffen an.
„Captain Sparrow, hier auf dem Schiff wird er sich nur schwerlich erholen. Bitte, lasst ihn in mein Haus bringen. Es soll ihm an nichts fehlen, und ich garantiere Euch dafür, dass Euch und Eurer Mannschaft nichts geschieht. Wer immer Euch verfolgt, wird merken, dass er sich mit den falschen Leuten anlegt, wenn er Paramaribo angreift.“
Jack rieb sich nachdenklich das Kinn. Ob der Gesandte bezüglich des Kriegsausbruchs die Wahrheit gesagt hatte, konnte er nicht feststellen. Er hatte durchaus schon Situationen erlebt, in denen man ihn mit falschen Informationen zur Preisgabe von Informationen hatte bringen wollen, die nicht für die lauschenden Ohren bestimmt war. Sein Gefühl warnte ihn vor einer Falle.
„Mr. Montrose, Jamie Einauge ist ein überaus geschickter Lügner, der sich auch schon bei den Franzosen eingeschmeichelt hat. Als er sich zurückzog, weil wir ihn beinahe versenkt hätten, drohte er damit, Monsieur de Lusac zu erzählen, wir hätten Gefangene aus dem Straflager befreit. Es könnte also sein, dass hier demnächst französische Kriegsschiffe auftauchen, um uns zu verhaften. Sollte es zum Krieg gekommen sein, wären die Holländer davon nicht zwanghaft betroffen und könnten uns schon deswegen an die Franzosen ausliefern“, warnte Jack. Montrose lächelte.
„Keine Sorge, Captain Sparrow. Ich werde dem hiesigen Gouverneur schon beibringen, dass Ihr damit nichts zu tun habt. Das verspreche ich Euch. Ihr seid hier völlig sicher, glaubt mir.“
Jack hatte noch Zweifel, doch dann sah er dem englischen Gesandten in die Augen. Montrose gehörte zu den Leuten, denen er durch die Augen bis auf den Grund des Herzens sehen konnte – und darin war keine Falschheit.
„Nun gut. Dann nehme ich Euer Angebot gern an, Minister Resident, und lasse Mr. Turner zu Euch bringen.“
Eine gute Stunde später befand Will sich in der Villa des Gesandten, Elizabeth wich ihm nicht von der Seite. Trotz der tropischen Hitze zitterte er vor Schüttelfrost am ganzen Leib, um bald darauf wieder Bäche zu schwitzen. Seine Frau wachte treu über ihn, trocknete ihm den Schweiß behutsam vom Gesicht und dem nackten Oberkörper. Das ohnehin starke Fieber nahm eine kritische Stärke an, die Elizabeth mithilfe von kühlen Kompressen zu lindern versuchte. Immer wieder rief Will im Fieber ihren Namen.
Schließlich versank die Sonne hinter dem tropischen Regenwald und fast augenblicklich wurde es dunkel. Nur das Licht eines dreiarmigen Leuchters durchbrach das Dunkel. Gierige Moskitos – angelockt vom Licht, Wills heftigem Schwitzen und seinem schweren Atem – wollten sich wie hungrige Vampire auf ihn stürzen, doch blieben sie in dem dichten, großen Moskitonetz hängen, das der Gesandte im Wissen um diese unliebsamen Plagegeister um das Himmelbett hatte legen lassen, das er dem jungen Paar zur Verfügung gestellt hatte.
Nach fast vollen zwei Tagen Bewusstlosigkeit und Dämmerschlaf erwachte Will langsam. Noch undeutlich erkannte er im Schein der Kerzen Elizabeth, die nahe bei ihm saß. Leise ächzend flüsterte er ihren Namen.
„Ich bin hier, Will“, erwiderte sie ebenso leise und küsste ihn.
„Das ist nicht die Pearl, oder?“, fragte er matt, als er sich suchend umgesehen hatte und nicht die inzwischen vertraute Umgebung der Gästekajüte auf der Black Pearl fand.
„Nein, wir sind in Paramaribo bei Mr. Montrose. Jerôme und dein Vater suchen heilende Kräuter im Urwald“, sagte sie. Will versuchte zu lächeln, aber seine Mundwinkel zuckten schmerzvoll.
„Hast du Schmerzen?“, fragte Elizabeth besorgt. Er nickte nur und biss die Zähne zusammen. Die Wunde an der Seite verursachte bohrende Schmerzen, die ihn immer mehr verkrampfen ließen. Elizabeths sanftes Streicheln löste den Krampf wieder etwas, schien sogar den stechenden Schmerz zu lindern. Es gelang Will, sich wieder vorsichtig zu entspannen.
„Wie … wie lange sitzt du schon bei mir?“, fragte er flüsternd.
„Fast die ganze Zeit. Ich konnte dich einfach nicht verlassen, nachdem ich dir versprochen hatte, auf dich Acht zu geben.“
Er rang sich ein Lächeln ab, hob mit viel Mühe die rechte Hand und streichelte ihre Wange.
„Danke“, flüsterte er und zog sie zu sich herunter. Ihr weiches, lockiges Haar legte sich sanft auf seine Haut, als sie in einem liebevollen, zärtlichen Kuss versanken.
„Bitte, Will, halt durch“, bat sie mit einem Anflug von Verzweiflung, als sie sich aus dem Kuss lösten. Er nickte.
Fast im selben Moment klopfte es an der Tür und Jack, Bill und Jerôme traten ein.
„Du wachst doch noch auf!“, entfuhr es Jack mit einiger Erleichterung, als er bemerkte, dass Will nicht mehr bewusstlos war. „Obwohl wir gehofft haben, dass du noch wenigstens so lange weg bist, bis Jerôme die Wunde gereinigt und mit den Kräutern gefüttert hat, die er und dein Vater gefunden haben. Aber jetzt …“
Dr. Savigny bedeutete Elizabeth, ihren Platz an Wills Lager zu verlassen, was sie nur zögernd tat.
„Pardon, Monsieur, ich muss Euch sehr wehtun …“, bat er schon vorsorglich um Verzeihung. Will nickte tapfer, Jack und Bill Turner hoben ihn etwas an, damit Jerôme den Verband öffnen konnte. Elizabeth wartete nur so lange, bis Jack sich entfernte und setzte sich dann auf die andere Seite des Bettes und nahm wieder Wills Hand. Der Arzt tauchte ein sauberes Leintuch in das heiße Wasser und begann, die Wunde vorsichtig, aber gründlich zu reinigen. Will stöhnte heftig auf, sein Vater musste ihn festhalten, damit er sich der Hand des Arztes nicht entziehen konnte. In übermächtigem Schmerz schrie er auf, verkrampfte sich und verlor erneut das Bewusstsein. Elizabeth tat es selbst weh, nicht nur, weil sie mit blankem Entsetzen die große Wunde sah und sich nur zu gut vorstellen konnte, welchen grausamen Schmerz es auslöste, diese offene Wunde mit heißem Wasser auszuwaschen; nein, sie hatte Wills Hand gehalten und er hatte in seinem Schmerz mit aller Kraft zugedrückt, hatte ihr mit seiner überaus kräftigen Schmiedhand fast die Hand zerquetscht. Dennoch war der Schmerz, den sie in der Hand empfand, nichts im Vergleich zu dem Stich, den ihr Wills allzu sichtbare Qual versetzte. Sein Kopf fiel kraftlos zur Seite, als er das Bewusstsein verlor.
„Will!“, rief sie verzweifelt, doch er reagierte nicht.
Jack fasste sie vorsichtig an der Schulter und rüttelte sie sanft, aber bestimmt.
„Lass’ es, Liebes. Ist im Moment besser für ihn“, hielt er sie davon ab, Will wieder zu Bewusstsein zu bringen. Elizabeth sah ihn an und bemerkte in Jacks Augen einen ähnlichen Schmerz wie den, den sie selbst empfand.
„Jack, du hast einiges abbekommen, wie ich weiß“, sagte sie. Er nickte.
„Ist es dir schon mal so schlecht gegangen?“, fragte sie dann. Jack schob den linken Ärmel hoch. Drei lange, gezackte Narben wurden sichtbar, die sich von der Armbeuge bis fast zum Handgelenk zogen.
„Aye“, sagte er, „ich hätte mir beinahe einen Haken anmessen lassen können, allerdings schon am Ellenbogen, Liebes. Hat nicht viel gefehlt und ich hätte den linken Unterarm mal verloren. Man soll mit Haien eben nicht diskutieren wollen. Ohne Bill hätte ich schon die Haiattacke nicht überlebt. Und den Arm habe ich nur mit dem Captain Jack Sparrow eigenem Glück behalten. Aber da ging es mir ähnlich schlecht wie jetzt Will.“
Jerôme versorgte währenddessen die tiefe Wunde an Wills Seite, aber sein zweifelnder Gesichtsausdruck blieb.
Erst drei Tage später ging es Will dann deutlich besser. Die Heilkräuter taten ihre Wirkung und das Fieber ging langsam zurück, und er konnte endlich in Ruhe schlafen. Doch nun war es Elizabeth, die vor Erschöpfung umfiel. Jack, der eigentlich nur kurz nach den jungen Leuten sehen wollte, bevor er sich schlafen legte, fand sie ohnmächtig neben Wills Bett.
„Elizabeth!“, rief er und klopfte sie wach. Nur langsam kam sie wieder zu sich.
„Hmm? Jack, bist du das?“
„Aye!“, grunzte er. „Sag mal, wann hast du zuletzt geschlafen, Mädchen?“
Elizabeth versuchte zu lächeln, aber es gelang nicht recht.
„In der Nacht, bevor wir in Cayenne gelandet sind“, murmelte sie schließlich. Jack hob sie auf.
„Du solltest dich ausruhen. Komm, geh’ ins Bett, Schätzchen“, empfahl er mit einem ebenso sanften wie schelmischen Lächeln.
„Ich könnte jetzt nicht schlafen, Jack“, widersprach sie. „Nicht, solange Wills Leben noch in Gefahr ist.“
Jack grinste schief.
„Erstens war es das die beiden Male, die wir nach dir gesucht haben, um dich zu retten …“
„Da wusste ich’s nur nicht …“, unterbrach sie ihn.
„… und zweitens wirst du jetzt in die Koje neben Will hoppen, wo du hingehörst, klar soweit? Und wenn du dann immer noch nicht schlafen kannst, bekommst du den Schlaftrunk der Piraten!“
„Was?“, erkundigte sie sich verblüfft. Jacks Grinsen wurde noch breiter und glänzte golden.
„Rum, Schätzchen.“
„Hat schon mal nicht funktioniert …“, warnte sie in Anspielung auf den Tag und die Nacht, als Barbossa sie und Jack auf der „Rumschmugglerinsel“ ausgesetzt hatte.
„Aye, aber diesmal helfe ich nach, damit du nicht wieder nur so tust, als ob du trinkst“, kicherte Jack und deutete einen schamlosen Mambo an.
„Ooohhh, Jack!!!“, fauchte sie und wehrte sich gegen ihn, doch Jack hielt sie fest.
„Pira-a-t!“, grinste er. „Komm, Liebes. Du hilfst Will nicht, wenn du auch noch zusammenklappst“, warnte er. Elizabeth sah ihn müde an. Er hatte ja so Recht! Dankbar umarmte sie ihn und drückte ihm einen scheuen, töchterlichen Kuss auf die Wange, den Jack mit einem sanften Lächeln zur Kenntnis nahm.
„Danke, Jack“, sagte sie. „Und jetzt geh’ bitte.“
„Du gehst bestimmt schlafen?“
„Aye, Captain, versprochen“, erwiderte Elizabeth. Sie hob die Hand zum Schwur. „Piratenehrenwort.“
Er nickte nur und verließ leise das Zimmer.
Als er eine Stunde später nochmals nachschaute, lag Elizabeth dicht an Wills linke Seite gekuschelt. Er hatte sie im Schlaf umarmt und lächelte glücklich. Jack sah sein freundliches Lächeln, das wie immer einfach ansteckend war. Leise schloss der Pirat die Zimmertür und schlich durch das bereits dunkle Haus in das Gästezimmer, das Mr. Montrose ihm zur Verfügung gestellt hatte.
Elizabeth erwachte, als die Sonne gerade über dem östlichen Horizont aus dem Meer auftauchte und das Zimmer mit rotgoldenem Licht flutete. Das sanfte Streicheln an ihrer Schulter ließ sie zufrieden schnurren und sich noch dichter an Will schmiegen. Sein Körper war nach wie vor fieberheiß, aber nicht mehr so extrem wie in den vergangenen Tagen. Sie sah auf und blickte in warme, nussbraune Augen, ein sanftes Lächeln, das um seine Mundwinkel spielte. Sie richtete sich halb auf und beugte sich zu ihm. Ihre Lippen fanden sich zu einem zärtlichen Kuss voller Liebe und Wärme.
„Elizabeth“, flüsterte er, noch matt.
„Will. Guten Morgen, Geht es dir besser, Liebster?“
„Ja. Wo bin ich?“
„Immer noch in Paramaribo. Mr. Montrose hat angeboten, dass wir – also auch die Black Pearl samt Crew – hier bleiben können, bis du wieder gesund bist.“
„Ob Jacks Mannschaft das mitmacht? Sie haben lange keine Beute mehr gemacht. Ich möchte nicht, dass sie deshalb noch meutern.“
Elizabeths Lächeln wurde breiter.
„Weißt du“, sagte sie dann langsam, „in den letzten Tagen waren alle, aber auch wirklich alle Mann hier und haben dich besucht. Sie waren alle recht geknickt, dass du so schlecht dran bist. Die vermissen dich richtig.“
„Trotzdem, es sind und bleiben … Piraten … und die wollen irgendwann Beute sehen. Ich werde Jack sagen, dass sie …“
Elizabeths Zeigefinger legte sich sanft auf seine Lippen und verbot ihm, weiter zu sprechen. Sie schüttelte den Kopf.
„Gar nichts wirst du, mein Herz. Du wirst dich schön brav erholen und Jack und seine Crew werden bleiben oder fahren, wenn es ihnen beliebt und uns später abholen.“
Will grinste.
„Genau das wollte ich ihm sagen, Liebes“, erwiderte er, zog sie an sich und küsste sie.
Kapitel 11
Vater und Sohn
Es klopfte.
„Moment!“, rief Elizabeth, wickelte sich aus dem dünnen Laken und zog sich rasch etwas an. „Herein!“, rief sie dann, als sie so etwas wie salonfähig war. Die Tür öffnete sich und Bill Turner trat ein.
„Guten Morgen“, wünschte er mit einem echten Turner-Lächeln.
„Morgen, Paps“, erwiderte Elizabeth und bedachte ihren Schwiegervater mit einem flüchtigen Kuss auf die stoppelige Wange.
„Nicht schlecht, so begrüßt zu werden“, grinste er. „Wie geht’s dir, Will?“, fragte er dann an seinen Sohn gewandt.
„Etwas besser. Elizabeth hat mir gerade gesagt, dass ihr auch hier bleiben wollt, bis ich wieder stehen kann.“
Bill setzte sich in einen bequemen Sessel am Bett. Elizabeth setzte sich gegenüber an Wills Lager.
„Aye. Jack und ich sind uns mit der Crew an der Stelle einig, dass wir nicht ohne euch beide Paramaribo verlassen. Jerôme meint, du hast nur hier eine Chance zu überleben, mein Junge. Die Kräuter, mit denen er dich behandelt hat, wachsen keine dreihundert Yards weit im Urwald, und ohne die würdest du nicht mehr leben. Du scheinst ohnehin ein recht zähes Kerlchen zu sein, Sohn. Ich habe schon Leute mit solchen Wunden sterben sehen.“
Unbewusst tastete Will den Verband ab, der die Wunde verschloss.
„Ich denke, es grenzt an ein Wunder, dass ich überhaupt bis hier lebend gekommen bin. Vor allem danke ich euch, dass ihr mich nicht dem Kodex gemäß zum Sterben zurückgelassen habt“, erwiderte er dann.
„Du kennst dich damit aus?“, erkundigte sich Bill.
„Na ja, ich bin mit einer Frau verheiratet, die ich als Expertin in Sachen Piraten bezeichnen würde.“
„Und du? Bist du kein Pirat?“
Will grinste schief.
„Nein, das bin ich nicht. Mutter hat mich jedenfalls gelehrt, dass es besser ist, Piraten aus dem Weg zu gehen“, erwiderte er. Bill musterte ihn eine Weile.
„Was hättest du gesagt, wenn du mich damals gefunden hättest und erfahren hättest, dass ich Pirat bin?“, fragte er.
„Ich wäre wahrscheinlich vor Schreck in Ohnmacht gefallen. Ich habe es Jack einfach nicht glauben wollen, als er mir das sagte“, entgegnete Will und musterte seinen Vater ebenfalls eingehend. „Warum bist du Pirat geworden, Vater?“, fragte er dann direkt. „Und wusste Mutter es und hat es mir verschwiegen, oder wusste sie es selbst nicht?“
Bill seufzte tief.
„Ich fang’ mal bei der zweiten Frage an: Nein, sie wusste es nicht. Sie hatte nicht den leisesten Schimmer, dass ich Pirat war – und bin. Na ja, jetzt wird sie’s wohl wissen schätze ich“, grinste Bill schief und wies mit dem Daumen gen Himmel. „Zu deiner ersten Frage: Ich war ein braver Handelsmariner, wurde von der Royal Navy in Port Royal geschanghait und wollte auskneifen – was mir leider misslang und mir ein Todesurteil wegen Fahnenflucht und Meuterei einbrachte. Jack Sparrow versenkte die Achilles und befreite mich damit so nebenbei. Zu verlieren hatte ich nichts mehr, und eine normale, bürgerliche Existenz, die ich vorgezogen hätte, verhinderte das Todesurteil. Ich konnte nur noch hoffen, den Zeitpunkt der Vollstreckung so lange wie möglich hinauszuzögern und vielleicht im Kampf zu sterben statt wie ein abgehängter Fasan zu zappeln, bis das Genick bricht. Ist kein Spaß, gehängt zu werden, Sohn. Deshalb bin ich bei Jack auf der Black Pearl geblieben und wurde Pirat. War ein einträgliches Geschäft, aber verdammt gefährlich. Vor allem, wenn es innerhalb der eigenen Mannschaft Piranhas und Haie gibt – solche wie Barbossa und Twigg“, erklärte Bill.
„Wirst du bei Jack bleiben, Pa?“, fragte Will und schloss wieder die Augen, weil das Gespräch ihn doch mehr anstrengte, als er zunächst hatte glauben wollen.
„Ja, das werde ich“, erwiderte Bill. „Oder was sollte ich deiner Meinung nach tun, mein Sohn?“
„Ich bin dein Sohn, nicht dein Herr, Vater. Es war nur eine einfache Frage.“
„Kannst du damit leben, einen Piraten als Vater zu haben?“
„Ich lebe seit gut einem halben Jahr damit. Anfangs hat es mich erschreckt, aber – wie Jack es mir damals sagte – ich habe mich damit angefunden, dass mein Vater ein Pirat ist – und ein guter Mann.“
„Aber du bist damit nicht einverstanden, oder?“, hakte Bill nach. Will schüttelte den Kopf.
„Jack ist Pirat, und er ist mein Freund, weil er trotzdem ein gutes Herz hat, Vater. Jack tut gern so, als wäre er ein Scheusal – aber davon ist viel Fassade und Tarnung. Er ist ein Gauner, ein Dieb, ein Räuber, behauptet von sich, unehrlich bis ins Mark zu sein; aber das ist nur der halbe Jack Sparrow. Die andere Hälfte ist ein treuer Freund, einer zwar, dem man nur mit Mühe in die Karten schauen kann, aber unmöglich ist es nicht“, erklärte Will. Sein Vater nickte zufrieden. Was Jack betraf, teilten sie die Einschätzung.
„Würdest du für ihn das Leben riskieren?“
„Hab’ ich schon“, grinste Will. „Es war einfach nicht Recht, ihn hängen zu wollen, nachdem er Elizabeth und mich gerettet hatte.“
„Und was machst du, wenn du nicht mit Jack segelst?“
„Ich bin Waffenschmied.“
„Waffenschmied?“
„Ja.“
„Gut?“
Will zuckte mit den Schultern, was seine Verletzung prompt übel nahm und sich mit einem scharfen, stechenden Schmerz rächte. Will stöhnte unterdrückt auf.
„Weißt du das etwa selber nicht, mein Junge?“, kicherte Bill.
„Urteile selbst, ob meine Kunst was taugt. Der Säbel, den du trägst, ist von mir“, erwiderte Will mit einem leisen Ächzen.
William senior stand auf, zog den Säbel und machte probehalber einige Hiebe in dem großen Raum.
„Hmm, ausgewogen“, murmelte er dann.
„Leg’ ihn dir mal an der Fehlschärfe auf einen Finger“, empfahl Will mit einem Lächeln. Sein Vater tat es und der Säbel blieb exakt in der Waagerechten.
„Donnerwetter, wo hast du das gelernt?“, entfuhr es dem älteren Turner.
„Also, nicht bei meinem Meister, Paps“, grinste Will. „Ich habe lange herum probiert, bis ich das Verhältnis hinbekam. Zum Glück hat mein Meister von meinen Experimenten nichts gemerkt. Als Lehrling durfte ich ja keine eigenen Ideen einbringen.“
Stiefelriemen grinste.
„Piraterie nennt man so was!“
„Nenn’ du es Piraterie, ich nenne es erfinden“, wehrte Will ab. Sein Vater schnippte die Waffe hoch und fing sie geschickt wieder auf, um sie in der Scheide zu versenken.
„Nun, wenn du es nicht durftest, war es illegal, mein Sohn. Und jemand, der etwas außerhalb der Legalität tut, den nennt man in dieser Gegend Pirat!“, grinste er. Will gab sich geschlagen.
„Nun, dann bin ich wohl ein Pirat“, erwiderte er mit einem Lächeln. „Inzwischen bin ich aber selbst Meister und die Schmiede gehört mir.“
„Einträglich?“
„Ja, einigermaßen.“
Bill sah seinen Sohn offen an.
„Ich glaube, du neigst zum Untertreiben, mein Sohn.“
„Sagen wir: Ich habe gelernt, bescheiden zu sein. Als ich in die Karibik kam, besaß ich nicht mehr als das, was ich gerade noch auf dem Leibe hatte. Ich war eine dreizehnjährige Halbwaise, als ich England verließ und erfuhr auf Jamaica, dass du wohl tot warst, untergegangen mit der Seagull. Dass du längst nicht mehr an Bord warst, als der Kahn auf den Meeresgrund sank, wusste ich ja nicht – und auch sonst keiner. Folglich galt ich als Vollwaise und hatte unverschämtes Glück, dass Governor Swann so viel von mir hielt, dass er mich nicht in ein Waisenhaus steckte und dass er es mir ermöglichte, eine Lehre in einem Handwerk zu machen, das mich schon immer fasziniert hat. Dieses Glück wollte ich nicht durch allzu großspuriges Verhalten gefährden – und ich bin damit gut gefahren“, erwiderte Will.
„Kannst du eigentlich mit den Dingern, die du machst, umgehen?“
„Ja, aber den Beweis kann ich jetzt nicht antreten. Ich bin Rechtshänder.“
„Käme jetzt Barbossa durch diese Tür …“
„… wäre ich schlicht auf deinen Schutz angewiesen“, vollendete Will den Satz. „Ich bin froh, überhaupt schon ein längeres Gespräch führen zu können. Kämpfen könnte ich heute nicht.“
Stiefelriemen nickte.
„Du kennst deine Grenzen. Aber du solltest lernen, sie für dich zu behalten“, erwiderte der Vater mit einer deutlichen Warnung in der Stimme.
„Womit du mir sagen willst, ich sollte nicht so vertrauensselig sein, hm?“, mutmaßte Will. „Du bist mein Vater. Wenn ich dir nicht vertrauen kann, wem dann?“
„Du bist hier unter Piraten, mein Sohn!“, warnte Bill erneut.
„Bis ich Jack begegnet bin, war ich der festen Überzeugung, es gäbe nichts Schlimmeres als Piraten, Vater. Aber seit ich Jack und seine Crew kenne, ist mir klar geworden, dass es Piraten und Piraten gibt – solche wie Barbossa und solche wie Jack, na ja, und dich. Der einen Sorte traue ich keine drei Schritte weit, bei der anderen sehe ich das nicht gar so eng. Und wenn ich dir nicht trauen kann, könnte ich mir selber nicht mehr trauen. Wir sind uns ziemlich ähnlich – nicht nur vom Äußeren, Vater“, entgegnete Will und kämpfte die wieder aufkommende Schwäche mit aller Energie nieder, die ihm verblieben war. Sein Vater nahm mit einer geradezu sanften Geste die rechte Hand seines Sohnes.
„Aye, du hast Recht – und auch nicht. Du weißt, dass ich an der Meuterei beteiligt war, oder?“
„Du meinst Barbossas Meuterei?“
„Aye“
„Ich wäre überrascht, wenn du wirklich daran beteiligt gewesen wärst, oder habe ich mich so in dir geirrt? Das glaube ich nicht, Paps.“
„Und warum glaubst du das nicht?“
„Jack sagte mir, sein spezieller Kompass sei ein Geschenk von dir …“
„Aha“
„Stimmt das?“, fragte Will.
„Aye, stimmt“, bestätigte sein Vater.
„Er hat ein kleines Geheimnis – und du kennst es“, versetzte Will und kniff leicht die Augen zusammen.
„Aye“, gab Stiefelriemen zu.
„Und genau deshalb glaube ich nicht, dass du wirklich auf Barbossas Seite warst.“
„Was hat der Kompass oder sein kleines Geheimnis damit zu tun?“, fragte Bill harmlos.
Mit einiger Mühe brachte Will es fertig, sich aufzurichten.
„Es ist unter Piraten nicht üblich, einem Ausgesetzten einen funktionsfähigen Kompass zu überlassen, schon gar nicht einem gewitzten Navigator wie Captain Jack Sparrow. Du hast es zugelassen, dass Jack den Kompass mitnahm. Ich glaube nicht, dass du zu blöd warst, nicht an den Kompass zu denken, der immerhin von dir war. Du wolltest Jack helfen – entweder damit, dass er mithilfe des Kompasses von der Insel entkommen konnte oder durch eine Gegenmeuterei, die dir aber nicht gelungen ist. Ich weiß von Pintel und Ragetti, dass du mit der Meuterei nicht einverstanden warst“, erklärte Will. Bill zog die Augenbrauen hoch. Was wusste der Junge noch?
„Woher weißt du, dass gerade die beiden Schwindler dir die Wahrheit gesagt haben?“
Will lächelte.
„Weißt du, wenn jemand eingesperrt unter Deck sitzt, ohne die geringste Chance sich zu verdrücken, dann muss man nicht lügen und ihm Märchen auftischen, um sich vor ihm vielleicht zu schützen. Sie hatten wirklich keinen Grund, mir die Unwahrheit zu erzählen, denn eingesperrt in der Brig und mit der Aussicht, demnächst eine unbekannte Menge Blut hergeben zu müssen, hätte ich ihnen nicht auf die Füße treten können, um etwas Genehmeres zu hören“, versetzte Will.
„Du bist nicht zu täuschen, Junge. Alle Achtung. Jack sagte mir, dass du mich ihm gegenüber mit genau diesen Argumenten verteidigt hast, ohne dass wir uns gesehen und gesprochen hatten. Du bist ein kluger Mann, Will, trotz deiner zweiundzwanzig Jahre, mein Junge. Ich kenne nur einen Menschen in meiner Bekanntschaft, der anhand solcher Indizien einen anderen durchschaut – und das ist Jack Sparrow.“
„Also, das mit dem Kompass war Jack nicht klar“, grinste Will. „Aber jetzt bin ich auf deine Version dazu gespannt, Vater. Was ist wirklich geschehen?“
„Willst du es detailliert wissen?“
„Aye!“
„Schön, dann fange ich ziemlich weit hinten an: Also, Jack und ich waren auf Cozumel gewesen, einer Insel vor der Küste Mexikos. Irgendwo im Urwald hörten wir plötzlich Hilfeschreie, die sehr nach einem unserer Leute klangen. Wir eilten dorthin, fanden aber nur einen alten Aztekenindianer, der blutend am Boden lag. Wir wollten ihm helfen, aber er hatte keine Chance mehr, und das wusste er irgendwie. Dann murmelte er etwas von einem Schatz, und dass wir den Schatz retten sollten, damit er nicht in falsche Hände geriet. Er warnte mich, dass wir ja kein einziges Stück aus der Truhe nehmen sollten, sonst würde uns der Fluch treffen, wir würden bestraft für alle Ewigkeit – außer alle Stücke würden wieder vereint und jeder, der etwas aus der Truhe entfernt hatte, gäbe auch etwas von seinem Blut dazu. Er sagte mir noch dazu, dass der Schatz einmal dem Konquistador Cortés selbst geliefert wurde, um seine blutigen Eroberungen zu beenden, doch das Gold habe genau das Gegenteil bewirkt, weshalb es eben verflucht wurde.
Jack fragte ihn, wo denn der Schatz sei und der sterbende Indianer gab ihm die Position der Isla de Muerta. Dazu sagte er ihm noch, dass niemand diese Insel finden könne, außer man wisse schon, wo sie liegt und er sagte uns, dass wir nach ihm die Einzigen seien, die die Position nun noch wüssten. Er warnte uns nochmals, ja nichts selbst davon zu nehmen und dann starb er.
Wir haben ihn begraben und dann einen Freudentanz aufgeführt. Die Sache mit dem Fluch nahmen wir nicht wirklich ernst, und außerdem hatten wir als Piraten ein sehr einseitiges Gehör. Wir hörten nur Schatz, und die Gier hatte uns gepackt, weil wir seit längerer Zeit keine anständige Beute gemacht hatten und Jack dringend etwas brauchte, um die Mannschaft wieder ruhig zu stellen. Jack war damals noch nicht lange Captain der Black Pearl, vielleicht drei Jahre. Er war noch jung und nicht wirklich erfahren und hatte noch eine Menge jugendliches Ungestüm.“
„Wie alt war Jack?“, erkundigte sich Will.
„Als das passierte? Noch nicht mal dreißig. Er wurde paar Monate nach der Meuterei erst neunundzwanzig Jahre alt. Für einen erfolgreichen Piratencaptain war Jack ausgesprochen jung. Jack betrachtete seine Crew nicht nur als Crew. Wir waren eine ziemlich verschworene Gemeinschaft, auch wenn man sich bei Barbossa, Twigg, Koehler und Bo’sun nicht ganz sicher sein konnte. Es rumorte in der Mannschaft, weil wir lange keine richtige Beute mehr gemacht hatten. Barbossa war der Wortführer der Unzufriedenen. Es drohte eine Meuterei, das war Jack nur nicht ganz klar. Ich hatte ihm empfohlen, die Position nicht preiszugeben, weil ich Barbossa nicht bis zum Niedergang traute. Aber Jack sah keinen Grund, seinem Ersten Maat nicht zu vertrauen. Als Barbossa ihn nach den Teilungsmodalitäten fragte, war Jack zunächst sehr überrascht und sagte:
‚Wie immer – zu gleichen Teilen, Hector.’
Worauf Barbossa sagte:
‚Gut, dann gilt das auch für den Fundort des Schatzes. Den darfst du dann nicht für dich behalten, sonst entsteht der Eindruck, du willst alles für dich allein.’
‚Wenn ich das wollte, Barbossa, würde ich nicht mit dir und einer Crew von mehr als dreißig Mann dahin segeln!’, erwiderte Jack, aber Barbossa beharrte darauf, dass er nach dem Kodex die Position allen mitzuteilen hatte. Jack gab nach, weil er nicht den Verdacht aufkommen lassen wollte, auch nur ein einziges Goldstück mehr für sich zu beanspruchen, als ihm nach dem Grundsatz jedem der gleiche Anteil zustand. Er gab also die Position der ganzen Mannschaft bekannt und ich erzählte von dem Fluch, allerdings ohne auf die Lösungsmöglichkeit hinzuweisen. Aber da wir beide es schon nicht ernst genommen hatten, brachen alle anderen erst recht in Gelächter aus.
Jack hat eine Eigenschaft, die ich an ihm mehr als nur schätze: Wenn er etwas durch Verhandlungen erreichen kann, tut er es. Er kann seine Verhandlungspartner so besoffen reden, dass die glauben, alles von sich aus getan zu haben und gar nicht auf die Idee verfallen, ausgeplündert worden zu sein. Die Black Pearl galt bis zu jener Meuterei als eines der willkommensten Piratenschiffe in der Karibik, eben wegen Jacks Verhandlungsgeschick. Barbossa fand diese Art gar nicht gut. Er war ein Verfechter davon, die Angegriffenen zu massakrieren und möglichst wenig Überlebende zu hinterlassen. Es kam deshalb häufiger zu Streit zwischen Jack und Barbossa. Als unser damaliger Erster Maat etwa ein halbes Jahr vor der Meuterei bei einem Überfall getötet wurde, schwankte Jack, wem er diesen verantwortungsvollen Posten übertragen sollte und entschloss sich, Barbossa zum Ersten Maat zu machen. Vielleicht befürchtete er schon zu dem Zeitpunkt eine Meuterei, denn Barbossa war nicht der Einzige, der zu solcher Gewalttätigkeit neigte. Meine Empfehlung, sein Wissen um die Position nicht preiszugeben, kam nicht von ungefähr. Ich hatte den Eindruck gehabt, Barbossa wäre mit seiner Position als zweiter Mann an Bord noch nicht zufrieden, und ich hatte mitbekommen, dass er etwas plante. Ich glaube, das ist der einzige Rat von mir gewesen, den Jack jemals ausgeschlagen hat und der einzige Fehler, den er beging, solange wir uns kannten.
Also, Barbossa wusste, was er wissen wollte – und die Meuterei nahm ihren Lauf, denn damit brauchte er Jack nicht mehr, um die sagenhafte Insel zu finden. Ich hatte schon geschlafen, als ich wachgerüttelt wurde – und Barbossa neben meiner Hängematte stand und mir einen Dolch an die Kehle hielt.
‚Du machst doch mit, Stiefelriemen, oder?’, fragte er mich. Ich hatte nicht den Mut, mich der ganzen Crew entgegenzustellen, also nickte ich und fing doch gleich an, zu planen, wie ich Jack retten konnte. Bo’sun, Twigg und Koehler holten Jack aus der Koje und verprügelten ihn an Deck nach Strich und Faden, bis er sich nicht mehr rührte. Barbossa verlangte einen Vorschlag, wo wir Jack aussetzen konnten. Mir fiel eine kleine Insel ein, die ich noch aus meiner Zeit bei der Handelsmarine kannte. Ich wusste, dass dort Rumschmuggler ein Depot hatten und hatte dort auch ein Boot gesehen, das sie dort versteckt hatten. In der Hoffnung, dass alles noch so war und dass Barbossa um die Besonderheit dieser Insel nicht wusste, empfahl ich ihm diese Insel.
Barbossa ließ Jack seinen Gürtel und eine Pistole mit einem Schuss und auch den Kompass, von dem er annahm, dass er nicht funktionierte, und ich habe mich gehütet, ihm etwas Gegenteiliges zu sagen. War ja für Jack die einzige Chance, den Weg nach Tortuga oder sonst wohin zu finden.
Als Jack dann auf der Planke stand, warf er mir einen Blick zu, den ich nie vergessen werde: Einerseits völlig hilflos, andererseits so zornig, dass ich beschloss, ihn so schnell wie möglich zurück zu holen, um ihm zu beweisen, dass ich die Meuterei nicht wirklich mitgemacht hatte.
Wir segelten also in Richtung der Isla de Muerta und ich habe schon mal angebracht, dass es gegen den Kodex war, Jack auszusetzen. Noch bevor wir die Isla de Muerta erreichten glaubte ich, genügend Leute auf meiner Seite zu haben, um eine Gegenmeuterei anzuzetteln. Sie ging schief. Sie ging so was von schief! Ich fand mich samt meiner Mitmeuterer in der Brig wieder, grün und blau geschlagen.
Als wir die Insel erreichten, bot Barbossa mir Bewährung an. Ich sollte die Männer führen und ich tat es. Wir nahmen den Schatz an uns, doch tat sich erst einmal nichts, was auf den Fluch hinwies. Es war Neumond in jener Nacht, so dass wir nicht sahen, was das Mondlicht aus uns machte. Wir bemerkten also nichts – außer, dass uns das Essen nicht schmeckte, wofür wir aber den Smutje verrollten. Dann merkten wir, dass weder Wasser noch Rum noch Wein den Durst löschten, aber wenn das der ganze böse Fluch war, na gut, damit konnte man vielleicht irgendwie leben.
Wir kamen wieder nach Tortuga und gerieten in eine Kneipenkeilerei, bei der ich so von einem Säbel durchbohrt wurde, dass ich eigentlich hätte tot sein müssen. Mir fehlte aber nichts weiter, außer dass ich fürchterliche Schmerzen hatte. Die anderen hatten nicht gemerkt, dass der Stich bei mir eigentlich hätte tödlich sein müssen, und ich verabschiedete mich, um einen Arzt aufzusuchen. Es war Nacht, und der Mond schien –, und dann sah ich die Bescherung. Plötzlich wurde mir klar, der alte Indianer hatte die Wahrheit gesagt. Für alle Ewigkeit hieß, dass die Verfluchten nicht sterben konnten, und der Umstand, dass uns nichts mehr schmeckte, nichts den Durst löschte und wir keine angenehmen Empfindungen mehr hatten, war unsere Strafe.
Ich bin schnurstracks zum Postmeister gestiefelt, hab’ an dich geschrieben und dir eins von den Medaillons geschickt, Will. Erstens war es ein schönes Geschenk zu deinem elften Geburtstag, zweitens konnte der Schatz damit nicht mehr zusammengebracht und der Fluch nicht mehr gebrochen werden – jedenfalls nicht ohne mein Zutun – und drittens war das für mich eine Rückversicherung, dass Barbossa mich nicht töten konnte. Dass er selbst nicht sterben konnte, musste ich ihm ja nicht unbedingt erzählen. Die anderen kamen erst am nächsten Morgen aus der Kneipe und wussten noch immer nichts vom wahren Ausmaß des Fluchs.
Wir hatten inzwischen gute Beute gemacht, und Barbossa erkor die Isla de Muerta zu unserem Beuteversteck. Auch in der Hinsicht hatte der alte Indianer die Wahrheit gesagt. Die Isla de Muerta liegt fast das ganze Jahr im Nebel und ist so von Riffen umgeben, dass die Passagen nur mit großer Mühe zu finden sind. Die Insel findet wirklich nur der, der weiß, wo sie ist.
Wir segelten also wieder dorthin und auf dem Weg dorthin merkten alle, dass sie im Mondlicht zu Skeletten wurden. Ich packte die Gelegenheit beim Schopfe und unternahm einen zweiten Versuch gegen Barbossa zu meutern, habe darauf hingewiesen, dass sie zu Recht verflucht seien und es ewig bleiben würden – außer sie würden mir jetzt folgen; meine Bedingung sei aber, dass wir Jack zurückholen würden.
Barbossa wurde darauf richtig zornig und ich bezog erneut Prügel von der ganzen Mannschaft. Um zu verhindern, dass ich noch einen dritten Versuch unternahm, wollte Barbossa mich töten, aber er wollte mich nicht einfach erstechen, nein ich sollte absaufen. Ich bekam noch einen Tritt unters Kinn – und dann war’s Nacht.
Als ich wieder aufwachte, fand ich mich auf dem Grund der Passage vor der Isla de Muerta wieder. Der Fluch bewirkte, dass ich nicht sterben konnte. Aufgehoben werden konnte er ja nicht ohne mein Blut und ohne das fehlende Medaillon, das ich dir geschickt hatte, Will. So konnte ich in Ruhe warten, bis die Lederriemen, mit denen Barbossa mich gefesselt hatte und mir die Kanone als Gewicht an die Füße gehängt hatte, aufgeweicht waren, so dass ich mich davon befreien konnte.
Ich fand in einem der Wracks einen Kompass und wanderte unter Wasser nach Santo Domingo, wo ich mich versteckte. Dort gab es immer Nachrichten von Piraten, aber auch sonstige Schiffsmeldungen. So erfuhr ich, dass die Black Pearl nicht lange, nachdem sie mich hatten über Bord gehen lassen, zum gefürchteten Geisterschiff voller Verfluchter wurde. Nahezu jeder Überfall wurde ihr zugeschrieben. Ich erfuhr noch, dass deine Mutter gestorben war und dass du dich auf der Dragonfly in Richtung Karibik eingeschifft hattest …“
Wills Hand ließ Stiefelriemen stocken.
„Wie hast du das erfahren?“, fragte der junge Mann.
„Ich habe nach Hause geschrieben, um mich zu melden, was ohnehin sehr verspätet war. Aber bis dahin hatte ich immer noch das Todesurteil im Nacken, und das konnte mir jetzt nicht mehr schaden. Dennoch wollte ich nicht unnötig auf mich aufmerksam machen, aber wenigstens ihr beide solltet wissen, dass ich noch lebte. Mit dem Brief habe ich deine Mutter gebeten, mir mit dir zu folgen. Ich bekam den Brief zurück. Euer Nachbar Miller schickte ihn zurück und schrieb mir dazu, dass deine Mutter tot war und er dich zuletzt gesehen hatte, als du im Hafen mit Onkel Charlie eine Schiffskarte für die Dragonfly gekauft hattest, die am folgenden Tag nach Port Royal ausgelaufen war. Die Nachricht war ein Schock für mich, denn ich hatte in Santo Domingo auch gehört, dass die Dragonfly angeblich von der Black Pearl versenkt worden war und dass es angeblich keine Überlebenden gab“, erwiderte Bill Turner. „Stimmt das eigentlich?“, fragte er dann. Will nickte.
„Ja, das stimmt. Ich wusste es damals noch nicht, wer uns überfallen hatte. Erst, als Barbossa Elizabeth wegen des Medaillons entführte, das du mir geschickt hattest, bin ich dahinter gekommen, dass der Überfall auf die Dragonfly auch auf Barbossas Konto ging. Außer mir hat auch tatsächlich keiner den Überfall überlebt“, erklärte Will.
„Weißt du, fast alle Überfälle wurden in der Zeit der Black Pearl zugeschrieben. Sie galt als Geisterschiff voller Verfluchter und da war es leicht, diesem Schiff alles unterzujubeln, was an Katastrophen geschah. Ich wusste nur sicher, sie hatten weder das Medaillon noch dich, denn der Fluch blieb bestehen. Ich wähnte mich also völlig sicher, wagte mich aus meinem Versteck, suchte mir ein paar Sachen, die ich auch als lebender Leichnam gebrauchen konnte – ein paar Kleider, Stiefel, einen Hut. Essen und Trinken nützten mir ja nichts. Irgendwann tauchte auch Jack wieder auf. Ich war froh, dass mein Plan wohl wenigstens soweit geklappt hatte und machte mich auf die Suche nach ihm. Aber ich kam immer ein bisschen zu spät. Ob Tortuga, Port Royal, Kuba, Santo Domingo – Jack war mir stets eine Nasenlänge voraus. Auf Martinique hatte ich Pech: Ein Polizist erkannte mich und schneller, als ich bis drei zählen konnte, war ich verhaftet, verurteilt und auf dem Weg nach Cayenne.
Vor etwa einem halben Jahr stand ich dann bei Nacht im Mondlicht und war keine lebende Leiche mehr. Fortan brauchte ich wieder Wasser und Nahrung zum Überleben. Jerôme war meine Rettung in der Zeit. Er half mir, wo er konnte. Er besorgte auch die Flasche für die Flaschenpost. Ohne viel Hoffnung schickte ich sie über den Urwaldfluss. Ich nehme an, jemand hat sie Jack gegeben, sonst hättet ihr nicht gewusst, wo ich bin, oder?“
„Ja, stimmt. Aber sie hat einige Umwege gemacht, bis Jack sie bekam und er mich und Elizabeth alarmieren konnte“, sagte Will. Stiefelriemen nickte.
„Als der Fluch aufgehoben war, gab es zwei Möglichkeiten: Entweder hatte der alte Azteke nicht ganz die Wahrheit gesagt oder du warst noch am Leben und hattest dein Medaillon und dein Blut zur Lösung des Fluchs hergegeben. Elizabeth hat mir gesagt, dass es Letzteres war. William, als du den Fluch gelöst hast, hast du da an mögliche Folgen für mich gedacht?“, fragte Bill. Will biss sich verlegen auf die Lippe.
„Ich habe gehofft, dass ich diese Frage nie von dir höre, Vater“, erwiderte der junge Mann. „Aber ich muss einräumen, dass ich in dem Moment wohl nicht daran gedacht habe, sondern nur an Elizabeth und mich“, bekannte er dann. „Jack war praktisch in Sicherheit, denn er hatte sich eines der Medaillons gegriffen und war damit ebenfalls dem Fluch verfallen. Elizabeth und ich waren sterblich und wir wären draufgegangen, hätte ich nicht einmal wenigstens den passenden Moment erwischt. Jack schoss auf Barbossa mit dem einzigen Schuss, den er noch immer in der Pistole hatte, die Barbossa ihm gegeben hatte, als er ihn ausgesetzt hatte. Barbossa bedrohte Elizabeth mit seiner Pistole und hätte sie gewiss getötet, hätte ich nicht im richtigen Zeitrahmen die Medaillons mitsamt meinem Blut in die Truhe fallen lassen. Da ich nicht gleichzeitig oder früher die Dinger fallengelassen habe, scheint es einen Zeitraum zu geben, in dem eine Verletzung auch unter dem Einfluss des Fluchs Folgen haben kann. Der Zeitraum kann nicht groß sein, denn etwa zehn Minuten früher hatte Barbossa Jack mit dem Säbel völlig durchbohrt, aber Jack hat nach der Lösung des Fluchs davon keine Folge gespürt, nicht mal eine Narbe zurückbehalten. Manchmal frag’ ich mich, warum Barbossa den Fluch unbedingt loswerden wollte. Für sein Gewerbe gibt’s doch keine bessere Rückversicherung als diesen Fluch“, erklärte Will. Stiefelriemen lächelte.
„Na ja, ein echter Genussmensch hat schon ein Problem damit, wenn alles nach Asche schmeckt, Getränke keine Wirkung erzielen und nicht einmal die Berührung einer Frauenhand irgendeine Reaktion gewisser Körperteile zur Folge hat. Sieh mal, Piraten sind meist deshalb Piraten, weil sie schnell zu Reichtum kommen wollen. Zu Reichtum wollen sie kommen, weil sie genießen wollen. Die Crew der Black Pearl war da keine Ausnahme. Bei Jack würde ich das etwas anders sehen. Der ist Pirat aus Leidenschaft, aus Freiheitsdrang, nicht unbedingt wegen der Beute. Hätte der Fluch Jack getroffen, wäre ich mir nicht sicher, dass er die Vorteile nicht genutzt hätte.“
„Hat er“, grinste Will. „Aber nur so lange, wie Barbossa ihm gefährlich werden konnte.“
„Und du? Hast du ihn nicht genutzt?“
Will schüttete den Kopf.
„Warum nicht?“
„Nun, ich wusste, dass Turnerblut benötigt wurde, um den Fluch aufzuheben. Ich war mir aber nicht sicher, ob mein Blut deins ersetzen konnte, wenn ich mich selbst an den Medaillons vergriffen hätte. Das wollte ich in Elizabeths Interesse lieber nicht ausprobieren. Wie gesagt, Barbossa zielte auf sie, sie war sterblich und hatte keine Chance mehr, vorher selbst an die Truhe zu kommen, um sich so zu schützen“, erwiderte Will. Elizabeth schauderte noch nachträglich, wenn sie daran dachte, welches Risiko Will offenbar bewusst eingegangen war, um sie zu retten. Bill Turner lächelte.
„Kluger Junge. Bist du abergläubisch?“
„Nein, falls du damit Geistergeschichten meinst – obwohl, der Fluch der Azteken sollte mich eines Besseren belehren.“
„Du bist jedenfalls das geworden, was deine Mutter sich gewünscht hat: Ein Mann, der seinen Kopf zum Denken gebraucht. Du hast einen gewissen Forschergeist, mein Junge, sonst wäre es dir nicht gelungen, solche Klingen wie diese hier zu entwickeln“, lächelte Bill und klopfte seinem Sohn anerkennend auf die Schulter. Will verzog schmerzvoll das Gesicht und stöhnte unterdrückt auf.
„Oh, tut mir Leid, mein Junge. Ich hab’ nicht mehr dran gedacht. Entschuldige bitte“, bat Bill erschrocken um Verzeihung.
„Ist schon gut. Das geht wieder vorbei.“
„Sag mal, wann hast du eigentlich zuletzt was gegessen?“, erkundigte sich der Vater dann besorgt.
„Ich weiß nicht, aber ich habe auch keinen Hunger, nur Durst“, entgegnete Will.
„Isst du immer so wenig?“
„Frage der Gewohnheit. Frag’ Elizabeth. Sie hat mich ja durchaus im Verdacht, dass es mir einfach nicht schmeckt, was sie kocht. Dabei ist sie eine wirklich gute Köchin – so gut, dass die Crew sie am liebsten schanghaien möchte“, erwiderte Will mit einem schelmischen Lächeln. Elizabeth sah ihn verblüfft an.
„Aber ich habe doch nie gesagt, dass …“
„Nein, mein Schatz, aber gedacht. Ich kenne dich gut und sehe, wenn du mir nicht glaubst“,
„Und du nimmst es einfach so hin, wenn ich dir etwas nicht glaube?“, fragte sie. Wills Lächeln wurde breiter.
„Glauben kann man nicht erzwingen, und zum Überreden neige ich nicht. Ich habe aber gehofft, dass meine Bemerkungen über deine Kochkunst dich wenigstens dann überzeugen, wenn ich dich vor der Crew lobe – oder vor meinem Vater, Liebling.“
Elizabeth wurde rot. Es gab wohl keine eindeutigere Liebeserklärung in dieser Hinsicht. Sie umarmte Will und spürte einen liebevollen Kuss auf der Wange.
„Danke für die Blumen. Aber jetzt musst du ernsthaft was essen, sonst rutschst du uns noch durch die Planken, wenn wir wieder an Bord gehen“, kicherte sie. Will nickte nur.
Elizabeth verließ das Zimmer, um das Frühstück zu holen, damit Will wieder zu Kräften kam.
„Wie bist du zu diesem Schmuckstück gekommen?“, fragte Bill. Will lächelte versonnen und verliebt.
„Wir kennen uns schon lange. Acht Jahre habe ich mich an meiner Liebe zu ihr fast verschluckt, schließlich ist die Tochter des Gouverneurs für einen armen Schmiedegesellen schier unerreichbar. Dabei war es für uns beide Liebe auf den ersten Blick“, erwiderte Will.
„Das wüsste ich gern genauer, mein Sohn.“
„Das ist eine lange Geschichte, Vater. Mindestens so lang wie deine – und dafür reicht es noch nicht“, wehrte Will vorsichtig ab.
„Na gut. Erzähl’ es mir, wenn du wieder gesund bist – aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.“
„Nein, bestimmt nicht. Versprochen“, erwiderte Will mit seinem unglaublich freundlichen Lächeln und packte die Hand seines Vaters fester. „Ich bin so froh, dass du lebst und dass ich mit dir reden konnte, Vater.“
„Ja, mein Sohn, ich auch. Und es werden nicht wieder vierzehn Jahre vergehen, bis wir uns wiedersehen, wenn ihr von Bord geht. Abgemacht.“
Kapitel 12
Meerjungfrauen küsst man nicht …
Dank Jerômes Kräuterkunde und Heilkunst ging es Will schnell besser. Gute sechs Tage, nachdem die Black Pearl in Paramaribo angelegt hatte, war der junge Mann wieder soweit hergestellt, dass Jack an die Abreise aus der niederländischen Kolonie denken konnte. Die Black Pearl war wieder mit drei Masten bestückt und getakelt, die Crew hatte Proviant und Wasser an Bord gebracht. Zu guter Letzt kamen die Turners an Bord – alle drei.
Wenn Bill Turner in den Tagen zuvor nicht bei seinem Sohn gewesen war, dann hatte er die meiste Zeit mit Mr. Montrose verbracht. Zwar hätte Charles Montroses nahezu grenzenlose Dankbarkeit beinahe einen heftigen Dämpfer bekommen, als Bill ihm eine Brosche zurückgab, die er seinerzeit versehentlich eingesteckt hatte und die sich immer noch auf der Black Pearl befand; doch Bill konnte den Gesandten davon überzeugen, die lautere Wahrheit zu sagen, auch wenn er schwindelte, dass sich die Balken bogen. Montrose verabschiedete sich von der Crew der Black Pearl jedenfalls mit einer Herzenswärme, die Piraten üblicherweise nicht entgegengebracht wurde.
Die Black Pearl schlug wieder den Kurs nach Nordwesten in Richtung Karibik ein. Jack hatte es jetzt eilig und wollte Will und Elizabeth nach Port Royal zurückbringen, um dann wieder auf Beutezug an die mittelamerikanische Küste zu gehen. Der Nordostpassat war für Schiffe, die aus dem Süden kamen nicht unbedingt ein idealer Wind, aber Jacks Kunst, den letzten Windhauch zu nutzen, machte sich erneut bezahlt. Nachdem die Black Pearl gute zwei Tage nach dem Ablegen in Paramaribo Trinidad und Tobago hinter sich gelassen hatte und mehr nach Westen steuerte, wirkte sich der Passat nun positiv aus, weil er nun leicht von achtern kam und nicht mehr querab. Dazu kam noch die starke Strömung des Südäquatorialstroms, der direkt in die Karibik zog und Schiffen, die mit ihm fuhren, eine um einen Knoten höhere Geschwindigkeit gab, als der Wind allein zugelassen hätte. Wind und Strömung trieben die Galeone mit fast vollen elf Knoten vorwärts.
Captain Sparrow schlug den direkten Weg quer durch die Karibik ein; einen Weg von knapp tausend Seemeilen zwischen der Lücke in der Kette der Inseln unter dem Wind, wie die Eilande von Grenada im Süden bis Guadeloupe im Norden genannt wurden, und dem Archipel von Trinidad und Tobago. Das Meer war auf dieser unendlich erscheinenden Fläche bis zu zweitausendachthundert Faden* tief. Was hier versank, tauchte garantiert nicht wieder auf.
Am vierten Tag der Überquerung dieser riesigen Fläche befand sich die Black Pearl kurz vor Mittag knapp hundertvierzig Seemeilen südsüdöstlich der Insel Les Cayes, die der südlichen Halbinsel von Saint Domingue vorgelagert ist. Elizabeth hatte Wache als Ausguck im Vormars und peilte über das unendlich weite Wasser. Weit im Nordosten, dort, wo sich Hispaniola befand, dessen westlicher Teil Saint Domingue war, hatte sie schon seit drei Stunden eine Nebelbank im Blickfeld, die langsam, aber kontinuierlich näher zu kommen schien. Trieb der Passatwind ein Unwetter heran?
„Jack!“, rief sie. „Nebelbank von Nordosten. Sie kommt näher!“
Jack, der Freiwache hatte und auf der Back vor sich hin döste, kam hoch.
„Was hast du gesagt?“
„Von Nordosten nähert sich eine Nebelbank!“, wiederholte Elizabeth. Jack sprang auf und turnte über die Wanten des Fockmastes zu ihr in das Krähennest. Auf seinen Wink gab sie ihm das Fernrohr und Jack peilte in die angegebene Richtung. Doch auch Jack sah nur Nebel im Nordosten. Er schüttelte den Kopf.
„Was hast du?“, fragte Elizabeth.
„Ist etwas ungewöhnlich, dass bei diesem klaren Himmel und dieser Wärme eine Nebelbank so dicht über dem Wasser treibt“, brummte Jack.
„Hältst du das für etwas anderes als eine normale Nebelbank?“
„Wenn es nicht so absurd wäre, würde ich annehmen, dass jemand die Isla de Muerta gefunden hat und sich an den Aztekenmedaillons vergriffen hat. Aber die Insel kann von niemandem gefunden werden, außer von denen, die schon wissen wo sie ist, klar soweit?“
„Völlig klar“, erwiderte Elizabeth
„Außer mir wissen nur noch Bill Turner und Norringtons Navigator, wo die Insel ist. Bill ist hier an Bord – und der Navy würde ich das nicht zutrauen, um genau zu sein“, erklärte Jack.
„Was zutrauen?“
„Sich an den verfluchten Medaillons zu vergreifen!“, versetzte Jack. Er stieg wieder vom Fockmast herunter und ging in die Kapitänskajüte. Diese seltsame Nebelbank machte ihn unruhiger, als er sich zunächst eingestehen wollte. Er holte sich eine Seekarte auf den Tisch, die er mit Säbel und Kompass beschwerte. Was, wenn doch jemand …? Jack schüttelte den Kopf. Nein, das konnte nicht sein! Der ständige Nebel, der die Isla de Muerta umgab und das Labyrinth der Riffe um sie herum machten es nahezu unmöglich, die Insel ohne wirklich genaue Kenntnis der Durchfahrtswege zu finden. In der Hauptpassage vor der Isla de Muerta lagen nicht umsonst Dutzende von Wracks …
Die Sonne stieg in den Zenit, und es wurde Zeit für einen Wachwechsel. Ambrose Hammond löste Will am Ruder ab, doch ging der nicht gleich unter Deck, sondern wartete auf seine Frau, die nur sehr zögernd aus dem Krähennest stieg und den Platz für einen anderen räumte, der nun die nächsten vier Stunden im Vormars stehen würde.
„Nanu, hattest du Angst, die Wanten ‘runter zu steigen, Schatz?“, fragte er, als er Elizabeth mit einem liebevollen Kuss begrüßte. Sie schüttelte den Kopf und konnte den Blick kaum von der nordöstlichen Richtung wenden.
„Was ist?“, erkundigte sich Will.
„Ich weiß nicht …“, murmelte sie. „Dort im Nordosten ist eine Nebelbank, die da nach Jacks Meinung nicht hingehört. Ich glaube, er macht sich deshalb größere Sorgen, als er jemals aussprechen würde“, erwiderte sie und lehnte sich ebenso vertrauensvoll wie schutzsuchend an Will an. Er drückte sie zärtlich an sich und umarmte sie.
„Hat er sich deutlicher ausgedrückt?“
„Nein, du kennst ihn ja. Bevor Jack was sagt …“
In diesem Moment kam Jack aus der Kajüte.
„Elizabeth!“, rief er. Will und Elizabeth sahen sich an und eilten dann zu Jacks Kajüte.
„Zur Stelle, Captain!“, meldete Elizabeth sich mit der Andeutung eines scherzhaften militärischen Grußes. Jack winkte ihr und beide folgten ihm in die Kajüte. Er wies auf den Punkt auf der Karte, wo sie sich nach seinen Berechnungen befanden – hundert Seemeilen südlich von Les Cayes.
„Wie lange hast du die Nebelbank beobachtet?“, fragte er dann.
„Ich schätze drei Stunden“, erwiderte die junge Frau.
„Wie viel hat sie sich in der Zeit genähert?“
„Ich gebe zu, dass ich das schlecht schätzen kann … Sie ist etwas größer geworden.“
„Wie viel?“
Elizabeth nahm die Hände zu Hilfe, um die Größe etwa abzuschätzen.
„Als ich sie zuerst sah, war sie etwa so groß“, sagte sie und deutete mit den Händen einen Abstand von etwa einem Fuß an. „Als ich dich rief, war sie etwa so groß“, setzte sie hinzu und zog die Hände auf knapp eineinhalb Fuß auseinander.
„Also etwa um die Hälfte gewachsen …“ brummte Jack. „Verdammt schnelle Nebelbank!“
Er begann eine Wanderung durch die Kajüte und rechnete. Der Weg führte ihn zum Fenster am Heck. Plötzlich blieb er stehen.
„Beim Klabautermann!“, entfuhr es ihm. Will und Elizabeth gingen schnell zum Fenster. Die Sonne, die nun am höchsten stand, beleuchtete ein deutlich größer gewordenes Nebelfeld. Jack griff zum Fernrohr und peilte hindurch. Die Sonne durchschien den Nebel und zeichnete – die Kontur einer Brigg!
Im nächsten Moment war Jack zur Tür hinaus und mit zwei Sätzen auf dem Achterdeck. Will und Elizabeth folgten ihm mit einiger Verstörung.
„Ambrose! Ruder nach Backbord!“, kommandierte Jack. Hammond sah den Captain verständnislos an.
„Aber wir wollen doch direkt nach Port Royal“, erinnerte er.
„Das will ich auch immer noch, aber wir müssen den Kurs etwas ändern, mein Guter. Los, leg’ das Ruder nach Westen!“
Hammond tat, wie ihm geheißen und Jack peilte erneut zu der ominösen Nebelbank, die nun rasch größer wurde.
„Das ist interessant. Das ist wirklich interessant“, brummte Jack. „Das ist nicht nur eine Nebelbank, das ist ein Schiff in einer Nebelbank. Sieh mal.“
Er gab Elizabeth das Fernrohr zurück und sie sah erneut zu der grauweißen Wolke direkt über dem Wasser. Jetzt sah sie die zwei Mastspitzen, dann wurde eine Brigg unter vollen Segeln im Dunst sichtbar.
„Das ist die Mermaid. Sie läuft mit achterlichem Wind und damit mit voller Fahrt!“, schnaufte Jack.
Elizabeth sah ihn erschrocken an.
„Wenn sie mit voller Kraft läuft, dann macht sie mehr als zehn Knoten!“, stieß sie hervor. „Bei der Navy gilt sie allen Ernstes als schnellstes Schiff in der Karibik! Es war schon ein schwerer Verlust, die Brigg ausgerechnet an Piraten zu verlieren.“
„So wie die Interceptor, he?“, erkundigte sich Jack mit goldigem Grinsen.
„Nein, Jack, die Mermaid ist noch schneller. Jedenfalls, wenn sie von jemand gesegelt wird, der sein Handwerk versteht. Was machen wir im Moment?
„Jetzt etwas mehr als acht Knoten. Jamie ist nur noch gut zehn Meilen entfernt. Er wird uns in maximal fünf Stunden eingeholt haben, wenn wir nicht etwas mehr Geschwindigkeit herausholen“, grinste er und griff nach dem Log, um die Geschwindigkeit zu messen. Jacks Grinsen wurde breiter, als er die Knoten zählte. Die Black Pearl lief jetzt mit fast zehn Knoten – dennoch wurde die Nebelbank mit den beiden Masten immer größer. Elizabeth sah sich suchend um und fragte sich, ob sie wieder nach einer Untiefe suchte. Gleich darauf fiel ihr ein, dass sie eine solche Fluchtmöglichkeit von vornherein ausschließen konnte. Die Brigg hatte definitiv weniger Tiefgang als die Black Pearl.
Aus dem Nebel schob sich der Bug und nach und nach das ganze Schiff heraus. Jack sah ein, dass es keinen Sinn hatte, fliehen zu wollen. Letztlich war Jack Sparrow auch nicht der Typ, der vor einer Gefahr davonlief.
„Macht die Kanonen klar!“, befahl der Captain. Fast im selben Moment wendete die Mermaid nach Steuerbord, gleichzeitig wurden die Geschützpforten geöffnet und eine volle Breitseite aus den Backbordgeschützen auf die Black Pearl abgefeuert. Die Salve war zwar deckend, doch verursachten die Geschosse keine Schäden, weil sie entweder vor oder hinter der Black Pearl ins Wasser schlugen.
„Kanonen sind klar!“, meldete Bill Turner.
„Feuer!“, befahl Jack. Die Steuerbordgeschütze der Black Pearl spien Feuer und Vernichtung. Einschlagende Geschosse verursachten Schäden am Deck und der Beplankung der Mermaid.
Die Mermaid kam weiter auf und feuerte erneut eine volle Breitseite auf die Black Pearl. Steuerbordreling und die Decksplanken auf der Steuerbordseite wurden schlimm beschädigt, das Großsegel hatte Löcher wie zu Barbossas Zeiten.
„Feuer!“, wies Bill die Matrosen an und eine erneute Breitseite der Black Pearl schlug auf der Mermaid ein, die nun auf Enterweite heran war.
Enterhaken flogen auf die Black Pearl, Jamie Einauge und seine Leute setzten zum Entern an und schwangen auf die Black Pearl hinüber.
Dort wehrte man sich mit Gewehren und Säbeln gegen die Crew der Mermaid. Jamie geriet an Gibbs und focht mit ihm einen wilden Kampf, den Gibbs nicht recht für sich entscheiden konnte. Will sah Joshamees Bedrängnis und sprang hinzu. Der krummbeinige Nachrichtenhöker erwies sich als geschickter Fechter, der Will viel abverlangte, aber mit dem jungen Schmied in Sachen Fechtkunst nicht konkurrieren konnte. Wie er auch angriff, Will blockte ab, griff seinerseits an, bis Jamie schließlich nicht mehr wusste, wohin er noch ausweichen sollte und nur noch zurück auf die Mermaid verschwinden konnte.
Die Flucht des Captains wirkte wie ein Signal auf die übrige Crew der Mermaid, die sich die Entertampen griffen und wieder übersetzten. Die Männer und eine Frau auf der Black Pearl schlugen eilig die Entertampen durch, damit Jamie und seine Leute nicht wieder die Chance bekamen, sich neu zu formieren und erneut die Black Pearl zu entern.
Eine weitere Salve aus den Kanonen der Black Pearl zerstörte die Beplankung der Mermaid knapp oberhalb der Wasserlinie und die Mermaid zog sich schwer angeschlagen zurück – allerdings nicht, ohne der Black Pearl noch einmal eine Breitseite aus den eigenen Kanonen zu verpassen. Die Salve war schlecht gezielt, aber sie enthielt auch zwei Kartätschen, die über dem Deck der Black Pearl explodierten.
Als der Pulverdampf sich verzog, wurde sichtbar, dass das Großsegel der Black Pearl völlig zerfetzt war. Unter dem beschädigten Segel lagen drei Männer: Jamies Maat Hank, einer seiner Matrosen und Will Turner jr. Wie auf Kommando sprangen Gibbs, Cotton, Elizabeth und Jack zu Will. Er rührte sich nicht. Sein Hemd war an der rechten Seite zerrissen, er blutete stark aus einer großen Wunde an fast der gleichen Stelle, an der ihn der französische Soldat verwundet hatte. Splitter der Kartätsche waren an der Stelle der eben gerade verheilten Wunde tief in seinen Körper eingedrungen. Die beiden anderen Männer waren tot.
„Will! Oh Gott, nein! Nicht schon wieder!“, entfuhr es Elizabeth verzweifelt.
„Will! Wach auf, Junge!“, rief Jack. Keine Reaktion, nicht einmal auf Elizabeth. Gibbs und Cotton schüttelten bedauernd den Kopf.
„Holt Jerôme her! Los, Beeilung!“, kommandierte Jack. „Bill, übernimm das Ruder! Hart Backbord auf westlichen Kurs, damit wir den Wind möglichst von achtern kriegen!“
Bill zögerte mit einem Blick auf seinen Sohn.
„Mach jetzt! Wir müssen hier weg! Jerôme kümmert sich um deinen Welpen!“, knurrte Jack, als Bill nicht gleich reagierte.
„Aye, Captain“, bestätigte Bill, der wie aus einem Albtraum an Deck der Black Pearl zurückkehrte – und einen noch schlimmeren Albtraum vorfand.
„Cotton, Gibbs, Hammond, Marty: Tauscht das Großsegel aus, sonst machen wir nicht genug Fahrt!“, wies Jack die Männer an.
„Aye, Captain!“, bestätigten sie und machten sich eilig an die Arbeit.
Jerôme Savigny untersuchte Will noch an Deck und wies dann die Leute an, ihn in die Gästekajüte zu bringen, wo er den jungen Mann sofort operierte und die Geschosssplitter mit einiger Mühe aus den tiefen Wunden herausholte.
Eine Stunde später, als Jerôme mit der Operation bei Will fertig war und ihn verbunden hatte, war von der Mermaid nichts mehr zu sehen, nicht einmal die Nebelbank.
„Er hat sehr viel Blut verloren, mon capitaine“, sagte der Franzose. „Ich fürchte, es war zu viel.“
Jack sah ihn betroffen an.
„Kommt er durch?“
„Ich weiß es nicht, Jacques, mon capitaine. Ich fürchte, nein.“
Jack sah das blanke Entsetzen in Elizabeths Augen und hatte das dunkle Gefühl, dass es in seinen Augen nicht besser aussah. Er hätte Jamie Einauge mit bloßen Händen erwürgen können. Was, zum Teufel, sollten diese Überfälle eigentlich? Normalerweise bekämpften sich die Piraten nicht gegenseitig. Jamie Einauge war gewiss nicht Jacks bester Freund, aber als richtigen Feind betrachtete Jack ihn auch nicht. War die Gier nach dem Schatz der Isla de Muerta so groß, dass Jamie dafür sogar andere Piraten angriff? Jack fand keine plausible Erklärung für das unnormale Verhalten des Nachrichtenhökers.
„Was machen wir nur, Jack?“, flüsterte Elizabeth voller Sorge. Jack drehte sich zu ihr um. Sie saß bei Will und streichelte ihn voller Liebe und Besorgnis.
Noch bevor der Captain etwas sagen konnte, ging die Tür auf und Bill Turner stürmte herein.
„Was ist mit Will?“, fragte er.
„Schwer verwundet“, seufzte Jack.
„Jack, Jerôme hat mir geflüstert, dass er diesmal ernsthaft damit rechnet, dass mein Junge stirbt! Nur über meine Leiche! Das lasse ich nicht zu!“
Jack und Bill sahen sich eine Weile an.
„Bill, ich will auch nicht, dass Will stirbt, dafür ist er ein zu guter Freund von mir. Ich weiß nur nicht, woher wir das Blut nehmen sollen, das er verloren hat.“
„Jerôme hat mir mal erzählt, dass Blut sich erneuert. Will braucht Zeit, damit er sich erholen kann und sich sein Blut erneuert. Ich wüsste nur eine Möglichkeit, ihm diese Zeit zu verschaffen – wenn der Schatz der Isla de Muerta noch dort ist. Ist er das?“
„Wir haben ihn dort gelassen“, erwiderte Jack. „Du meinst, wir tragen deinen Welpen in die Höhle und lassen ihn eins von diesen verfluchten Medaillons aus der Truhe fischen, meinst du das?“, fragte er. Bill nickte.
„Genau das“, grinste er. „Wir hätten alle Zeit der Welt, die er braucht, um sich zu regenerieren. Außerdem schließen sich Wunden sehr viel schneller als normal. Ich hab’ Erfahrung damit. Sieh mal“, sagte Bill und schob den rechten Ärmel hoch. „Als Barbossa mich über Bord gehen ließ, hatte ich eine üble Wunde im Arm. Der war offen bis auf den Knochen, sag’ ich dir – aber da ist nicht mal eine Narbe geblieben.“
Jack sah auf den Arm, öffnete dann sein Hemd und sah zu der Stelle, an der Barbossa ihm beim Kampf in der Höhle den Säbel in den Leib gerammt hatte – nicht die kleinste Narbe war zu sehen. Ihm war das bisher noch gar nicht recht aufgefallen.
„Das ist die Lösung!“, strahlte Jack. „Die Medaillons sind vollständig, es kann also nichts passieren. Sobald Will gesund ist, kehren wir zurück, und er hebt den Fluch wieder auf. Wir wissen ja, wie’s geht. Und weit weg sind wir auch nicht!“
Jack übernahm das Ruder und schlug den Kurs zur Isla de Muerta ein. Auf der Black Pearl wurden eilig die Schäden repariert. Segel und Holzteile waren bald ausgetauscht. In den letzten Wochen hatten fünf Männer die Black Pearl gesteuert: Jack selbst, Gibbs, Ambrose Hammond, Will Turner und sein Vater. So gut die anderen vier das Schiff auch lenkten: Wenn Jack am Ruder war, schien er mit seinem Schiff zu verschmelzen.
Jack Sparrow und seine Black Pearl, das war eine verschworene Gemeinschaft, einer ohne den anderen nur die Hälfte wert. Jack war in den Jahren, in denen die Black Pearl unter Barbossas Kommando gesegelt war, ein recht erfolgloser Trunkenbold gewesen, den nur seine gleichsam angeborene Frechheit, seine nahezu grenzenlose Selbstsicherheit und seine exzentrische Art über Wasser gehalten hatten. Das Schiff war in dieser Zeit zu einem gefürchteten Geisterschiff heruntergekommen, dessen Erscheinen Panik und Entsetzen auslöste. Nicht, dass Jack etwas gegen einen schlechten Ruf gehabt hätte; schließlich war er Pirat und pflegte durchaus ein schlimmeres Bild von sich zu zeichnen, als es eigentlich nötig war. Aber Jack richtete seine Begehrlichkeit gegen die Reichen, nicht gegen die Armen – und vor der Black Pearl war unter Barbossas Kommando wirklich niemand sicher gewesen, nicht einmal die Ärmsten.
Erst die Begegnung mit Will Turner jr. und die Rückgewinnung der Black Pearl hatten Jack wieder den Boden unter den Füßen zurückgegeben. Er war Will dankbarer, als er sich selbst zuweilen eingestehen wollte. Dieser Junge hatte ihm – ohne es vorsätzlich zu wollen – mit seiner geradlinigen, unkomplizierten und ehrlichen Art gezeigt, wo sein, Jacks, Platz in der Karibik war. Jack war ein Meister der Verstellung und der Tricks, die nur für ihn selbst durchschaubar waren. Will im falschen Moment zu provozieren, bedeutete einen unausweichlichen Konflikt. Jack hatte – notgedrungen – Elizabeth bedroht, Will hatte es erfahren und Jack dafür mit dem Säbel Mores gelehrt. William Turner jr. war die größte Überraschung in Jack Sparrows wildem, ungeordnetem Leben gewesen, eine sechs Fuß lange Herausforderung an edlere Instinkte in Captain Jack Sparrow. Wills kühner Mut und seine Bereitschaft, im Notfall sein Leben für Elizabeth zu opfern und es für Jack mindestens zu riskieren, hatte Jack einen herzhaften Stoß in eine neue Richtung gegeben. Dieser Stoß trieb ihn jetzt an, alles zu tun, um Will zu retten.
Kapitel 13
Fluch oder Segen?
Vom Ort der Seeschlacht mit der Mermaid bis zur Isla de Muerta war es zwar von der reinen Entfernung nicht mehr sehr weit, doch bedeutete es, die Insel Hispaniola zu umfahren und hätte zudem bedeutet, sich wieder gegen den Passat zu stemmen, hätte nicht der Wind gedreht und wäre nun von Süden gekommen. Damit konnte die Black Pearl mit praktisch voller Fahrt, also gut zehn Knoten, nach Norden fahren.
Will war am Tag nach dem Kampf wieder bei Bewusstsein, aber auch er spürte, dass er ohne ein Wunder nicht mehr lange leben würde.
„Elizabeth“, sprach er seine Frau an, die neben ihm erschöpft eingeschlafen war. Sie zuckte erschrocken hoch.
„Oh, du bist ja wach! Wie fühlst du dich?“
„Nicht gut. Wo sind wir?“, erwiderte er. Sie strich ihm sanft über das eingefallene Gesicht.
„Wir waren südlich von Hispaniola. Jack hat abgedreht und ist auf dem Weg nach Norden.“
„Bitte, frag Jack, ob er die Isla de Muerta anlaufen kann …“
„Was hast du vor?“, fragte sie. Er umschloss ihre Hand vorsichtig, aber bestimmt und schloss wieder die Augen.
„Ich seh’ nur noch die Chance, dass ich mich an den verfluchten Medaillons vergreife. Bitte, Liebling, frag’ Jack.“
Statt einer Antwort spürte er ihre Hand sanft durch sein offenes Haar gleiten. Er schlug die Augen wieder auf und sah in Elizabeths rehbraune Augen, die ihn voller Liebe anstrahlten. Sie lächelte.
„Vater und Sohn!“, sagte sie leise.
„Was meinst du?“, fragte er verblüfft.
„Nun, das ist exakt der Plan deines Vaters, Will. Wir sind auf dem Weg zur Isla de Muerta, um genau das zu tun.“
Zwei weitere Tage später schob sich die Black Pearl vorsichtig durch die Riffe vor der Isla de Muerta. Will ging es nach wie vor so schlecht, dass Jack, Bill, Cotton und Gibbs ihn auf einer Bahre in die Höhle transportieren mussten. Es war bereits dunkel und der Mond ging auf. Recht nachdenklich sah Will auf den Mond, dann auf seine Hände.
„Wie die wohl von innen aussehen?“, murmelte er.
„Du wirst es bald wissen, Junior“, grinste Jack, der hinter Will im Boot saß. Die Grotte verschluckte das Boot, sie erreichten den Landeplatz, hoben die Bahre heraus und trugen Will zu dem Sinterplateau, auf dem die Steintruhe mit dem verfluchten Schatz stand. Jack schob die Steinplatte weg, die den Schatz bedeckte. Glänzend und verführerisch leuchteten die Medaillons im Licht der Fackeln, die die Männer mitgebracht hatten und dem ersten Licht des Mondes, das durch einige Löcher in der Hallendecke in die Höhle fiel. Abgesehen von den beiden Medaillons, die Elizabeth, Jack und Will zuletzt mit ihrem Blut benetzt in die Truhe zurückgegeben hatten, war an den übrigen Stücken nicht die kleinste Spur zu von Blut zu erkennen.
„Los, schnapp’ dir eins!“, wies Jack Will an, der mit einiger Mühe in die Truhe griff und ein Medaillon herausfischte.
Als der junge Mann die Faust um das Schmuckstück schloss, erhob sich ein dampfartiges, grünliches Leuchten von den verfluchten Medaillons, das aufstieg und über der offenen Steinkiste zu einer menschlichen Gestalt kondensierte. Will hatte Glück, dass die vier Männer, die seine Bahre trugen, ihn gerade abgesetzt hatten, sonst wäre er in seinem üblen Zustand noch den ganzen Berg heruntergefallen, als Gibbs und Cotton in heller Panik schreiend die Bahre losließen und zum Landeplatz flohen. Jack und Bill Turner sahen sich verblüfft an, als die Gesichtszüge des grünlich leuchtenden Gespenstes zu denen des sterbenden Indianers wurden, der ihnen vor so langer Zeit den Weg zur Isla de Muerta gewiesen hatte.
„Was sucht ihr hier?“, fragte der transparente Azteke.
„Du bis Groaltek, nicht wahr?“, fragte Bill. „Wir suchen eine Möglichkeit, meinen Sohn zu retten“, erklärte er dann. Der Geist lächelte.
„Ja, du erinnerst dich richtig. Ich bin Groaltek. Und ich habe euch beide vor diesem Gold gewarnt.“
Bill seufzte tief.
„Ja, das hast du, Groaltek. Aber du wirst wohl auch wissen, dass deine Warnung nur halb bei uns angekommen ist. Wir konnten dem Gold nicht widerstehen. Doch du hast uns die Lösung ebenfalls genannt. In diesem Fall wollen wir den Fluch nutzen, um meinem Sohn das Leben zu erhalten. Er ist schwer verwundet und wird sterben, wenn wir ihm nicht genügend Zeit verschaffen, dass sich sein Blut erneuern kann. Darum …“
Eine Handbewegung des Geistes ließ Stiefelriemen stocken.
„Eigentlich eine kluge Idee, doch sie wird nicht funktionieren …“, warnte Groaltek.
„Du hattest doch gesagt, dass jeder Sterbliche, der auch nur eins dieser Stücke aus der Truhe entfernt, dem Fluch der aztekischen Götter verfallen ist – es sei denn, er gibt das Gold und etwas von seinem Blut wieder in die Truhe zurück“, erinnerte William senior. Der Geist ließ sich im Schneidersitz auf den Medaillons nieder.
„Du hast schon Recht, dass ihr nur halb zugehört habt. All das Blut, das schon in diese Truhe getropft ist, hätte rein gar nichts bewirkt, hätte dein Sohn nicht aus freiem Willen sein Blut gegeben“, sagte Groaltek.
Jack und Bill sahen sich verstört an.
„Wie bitte?“, fragte beide wie aus einem Munde.
„Nur jemand, der ein Medaillon für sich besitzen will und ohnehin Schuld auf sich geladen hat, gerät in den Bannkreis des Fluchs. Und er kann nur gerettet werden, wenn ein Mensch, der ohne Schuld ist, freiwillig sein Blut opfert. Du, Jack, bist ein Pirat und hast wie deine ganze Crew Schuld auf dich geladen, weil du geplündert und geraubt hast. Doch dieser junge Mann mit dem tapferen Herzen, der ist ohne Schuld. Wann immer er gegen eure menschlichen Gesetze gehandelt hat, geschah es, um eine Ungerechtigkeit zu beenden oder zu verhindern. Insofern kann ihn der Fluch meiner Götter nicht treffen“, erklärte das Schatzgespenst. Bill ließ resigniert die Schultern hängen.
„Dann wird er an der Wunde sterben“, sagte er leise. „Der Fluch der Aztekengötter war unsere letzte Hoffnung.“
Das Gespenst lächelte sanft.
„Interessant, dass so ein furchtbarer Fluch zur Hoffnung werden kann. Aber es zeugt durchaus von Klugheit, wenn ihr den Fluch nutzen wolltet, um ihn zu retten. Für einen solchen Fall gibt es aber eine bessere Lösung, eigentlich ein Lohn: Dieses Medaillon wird nicht Fluch, sondern Segen sein, wenn dein Sohn es immer bei sich trägt, bis die Wunde endgültig geheilt ist. Doch es ist notwendig, dass dieser Schatz endgültig vernichtet wird, um den Lohn für deinen Sohn dauerhaft werden zu lassen.“
„Was sollen wir tun, Groaltek?“, fragte Jack.
„Dieses Gold wurde in der großen Pyramide von Cozumel in diese Form gegossen. Bringt es dorthin zurück. In der Pyramide werdet ihr im innersten Raum achthundertzweiundachtzig Nischen finden, in die die Medaillons genau hineinpassen. Dort setzt ihr sie ein. Wenn sie alle eingesetzt sind, werden sie vernichtet werden – für immer. Und wenn sie vernichtet werden, wird auch der Fluch von ihnen weichen. Dann ist auch sichergestellt, dass dieser Schatz nie wieder missbraucht werden kann. Barbossa und seine Genossen waren zu dumm, zu erkennen, wozu dieser Fluch hätte genutzt werden können. Ihr seid klüger; doch beweist eure lauteren Absichten, indem ihr den Schatz vernichtet“, erklärte der Geist des Azteken.
„Muss die Truhe mit?“, fragte Jack.
„Ja“
„Das wird ‘n Stück Arbeit“, seufzte Sparrow angesichts der tonnenschweren Truhe. Der Geist grinste.
„Du bist Captain Jack Sparrow! Für den ist doch nichts unmöglich – oder bist du doch nur ein Aufschneider und Prahlhans?!“, kicherte er.
Während Jack und Stiefelriemen mit dem Schatzgespenst sprachen, spürte Will, wie jegliche Schwäche und auch der Schmerz, der in seiner Wunde bohrte, von einem Augenblick auf den anderen verschwanden. Er stand auf und schüttelte sich kurz, als ob er aus einem Traum aufwachen wollte und bemerkte dann erst, wo er sich befand. Verwundert sah er in sein offenes Hemd. Ja, der Verband, den Elizabeth ihm erst vor wenigen Stunden gemacht hatte, war noch dort. Aber darunter fühlte er keine Wunde mehr. Er fühlte sich wieder kräftig und gesund. Mehr im Unterbewusstsein registrierte der junge Mann das Gespräch zwischen seinem Vater, Jack und einem grünlich leuchtenden, transparenten Wesen, das dennoch absolut menschlich aussah und viel Ähnlichkeit mit den Ureinwohnern an der mexikanischen Küste hatte. Aber – auch wenn er das Gespräch nicht wirklich im Einzelnen gehört hatte – wusste er doch ganz genau, worüber sie geredet hatten. Gerade sprachen sie vom Abtransport der Truhe.
„Groaltek, vergib mir die Frage, aber muss die Truhe in einem Stück abtransportiert werden oder können wir sie zerlegen?“, mischte er sich in das Gespräch ein. Jack und Bill sahen sich verblüfft an, drehten sich um. Hinter ihnen stand Will jr. und machte einen wieder gekräftigten Eindruck.
„Ah, es geht dir schon besser, William Turner jr.!“, bemerkte der Geist lächelnd.
„Woher kennst du meinen Namen?“, erkundigte sich Will.
„Jeden, der meinen Namen ausspricht, den kenne auch ich mit Namen, William. Außerdem bin ich schon einige Jahre bei dir gewesen – und einige Jahre bei deiner liebsten Elizabeth. Sieh dir das Medaillon mal genau an, das du in der Hand hältst“, empfahl das Gespenst. Will betrachtete das Medaillon genau, aber außer dem bräunlichen Fleck, der daran klebte, fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf.
„Ich erkennen keinen Unterschied zu den anderen Medaillons“, sagte er schließlich.
„Es gibt zwei: Einmal ist es dein eigenes Blut, das daran haftet und das deiner Frau. Und dann sieh’ dir die Öse genau an. Jemand mit deinem Wissen um Metalle und deren Struktur müsste erkennen, was es damit auf sich hat“, gab Groaltek einen Tipp.
Will betrachtete die Öse nochmals genau. Ganz feine Riefen fanden sich darin.
„Die Öse hat feine Riefen – wie von einer Kette“, sagte er und nahm ein anderes Medaillon hoch. „In dem hier sind keine solchen Streifen.“
„Du sprichst wahr, William, denn dein Medaillon ist das einzige, das an einer Kette getragen wurde. Wirst du dafür Sorge tragen, diesen Schatz nach Cozumel zurück zu bringen und ihn zu vernichten?“, fragte der Geist dann.
„Ich denke, es wäre das Beste, denn es gibt sicher viele Leute, die ihn gern für sich hätten – und sei es, um diese Art von Unsterblichkeit zu erlangen, damit sie nicht im Kampf getötet werden können.“
„Fürchtest du dich vor dem Tod, William Turner?“, fragte Groaltek eindringlich. Will lächelte.
„Vor einem sinnlosen Tod schon, Groaltek. Aber wenn du mich so genau kennst, wirst du wissen, dass ich bereit war, für meine Frau zu sterben und für meinen Freund Jack und meinen Vater das Leben zu riskieren. Doch du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Muss die Truhe hier in einem Stück weg?“
Groaltek grinste.
„Beharrlicher junger Mann! Nein, das muss sie nicht. Den Rest überlasse ich eurem Einfallsreichtum“, erwiderte er. Will lächelte auf seine unnachahmliche Art.
„Wie verabschiedet man sich von einem Geist, Groaltek?“, fragte er.
„Es gibt keinen Abschied, denn ich werde bei dir bleiben, solange du dieses Medaillon trägst“, entgegnete der Geist.
„Dann sage ich: Auf Wiedersehen, Groaltek“, erwiderte Will und entbot dem Gespenst einen höflichen Diener. Der Geist erwiderte ihn – und verschwand.
„Ähä!“, brummte Jack. „Und was machen wir jetzt mit dem Ding?“
„Recht einfach: Ich werde die Medaillons aus der Truhe fördern, wir verpacken sie in handlichere Truhen. Und dann seht mal hier: Die Truhe besteht aus einzelnen Platten“, wies Will auf feine Linien hin, die an den Ecken der Steintruhe erkennbar waren.
„Wo soll das was sein?“, fragte Bill Turner und sah angestrengt auf die Truhe. Er sah nur eine kompakte Steintruhe, die für seinen Blick nur aus einem einzigen Stück zu bestehen schien.
„Ich sage, dir, Papa, sie besteht aus sechs einzelnen Platten: Deckel, Seitenteile und Boden“, grinste Will.
Cotton und Gibbs pirschten vorsichtig aus ihrem Versteck.
„Is’ er weg?“, fragte der Erste Maat vorsichtig.
„Ja“, kicherte Jack, der sich über die käseweißen Gesichter seiner Leute amüsierte.
„‘S bringt Unglück, mit Geistern zu reden, Captain!“, warnte Gibbs. „Und du stehst wieder grade, Will? Was ist mit dir passiert?“, wandte er sich dann an den jungen Mann.
„So viel zum Thema: ‚Es bringt Unglück, mit Geistern zu reden’ …“, kicherte Will belustigt.
Wenig später war die Expedition wieder an Bord der Black Pearl. Jack trommelte die Mannschaft zusammen.
„Jungs: Wir machen noch eine Reise nach Cozumel, um den Azteken etwas zurückzugeben, was ihnen gehört; dann setzen wir Elizabeth und Will in Port Royal ab“, erklärte der Captain, nachdem er ihnen von der wundersamen Heilung ihres Freundes Will berichtet hatte. Ambrose Hammond stand auf.
„Jack, wir haben seit Wochen keine Beute mehr gemacht!“, erinnerte er mit einem seltsam scharfen Ton.
„Stimmt“, bestätigte Jack. „Wir haben Elizabeth und Will in Port Royal abgeholt, haben in Tortuga Informationen über „Stiefelriemen Bill“ eingeholt, sind nach Cayenne gesegelt und haben ihn befreit. Wir haben in Paramaribo Station gemacht, damit Will sich von der schweren Verwundung erholen konnte und sind nach der Keilerei mit Jamie hergekommen, um Hilfe für Will zu finden, nachdem der innerhalb kürzester Zeit zum zweiten Mal so schwer verwundet wurde. Die Tour nach Cozumel gehört mit dazu und auch die Fahrt nach Port Royal. Klar soweit?“, versetzte Jack.
„Jack, wir sind Piraten und keine Vergnügungsyacht für Adlige!“, entgegnete Ambrose.
„Ambrose, erinnere dich, dass wir uns einig waren, das zu tun, was wir bisher getan haben. Ihr alle seid damit einverstanden gewesen, sonst hätten wir die ganze Reise nicht gemacht. Das ist ein gemeinsamer Beschluss – und den werden wir durchführen, bis er beendet ist oder Davy Jones persönlich uns daran hindern sollte!“, knurrte Jack.
„Jack, wir brauchen Beute, verdammt noch mal!“, schnauzte Hammond wütend. Jack wies auf die Insel.
„Wenn es dir um Beute geht, Ambrose Hammond: Da drüben auf der Insel liegt genug unverfluchtes Gold, dass du dich zur Ruhe setzen kannst und den Rest deines Lebens nicht mehr plündern brauchst, um sorgenfrei leben zu können. Klar soweit?“, fuhr Jack ihn an.
Ambrose schwieg noch erschrocken über Jacks Ausbruch, als Will sich erhob.
„Ambrose, Marty, ihr alle: Ich denke, es gibt eine simple Erklärung, für das, was hier gerade geschieht, und das ist das hier“, sagte der junge Mann ruhig und zog das Medaillon aus dem Hemd. „In einem Punkt hat Joshamee Gibbs sehr Recht: Es bringt Unglück, sich an Dingen zu vergreifen, die mit einem Fluch beladen sind. Ihr seid Jack bisher stets gefolgt, und ihr seid erfolgreiche Piraten; vielleicht die reichsten in der Karibik, wenn ich mir betrachte, was ihr auch nach Barbossa auf dieser Insel an Schätzen zusammengetragen habt. Ihr seid reich, weil Jack einen guten Riecher für Beute hat – und weil er kein Mörder ist. Die Black Pearl gilt mit einem Captain Jack Sparrow bei den einfachen Menschen in der Karibik als Schiff der Engel, falls ihr davon noch nichts gehört haben solltet. Ihr geltet als die Sherwood-Banditen der See; von den Mächtigen gehasst, von den Armen geliebt. Wenn es etwas gibt, was diese verschworene Gemeinschaft hier an Bord gefährden kann, dann sind es diese fluchbeladenen Medaillons. Dieser Schatz, der ist viel zu gefährlich, um ihn auf der Insel zu lassen. Als die Black Pearl zum ersten Mal hierher kam, führte schon das Wissen um diesen Schatz zur Meuterei, zur Uneinigkeit unter der Crew. Die Folge war, dass die Black Pearl ein verfluchtes Geisterschiff wurde, dessen Auftauchen für Angst und Schrecken sorgte. Ich kenne euch inzwischen ganz gut. Ihr seid nicht solche Scheusale wie Barbossa und Co. Ihr seid das, was man anständige Piraten nennt. Das ist eure Absicht, so seid ihr nun mal. Und deshalb kann ich euch meinen Vater anvertrauen, der bei euch bleiben möchte – bei euch und Jack. Aber diese Aztekenmedaillons, die sind nicht nur eine Gefahr für die Karibik allgemein. Sie gefährden euch und eure gute Piratengemeinschaft. Deshalb: weg mit den Dingern! Nach Cozumel mit ihnen, wo sie hingehören! Opfert sie den aztekischen Göttern, die sie geschaffen haben – und bleibt freie und gute Piraten!“, erklärte Will mit einer Leidenschaft, die ihm selbst fremd an sich war.
‚Verdammter Aztekenschatz!’ durchzuckte es ihn.
Ambrose Hammond stand auf und legte seinen Säbel demonstrativ auf den Tisch.
„William, ich weiß ja inzwischen, dass du als Schmied fast nicht zu schlagen bist. Dieser Säbel hier, der ist von dir und ich habe noch nie eine vergleichbar gute Waffe in Händen gehabt. Du hast zwei schwere Verwundungen überlebt, die kaum ein anderer hier überstanden hätte. Du bist ein exzellenter Kämpfer, wie ich auch von der Geschichte mit Barbossa weiß und du bist uns ein guter Freund. Du bist zwar kein Pirat, aber Piratenblut fließt in deinen Adern. Was ich jetzt sage, fällt einem Mann wie mir, der seit seinem vierzehnten Lebensjahr Pirat ist, bei Gott, nicht leicht, aber was wahr ist, muss wahr bleiben: Es tut mir Leid, dass ich Jack in Zweifel gezogen habe. Ich danke dir, dass es dir noch mit Worten gelungen ist, mir den Kopf zurecht zu setzen, denn ein Gefecht mit dir würde ich nicht riskieren; nicht, so wie du Jack das letzte Mal rasiert hast und wie du Jamie und seine Leute hier fertig gemacht hast. Es gibt niemanden hier, der Jack mit dem Säbel schlagen könnte – bei dir probier’ ich’s besser gar nicht erst. Ich denke, ich spreche für alle, wenn ich sage, dass du und Elizabeth eigentlich hier an Bord gehören. Elizabeth, weil sie eine exzellente Köchin ist, die auch noch fechten kann; du, weil du weißt, wann wir kämpfen sollten und wann wir es besser lassen sollten; weil du weißt, wie man einen Piraten an seiner nicht vorhandenen Ehre packt. Du wärst ein guter Captain. Nein, schüttel’ nicht den Kopf, ich weiß, dass du das nicht willst. Du wärst ein guter Captain! Und würde Jack auf mich hören und sich eine kleine Flotte zulegen, wärst du der nächste, den ich zum Captain haben wollte. Deine bissigen Bemerkungen bei der Musterung damals auf Tortuga waren Gold wert und deine gesunde Skepsis gegenüber Joshamees Seemannsgarn ebenso. Master Turner, wenn Euch alle anderen Wege versperrt sind, wird es die Black Pearl hoffentlich noch geben oder ein anderes Schiff, auf dem wir fahren. Du wirst bei uns stets willkommen sein.“
Ein vielstimmiges:
„Aye!“, bestätigte Hammonds Rede – und der Unmut der Crew war verflogen wie Nebel im Sturm. Will hob die Hände und winkte ab.
„Danke, Ambrose, dein Angebot weiß ich zu schätzen, aber mit Jack als Captain bist du besser bedient, glaub mir!“
Drei Boote der Black Pearl pullten mit kleineren Truhen in die Grotte. Will und Elizabeth – sie konnte aus den von Groaltek genannten Gründen ebenfalls nicht unter den Fluch fallen – zählten die Medaillons in die Umladetruhen.
„Hmm, versteh’ ich nicht. Ich komme einschließlich des Medaillons, das ich um den Hals trage, nur auf siebenhundertfünfzig. Es müssen aber achthundertzweiundachtzig sein …“, brummte er.
„Sind bei dem Kampf mit Barbossa welche aus der Truhe gefallen?“, fragte sie. Er schüttelte den Kopf.
„Nein, der Einzige, der noch eins herausgenommen hat, war Jack; und das habe ich zusammen mit meinem wieder zurückgegeben. Die Truhe war offen, aber …“
Schulterzuckend brach er ab.
„Könnte Jacoby eine seiner Handbomben in die Truhe geworfen haben?“, mutmaßte sie.
„Ich weiß nicht. Suchen wir mal im Beuteberg“, erwiderte er.
Elizabeth, Will und Cotton durchforsteten den Beuteberg; sie fanden Gold- und Silbermünzen aller denkbaren Provenienzen, aber kein weiteres Aztekenmedaillon. Sie suchten auch die weitere Umgebung ab, fanden aber nichts. Elizabeth stockte und wies auf einen Platz am Fuß des Beuteberges.
„Sag mal, hat hier damals nicht Captain Barbossa gelegen?“, erkundigte sie sich.
„Ja, aber Bermuda Barbossa hat ihn gefunden und auf See bestattet, wie Jack und ich von ihr erfahren haben.“
„Könnte sie welche von den Medaillons mitgenommen haben?“
„Nein, das kann nicht sein. Wir haben die Black Pearl II versenkt, Jack hat Bermuda aufgespießt und ich ihren Maat. Die waren mindestens so tot wie Papa Barbossa.“
„Ganz sicher?“
Will lächelte über den zweifelnden Blick seiner Frau.
„Ganz sicher. Ich habe Jack hier in der Höhle mit einem Säbel durchbohrt gesehen. Er ist nicht mal zusammengebrochen. Ich habe Barbossas Piraten einige Male die Klinge komplett durch die Rippen geschoben. Die haben zwar gebrüllt vor Schmerz, aber sie fielen nicht um. Erinnere dich an das Geschrei der drei Spießbrüder, die wir auf dem Flaggstock aufgefädelt haben. Nein, Bermuda und ihr Maat waren tot. Ganz sicher“, erwiderte er.
„Wer kennt die Position dieser Insel noch?“, fragte sie weiter.
„Jack, Vater, James Norrington. Sonst wüsste ich keinen. Norrington scheidet für so etwas einfach aus.“
Elizabeth dachte angestrengt nach.
„Hmm, Jack hat die Position nicht an Norrington selbst gegeben, sondern an seinen Navigator. Ich rede mit ihm.“
„Gut. Transportieren wir erst mal den Teil ab, den wir schon haben. Ich baue die Truhe auseinander und komme dann mit Cotton nach.“
Elizabeth, Marty und Gibbs brachten die Transporttruhen in die beiden Boote und pullten zurück zur Black Pearl, während Cotton Will beim Auseinanderbauen der Truhe assistierte. Vorsichtshalber markierte Will die Einzelteile mit Kohle und verpackte die Klammern dann sorgfältig in seinem ledernen Werkzeugsack. Dann hatte er eine Idee, wer um den Verbleib der fehlenden Medaillons etwas wissen konnte und rieb an seinem Medaillon.
„Groaltek, zeig’ dich bitte“, sagte er. Ein grünliches Leuchten floss aus dem Medaillon, kondensierte zum Wächter des Schatzes.
„Was wünschst du?“, fragte der Geist. Cotton wollte flüchten, aber Will bekam den alten Seemann am Arm zu fassen und hielt ihn sanft, aber bestimmt, fest.
„Groaltek, die Medaillons sind nicht vollständig. Es fehlen über hundertdreißig Stück“, erklärte der Schmied.
„Klingt vorwurfsvoll, wie du das sagst …“, brummte das Gespenst.
„Entschuldige, wenn es so klingt, das sollte es nicht. Nein, ich frag’ mich, ob du vielleicht etwas über deren Verbleib weißt.“
„Nein, das weiß ich nicht. Sieh mal, ich bin erst seit kurzer Zeit in dieser Gestalt.“
„Seit wann?“
„Nach euren menschlichen Maßstäben seit zwei Wochen. So lange bin ich der Wächter des Schatzes.“
„Nun, demnach ist in den letzten zwei Wochen niemand hier gewesen, oder?“
Groaltek schüttelte den Kopf.
„Danke, Groaltek. Wenn du möchtest, kannst du dich in deine Sphäre verziehen“, lächelte Will. Groaltek grüßte mit einem Winken, löste sich auf und verschwand als grüner Dunst wieder in Wills Medaillon. Cotton sah den jungen Mann mit einer Mischung aus Unglauben und Verwirrung an.
„Keine Angst, Cotton, der tut nichts“, beruhigte Will den alten Seebären.
„Bringt Unglück mit Geistern zu reden“, krächzte Cottons Papagei.
„Nein, glaube ich nicht. Komm, Cotton, hilf mir mit den Steinplatten“, erwiderte Will.
Wenig später pullte Cotton das Boot aus der Grotte. Der Mond beschien es und Will durfte feststellen, dass der Geist nicht geschwindelt hatte: Will hatte eines der Medaillons direkt aus der Truhe genommen – aber er blieb auch im Mondlicht ein normaler Mensch. Cotton lächelte den jungen Mann versonnen an.
„Will wird kein Skelett“, krächzte der Papagei.
„Nein, Cotton. Aber ich warte mal ab, was die Sonne dazu sagt“, erwiderte Will. Sein Amulett leuchtete grün auf und Groalteks Kopf erschien auf einem langen, grünen Faden.
„Warum zweifelst du an meinen Worten, Will?“
„Sei bitte nicht gleich beleidigt, Groaltek. Ich habe auf meinen Touren mit Captain Sparrow nur gemerkt, dass man gewisse Dinge erst nach gewissenhafter Prüfung glauben darf. Das ist kein persönliches Misstrauen gegen dich. Morgen früh wird die Sonne aufgehen und ich unterstelle, dass ich dann ebenso normal aussehe wie jetzt. Wenn nicht, kann ich zwar toben, aber das wird mir dann nichts nützen. Doch ich will dir vertrauen“, erwiderte Will lächelnd, während das Boot sich der Black Pearl näherte.
An Bord der Black Pearl traf Will in Jacks Kapitänskajüte auf eine versammelte Führungsmannschaft: Jack, Gibbs, Hammond, William senior und Elizabeth. Elizabeth hatte bereits berichtet, dass die Medaillons nicht vollständig waren.
„Und was nun?“, fragte Gibbs. Will rieb an seinem Medaillon, Groaltek erschien prompt.
„Entschuldige, wenn ich dich noch mal störe, Groaltek. Also, wir wissen, dass die Medaillons nicht vollständig sind. Hat es Sinn, die anderen siebenhundertfünfzig ohne die fehlenden Stücke nach Cozumel zu bringen?“, erkundigte sich Will. Groaltek glitt ganz aus dem Medaillon und ließ sich auf einem Sessel im Schneidersitz nieder.
„Nein, das hätte keinen Zweck. Das Aztekengold kann nur mit einem Schlag vernichtet werden. Außerdem müsst ihr damit rechnen, dass die, die sich die fehlenden Teile angeeignet haben, dem Fluch verfallen sind – und nicht getötet werden können“, antwortete er. Jack sah die leuchtendgrüne Erscheinung eine Weile an.
„Nehmen wir mal an, jemand hat sich diese Teile unter den Nagel gerissen und unterliegt dem Fluch. Was geschieht eigentlich, wenn er sie nicht in ihrer ursprünglichen Form lässt, sondern sie verändert, also was anderes draus macht?“
„Wer schuldig ist – also etwas getan hat, was gegen das Recht der Götter verstößt – ist dem Fluch verfallen. Da Will und Elizabeth dergleichen nicht getan haben, trifft der Fluch sie nicht. Aber andere sind ihm verfallen. Werden Teile davon eingeschmolzen, würde der Betreffende nur durch ein besonderes Opfer in Cozumel selbst vom Fluch zu befreien sein. Aber das wäre schon ein echtes Opfer“, erklärte das Schatzgespenst.
„Zum Beispiel?“, fragte Will. Groaltek machte eine vielsagende Geste zu Jack.
„Na ja, nimm mal Jack. Hätte er Medaillons aus dem Schatz mitgehen lassen und sie eingeschmolzen, müsste er dieses Schiff hergeben“, sagte Groaltek. „Sieh in seine Augen und du weißt, welches Opfer notwendig ist. Jemand, der das tut, müsste das Liebste auf dieser Welt hergeben, um sich von dem Fluch wieder zu befreien. Aber, wie auch immer, der Fluch trifft immer nur den Dieb selbst. Du und Elizabeth, ihr habt das Medaillon lange besessen, aber der Fluch traf in diesem Fall nur deinen Vater.“
„Stimmt, aber nach deinen Worten haben wir keine Schuld auf uns geladen.“
„Das ist zwar so richtig; dennoch gilt immer, dass der Fluch nur den trifft, der das Gold direkt aus der Truhe nimmt. Entweder er gibt es zurück und ein Unschuldiger gibt aus freiem Willen sein Blut dazu oder der Fluch bleibt an ihm kleben.“
Elizabeth sah den Geist interessiert an.
„Groaltek, heißt das etwa, ich hätte Barbossa und seine Bande ebenfalls von dem Fluch befreien können?“, fragte sie.
„Ja, aber nur, wenn du es freiwillig getan hättest. Barbossa hat dich aber entführt und hat dich gegen deinen Willen bluten lassen“, erklärte der Geist. Elizabeth machte eine ausladende Geste.
„Diese Schwachköpfe! Als Barbossa mir in die Hand schnitt und ich ihn gefragt habe, ob das alles sei, meinte er: ‚Spare in der Zeit.’ Ich hab’ mir dann gesagt: ‚Hätten die dich einfach nur gefragt, ob ich ihnen auf diese Weise helfen will, hätte ich ja gesagt.’ Solche Idioten!“
Groaltek grinste.
„Auch Wills Blut hätte ihnen nichts genützt, hätte Barbossa ihn umgebracht, um an sein Blut zu kommen. Erst bei dem Kampf in der Höhle, da gab er es aus freien Stücken – und nur das wirkte“, sagte er. Will runzelte nachdenklich die Stirn.
„Groaltek, du hast mir vorhin gesagt, du bist erst seit zwei Wochen der Wächter des Schatzes. Hab’ ich doch so richtig verstanden, oder?“, hakte er nach.
„Ja“, bestätigte Groaltek.
„Du sagst, du weißt nicht, wer die fehlenden Medaillons gestohlen hat.“
„Ja“
„Woher weißt du dann diese Dinge, die sechs Monate her sind?“, fragte Will. Der Geist sah ihn erschrocken an, seine grüne Färbung nahm ein knalliges Rot an, er schien nach Luft zu schnappen.
„Du hast mich bei einer Lüge ertappt, Meister!“, sagte der Geist kleinlaut und wurde blau. „Jetzt muss ich dir dienen“, seufzte er.
„Groaltek, ich will nicht deinen Dienst. Ich will wissen, wer sich an den Medaillons vergriffen hat“, erwiderte Will beruhigend.
„Du schlägst solche Zusagen schnell aus, Junior!“, mahnte Jack. „Vielleicht solltest du ihn eine Weile dein Diener sein lassen …“, empfahl er mit einem schrägen Grinsen und einem Seitenblick auf Groaltek. Der Geist begann zu zittern.
„Ich darf es dir nicht sagen“, stieß er hervor.
„Der Fluch kann nur gebrochen werden, wenn der Schatz insgesamt vernichtet wird. Was verschweigst du uns noch, Groaltek? Sollte das Sonnenlicht doch üblen Einfluss auf mich haben?“, fragte Will scharf nach und umfasste das Medaillon wie unter einer Eingebung, damit Groaltek nicht darin verschwinden konnte. Das Schatzgespenst schwebte vom Sessel hoch und warf sich Will vor die Füße.
„Hab’ Erbarmen, Will!“, flehte er.
„Komm, steh’ auf. Ich bin nur ein gewöhnlicher Waffenschmied.“
Groaltek peilte vorsichtig unter den Armen hervor, sah Will vor sich hocken und richtete sich vorsichtig wieder auf.
„Meister, hast du es eilig mit der Vernichtung des Schatzes?“, fragte der Geist.
„Du hattest empfohlen, es baldmöglichst zu tun“, erinnerte Will.
„Die, die sich daran vergriffen haben, wissen noch nichts von den negativen Folgen des Fluchs. Sie scheinen mir aber ebenso dumm zu sein wie Barbossa und seine Leute. Lass’ sie doch noch zappeln und unter dem Fluch leiden. Dir kann nichts passieren und deinen Freunden auch nicht.“
„Der verfluchte Schatz hat keinen guten Einfluss auf die Crew der Black Pearl wie ich weiß. Dann hätten wir ihn besser auf der Isla de Muerta gelassen“, brummte Will.
„Er ist dort nicht mehr sicher. Admiral Norrington kennt die Insel. Jamie Einauge kennt sie auch“, warnte Groaltek.
„Wie war das? Norrington ist klar. Dem und seinem Navigator hab’ ich das selbst gesagt. Aber woher weiß Jamie davon?“, fragte Jack.
„Du weißt, was Jamies Profession ist, oder? Du weißt auch, dass die ganze Mannschaft von Bermuda Barbossa von der Insel weiß, oder?“
„Aye. Aber was hat das eine mit dem anderen zu tun?“, erkundigte sich Jack weiter.
„Manuel Cozo, ein früheres Mitglied von Bermudas Crew, ist auf Jamie gestoßen – und der hat’s ihm erzählt“,
„Manuel, diese Ratte, lebt noch?“, schnappte Sparrow. Groaltek nickte.
„Dann hat Jamie die anderen Medaillons, richtig?“, bohrte Jack weiter. Groaltek wurde gelb vor Schreck. Er hatte sein Geheimnis doch ausgeplaudert.
„Ja, hat er“, hustete das Gespenst.
„Aber dann verstehe ich nicht, weshalb die beiden Männer aus Jamies Crew tot sind, die wie Will von den Kartätschensplittern getroffen wurden“, brummte Gibbs. „Die können doch nicht sterben!“
„Die schon. Wie gesagt: Nur, wer die Stücke direkt aus der Truhe nimmt, ist verflucht. Diese beiden haben Bordwache gehalten und waren nicht in der Grotte“, erklärte Groaltek, der nun auch mehr zu dem Umstand sagen konnte. „Aber der Admiral ist wohl euer größeres Problem“, setzte er dann hinzu.
„Was hat der damit zu tun?“
„Mit dem Schatz direkt nichts. Aber er ist hinter euch her“, warnte der Geist.
„Das ist bei ihm chronisch“, versetzte Jack mit einem gefrorenen Grinsen. Will sah Groaltek verblüfft an.
„Der hat sich seit Monaten nicht mehr um Jack gekümmert, weil der Gouverneur ihn und seine Crew amnestiert hat“, wunderte sich Will. „Jack, diese Medaillons sind und bleiben verflucht, auch wenn uns nicht der unmittelbare Fluch trifft – aber die Dinger sind nicht gesund“, wandte er sich dann an den Captain.
„Du meinst, der Schatz führt Norrington auf unsere Spur?“
„So in der Art“, erwiderte Will. „Ist es nicht so, Groaltek?“
Das Schatzgespenst wurde wieder blau.
„Ja, Meister.“
„Das Zeug kann hier nicht an Bord bleiben. Aber ich hätte da eine Idee.“
Jack sah ihn erwartungsvoll an, doch Will sagte nichts und peilte nur auf die Seekarte.
„Hä? Was meinst du?“
Will brummte und wies mit dem Kinn auf die Karte. Jack reagierte nicht, dafür begriff Elizabeth.
„Jack, du warst doch mal für kurze Zeit Gouverneur“, erinnerte sie ihn mit einem schelmischen Lächeln. Es dauerte eine Weile, bis Jack begriff.
„Oh, ja. Das is’ ‘ne gute Idee … Aber das weiß Norrington auch“, gab er dann zu bedenken.
„Nein, das weiß er nicht“, entgegnete Will. Groaltek sah die Piraten verwirrt an, bis Will ihn freundlich anlächelte.
„Ist vielleicht besser, wenn du’s nicht weißt, lieber Groaltek“, grinste er.
Kapitel 14
Der Tresor von Maroon Island
Die Black Pearl ankerte vor der kleinen Insel, die Jack zu gut kannte, als dass er sie nochmals freiwillig betreten wollte. Will und Elizabeth pullten allein zu der Insel, die sie für sich Maroon Island* getauft hatten, nachdem Jack hier gleich zweimal ausgesetzt worden war. Andere nannten die Insel die Rumschmugglerinsel, aber der private Name hatte den charmanten Vorteil, dass außer Elizabeth und Will damit wirklich niemand etwas anfangen konnte. Im Boot hatten sie drei handliche Truhen mit den verfluchten Medaillons, die sie dort deponieren wollten.
Das alte Rumschmugglerdepot hatten Jack und Elizabeth bei ihrer letzten Visite nach dem Aussetzen durch Barbossa geplündert. Will hatte es bestehen lassen, es fand sich auch immer etwas in diesem Depot; aber für seine eigenen Zwecke hatte der junge Schmied tief im Palmenwald seinen eigenen Tresor angelegt. Dort lagerte sein und Elizabeths Anteil an der Beute der Isla de Muerta und war so sicher verwahrt wie nur auf irgendeiner der anderen Schatzinseln, die es in der Karibik zu Tausenden gab und von denen kaum eine auf einer offiziellen Karte erschien.
Da Jack diese Insel nicht mehr betrat, wussten tatsächlich nur Elizabeth und Will um das kleine Geheimnis von Maroon Island. Gemessen an dem, was sich in dieser … Bank … befand, war das junge Paar durchaus als reich zu bezeichnen, doch war ihnen klar, dass sie diese Beute nur sehr vorsichtig benutzen konnten. So manches Goldstück hatte seinen Weg in den Schmelzofen der Schmiede in Port Royal gefunden, war aber nie unverändert wieder in den Umlauf gekommen. Will grinste vor sich hin, wenn er daran dachte, dass selbst Admiral Norrington Piratengold bei sich trug: Der Griff seines Admiralssäbels bestand aus Beutegold, doch das musste der Herr Admiral ja nicht unbedingt wissen …
Das Depot im Palmenwald war wie erwartet völlig unberührt. Nicht einmal Fußspuren waren hier zu finden. Um diese kleine Insel machten offensichtlich alle Schiffe große Bögen. Will und Elizabeth registrierten zufrieden, dass nach wie vor außer ihnen beiden niemand um das genaue Versteck ihres eigenen Beuteanteils wusste. Dort verstauten sie die Truhen mit den verfluchten Medaillons. In einem kleinen Beutel nahm Will einige Goldstücke – spanische Dublonen, rheinische und österreichische Goldgulden, dänische Goldkronen – von der dort befindlichen Beute mit, die dem nominellen Gegenwert der an Jack und seine Crew gelieferten Entermesser entsprach, und die er für eine geplante Investition in der Schmiede mitnehmen wollte. Schließlich verschlossen sie das Depot wieder sorgfältig mit Balken, Brettern und einer Menge feinem, weißem Sand sowie einigen tarnenden abgestorbenen Palmblättern – und abgefallenen Kokosnüssen in nahezu jeglichem Reife und Verwesungszustand. Wer nicht genau wusste, wo das Versteck zu finden war, würde es in dreihundert Jahren noch nicht gefunden haben.
Will verwischte sorgsam ihre Spuren und hinterließ umso deutlichere, die auf das alte Rumdepot hinwiesen. Dann stiegen sie wieder ins Boot und pullten zur Black Pearl zurück, auf der Jack schon alle Segel hatte setzen lassen. Das Boot wurde an Bord gehievt.
„Anker lichten! Männer an die Brassen! Kurs Port Royal!“, befahl Jack.
„Schiff achteraus!“, meldete Marty vom Ausguck im Großmars. „Das ist die Dauntless!“
„Norrington!“, entfuhr es Gibbs. „Riemen ‘raus, Sir?“, fragte er. Jack peilte zu Marty nach oben.
„Wo ist sie genau?“, fragte er.
„Auf der anderen Seite der Insel, nimmt aber Kurs auf diese Gewässer!“, rief Marty zurück. „Sie versucht, uns den Weg abzuschneiden!“, warnte er dann. Will sprang auf die Reling und peilte nach achtern.
„Sie kommen schnell auf. Der Wind ist günstig“, meldete er.
„Jack! Sie geben Signal zum Stoppen!“, schrie Marty.
„Segel einholen! Anker fallen lassen!“, kommandierte Jack kurz entschlossen.
„Du … Du willst dich ergeben?“, stotterte Hammond verblüfft. Jack grinste golden.
„Wir haben nichts an Bord, was auch nur nach Beute riecht, mein Guter. Sollen sie uns doch durchsuchen!“, erwiderte Jack. „Los, setzt die britische Flagge!“
Lieutenant-Commander Gillette staunte nicht schlecht, dass auf der Black Pearl nach dem Kommando zum Halten die britische Handelsflagge hochstieg und keineswegs die erwartete schwarze Piratenflagge. Die Black Pearl lag brav vor Anker und machte keine Anstalten, sich einer Durchsuchung zu entziehen.
„Klar bei Enterhaken, Männer! Legt eine Brücke ‘rüber!“, befahl der Lieutenant-Commander, als die HMS Dauntless an der Black Pearl längsseits ging. Gillette und ein Prisenkommando von zehn seiner Marines stiegen auf die Black Pearl über.
„Hallo, Sparrow, so sieht man sich wieder!“, grüßte der junge Lieutenant-Commander.
„Captain Sparrow! So viel Zeit muss sein, Mr. Gillette!“, erwiderte Jack mit kühlem, aber gekonnt gespielt diensteifrigem Grinsen. „Was kann ich für Euch tun, Commander?“, fragte er dann. Gillette sah ihn herablassend an.
„Ihr seid Pirat, Captain Sparrow. Ihr und Eure Mannschaft seid verhaftet – schlicht und einfach!“, grinste der Navy-Offizier.
„Moment!“, meldete Will sich zu Wort. „Mit welchem Recht wollt Ihr diese Leute verhaften, wenn sie seit Monaten amnestiert sind?“
Gillette maß Will ebenso abschätzig von oben bis unten.
„Ah, auch mal wieder Pirat spielen, Turner?“, grinste er ihn an. Wills Augen nahmen eine dunklere Schattierung verhaltenen Zorns an.
„Erstens gebietet die Höflichkeit, mindestens Mister Turner zu sagen, Lieutenant-Commander Gillette, und zweitens nehmt bitte zur Kenntnis, dass Captain Sparrow meine Frau und mich zu einer Hochzeitsreise eingeladen hat! Seit Captain Sparrow uns in Port Royal abgeholt hat, haben wir eine nette Vergnügungsfahrt gemacht, einige Inseln besucht, aber hier hat kein Akt der Piraterie stattgefunden! Und die Behauptung, ich würde Pirat spielen, nehmt Ihr zurück. Anderenfalls werde ich mich beim Gouverneur beschweren!“, knurrte er.
„Hochzeitsreise? Auf einem Piratenschiff?“, fragte Gillette mit süffisantem Unterton.
„Hochzeitsreise!“, bekräftigte Elizabeth und trat neben Will. „Ihr könnt das Schiff durchsuchen – von der Mastspitze bis in die Bilge: Ihr werdet absolut nichts finden, was auf Piratenbeute hinweist, Commander Gillette. Captain Sparrow hat nach seiner absolut unrechtmäßigen Verhaftung nach meiner Befreiung nichts mehr getan, was in Großbritannien gesetzwidrig sein könnte und ist ein braver Handelskapitän, wie ich mich überzeugen konnte!“
„Wo seid Ihr gewesen?“, fragte Gillette nach.
„Auf Tortuga, sind nach Trinidad weiter gesegelt, haben Paramaribo und Cayenne an der südamerikanischen Küste besucht und haben hier in der Karibik einige Inseln aufgesucht, die während meiner Entführung maßgebliche Schauplätze waren. Manche davon sind von außergewöhnlicher Schönheit. Ich wollte sie gern unter anderen Umständen sehen als vor einem halben Jahr“, versetzte Elizabeth.
„Cayenne? Eine französische Stadt? Als Briten???“, entfuhr es Gillette.
„Aye“, erwiderte Will grinsend. „Dass ein Krieg ausgebrochen ist, haben wir dann zu erfahren bekommen, als uns die Franzosen ein paar Tage nach unserem sehr unkomplizierten Besuch ohne Vorwarnung angegriffen haben. Dank der durchaus vorhandenen Kampfkraft der Crew von Captain Sparrow sind wir ihnen entwischt.“
Gillette drehte sich um.
„Mr. Mullroy: Durchsucht dieses Schiff! Was auch nur den Anschein erweckt, Beute zu sein, wird samt seinem jetzigen Besitzer an Deck geschafft!“
„Aye, Sir!“, bestätigte der beleibte Mullroy und verteilte seine Leute, die eilig im Schiff verschwanden, während die Crew von den restlichen Soldaten umstellt an Deck stehen blieb.
„Hochzeitsreise! Ein halbes Jahr danach?“, bohrte Gillette unnachgiebig weiter.
„Erstens sind wir erst drei Monate verheiratet und zweitens war bislang in der Schmiede zu viel zu tun, als dass ich für längere Zeit hätte wegfahren können, Mr. Gillette“, erklärte Will.
Der Lieutenant-Commander nahm das zunächst zur Kenntnis und ging durch die versammelte Mannschaft hindurch, blieb schließlich von Stiefelriemen stehen. Verblüfft drehte er sich zu Will um und sah von einem zum anderen.
„Wer seid Ihr?“, fragte er dann den Älteren.
„William Turner ist mein Name. William Turner senior, um genau zu sein, Sir.“
„Verwandtschaft?“
„Der junge Gentleman ist mein Sohn, Commander“, grinste Bill.
„Euer … Sohn?“, fragte Gillette sichtlich erschrocken. „Ihr geltet als verschollen, Mr. Turner!“
Bill lächelte verbindlich.
„Das war ich in gewisser Weise auch. Seht, ich wurde vor vielen Jahren von Piraten gefangen genommen. Mein Freund Jack Sparrow hat nie aufgehört, mich zu suchen. Gewiss ist er dafür nicht immer den legalen Weg gegangen, aber Piraten kann man auch nur mit ihren eigenen Waffen schlagen. Als er es herausgefunden hatte, wo ich gefangen gehalten wurde, hat er Will alarmiert – und sie konnten mich endlich aus den Fängen meiner Feinde befreien. Aber mein Freund Jack würde eine solche Heldentat nie an die große Glocke hängen. Wie ich höre, haben die britischen Behörden mich ja schnell aufgegeben“, grinste Stiefelriemen.
Mullroy kam von der Durchsuchung zurück, den Arm voller Säbel und einen kleinen Geldsack in der Hand.
„Sir, ich melde: Keine Sachen gefunden, die auf Piratenbeute schließen lassen. Nur diese Waffen. Alle nagelneu. Und dieser Geldsack mit Goldstücken im Wert von etwa vierhundert Guineas“, meldete der Sergeant. Gillette untersuchte die Dinge kurz.
„Mr. Turner!“, rief er dann – und prompt standen beide William Turners bei ihm.
„Euch meine ich, Meister Turner: Wie kommen Waffen aus Eurer Werkstatt auf dieses Schiff?“, fragte Gillette scharf.
„Ich bin Waffenschmied, Lieutenant-Commander Gillette. Und ich lebe nicht nur von Aufträgen der Royal Navy. Es gibt kein Gesetz, das mir verbietet, meine Waffen feilzubieten und zu verkaufen. Captain Sparrow und seine Männer sind meine Kunden, seit sie ehrliche Seeleute sind“, versetzte Will und streckte die Hand aus. „Und das Geld, was Ihr Sergeant hier offen ausbreitet, ist meins – die Bezahlung für zwanzig Säbel. Wenn ich bitten dürfte …“
„Was berechnet Ihr für solche Säbel?“
„Zwanzig Guineas das Stück. Bringt mich jetzt nicht in Verlegenheit und nennt den Preis, den ich von der Navy für solchen Waffen bekomme, Mr. Gillette.“
Noch zögernd gab Gillette Will den Geldbeutel zurück.
„Und das können sich ehrliche Seeleute leisten?“, fragte er misstrauisch. Will lächelte in seiner unnachahmlichen Art.
„Offensichtlich. Captain Sparrow ist ein erfolgreicher Handelskapitän, der seinen Leuten eine gute Heuer bezahlt. Eigentlich steht es mir nicht zu, meine Kunden nach der Herkunft ihres Geldes zu fragen, aber bei Captain Sparrow habe ich schon etwas genauer hingeschaut. Mit üblen Piraten mache ich keine Geschäfte“, erklärte Will. Gillette entging, dass er üblen durchaus betonte. Gillette nickte Mullroy zu, der die Säbel wieder wegtrug. Der Lieutenant-Commander seufzte.
„Ich glaube Euch kein Wort, aber ich habe keine Beweise. Nun gut, ich wünsche Euch eine gute Fahrt und günstigen Wind“, sagte er und sah Jack an. „Doch ich werde Euch im Auge behalten, Captain Sparrow“, warnte er dann. Jack knickste gespielt ehrfurchtsvoll mit eisigem Grinsen.
„Allzeit gute Fahrt und immer eine Handbreit Wasser unter ‘m Kiel, Commander Gillette“, erwiderte Jack. „Lasst es mich wissen, wenn Ihr Unterstützung gegen böse Piraten braucht“, setzte er mit einer eleganten Verbeugung hinzu.
Gillette und seine Leute verließen die Black Pearl, die Brücke wurde eingezogen und die Enterhaken gelöst. Die HMS Dauntless entfernte sich.
„Anker lichten! Alle Mann an die Brassen! Lasst die Segel fallen und voll im Wind!“, befahl Jack. Die Männer enterten die Wanten, die Segel fielen, standen schwarz, aber seidig glänzend und prall im Wind, der von achtern hineingriff. Die Black Pearl nahm Fahrt auf und überholte bald die HMS Dauntless, bevor sie dann nach Steuerbord Richtung Westen abdrehte. Jack ließ die Flagge als Gruß an das Navy-Schiff dippen*.
Als die HMS Dauntless hinter der Black Pearl zurückblieb, war Gillette überzeugt, dass Jack Sparrow und Will Turner die Wahrheit gesagt hatten. Wäre Sparrow unlauter gewesen, hätte er sich nicht kontrollieren lassen, sondern das Weite gesucht. Die Black Pearl war erheblich schneller als die HMS Dauntless – und Jack wusste das nur zu gut. Diese Demonstration war recht eindrucksvoll gewesen.
Kaum war die HMS Dauntless außer Rufweite, winkte Jack die Turners zu sich.
„Eins muss ich euch lassen: Ihr könnt lügen ohne rot zu werden“, grinste er. Elizabeth lächelte.
„Also: Will hat seinem alten Meister mitgeteilt, er gehe auf Hochzeitsreise, ich habe das gleiche meinem Vater erzählt und diese Säbel sind in den Büchern der Schmiede mit einem Stückpreis von zwanzig Guineas ordentlich eingetragen und verbucht – und die Crew der Black Pearl, Heimathafen Port Royal, britische Kolonie Jamaica, als Kunden in der Kundenkartei notiert. Also, selbst, wenn Gillette eine Durchsuchung veranlassen sollte, wird er nichts Verdächtiges finden.“
Jacks Grinsen wurde immer breiter, das der Männer der Mannschaft ebenfalls.
„Wenn du noch mal behauptest, kein Pirat zu sein, gib auf den nächsten Mond Acht, mein Junge!“, lachte Stiefelriemen.
„Nachdem du dich an den verfluchten Medaillons vergriffen hast, solltest du besser nicht mehr so haarsträubend lügen!“, setzte Jack hinzu. Will lächelte gewinnend.
„Jack, die Säbel waren die Bezahlung für die Reise an euch“, sagte er. „Aber so habe ich eine plausible Erklärung, woher ich plötzlich Gold im Wert von vierhundert Guineas habe, das ich dringend für eine Investition in der Schmiede benötige – ohne dass bekannt wird, dass ich einen guten Anteil an Barbossas Beute bekommen habe.“
„Pirat!“, grinste Jack. „Und auch noch einer von der ganz raffinierten Sorte“, setzte er hinzu. Dann sah er einen Moment über das weite Meer, das sich vor ihnen ausbreitete.
„Ich denke, es wäre besser, Jamie erst einmal im eigenen Saft schmoren zu lassen. Er wird bald merken, dass mit diesem Fluch nicht gut zu leben ist. Wir bringen euch nach Port Royal zurück und lassen ein paar Springfluten über diese Geschichte spülen“, schlug Captain Sparrow dann vor.
„Und was macht ihr inzwischen?“, erkundigte sich Will. Jack grinste.
„Wir? Wir fahren an den Horizont.“
Kapitel 15
Gillettes Verdacht
Drei Tage später legte die Black Pearl unter britischer Flagge völlig offiziell im Hafen von Port Royal an. Jack und Bill begleiteten Will und Elizabeth in die Stadt, Jack bezahlte beim Hafenmeister zwei Shilling Liegegebühr, nannte brav seinen Namen und ließ sogar dessen Geldbörse ungeschoren, die wieder so einladend und herrenlos auf dessen Stehpult lag.
Das lockere Gespräch fand ein jähes Ende, als die Vier in die Coal Lane einbogen. Ein Dutzend Soldaten stand mit Gewehren im Anschlag um den Eingang der Schmiede, von drinnen dröhnten Geräusche, die auf ein gewaltsames Auseinandernehmen der Einrichtung schließen ließen.
„Was geht hier vor?“, fuhr Will den vordersten Soldaten an und schaute in die Mündung des Gewehrs.
„Hände hoch!“, kommandierte der Soldat. „Wer seid Ihr?“
„Will Turner – und das ist meine Schmiede, die da offensichtlich geplündert wird!“, fauchte Will zornig. Elizabeth übersah kurz, was vorging.
„Ich hole meinen Vater!“, rief sie, drehte sich um und rannte flugsen Schrittes in Richtung der Gouverneursvilla, bevor noch jemand sie recht bemerkt hatte.
Wie auf Wills Ruf trat Lieutenant-Commander Gillette aus der Tür.
„Tag, Turner“, wandte er sich recht unhöflich an Will, dessen nussbraune Augen vor Zorn schwarz wurden.
„Was geht hier vor?“, fragte er erneut, diesmal den Commander. Gillette grinste süffisant.
„Hausdurchsuchung, Turner!“, versetzte er.
„Aus welchem Anlass und mit welcher Befugnis, Gillette?“, knurrte der junge Schmied.
„Commander Gillette“, korrigierte der Angesprochene kühl. Will erwiderte sein kaltes Lächeln.
„Solange Ihr Euch nicht zu einem Mister herablassen könnt, sehe ich keine Veranlassung, vor Euch zu katzbuckeln, Gillette!“, entgegnete er mit nur noch mühsam verhaltenem Zorn.
„Ich sehe, Eure Gesellschaft hat sich noch nicht gebessert“, fuhr der Commander kühl fort.
„Ich weiß immer noch nicht, was Euch das Recht gibt, meine Schmiede auf den Kopf zu stellen!“, fuhr Will ihn erbittert an.
„Ihr steht im dringenden Verdacht der Piraterie – und Eure Begleiter ohnehin. Also: Was habt Ihr zu Eurer Verteidigung zu sagen, Turner?“
„Ich bin kein Pirat!“
„Ihr leugnet also?“
„Warum sollte ich etwas gestehen, was ich nicht bin und was ich nicht tue?“, knurrte Will.
Die Soldaten rückten näher. Jack und Bill griffen nach den Säbeln, aber Will winkte ab.
„Nein, lasst es!“, wandte er sich an Vater und Freund. „Gillette, ich weiß nicht, was Euch zu dieser aberwitzigen Behauptung treibt! Was habt Ihr gegen mich vorzubringen, dass Euch die Erlaubnis für eine Hausdurchsuchung gegeben wurde?“
„Ihr wart auf der Black Pearl, auf einem Piratenschiff!“, schleuderte Gillette ihm entgegen. Im selben Moment kam Lieutenant Stevens aus der Schmiede.
„Nichts, Sir, die Bücher sind nicht hier“, sagte er. Gillette gab seinen Leuten einen Wink, die ihre Gewehre auf Will, Jack und Stiefelriemen richteten.
„Ihr habt also keine Geschäftsbücher!“, stellte der Commander süffisant fest.
„Gillette! Ich wohne nicht in der Schmiede! Meine Geschäftsbücher befinden sich nicht hier! Sie sind im zweiten Stock der Gouverneursvilla, wo ich mit meiner Frau bei meinem Schwiegervater wohne!“, knurrte Will zornig. Er schob Gillette und zwei seiner Soldaten einfach beiseite und drängte sich bis ich die Schmiede durch. Was er sah, ließ ihn schaudern.
„Gillette!“, rief er wütend. „Wollt Ihr den Palast des Gouverneurs ebenso auf den Kopf stellen?“, donnerte er den Commander an. „Kann ein braver Handwerker heutzutage nicht einmal auf Hochzeitsreise gehen, ohne der Piraterie verdächtigt zu werden?“
„Hochzeitsreise? Macht Euch nicht lächerlich, Turner! Auf einem Piratenschiff macht man keine Hochzeitsreise!“, fuhr Gillette den wütenden jungen Mann an.
„Gillette – ich warne Euch! Die Schmiede wird so wieder hergerichtet, wie sie war – und zwar innerhalb einer Stunde! Ich werde mich beim Admiral beschweren, nötigenfalls beim Ersten Seelord Seiner Majestät, wenn es sein muss! So geht man nicht mit einem britischen Bürger um! Was zum Teufel, wollt Ihr eigentlich mit meinen Geschäftsbüchern?“
„Ihr steht neben der Piraterie auch im dringenden Verdacht, illegal Waffen an Piraten verkauft zu haben!“, beschuldigte Gillette ihn.
„Illegal? Sagt das noch mal!“, fauchte Will.
Gillette sah zu seiner Verblüffung auf die Spitze des Säbels, den Will in seinem Zorn gezogen hatte.
„Sagt mir hier und jetzt, seit wann es ein Gesetz gibt, das mir verbietet, als Waffenschmied meine Ware zu verkaufen!“, forderte Will zornig.
„Steckt die Waffe weg! Ihr macht es nur noch schlimmer!“, warnte der Commander.
„Ihr beantwortet meine Frage nicht, also gibt es darauf wohl keine legale Antwort! Ich beschuldige Euch der Willkür, Gillette!“
„Für Euch immer noch Commander Gillette!“, fauchte der Commander und zog das Schwert. „Nehmt Euch in Acht, Turner!“
„Für Euch immer noch Mister Turner, vorzugsweise Master Turner, wenn Ihr gute Kinderstube habt!“, versetzte Will und kreuzte mit dem Commander die Klingen.
Bill wollte eingreifen, spürte aber Jacks Hand.
„Lass’ ihn. Dein Welpe wird mit dem Lamettahansel fertig – wenn er fair ist!“, sagte er leise. Gillette grinste Will freudlos an.
„Männer, das betrifft nur uns beide!“, rief der Commander, von typisch britischer Fairness gepackt. Die Soldaten senkten die Waffen.
„Ihr wisst nicht, worauf Ihr Euch einlasst, wenn Ihr mit einem Commander der Royal Navy die Klingen kreuzt“, warnte er dann. Will lächelte schief.
„Vielleicht wisst Ihr nicht, worauf Ihr Euch einlasst, wenn Ihr mit einem Schmied fechten wollt“, warnte Will seinerseits. Gillette machte einen eleganten Ausfall, den Will geschickt blockte und seinerseits eine Serie von leicht wirkenden Hieben setzte, dass der Commander zurückwich. Er sah Will verblüfft an.
„Hoppla!“, entfuhr es ihm, doch dann griff er wieder an. Will wich aus, unterlief Gillettes Stich, der ins Leere ging und stellte ihm fast nebenbei ein Bein. Gillette strauchelte, doch gelang es ihm, auf den Beinen zu bleiben.
„Ihr mogelt!“, beschuldigte er Will.
„Oh, Ihr seid gestolpert. Das tut mir Leid!“, erwiderte Will mit einem Grinsen. Gillette sprang ihn an wie eine Wildkatze, aber Will behielt die Übersicht und parierte die Hiebe des Commanders mit einer Leichtigkeit und Eleganz, dass selbst Jack ins Schwärmen geriet. Gillette hatte dagegen ernsthafte Probleme, Wills ebenso eleganten Angriffen etwas entgegenzusetzen.
„Ihr versteht zu fechten, das muss ich Euch lassen! Lernt man so was bei den Piraten?“, zischte Gillette, der ins Schwitzen geriet. Will lächelte nachsichtig.
„Nein, bei William Turner senior und Mr. Anderson hier in Port Royal!“, versetzte er.
Eine Kombination von Schlägen riss Gillettes Deckung auf, sein Degen flog in unerreichbare Entfernung. Will stoppte die Klinge knapp einen Zoll vor Gillettes ungeschützter Brust.
„Wäre ich der Pirat, den Ihr in mir vermutet, wärt Ihr jetzt tot, Gillette!“, erklärte Will. Gillette sah wie erstarrt auf die messerscharfe Klinge, die vor seiner Brust lauerte. Hätte der junge Mann nicht gezögert, wäre er tot gewesen, darüber war Andrew Gillette sich klar.
„Euer Glück, dass Ihr wisst, wann Ihr aufhören müsst, Mr. Turner. Ihr hättet es nicht überlebt!“
„Ihr aber auch nicht, Commander!“, stellte Will klar. „Und jetzt ruft Ihr Eure Männer zurück, sonst überlege ich es mir anders!“, drohte er dann. Gillette hob die Hände.
„Mr. Stevens, ruft die Leute zurück!“, befahl Gillette dem Lieutenant, der den Befehl auch sofort ausführte.
Ein völlig verstörter John Brown stolperte aus der Schmiede.
„Tut mir Leid, mein Junge. Ich konnte sie nicht daran hindern“, bat er um Entschuldigung.
„Schon gut, Meister Brown. Ist Euch etwas geschehen?“
„Nein, außer einem Riesenschreck nichts. Ich brauch’ dringend ‘nen Schluck Rum, mein Junge!“, keuchte der trunksüchtige Meister.
„Geht nur“, entließ Will seinen alten Meister.
Um die Ecke bog eine Kalesche, aus der ein entsetzter Governor Swann stieg, dem eine zornrote Elizabeth und ein wutbleicher Admiral Norrington folgten.
„Was hat das zu bedeuten, Commander Gillette?“, fuhr Norrington den kreidebleich werdenden Commander an. „Habe ich Euch nicht ganz deutlich erklärt, dass Ihr mit einer Untersuchung warten sollt, bis das Ehepaar Turner von der Hochzeitsreise zurück ist?“
„Ihr glaubt doch nicht …“
„Und wie ich das glaube, Commander!“, entgegnete Swann anstatt des Admirals scharf. Er warf einen Blick in die Schmiede. „Meine Güte! Waren hier Piraten am Werk?“, fragte er erschrocken.
„Nein, Governor. Eure Soldaten!“, versetzte Will eisig. Weatherby Swann drehte sich um.
„Die Schmiede wird wieder so hergerichtet, wie sie war – und wagt es nicht, auch nur ein Ding an den falschen Platz zu stellen! Euren Degen, Commander Gillette!“, befahl er dann. Zögernd, sehr zögernd, händigte Gillette dem Gouverneur seinen Degen aus, der ihn Norrington weitergab und dem Admiral zunickte.
„Ich erwarte Euch in zwei Stunden zum Rapport in meinem Büro, samt Lieutenant Stevens, Commander!“, befahl der Admiral.
„Aye, Sir!“, bestätigte Gillette zähneknirschend.
„Bis dahin ist hier alles aufgeräumt und an seinem Platz, verstanden?“
„Aye, Sir!“
„Und Ihr drei erscheint bei mir zum Rapport!“, wandte der Gouverneur sich an Jack, William senior und junior.
Unter Aufsicht von Will Turner und John Brown brachten die Soldaten die Schmiede wieder in Ordnung. Will zählte Werkzeuge und Ware gewissenhaft durch; es fehlte nichts. Dann meldete er sich mit seinem Vater und Jack bei seinem Schwiegervater.
„Commander Gillette erhebt schwere Vorwürfe gegen dich, Will. Er behauptet, du wärst Pirat und seiest der Piraterie nachgegangen. Ist das wahr?“, fragte Swann.
„Vergib mir die Frage: Was nennst du Piraterie, Schwiegerpapa?“, erkundigte sich Will.
„Ich schätze, du hast die Anklage gegen Captain Sparrow noch im Ohr, mein Junge. Das nenne ich Piraterie!“
„Ich habe weder gestohlen noch gebrandschatzt, nicht geplündert und nicht geraubt. Ich habe mich nicht sittenlos aufgeführt, bin nicht unter falscher Flagge gesegelt, habe mir keine Ämter angemaßt, die ich nicht innehabe. Ich habe nichts, aber auch gar nichts gegen die britische Krone getan. Und mein Vater und Jack in meiner Gegenwart auch nicht. Insofern kann ich diesen Vorwurf guten Gewissens bestreiten“, erwiderte Will.
„Captain Sparrow?“, wandte Swann sich an Jack.
„Seit Ihr mir Gnade gewährt habt, habe ich nichts mehr getan, was in Großbritannien gesetzwidrig wäre“, erwiderte Jack ernsthaft.
„Ihr seid kein Pirat mehr?“, hakte der Gouverneur nach. Jack lächelte golden.
„Ich habe nichts gegen die britische Krone getan. Frankreich und Spanien interessieren Euch nicht – hoffentlich! Zumal jetzt auch noch Krieg zwischen England und Frankreich ausgebrochen ist …“, versetzte er. Swann nahm es zur Kenntnis.
„Und Ihr? Wer seid Ihr?“, wandte er sich dann an den Dritten im Bunde.
„William Turner senior, Sir.“
„Dein Vater, Will?“
„In der Tat“, grinste der junge Mann.
„Ihr wart verschollen. Euer Sohn hat Euch suchen wollen, als er herkam, war aber mittellos. Wo wart Ihr?“
Stiefelriemen lächelte freundlich.
„Nun, Sir, ich war bei der Handelsmarine. Dann hat die Navy mich geschanghait und mich gegen meinen Willen als gewöhnlichen Matrosen zum Deckschrubben auf der Achilles verdonnert. Für einen Maat und angehenden Steuermann nicht gerade das, was man sich erträumt. Ich gestehe, desertiert zu sein – vor gut dreizehn Jahren! Dann schnappten mich auch noch Piraten, die mir übel wollten und die mich über die Planke jagten. Nachdem ich mich viele Jahre verborgen gehalten hatte, fiel ich dann den Franzosen in die Hände und schmorte lange Zeit in Cayenne, bis ich jetzt befreit werden konnte“, erklärte der ältere Turner.
„In Cayenne? Der neuen Strafkolonie?“
„Exakt, Sir“, bestätigte Bill grinsend. Swann sah wechselweise Jack und Will an.
„Ihr zwei habt damit nicht zufällig etwas zu tun, hm?“, fragte er dann. Jack sah unauffällig zur Seite, Will hielt dem Blick seines Schwiegervaters stand.
„Mein Vater ist britischer Bürger, Governor“, entgegnete Will. „Es wäre eigentlich Commander Gillettes oder Admiral Norringtons Pflicht gewesen, ihn aus den Händen der Franzosen zu befreien. Andererseits hätte das Auftauchen der britischen Flotte mit solcher Absicht in Cayenne nur Krieg mit Frankreich bedeutet. Als Jack von Vaters Verbleib erfuhr, haben wir beschlossen, das auf eigene Faust zu machen – ohne die Navy. Und die Franzosen haben keine Ahnung, dass es die Black Pearl war, die für Vaters Freiheit verantwortlich ist. Dass es jetzt zum Krieg gekommen ist, hat nichts mit uns zu tun, das schwöre ich“, erklärte er.
Swann grinste.
„Das habt ihr Gillette aber nicht erzählt, oder?“, fragte er.
„Gillette weiß, dass wir in Cayenne waren. Von der Befreiungsaktion haben wir ihm nichts erzählt, das stimmt schon“, bekannte Will.
„Dir war also klar, was auf dieser Reise geschehen würde? Und du nimmst Elizabeth auf so eine gefährliche Reise mit?“, hielt der Gouverneur seinem Schwiegersohn vor.
„Erstens war sie bei der Befreiungsaktion selbst nicht dabei, zweitens ist Elizabeth für solche Geschichten geradezu Feuer und Flamme und drittens war es ihre Idee, Schwiegerpapa!“, grinste Will jungenhaft. Swann seufzte.
„Ich habe sie dir anvertraut, damit du sie von solchem Blödsinn abhältst, Will!“, mahnte er. Will lächelte auf seine unnachahmlich schöne Art.
„Ich kann und werde Elizabeth nie von etwas abhalten, was sie tun will. Dafür liebe ich sie zu sehr. Außerdem war eine solche Bedingung nie Gegenstand unserer Gespräche, Paps.“
„Nun gut. Und was ist das mit den Säbeln, die du an Jack Sparrow verkauft hast?“, bohrte Swann weiter.
„Die sind ordnungsgemäß in meinen Büchern verzeichnet, die Crew der Black Pearl ebenso ordnungsgemäß als meine Kunden registriert. Seit wann darf ich nicht mehr verkaufen, an wen ich will?“
„Du hast normal verkauft? Säbel? An Piraten? Will!“
„An meine Freunde!“, entgegnete der junge Mann. „Jack und seine Crew haben seit deiner Amnestie nichts mehr gegen England getan. Seeleute müssen heute gut bewaffnet sein, um sich gegen feindliche Piraten angemessen wehren zu können. Und jetzt, nachdem wir Krieg mit Frankreich haben, wird es noch wichtiger sein, dass sie es sind. Dafür zu sorgen, ist meine Profession als Waffenschmied, Schwiegerpapa.“
Governor Swann sah ein, dass er weder Will noch dessen Vater oder Jack Sparrow wirklich etwas vorzuwerfen hatte – nicht einmal die Befreiungsaktion aus Cayenne.
„Na schön“, seufzte er. „Was habt Ihr demnächst vor? Captain Sparrow?“, fragte er dann.
„Ich habe vor, diesen verfluchten Schatz den Azteken zurückzugeben. Ist nicht gut, wenn das wieder die falschen Leute in die Finger bekommen. Ein paar Stücke sind schon abhanden gekommen – und die müssen wir suchen.“
„Klingt ja recht ehrenwert …“, brummte der Gouverneur. „Und Ihr, Mr. Turner senior?“
„Ich werde bei Captain Sparrow anheuern. Ich brauche einfach Seeluft um die Nase. An Land schlafen mir die Füße ein.“
„Und du, Will?“
„Meine Schmiede in Ordnung bringen, etwas investieren und wieder Geld verdienen. Wenn das alles soweit ist, werde ich Jack bei der zweiten Aktion Aztekengold helfen. Er braucht dafür jemand, der was von Metallen versteht.“
„Immer noch nicht genug Abenteuer?“, lächelte Swann. „Unverbesserliche – Piraten!“, grinste er dann.
„Und gute Männer!“, warf Will ein. „Bitte, halt’ uns Norrington und Gillette vom Hals! Die können wir dafür nicht gebrauchen“, bat er dann. Gouverneur Swann drohte ihnen scherzhaft mit dem Finger.
„Wer weiß, ob ihr nicht noch mal nach James Norrington schreien werdet? Aber es sei: Gebt diese verfluchten Dinger den Azteken zurück!“
„Aye, Sir!“, bestätigten alle drei.
Die Sonne versank in den blauen Fluten der Karibik wie ein orangeroter Feuerball, als die Black Pearl mit der Abendflut aus Port Royal auslief. Will und Elizabeth standen am Kai und winkten Jack und seiner einzig wahren Geliebten nach, bis sie um den Felsen an der Hafenbucht verschwunden war.
Ende
Glossar
Nachdem ich bei der Internet-Veröffentlichung dieser Geschichte im Jahr 2004 auf fehlende Erklärungen zu seemännischen Fachausdrücken hingewiesen wurde, habe ich im Zuge der Überarbeitung nunmehr sowohl die seemännischen Ausdrücke als auch einige andere Begriffe hier erklärt. Der seemännische Teil ist mit * gekennzeichnet, alle anderen mit **.
* Seelexikon
achtern: hinten
Aufgeien: das Zusammenraffen des Segels an den Mast oder an die Rah durch das Geitau↑. Gegenteil von: fallen.
Anschlagen: seemännisch für befestigen, insbes. ein Segel an einem Rundholz
Back: die, erhöhter vorderster Teil des Vorschiffes.
Backskiste: Kasten, der – hauptsächlich auf kleineren Schiffen – auf der Back↑ montiert ist und als Stauraum für Leinen und Trossen dient.
Besanmast: achterster Mast bei Schiffen, die mindestens drei Masten haben. Wegen der sich kreuzenden Brassen, die deshalb spiegelverkehrt zur Benennung bedient werden und eine gegenseitige Behinderung der Seeleute vermeiden, auch Kreuzmast↑ genannt. Beide Bezeichnungen sind bis zum Ende des 19. Jh. synonym angewendet worden. Erst dann ergab sich eine Differenzierung, dass der achterste Mast bei einem Vollschiff Kreuzmast und der einer Bark Besanmast genannt wurde.
Besan(segel): Gaffelsegel des achtersten Mastes bei Vollschiffen mit mindestens drei Masten.
Baum: allgemein: starke Spiere, z. B. Ladebaum, insbesondere: Rundholz, das die Unterkante (das „Unterliek“) eines Gaffel- oder eines Hochsegels hält.
Brasse: laufendes Gut↑ zum waagerechten Schwenken einer Rah. Das Verb brassen als dazugehöriges Tätigkeitswort leitet sich vom Eigennamen ab.
Brigg: die, zweimastiges Segelschiff, bei dem beide Masten mit Rahsegeln↑ besegelt sind. Am Großmast↑ ist in der Regel noch zusätzlich zu dem oder den Rahsegeln ein Gaffelsegel↑ angeschlagen↑.
Dippen: Flaggengruß durch langsames Niederholen der Nationalflagge auf halbe Höhe und Wiedervorheißen.
Faden: engl. Tiefenmaß in der Seefahrt. 1 Faden = 6 Fuß ~ 1,82 m.
Fallreep: das, Treppe zum an und von Bord gehen in Schiffsrichtung. „Seefallreep“, eine über die Bordwand ausgebrachte Leiter mit Holztritten.
Fregatte: siehe Galeone↑
Gaffel: die, Rundholz, an dem das Oberliek↑ eines Gaffelsegels befestigt („angereiht“) wird.
Galeone: die, dreimastiges Segelschiff, bei dem alle drei Masten mit Rahsegeln↑ besegelt sind. Der Kreuzmast↑ ist zusätzlich mit einem Gaffelsegel↑ versehen. Als Kriegsschiff wird die Galeone in der Regel als Fregatte bezeichnet.
Gei(tau): siehe aufgeien↑.
Großmast: Höchster Mast bei mehrmastigen Schiffen, bei Dreimastern in der Regel der mittlere Mast, bei einer Brigg der achtere Mast.
Gut: Tauwerk der Takelage;
- „stehendes“ Gut: fest angebrachte Wanten und Stage;
- „laufendes“ Gut: die zu bedienenden Fallen, Schoten, Backstage u. ä.
Jakobsleiter: Strickleiter, meist mit Rundhölzern als Sprossen. Siehe dazu auch Fallreep↑
Jakobsstab: seemännisches Messinstrument zur Ermittlung des Breitengrades, auf dem sich das Schiff befindet. Als Vorläufer des Sextanten waren Jakobsstäbe als Navigationshilfen ab dem 16. Jh. auf Schiffen üblich.
Kabellänge: Längenmaß in der Seefahrt. 1/10 Seemeile = 185,2 m
Lee: die vom Wind abgekehrte Seite des Schiffes. Gegenteil von: Luv↑.
Log: das, Messeinrichtung zur Ermittlung der Schiffsgeschwindigkeit. Im Englischen bedeutet Log übersetzt Holzscheit. Ursprünglich handelt es sich auch um ein Holzstück, das an einer Leine befestigt ist. Diese Leine ist zusätzlich mit Knoten in bestimmten Abständen versehen. Das Holzstück wird ins Wasser geworfen, der messende Seemann behält das andere Ende der Logleine in der Hand. So viele Knoten, wie in einer bestimmten Zeit durch die Hand des messenden Seemanns laufen, so viele Knoten läuft das Schiff. Aus diesem Umstand ist die Bezeichnung Knoten als Maßeinheit für die Schiffsgeschwindigkeit entstanden.
Luv: die dem Wind zugekehrte Seite. Gegenteil: Lee↑.
Mars: Plattform auf der Saling↑ eines Untermastes.
Marsrah: Zweite Rah↑ von unten.
Marssegel: Segel über dem Hauptsegel von rahgetakelten Schiffen. Dazu kommt die Mastbezeichnung. Das Marssegel am Großmast ist das Großmarssegel, am Fockmast das Vormarssegel, am Besanmast das Besanmarssegel.
Moses: Scherzhafte Bezeichnung in der Seemannssprache für das jüngste Mitglied einer Crew.
Saling: die; insbesondere bei Windjammern# Plattform in Höhe der Marsrah, die als Ausguck genutzt wird.
Schot: die, Ende zum Einstellen des gesetzten Segels entsprechend dem „Einfall“ des Windes.
Stag: das, zum „stehenden Gut“ gehörende Abstützung des Mastes längsschiffs. „Über Stag gehen“ = wenden, scherzhaft auch „über Bord gehen“.
Pullen: Fortbewegung eines Bootes mittels Riemen↑. Umgangssprachlich – falsch – rudern genannt
Rah: die, in ihrer Mitte waagerecht am Mast aufgehängt; Rundholz, an das die Oberkante des Rahsegels angeschlagen ist.
Reise, Reise: Weckruf bei der Marine, Verballhornung des englischen „arise, arise (aufstehen)
Riemen: Rundhölzer mit blattförmigen Enden zum Fortbewegen eines Bootes. Umgangssprachlich – falsch – auch Ruder↑ genannt.
Ruder: Das senkrecht im Wasser stehende Ruderblatt, mit dem die Fahrtrichtung geändert wird.
Schot: die, Ende zum Einstellen des gesetzten Segels entsprechend dem „Einfall“ des Windes.
Stagsegel: Segel, die längs zur Schiffsachse stehen und damit seitlichen Wind aufnehmen können.
Vormars: Ausguck auf der Marsrah↑ des Fockmastes↑.
Wahrschau: Warnruf in der Seefahrt. Soviel wie „Achtung!“
** Allgemeines Lexikon
Backfisch: Alte Bezeichnung für Teenager
deckend (Salve): Fachbegriff aus der Militärsprache. Eine Salve ist deckend, wenn das gesamte Ziel darin eingeschlossen wird, also Geschosse sowohl unmittelbar davor als auch dahinter einschlagen. Eine deckende Salve ist die Erfüllung der Aufgabe der Artillerie (Kanonen). In der Regel fallen dabei nämlich auch Treffer im Ziel selbst an … Verdammt gefährlich also für jene, die das Ziel dieses Angriffs sind.
Grad Fahrenheit: In angloamerikanischen Ländern gebräuchliche Temperaturskala, 1714 von dem Physiker Daniel Gabriel Fahrenheit (* 24.05.1686 in Danzig, † 16.09.1736 in Den Haag) entwickelt. Fixpunkte: Gefrierpunkt des Wassers 32° F, Siedepunkt 212 ° F. Umrechnung °C in °F: Mit 9 multiplizieren, durch 5 dividieren, 32 addieren. Umrechnung ° F in ° C: 32 subtrahieren, mit 5 multiplizieren, durch 9 teilen. 70° F = 21,1° C. 65° F = 18,3° C.
Guinea: lt. Wikipedia (Stand 25.10.2007) engl. Goldmünze, zwischen 1663 und 1813 geprägt, zwischen 20 und 27 Shilling im Wert. Ab 1717 betrug der Wert 21 Shilling. Die Bezeichnung Guinea beruht danach auf der afrikanischen Region Guinea, dem Fundort des Goldes für diese Münzen. Andere Quellen behaupten, es habe keine Münzen dieses Wertes gegeben, die Guinea sei lediglich eine Recheneinheit für eine Summe von 21 Shilling gewesen.
Ebenfalls einer Summe von 21 Shilling entspricht auch das engl. Pfund Sterling (£), das aber aus Silber (daher Sterling-Silber!) bestand. Wegen der Schwankungen der Werte von Silber und Gold ergaben sich die unterschiedlichen Bewertungen bis 1717.
Gerade bei höherwertigen Gegenständen (hier handgeschmiedete Waffen mit durchaus kostbarer Ausstattung) wurde in Großbritannien und dessen Kolonien auch nach 1813 (bei Auktionen gilt das sogar noch heute) in Guineas gerechnet und nicht in Pfund Sterling.
Ergänzend sei zum Wert der Guinea bzw. des Pfund Sterling im 18. Jh. folgendes angemerkt: Nach dem Buch Piraten von John Matthews gelang es Bartholomew Roberts, die größte Einzelbeute einzufahren, die je gemacht wurde. Sie betrug 325.000 £. Nach Matthews entsprach das einem heutigen Wert von rd. 45 Mio €!
1 Guinea bzw.1 £ war nach dieser Umrechnung etwa 140 € wert …
20 Guineas, die Will für den Säbel zunächst verlangt und mit denen er die Waffen für die Crew der Black Pearl in seinen Geschäftsbüchern pro Stück verbucht, sind also rd. 2.800 € – nicht gerade geschenkt …
Maroon Island: von engl. to maroon – jmd. aussetzen. Dass die Insel von den Autoren Rumschmugglerinsel (rumrunners island) genannt wurde, weiß ich erst seit ich die Informationen zum Pirates # Caribbean -Handbuch übersetzt und überarbeitet habe … Im Film gibt es diese Info nicht …
Portepee: Das Wort stammt aus dem Französischen (porte-épée) und bedeutete ursprünglich so viel wie Schwertgehänge (épée = Schwert). Später wurde der Faustriemen so bezeichnet, mit dem der Griffkorb des Degens oder Rapiers versehen war, um dem Verlust der Waffe im Kampf vorzubeugen. Seit dem 16.Jh. bezeichnet der Begriff die Schlaufe – meist aus Metallgespinst und mit einer nussförmig gebundenen Quaste verziert – die den Griff des Offiziersdegens ziert. Im Laufe der Zeit mutierte das Portepee dann zum Rangabzeichen von Offizieren und bestimmten Unteroffiziersdienstgraden und war entsprechend gold-, silber- oder bronzefarben gestaltet.
Strafkolonie Cayenne: Genau genommen ist Cayenne die Hauptstadt des französischen Überseedépartements Französisch-Guayana. Dieser Teil Guayanas gehört seit 1604 zu Frankreich. 1852 wurden die Îles du Salut zur Strafkolonie erklärt und blieben es bis 1951. Die Îles du Salut bestehen aus drei Inseln, der Île du Diable (Teufelsinsel), der Île Royale (Königsinsel) und der Île St. Joseph (St.-Josefs-Insel).
Insofern ist es für den historischen Zeitpunkt dieser Geschichte nicht zutreffend, dass dort bereits eine Strafkolonie bestand. Ich habe den Hinweis bekommen, dass Frankreich bis zur Errichtung der Strafkolonie verurteilte Schwerverbrecher auf Galeeren schickte.
Aber es könnte doch sein, dass es um die Mitte des 18. Jh. einen Minister des Königs von Frankreich gab, der eine andere Strafform ausprobieren wollte und probeweise auf dem Festland bei der Stadt Cayenne ein Lager für Zwangsarbeiter einrichtete, die sich bei der Erschließung der Kolonie nützlich machen sollten …
Tortuga: Die Frage, die Will Jack stellt, hat mich selbst umgetrieben, denn Tortuga liegt an der Hispaniola nächsten Stelle nur 3 ½ Seemeilen nördlich der Hauptinsel – buchstäblich in Sichtweite von der Küste Hispaniolas. Sinnigerweise befindet sich an dieser Stelle auch noch der Hafen von Tortuga, der nach den Bildern von Google Earth allenfalls als Landeplatz für kleine Fischerboote durchgehen kann.
In den Filmen der Trilogie Pirates # Caribbean gilt Tortuga als das Piratennest in der Karibik, das ein braver Bürger nie betreten würde und vor dem Zugriff der Royal Navy völlig sicher ist. Historisch ist es Blödsinn, denn Frankreich und Spanien einigten sich als Kolonialherren von Hispaniola 1684 darauf, die Piraterie auf Tortuga auszumerzen. 1688 war es ihnen weitgehend gelungen. Pirates # Caribbean spielt erkennbar im 18. Jh. Zu der Zeit war Tortuga definitiv kein Piratenstützpunkt mehr. Man kann es nur als künstlerische Freiheit hinnehmen – so ähnlich wie Cayenne …
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